Virginia Parker Diebstahl (Leseprobe)

Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4 Kapitel 5 Kapitel 6 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11

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Kapitel 1 Irgendwie stank es. Ich konnte nicht genau sagen, woher der undefinierbare Geruch kam, aber seit Tagen müffelte es im Haus. Ich hatte bereits in der Küche nachgesehen und in allen Badezimmern, aber von da kam der seltsame Gestank nicht. Und es wurde schlimmer. Heute war mir schon schlecht gewesen, bevor ich überhaupt aufgestanden war. Keine Ahnung, was das war. Es wirkte irgendwie säuerlich, sodass mir die Galle hochstieg, wenn ich zu genau schnüffelte. Gleichzeitig roch es abgestanden und vergammelt, auf die Weise, wie tote Menschen irgendwann rochen, wenn man sie im Schrank liegen ließ. Und dann stach es in der Nase wie der Atomfurz, den meine Schwester mal losgelassen hatte, als sie noch klein und niedlich gewesen war (von dem Furz mal abgesehen). Auf alle Fälle war es kaum zu ertragen. Und ich bekam davon Kopfschmerzen. In meinem Zimmer war es am Schlimmsten. Aber ich hatte schon überall nachgesehen. In dem hässlichen alten Schrank, den meine Mutter als «antik» bezeichnete, unter dem Bett, in jeder Schreibtischschublade. «Ich halt das nicht mehr aus!», rief ich, als ich an diesem Morgen aus dem Zimmer kam. Das Fenster hatte ich über Nacht offen stehen lassen. Aber selbst das brachte nicht mehr viel. «Ist es immer noch nicht besser geworden, Miss?», fragte Frank, der für mich immer irgendwie mehr guter Freund als Angestellter gewesen war. «Nein, eher konträr.» Ich verzog den Mund. «Und wenn du mich noch einmal Miss nennst, gibt's Ärger.» «Das Duftspray hat auch nicht geholfen?» «Nein, dadurch ist mir nur noch schlechter geworden.» Frank seufzte auf. «Vielleicht sollten Sie in eines der anderen Gästezimmer wechseln.» «Und was machen wir dann mit dem Raum hier? Abkoppeln und sprengen?» Ich grinste schief und fuhr mir mit der Hand durch das Haar. «Nein, ich nehme das jetzt in die Hand. Ich werde das Zimmer auseinandernehmen, bis ich die Ursache gefunden habe!» «Brauchen Sie dabei Hilfe?» «Das ist nicht deine Aufgabe, Frank. Das verlange ich echt von keinem.» Ich schnitt eine Grimasse und lief die Treppe hinunter, durch die Küche und hinein in den Waschraum, in dem unsere ganzen Putzmittel standen. Ich war mir sicher, meine Mutter hatte den Raum noch nie von innen gesehen. Dafür hatte sie Leute. Ich riss alle Schränke auf und rüstete mich aus. Gummistiefel, die mir bis zu den Knien gingen, Plastikhandschuhe, die sogar über die Ellbogen reichten, eine Atemmaske, eine Greifzange, Antischimmelspray, Desinfektionsmittel und noch allerlei anderes Werkzeug. Frank sah mir stirnrunzelnd dabei zu, wie ich mit all dem Kram wieder hoch marschierte und mein Zimmer stürmte. Bevor ich allerdings mit der Dekontaminierungsarbeit anfing, räumte ich meine Sachen zurück in den Koffer und schob ihn vorsichtshalber in die sichere Zone auf den Flur. Ich riss den Schrank auf, schmiss alles raus, was da an unnützem Zeug drin war, schob ihn von der Wand weg. Bisher war nichts zu sehen. Auch der Schreibtisch war keimfrei. Ich fing an, den Teppichbelag mit einem Kuttermesser vom Boden zu kratzen. Auch darunter tauchte bloß der eigentlich ganz hübsche Holzfußboden auf, der leider nicht in das «Gesamtkonzept» der neuen

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Raumgestaltung gepasst hatte. Er sah auch nicht verschimmelt oder gammelig oder so aus. Alles im grünen Bereich. Hinter dem hässlichen Bild an der Wand konnte ich auch nichts entdecken. Blieb also nur noch das Bett. Mir wurde schon schlecht, wenn ich nur daran dachte. Immerhin hatte ich da die letzten Tage drauf geschlafen. Wollte ich wirklich wissen, was es war? Ich zerschnitt das Kissen und durchwühlte seine Eingeweide. Mir kam ein ganzer Schwall Federn entgegen, aber die waren alle geruchsneutral. Danach war die Bettdecke dran. Ebenfalls nichts. Seufzend hievte ich die Matratze irgendwie hoch und schmiss sie in den Raum, ehe ich mir das Bettgestell und den Raum darunter ansah. Fehlanzeige. «Das gibt's doch nicht!», rief ich und drehte mich zur Tür um. Mein Blick blieb an einem bräunlichen Fleck hängen, der auf der Rückseite der Matratze zu sehen war. Ich hatte sie das letzte Mal nur kurz angehoben, um drunter zu sehen, da war mir das nicht aufgefallen. «Oh mein Gott», murmelte ich, griff mir das Messer und mit der anderen Hand die Greifzange und näherte mich langsam dem Fleck. Der Gestank, der mir entgegenwehte, war überwältigend. Selbst mit Atemschutz. Ich holte einmal tief Luft (durch den Mund selbstverständlich), ehe ich das Messer in die Matratze rammte und auf Widerstand traf. Angewidert zog ich das Messer wieder raus und ging nun daran, die Naht aufzuschneiden. Es ging kinderleicht, und wie ich an einigen Stellen sah, war sie bereits aufgetrennt und wieder zugenäht worden. Wer das gewesen war, konnte ich mir auch so denken. Manchmal wünschte ich mir meine kleine Schwester wieder so, wie sie einmal gewesen war. Atomfurz hin oder her. Und dann kam es und ich wurde fast ohnmächtig, weil es so ekelig war. Da lag eine tote, gammelige Ratte in meiner Matratze und starrte mich aus ihren widerwärtigen Augen heraus an, das Maul stand offen und Maden tummelten sich in dem Kadaver herum. Es war auch keine kleine Ratte, so wie die manche als Haustiere hielten. Es war eine von diesen dicken, fetten Bisamratten, die sich in den Kanälen herumtrieben. Mir kam die Galle hoch und ich sprang auf und peste ins Badezimmer, wo ich mich über die Kloschüssel warf. Viel kam allerdings nicht raus. Hatte ja noch nicht gefrühstückt. «Alles okay?» Frank kam ins Bad, ebenfalls mit Schutzmaske vor dem Mund. «Da… da…» «Ja, ich habe es gerade gesehen.» Er streckte mir einen Zettel entgegen, den er mit der Greifzange hielt. Ich wünsche dir auch schöne Ferien, Virginia. Ich würde sie umbringen. Ich würde Lucy umbringen. Das war mit Abstand das Ekligste, was sie je getan hatte. Dass sie das Vieh überhaupt ins Haus hatte schleppen können, ohne sich dabei selbst zu übergeben, war mir ein Rätsel. Und das alles nur, wegen dieses dämlichen Streits, den wir vor einer Woche gehabt hatten. Es hatte angefangen wie alle unsere Streitereien. Mit etwas, das mir gehörte, Lucy aber nicht. Ich hatte mir ein Lippenpiercing stechen lassen, weswegen meine Mutter fast in Ohnmacht gefallen war und mein Vater mit Desinteresse drauf reagiert hatte. Lucy wäre sofort losmarschiert und hätte sich auch irgendwas durchstechen lassen, aber noch hatte meine Mutter so etwas wie Kontrolle über sie. Was sie von mir nicht behaupten konnte. Lucy hatte rumgebrüllt und mir die Schuld dafür gegeben. Das konnte sie am besten. Ich hatte den Fehler begangen und mich lustig über sie gemacht. Etwas, das man niemals tun sollte. Nicht

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bei Lucy. Sie war völlig ausgetickt und hatte mich angeschrien und mit Sachen beworfen und mich getreten. Und meine Mutter war, zu meiner totalen Überraschung, mal auf meiner Seite gewesen. «Virginia ist nur sechs Wochen hier, Lucinda! Da kannst du dich jawohl höflicher benehmen!» Da war sie dann richtig durchgedreht. Weil sie es nicht gewohnt war, dass meine Mutter mir mal den Rücken stärkte. Das war eine Premiere gewesen. Jedenfalls hatte sie unsere Mutter ins Bein gebissen und war darauf ins Sommercamp geschickt worden. Das schien wohl ihr kleines Dankeschön dafür an mich gewesen zu sein. Dabei war ich, so gesehen, eigentlich unschuldig. «Ich werde die Matratze verbrennen, wenn es dir beliebt», sagte Frank. «Vielleicht solltest du ein wenig frische Luft schnappen gehen, währenddessen.» «Ich kann dich das nicht alleine wegmachen lassen», murmelte ich erschöpft. Kotzen machte mich immer fertig. «Das ist kein Problem», nickte der junge Mann, der glücklicherweise den hässlichen Bart wieder entfernt hatte, nachdem ich ihn Weihnachten diskret darauf hingewiesen hatte, wie schrecklich das Ding war. «Wirklich, Frank», röchelte ich, als noch etwas Schleim nachkam. Herrlich. «Ich mach das schon.» «Auf keinen Fall. Ich erledige das. Ich habe schon Schlimmeres gesehen.» Ich sah ihn stirnrunzelnd an und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was er schon Abartiges hatte erleben müssen. «Ich habe Claudia schon so oft gesagt, dass ihre jüngste Tochter eine Psychopathin ist», murmelte ich und hievte mich irgendwie auf die Beine. «Aber auf mich hört ja keiner.» «Ich erledige das hier und bringe danach deine Sachen in ein anderes Gästezimmer. Geh raus in den Garten, am besten in den hinteren Teil, da riecht es nicht mehr.» «Danke», murmelte ich, weil ich mich zu schwach fühlte, um weiter zu protestieren. Auch wenn der arme Frank jetzt das Ekelvieh wegschaffen musste. Im Garten hinten bei den Rosensträuchern roch es tatsächlich kaum noch und der Duft der Blumen um mich herum überlagerte den wenigen Mief, der eher von mir selber ausging, als vom Haus. Vermutlich hatte es sich schon überall in meinen Klamotten festgesetzt. Ich würde nicht nur die Jeans und das Shirt, was ich jetzt trug, sondern auch den Schlafanzug abfackeln. Ich fingerte die Schachtel Zigaretten aus meiner Hosentasche und steckte mir eine an. Der Rauch roch herrlich nach Tabak und füllte meine Lungen, ehe ich ihn wieder in die Luft freigab. Ich konnte nicht behaupten, dass ich wirklich großen Gefallen am Rauchen hatte. Es passierte auch nur gelegentlich, aber es beruhigte mich irgendwie und es verringerte meinen Stress. Damit angefangen hatte ich erst vor wenigen Wochen, als ich zurück in das wundervolle Haus der Familie Parker gekommen war. Da war Stress irgendwie vorprogrammiert. Familie war doch was Herrliches. Ich setzte mich auf die Hollywoodschaukel, die hier hinten relativ versteckt lag. Fast eine halbe Stunde und zwei weitere Zigaretten wartete ich, dann tauchte Frank auf. «Der Gestank ist so gut wie raus aus dem Haus», verkündete er erfreut. «Anette hat überall die Fenster aufgemacht, damit es schneller verfliegt.» Anette war unser Hausmädchen. Sie musste relativ neu sein, ich hatte sie vor den Ferien noch nicht gesehen.

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«Danke», seufzte ich und drückte die Zigarette in der Blüte einer Blume aus. Das wirkte vielleicht ein bisschen gemein, aber die Pflanze spürte es nicht und irgendwie half es mir mit dem Stress auch ein bisschen, wenn ich etwas tat, was meine Mutter auf die Palme brachte. Frank sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er war der einzige, der mitbekommen hatte, dass ich rauchte. Er sagte nichts dazu, aber seine Blicke sprachen Bände. Fand er nicht gut, ließ er mir aber durchgehen. Wie er mir alles durchgehen ließ. Frank war halt cool. «Ich geh duschen», nickte ich. «Und danach die Sachen wegschmeißen und mit einem Flammenwerfer drüber gehen.» Frank lachte leise und begleitete mich zurück ins Haus. Ich zog also in das Gästezimmer unten. Ein Glück hatten wir gleich drei davon. Seit ich meiner Schwester mein ehemaliges Zimmer überlassen hatte, weil meine Mutter es vorher eh schon auseinandergenommen hatte und es meinem Zimmer nicht mehr wirklich geähnelt hatte, war aus dem Raum von Lucy ein drittes Gästezimmer angefertigt worden. Extra für mich, damit ich mich nicht ganz ausgeschlossen fühlte, wenn ich in den Ferien nach Hause kam und wenigstens oben bei der Familie sein konnte. Als ob ich da jemals Wert drauf gelegt hätte. Ich konnte kaum erwarten, dass die Ferien endlich rum waren und ich zurück ins gammelige Emsland fahren durfte. Denn obwohl in Lingen so quasi gar nichts lief, war das Internat, auf das ich ging, inzwischen mein Zuhause geworden. Das Gästezimmer unten war etwas kleiner, dafür moderner eingerichtet und hier roch es nur nach Waschmittel und Lavendel, was wirklich angenehm war nach dem ganzen Mief die letzten Tage. Ich stopfte meine Sachen in den geräumigen Wandschrank, drapierte meinen Laptop auf dem Schreibtisch und bezog das Bett, ehe ich mich auf den Weg in die Küche machte. «Frank?!», ertönte die laute Stimme meines Vaters, dicht gefolgt von dem Zuschlagen der Haustür. «Frank!» «Der ist nicht da, Paps!», rief ich genervt, schnappte mir einen Joghurt und sah mich nach einem geeigneten Löffel um. «Wo ist der denn?!» James Parker trat in die Küche und sah mich stirnrunzelnd an. Er war irgendwie alt geworden, in den letzten Jahren. Seine sonst so dunklen Haare wurden allmählich grau. «Ich hab ihm den restlichen Tag frei gegeben. Ab Morgen hat er ja eh Urlaub», erklärte ich schulterzuckend. «Stell dir vor, wir haben herausgefunden, warum es so gestunken hat, die ganze Zeit. Das wirst du nicht glauben!» «Dafür habe ich jetzt keine Zeit, Virginia», seufzte er genervt. «Ich muss heute noch nach Kanada fliegen.» Ich verdrehte die Augen. «Und? Wo liegt das Problem?!» «Ich werde meine minderjährige Tochter nicht tagelang alleine hier lassen», brummte er. «Ich rufe Frank an.» «Geht's noch, Paps?!», fauchte ich. «Der arme hat nur diese eine gottverfluchte Woche Urlaub, kannst du ihm das nicht gönnen?! Ich glaube, er wollte mal wieder zu seiner Familie, die er seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat. Soll ja angeblich auch Leute geben, die sich darüber freuen, Verwandte zu treffen!» James zögerte tatsächlich kurz. «Er kann die Woche danach frei haben.»

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«Wahrscheinlich ist er schon unterwegs. Ich komme prima allein zurecht! Und überhaupt, wo ist Ma abgeblieben?!» Ich stellte den Joghurt ab und lehnte mich gegen die Arbeitsplatte. «Die ist in Österreich auf einer Wellnessfarm mit ihren Mädels.» Dass sich Frauen weit über 40 noch als Mädels bezeichneten, war irgendwie lachhaft. Und wieso sie extra nach Österreich fahren musste, um Wellness zu machen, kapierte ich auch nicht so ganz. Sie schien es auch nicht für nötig gehalten zu haben, ihre Tochter davon in Kenntnis zu setzen, dass sie abreiste. «Sie hat von diesem Gestank so Kopfschmerzen bekommen, da tut ihr die Luft in den Bergen gut», erklärte James, als er meinen Gesichtsausdruck sah. Na klar. Sie bekam Kopfschmerzen, dabei hatte ich auf der ekeligen Matratze schlafen müssen! Fuhr ich deswegen etwa in die Alpen?! Nein! «Wirklich, Pa. Ich kann super auf mich selbst aufpassen. Und ich bin ja gar nicht ganz allein, Anette ist auch noch da, oder nicht?!» «Anette ist ein wirklich sehr kleines, zierliches Persönchen. Die kann dich mit Sicherheit nicht beschützen, wenn irgendwas passiert. Wir brauchen einen Mann hier im Haus.» Er wählte eine Nummer und hielt sich das Handy ans Ohr. «Gut, dass das nicht chauvinistisch klang», knurrte ich und kreuzte die Arme vor der Brust. «Und was soll mir schon groß passieren?» Ich verdrehte die Augen. «Hier traut sich eh kein Einbrecher rein.» «Es geht keiner ran», knurrte James genervt. «Ich brauch keinen Babysitter, verdammt. Ich bin 16!» «Seit einer Woche», erwiderte James. «Oh, das ist dir tatsächlich aufgefallen?», fragte ich sarkastisch. «Ich dachte immer, du hättest keine Ahnung, wann ich Geburtstag habe. Aber wenn du es bewusst ignoriert hast, ist ja alles okay.» «Sei bitte mal einen Moment lang still, ja?», unterbrach er mich. «Ich muss nachdenken.» «Du kannst mich mal», fauchte ich, stieß mich von der Tischplatte ab und rauschte aus dem Raum. Wütend schnappte ich mir meine Tasche vom Treppengeländer, lief aus dem Haus und setzte mich auf mein Rad. Ich raste den Weg in die Stadt hinein, wie eine Bekloppte. Aber das Strampeln tat mir gut und verhinderte, dass ich platzte oder irgendetwas kaputtschlug. Erst, als ich völlig außer Atem war, hielt ich an, kettete mein Rad an einen Laternenpfeiler und ging in ein paar meiner Lieblingsläden, um ein wenig das Geld meiner Eltern auszugeben. Danach ging es mir immerhin etwas besser. Ich hatte einen ganz coolen Pullover, drei T-Shirts, neue Sneakers, eine schwarze und eine graue Jeans und ein neues Portmonee gekauft. Das alles direkt über die Kreditkarte, die mir mein Vater für «Notfälle» gegeben hatte. Anschließend aß ich noch ein Eis in einem Café und trödelte lustlos durch die belebten Straßen Berlins. Ich hatte keine große Lust, zurück nach Hause zu fahren und meinem Vater erneut unter die Augen zu treten. Und ich hatte irgendwie die Hoffnung, dass er schon weg war, wenn ich nur lange genug wartete. Als es bereits später Nachmittag war, machte ich mich dann doch schließlich auf den Rückweg. Der Wagen von meinem Dad stand noch in der Einfahrt. Mist. Bevor ich mich zurück ins Haus wagte, rauchte ich noch eine und schmiss die Kippe in den riesigen Blumenkübel, der vor der Tür stand. Mein Magen knurrte laut, weil er heute außer einem halben Joghurt und einem Eis noch keine Nahrung bekommen hatte. Ich schlich mich ums

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Haus und ging durch die Hintertür rein, die zum Waschraum führte. Vielleicht bemerkte James mich nicht, ehe er abreiste. Ich würde mir nur etwas aus der Küche schnappen und dann möglichst unauffällig in meinem Gästezimmer verschwinden. Ich spähte vorsichtig durch die Tür zur Küche und zuckte erschrocken zusammen. Da saß ein fremder Mann an unserem Esstisch und hatte mir den Rücken zugewandt. Vielleicht hatte Pa doch recht gehabt mit den Einbrechern. Ich griff mir eine Bratpfanne und schlich mich von hinten ran, um im Notfall zuschlagen zu können. Der junge Mann sprang auf und fuhr erschrocken herum, als er den Luftzug hinter sich spürte. Ich schrie, als ich in das hübsche Gesicht von Jack sah, und ließ vor Schreck die Bratpfanne fallen. «Ach du Scheiße!», rief er und machte einen Satz nach hinten, sodass er gegen die Tischplatte stieß. «Vi… Virginia?!» Er blinzelte mich an, als würde er mich nicht genau erkennen. «Was zur Hölle machst du hier?», quietschte ich. Jack Langley stand in meiner Küche. Wie seltsam war das denn bitte!? Als ob unsere Bekanntschaft nicht sowieso schon kompliziert genug wäre… «Virginia?» Das war mein Vater. «Ich habe deinen Englischlehrer gebeten, auf dich aufzupassen.» Er betrat die Küche. «Ach, ihr habt euch schon getroffen.» Er lächelte sein künstliches Einviertellächeln, bei dem ich jedes Mal brechen könnte. «Ich dachte, das wäre eine gute Idee, um dein Englisch aufzubessern», erklärte er und nickte. Dann schnupperte er in der Luft. «Hier stinkt es nach Rauch.» «Das war ich, Sir», sagte Jack, ehe ich den Mund aufmachen konnte. «Tut mir leid.» «Ich dulde es nicht, dass in meinem Haus geraucht wird», entgegnete James und sah Jack eindringlich an. «Natürlich nicht, Sir», nickte Jack. «Es wird nicht wieder vorkommen.» «Gut. Ich mache mich dann auf den Weg.» Er nickte Jack formal zu und wandte sich zur Tür. «Brauchen Sie noch Hilfe bei Ihrem Gepäck, Sir?», fragte Jack und ich tat so, als würde ich mir den Finger in den Hals stecken. Jack warf mir einen verächtlichen Blick zu, während James dankend ablehnte und dann aus der Küche verschwand. Wir standen beide wie versteinert da, bis die Haustür geräuschvoll ins Schloss fiel und ich den Wagen meines Vaters die Auffahrt runterfahren hörte. «Seit wann bist du eigentlich unter die Oberarschkriecher gegangen? Und woher kennst du meinen Vater?», fragte ich stirnrunzelnd. «Er und mein Vater sind befreundet.» Jack ignorierte den ersten Teil meines Satzes. Er schnitt eine Grimasse. «Was zur Hölle hast du mit dir angestellt?!» «Die Haare geschnitten», erklärte ich schulterzuckend und fuhr mir durch die roten Strähnen. «Das ist… die sind ja nicht mehr viel länger als meine!», rief er schockiert und starrte auf meinen Kopf. «Sie waren sogar mal noch kürzer», erwiderte ich und öffnete den Kühlschrank, um nach etwas Essbarem zu suchen. «Sind schon wieder ein bisschen gewachsen.» «Aber… wieso?! Und dann rot!» «Falls du dich erinnerst», fauchte ich genervt und drehte mich zu ihm um. «Hatte ich nach dem letzten Schuljahr einen halbkahlen Schädel, weil die blöde Krankenschwester in der Schule die Platzwunde an meinem Hinterkopf nähen musste und mir dafür die Haare abrasiert hat! Und da habe ich sie lieber ganz abgeschnitten, als völlig lächerlich auszusehen!» «Jetzt siehst du aus wie…wie… Pumuckl!»

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«Oh wie einfallsreich.» Ich warf ihm einen vielsagenden Blick zu, ehe ich den Rest vom Avocado-Thunfischsalat aus dem Kühlschrank nahm. Klang ekelig, war aber eigentlich ganz lecker. «Sonst noch was?» «Und seit wann rauchst du?!» «Ich hab nicht geraucht. Das warst du, hast'e doch selbst eben gesagt», erwiderte ich grinsend und setzte mich mit der Schüssel an den Tisch. Jacks Augen verengten sich zu Schlitzen. «Lüg mich nicht an», sagte er und setzte sich mir gegenüber hin. «Du stinkst wie ein Aschenbecher.» Ich schnitt eine Grimasse und stocherte mit der Gabel im Salat herum. «Immer noch der gleiche, charmante Kerl, was?» «Wieso rauchst du?», fragte Jack und strich sich welche von seinen schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Gott, wie ich dieses Gesicht mit den azurblauen Augen vermisst hatte. Auch wenn man so etwas eigentlich nicht über seinen Englischlehrer denken sollte. Aber normalerweise sollte man seinen Englischlehrer ja auch Siezen. Das bekam ich nur einfach nicht mehr auf den Schirm, dafür kannte ich Jack mittlerweile einfach zu gut. Ich zuckte beiläufig mit den Schultern und schob mir die Gabel in den Mund. «Manchmal tut das ganz gut.» «Es tut gut, sich die Lunge mit Teer vollzupumpen?!» Ich grinste breit. «Nein, aber es tut gut etwas zu tun, was meine Eltern nicht kontrollieren können.» Jack sah mich vielsagend an. «Deswegen auch das da?» Er deutete auf das Piercing in meiner Lippe. «Nö, das fand ich schick.» «Tat das weh?» Er beäugte es schräg, als hätte er noch nie ein Piercing gesehen. Ich grinste. «Was glaubst du wohl?» «Keine Ahnung, sich ein Stück Metall durch die Lippen zu hauen ist bestimmt nicht sonderlich angenehm.» Ich nickte und schob mir eine weitere Gabel in den Mund. «Du hast es erfasst.» «Wieso tut man so etwas?» «Ich sag ja, ich finde es schick.» «Meine Meinung dazu erspare ich dir lieber.» «Vermutlich besser so.» Ich schluckte den Salat hinunter, ehe ich nachschob. Jack beäugte mich die ganze Zeit dabei skeptisch. Genervt ließ ich die Gabel fallen. «Du starrst mich an wie ein kranker Psycho, würdest du das bitte lassen?!» «Was hattest du eigentlich mit der Bratpfanne vor?», fragte er, stand auf und hob das gute Stück auf. Ich grinste schief. «Zuschlagen, was sonst.» «Nett.» Jack schnitt eine Grimasse. «Ich dachte, du wärest ein Einbrecher oder so.» Ich verdrehte die Augen, ehe ich erneut die Gabel zur Hand nahm. «Ich weiß schon, wie ich mich verteidigen muss. Es ist echt völlig überflüssig, dass du hier bist.» «Dein Vater macht sich Sorgen», erwiderte Jack. «Klar. Als ob ihm das nicht scheiß egal wäre.» Ich leerte den Rest der Schüssel und schob ihn mir in den Mund. «Wolltest du eigentlich auch was?» «Ist ja nicht mehr allzu viel von über.» Jack sah vielsagend auf das Porzellan. «Wir könnten `ne Pizza bestellen, wenn du willst.»

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«Ich hab schon gegessen, danke.» «Klar, vermutlich gedünstete Sojasprossen oder einen köstlichen Tofuauflauf», spottete ich. Jack verdrehte die Augen. «Wie alt warst du nochmal?» «16, seit einer Woche», grinste ich stolz. «Echt? Herzlichen Glückwunsch nachträglich!», rief er. «Danke.» Ich lächelte gut gelaunt. «Du bist der Erste, der mir gratuliert!» «Ist nicht dein Ernst!» «Doch, tatsächlich», nickte ich. Mein Geburtstag war an dem Tag gewesen, an dem Lucy von ihrer Woche auf dem Reiterhof nach Hause gekommen war und mein Piercing entdeckt hatte. Und wohl offenbar auch die Ratte in mein Zimmer geschmuggelt hatte. In all dem Chaos hatte wohl irgendwie keiner mehr an meinen Geburtstag gedacht. Mich eingeschlossen. «Deine Freunde?! Deine Eltern??» «Fehlanzeige.» Ich schnitt eine Grimasse, während Jack vom Tisch aufsprang und die Schränke durchsuchte. Hatte wohl doch noch Hunger bekommen. Ich stand auf und stellte die leere Schüssel in die Spüle, um etwas Wasser hineinlaufen zu lassen. Als ich mich wieder dem Raum zuwandte, stand Jack vor mir und hielt mir einen Puddingbecher entgegen. «Äh, Jack?» Ich sah ihn zweifelnd an. «Was soll das denn?!» Auf dem Puddingbecher stand ein angezündetes Teelicht. «Dein Geburtstagskuchen!», rief er. Der Kerl war noch durchgeknallter, als ich gedacht hatte. «Jack, das ist Pudding», informierte ich ihn. «Ja und? Pudding schmeckt sowieso viel besser als Kuchen.» Ich lachte los. «Meinst du, ja?» «Na klar! Man hat keine nervigen Krümel, die überall liegen bleiben oder einem zwischen den Zähnen stecken bleiben, Pudding ist noch viel schokoladenhaltiger und in Pudding ist auch noch gesunde Milch und nicht so viel Zucker.» Ich sah ihn an, als wäre er irre. Was er ja auch ganz offensichtlich war. Dann lachte ich erneut los. Und dieses Mal so richtig. Ich hielt mir den Bauch vor Lachen und mir stiegen die Tränen in die Augen. «Pudding krümelt nicht. Mein Gott, das ist die Erkenntnis des Jahrhunderts.» Jack grinste breit und ich sah ihn erneut fragend an. «Pudding?» «Pudding.» «PUDDING?!» Jack zog eine Grimasse. «Jetzt puste schon die verdammte Kerze aus, ich gebe mir hier echt Mühe!» «Das ist ein Teelicht.» «Halt die Klappe.» Lachend pustete ich den brennenden Docht aus und wünschte mir, dass meine Mutter von einer ihrer Kuren einen ganz fiesen Ausschlag bekam. Das wäre ziemlich amüsant. Aber ich hatte nicht allzu viel Hoffnung, dass es wirklich klappen würde. «Jack?» Ich stellte das Teelicht auf der Arbeitsplatte ab. «Hm?» «Ich bin echt froh, dass mein Vater dich dazu genötigt hat, meinen Babysitter zu spielen.» Grinsend nahm ich ihm den Löffel aus der Hand und öffnete den Puddingbecher. «Du wirst dir nie angewöhnen, mich zu Siezen, oder?»

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«Geht irgendwie nicht mehr», erwiderte ich mit dem Löffel im Mund. Der Pudding war echt lecker. War ja auch Geburtstagspudding. «Gewohnheit, tut mir leid.» Wie gesagt, unsere Beziehung war irgendwie kompliziert. Die bestand nämlich nicht nur aus der Konstellation von Lehrer und Schüler, sondern auch irgendwie aus einer ziemlich merkwürdigen Freundschaft, die sich im letzten Schuljahr entwickelt hatte. Aber Jack war mit seinen 25 Jahren ja auch noch unnormal jung für einen Pädagogen und außerdem verdammt cool. «Aber wenn du schon meinen Geburtstag feiern willst, können wir das auch richtig machen.» Ich stellte den leeren Puddingbecher zu der Porzellanschüssel in die Spüle und ging an den Kühlschrank, um eine teure Flasche Champagner rauszunehmen. «Virginia? Es ist noch nicht mal sechs Uhr durch», sagte Jack, als ich das Aluzeugs um den Hals entfernte. «Ja und? Ich bin jetzt sechzehn, ich darf Sekt trinken», grinste ich, als der Korken von alleine losging und eine Delle in unsere Kücheneinrichtung schlug. Der Schaum stob aus dem Flaschenhals und lachend setzte ich die Flasche an den Mund und trank das Übergelaufene ab. «Ich weiß schon, warum dein Vater dich nicht alleine lassen wollte», murmelte Jack, als ich ihm die Flasche entgegen hielt. «Ich trinke keinen Alkohol. Danke.» «Echt nicht?», fragte ich und nahm einen weiteren Schluck von dem herrlich prickelnden Gesöff. Schmeckte nicht besser als der Sekt aus einem Supermarkt auch. Hatte vermutlich nur das Zehnfache gekostet. «Nein.» «Wieso nicht?!» «Weil ich es nicht mag.» Ich verdrehte die Augen. «Komm schon, wir gehen schwimmen. Hast du unseren Pool schon gesehen? Der ist eigentlich ganz cool, jedenfalls, wenn meine Mutter nicht gerade mit ihren Weibern da rumlungert.» Jack seufzte leise auf, folgte mir aber widerwillig nach draußen auf die Terrasse und sah dabei zu, wie ich einen Hechtsprung in das Wasser machte, ohne mir die Mühe zu machen und vorher die Klamotten abzulegen. «Komm schon, Jack!», rief ich und schwamm zum Rand, um nach der Champagnerflasche zu greifen, die ich da abgestellt hatte. «Es ist babypissewarm.» Ich grinste breit. Jack beäugte mich skeptisch und ich setzte einen Schmollmund auf. «Gib dir einen Ruck! Sonst komm ich raus und schubs dich!» «Du bist `ne Nervensäge», grinste er und sprang ebenfalls ins Wasser. Sturmfreie Bude war schon was Feines.

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Kapitel 2 «Gott, wie lange bist du schon wach?», fragte ich gähnend und fuhr mir mit der Hand durch das vermutlich noch sehr knitterige Gesicht. Jack stand in der Küche und machte Frühstück. Er briet sogar Rührei in der Pfanne. «Seit halb sechs», antwortete er, als wäre es das normalste der Welt. War es definitiv nicht. Wir hatten Ferien, hallo?! «Wo ist denn Anette?», erkundigte ich mich nach dem Hausmädchen, das eigentlich fürs Frühstück zuständig war. «Die habe ich nach Hause geschickt», erklärte er schulterzuckend. «Ihr ging es nicht so gut.» «Wahnsinn, mein Kopf dröhnt, als wäre ich gestern im Vollrausch gewesen», brummte ich und ließ mich an den Esstisch fallen. Jack lachte los. «Das kommt, weil du frontal mit dem Gesicht gegen diesen Balken an der Treppe gerannt bist.» «Oh Gott, ja», seufzte ich und legte den Kopf in den Nacken, in der Hoffnung, das würde helfen. Tat es aber nicht. Davon wurde mir nur schwindelig. «Ich erinnere mich wieder.» «Sieht auch ein bisschen matschig aus, wenn du mich fragst.» Jack kam zu mir, stellte die Pfanne auf den Tisch und beäugte mich schräg. «Das wird ein blaues Auge, fürchte ich.» Ich verzog das Gesicht. «Wie viel Uhr ist es überhaupt?» «Halb zwei. Du hast den halben Tag verschlafen.» «Ich weiß nicht mal mehr, was ich im Keller gewollt habe!», rief ich verwirrt. «Da unten war ich seit zweihundert Jahren nicht mehr.» «Du bist älter, als du aussiehst, hm?», witzelte Jack und ging zum Kühlschrank rüber, um Eis zu schreddern. «Und du hast auf jeden Fall irgendwas davon gefaselt, dass du es ihr heimzahlen würdest. Was auch immer. Klang gruselig.» Er schlug ein sauberes Spültuch auf und häufte das gecrushte Eis darauf. «Oh, ach ja.» Lucy kam in drei Tagen zurück und ich wollte ihr einen netten Empfang bereiten. Aber was hatte ich dafür gebraucht? «Hier.» Jack kam mit seiner Eisbombe zu mir und legte sie mir auf das Auge und die Stirn. «Wusstest du, dass man von Kälte Gehirnfrost kriegen kann?», fragte ich, während die Kälte den Schmerz dämpfte. Angenehm, das musste ich zugeben. Jack schmunzelte. «Tatsächlich?» «Ja, wirklich! Eine ehemalige Freundin von mir hat im Supermarkt gejobbt und da ist irgendwann ein Typ an ihr vorbei zum Ausgang gegangen und ohnmächtig geworden, weil der Idiot versucht hat, ein tiefgefrorenes Hähnchen unter seiner riesigen Mütze aus dem Laden zu schmuggeln.» Jetzt lachte er richtig los. «Im Ernst?» «Ja!», rief ich grinsend. «Ich glaube jedenfalls, zu viel Eis für meinen Kopf ist nicht gesund.» «Es ist ja auch nur, um ein bisschen die Schwellung abklingen zu lassen. Wenn es dir zu kalt wird, nimm es runter.» Er setzte sich und fing an, sein Vollkornbrot mit Margarine zu bestreichen. «Willst du auch `nen Fruchtzwerg?», fragte ich gähnend und quälte mich zum Kühlschrank. «Du weißt schon, dass die einen in der Werbung belügen, oder? Davon wird man nicht größer.» «Ich bin gar nicht so klein!», rief ich empört. «Außerdem esse ich die, weil sie mir schmecken.» Ich hatte richtig Lust, meine Eisbombe nach ihm zu werfen, aber dann hätte ich auch keine

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Kühlung mehr für mein Gesicht gehabt. Stattdessen nahm ich zwei Fruchtzwerge aus dem Kühlschrank und setzte mich damit ihm gegenüber an den Tisch. «Brauchst du keinen Löffel?», fragte Jack stirnrunzelnd, als ich den Deckel abzog. «Die Dinger sind so klein, die kann man aussaugen», grinste ich und legte den Eisbeutel zwischenzeitlich zur Seite. Jack zog die Augenbrauen hoch und überschlug die Arme. «Na da bin ich ja mal gespannt, wie das aussieht.» Augenverdrehend schob ich mir die Öffnung des Fruchtzwergs ganz in den Mund und saugte, sodass der Quark mir in den Mund flutschte. Jack brach in schallendes Gelächter aus. «Das ist nicht dein Ernst, oder?» «Was denn?» Grinsend setzte ich ab und pulte mit der Zunge die Reste aus den Ecken. «Das ist viel praktischer und man muss nicht mal was spülen!» «Du weißt ja gar nicht, wie albern das aussieht», lachte Jack, während ich zum zweiten ansetzte und abbrach. «Guck mich nicht die ganze Zeit so an, so kann ich nicht essen!» «Das ist kein Essen, was du da machst, das ist Vergewaltigung eines Fruchtquarks!», stellte Jack fest und biss in sein Brot. Ich lachte los. «Du hast eine Meise! Herrgott, die Teile sind doch wirklich winzig! Ich esse die immer so!» «Und da hat noch nie jemand was zu gesagt?» «Normalerweise guckt mir ja nie jemand dabei zu», sagte ich augenverdrehend, stellte den leeren Becher weg und schaufelte mir von dem Ei auf den Teller. «Was sind das für Figuren auf deinem Schlafanzug?», fragte Jack skeptisch. Ich grinste schief. «Das sind Elfen.» «Im Ernst? Sehen irgendwie aus wie androgyne Wichtel.» «Niedliche Elfen!», widersprach ich. Jack grinste spöttisch. «Jedenfalls ganz herzallerliebst. Wobei mir die Kätzchen letzte Woche noch einen Tick besser gefallen haben.» «Was denn?! Ich mag die Schlafanzüge! Sau bequem.» «Und auch äußerst schick, keine Frage», nickte er kauend. Ich streckte ihm die Zunge raus und schob mir eine Portion Rührei in den Mund. «Hey!», rief ich. «Das ist richtig gut!» «Na klar ist das gut. Ich hab's ja gemacht.» «Gar nicht selbstüberzeugt, was?», grinste ich und nahm mir eine Scheibe Toast zu dem Ei. «Willst du nach dem Frühstück lieber Englisch machen oder trainieren?», fragte er und ich verzog angewidert das Gesicht. Irgendwie hatte Jack das Gefühl, aus meinen Ferien so etwas wie eine Lerneinheit zu machen. Das war ganz furchtbar. Jeden Tag kam er wieder damit an. Für das Training war ich ja noch zu haben, aber Englisch war definitiv das Letzte, mit dem ich meine freie Zeit vergeuden wollte. «Wir könnten in die Stadt fahren. Ich zeig dir meine Lieblingsecken, wie wär's?» Jack verdrehte die Augen und nahm sich eine neue Scheibe Brot. «Wenn wir vorher eine Stunde Englisch machen und eine Stunde trainieren, bin ich dabei.» «Je eine halbe Stunde», versuchte ich zu verhandeln. «Auf keinen Fall. Du bist vielleicht ganz gut im Hörverstehen und im freien Sprechen, aber deine Grammatik ist eine Katastrophe und von deinem Wortschatz will ich gar nicht erst anfangen.» Blabla. Wie mir dieses Lehrergequatsche auf die Nerven ging! «Schriftlich bist du auf dem Stand einer Achtklässlerin, Virginia.»

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Ich zog eine Schnute und kratzte den Rest Rührei aus der Pfanne. «Ich kann mir einfach keine Vokabeln merken!» «Dann üb dich darin!» Er seufzte auf. «Und bei so viel Cholesterin, wie du gerade zu dir genommen hast, sollten wir vielleicht lieber zwei Stunden trainieren.» «Du bist selbst schuld, wenn du Rührei machst!», fauchte ich. Jack grinste breit. «Komm schon. Danach lass ich mich auch bereitwillig in der Stadt rumführen.» Grummelnd gab ich nach, stand auf und stellte die Pfanne in die Spüle. «Dafür machst du den Abwasch», grinste ich und verschwand aus der Küche, um mich anzuziehen. So ging es die wenigen, restlichen Tage weiter und ich war fast sogar erleichtert, als mein Vater nach Hause kam und Jack sich verabschiedete. Lucy tauchte ebenfalls wieder zu Hause auf, ehe ich mir ein gescheites Rachemanöver hatte einfallen lassen. Daran war so gesehen Jack Schuld. Er hatte mich so sehr die ganze Zeit in Aktion gehalten, dass ich einfach keine Zeit gehabt hatte, um in Ruhe darüber nachzudenken. Vielleicht war es im Nachhinein besser so, weil man sich bei Lucy sicher sein konnte, dass es doppelt so schlimm auf einen zurückfiel. Ich beschloss also, ausnahmsweise die Erwachsenere zu spielen und sie schlichtweg zu ignorieren, obwohl sie immer wieder blöd zu mir rüber grinste und Kommentare abgab, die indirekt auf die Ratte anspielten. Es waren nur zwei Tage, die ich mit ihr aushalten musste und sie kosteten mich meine ganze Selbstdisziplin. Meine Mutter ließ sich auch am Tag meiner Abreise noch nicht wieder blicken und mein Vater war die ganze Zeit mit der Arbeit beschäftigt. Ich konnte also nicht von mir behaupten, sonderlich traurig darüber zu sein, nach Elfenstein zurückzukehren. Denn so gesehen war das Internat gar nicht so schlimm im Vergleich zu meinem Zuhause. Frank brachte mich zum Bahnhof und verabschiedete sich von mir als einziger, ehe ich in den Zug einstieg und mich auf einen Vierersitz fallen ließ. Ich hatte Glück, dass ich so rechtzeitig am Gleis gewesen war, denn der Zug füllte sich nach und nach immer mehr. Eine ältere Frau mit furchtbar schlecht gefärbtem Haar und einer Tweedjacke setzte sich mir direkt gegenüber hin und ich fuhr erschrocken zusammen, als ich das Gesicht sah. Die kannte ich. Ach du Scheiße! Panisch schmiss ich mir meine Kapuze über den Kopf und wandte mich dem Fenster zu, damit mich meine ehemalige Lehrerin nicht erkannte. Tat sie vielleicht sowieso nicht. Als sie mich das letzte Mal gesehen hatte, war ich in der neunten Klasse gewesen und sie hatte mich mit Jannis Drescher beim Rumknutschen hinter der Turnhalle erwischt und war völlig durchgedreht, vermutlich, weil sie seit Jahrzehnten selbst kein Liebesleben mehr hatte und es nicht ertrug, wenn andere Menschen glücklich waren. Danach folgten eine überaus amüsante Strafpredigt ihrerseits und der etwas unangebrachte Ausraster von Jannis, der mit so etwas leider gar nicht umgehen konnte. Ich hatte ihn gerade noch davon abhalten können, der guten Frau eine runterzuhauen. Stattdessen hatte er sich damit begnügt, ihr ins Gesicht zu spucken. Er war danach von der Schule geschmissen worden und ich hatte ihn nie wieder gesehen. Schade eigentlich. Jannis war kein schlechter Kerl. Er hatte Probleme, ja. Aber die hatte ja jeder irgendwie. Und zu mir war er immer nett gewesen. Jedenfalls saß mir Frau Möhring jetzt gegenüber und ich war wirklich nicht besonders scharf drauf, mit ihr eine Unterhaltung zu führen. Ich musste noch einige Stunden in dem Zug aushalten, das würde ich auf keinen Fall überstehen, wenn ich dazu gezwungen sein würde, mit ihr zu reden.

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Glücklicherweise verkroch sie sich nach kurzem Gewusel hinter einer Zeitung, die groß genug war, um ihre riesige Nase zu verbergen. Ich nahm die Kapuze also vom Kopf, weil ich sonst an Hitzeschlag sterben würde, und stopfte mir einen Streifen Kaugummi in den Mund, in der Hoffnung, das würde den muffigen Geruch irgendwie überdecken. Der Zug schien nicht das neueste Modell zu sein, jedenfalls roch er so, als wäre schon der ein oder andere Passagier drin gestorben. Vielleicht war es aber auch Frau Möhring die so roch, weil sie innerlich bereits verweste. Ich konnte es nicht genau sagen. Als der Zug anrollte, sprang die Klimaanlage an und machte das Ganze ein bisschen erträglicher. Seufzend kaute ich auf meinem Kaugummi herum und starrte aus dem Fenster. «Würden Sie das bitte unterlassen?!», kam die schnippische Stimme von mir gegenüber und Frau Möhring ließ die Zeitung sinken, um mich finster anzustarren. Weil ich keine Lust auf Stress hatte, grinste ich höflich, öffnete das Fenster und spuckte das Kaugummi so weit wie möglich nach draußen. Es war wohl in dem Moment, in dem sie mich erkannte. Trotz neuer Frisur. «Oh mein Gott!», rief sie und ließ die Zeitung vollends sinken. «Virginia Parker!» «Ich… äh… Nein?» Was Besseres fiel mir so spontan nicht ein. Ich ließ mich zurück in den Sitz fallen, während sie mich jetzt mit ihrem Blick an den Sitz nagelte. Hätte ich die blöde Kapuze mal aufgelassen. «Ich habe dich ja seit… über einem Jahr nicht mehr gesehen! Gehst du nicht mehr zur Schule?» «Jo», nickte ich, weil ich es amüsant fand, ihren Vorstellungen von meinem Werdegang gerecht zu werden und setzte noch einen oben drauf: «Bin abgebrochen.» «Du hast abgebrochen. Nicht bist.» Da sprang sie als Deutschlehrerin natürlich sofort drauf an. «Wie auch immer.» Ich verdrehte die Augen. «Und Sie sitzen immer noch in diesem Scheißloch fest?» «Da hat sich so einiges geändert», versuchte sie mir weis zu machen. Na klar. Es war ihr sogar peinlich, an dieser Schule zu arbeiten. «Und wo geht's heute hin? Du bist aber nicht von zu Hause abgehauen, oder?» Jetzt bekam sie doch tatsächlich Panik. Wahrscheinlich würde ihr schlechtes Gewissen sie dazu zwingen, sich meiner anzunehmen. Wurde ja immer besser. «Ne, ich fahr wieder zurück nach Elfenstein. Das` jetz` mein neues Zuhause.» «Ist das… eine Einrichtung für… schwierige Jugendliche?» «Jo.» Ich konnte mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen. Vor allem nicht, wenn ich daran dachte, wie sie heute Abend nach Elfenstein googeln würde und sich die Seite des Eliteinternates ansah. Immerhin schien sie etwas beruhigter zu sein. «Und… wie kommst du da so zurecht?» «Jo», machte ich erneut. Konnte sie nicht einfach die Klappe halten und wieder hinter ihrem dämlichen Wirtschaftsmagazin verschwinden?! «Ich finde das ganz toll, dass du versuchst, dich zu bessern.» Wenn sie nicht bald die Klappe hielt, würde ich kotzen. Direkt auf ihre hässlichen Schuhe. Da waren Broschen dran. Blümchenbroschen. Hallo?! «So, ich muss hier aussteigen», sagte Frau Möhring, als der Zug langsamer wurde. Gott sei Dank. Sie stand auf und griff sich ihre Sachen. «Ich wünsche dir noch ganz viel Erfolg und toi, toi, toi!» Damit verschwand sie in Richtung Ausgang und ich musste mich mächtig zusammenreißen, um ihr nicht irgendetwas hinterherzuwerfen. Die Zugfahrt zog sich. Obwohl ich meinen Laptop mit hatte und dadurch immerhin zwei Stunden beschäftigt war, langweilte ich mich zu Tode. Besonders schlimm war die Fahrt durchs

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Emsland. Der Zug sah aus, als wäre er irgendwann in der Vorkriegszeit gebaut worden, und wir hielten in jedem noch so kleinen Kuhkaff, damit die ganzen Bauern auch nach Hause fanden. Dass es hier überhaupt Bahnhöfe gab, war erstaunlich. Für drei Häuser und einen Stall hätte ich bestimmt keinen Bahnhof errichtet. Dann endlich erreichten wir Lingen und ich bahnte mir den Weg bis zur Busstation durch. Da es Wochenende war und die öffentlichen Verkehrsmittel da noch seltener fuhren als in der Woche (als ob man am Wochenende nicht eher mehr unternehmen würde…), musste ich gut eine Stunde warten, bis der nächste Bus nach Elfenstein kam. Obwohl ich im Schatten stand, schwitzte ich wie ein Affe. Seufzend strich ich mir mit der Hand über den Nacken, der komplett kahl war. Immer noch ein ungewohntes Gefühl. Hatte aber den Vorteil, dass die Haare nicht noch zusätzlich wärmten. Ich pustete mir eine der kurzen Strähnen aus dem Gesicht, setzte meine Sonnenbrille wieder auf die Nase und stieg mit meinem Seesack in den Bus, als er endlich vor mir hielt. Außer mir saßen nur vier andere Schüler im Bus. Sonst fuhr quasi niemand in die Richtung dieser Linie, sie endete am Internat und dazwischen gab es nur zwei Stopps, wo jeweils drei Bauernhöfe lagen. Da erst Morgen das Auditorium und damit der offizielle Schulbeginn stattfinden würden, waren vermutlich noch nicht allzu viele Schüler in Elfenstein. Das dachte ich jedenfalls. Aber ich hatte mal wieder die geballte Streberkraft an unserer Schule vergessen. Da gab es nämlich nur einen sehr geringfügigen Anteil normaler Menschen, wohingegen der überragende Rest irgendwie gehirnamputiert war und wie fleißige Lernmaschinen agierte. Jedenfalls war es voll wie eh und je, als ich die Eingangshalle betrat. «Was geht, ihr Pissnelken?!», rief ich und grinste gut gelaunt in die Runde. Einige der Schüler ignorierten mich, weil sie nichts anderes von mir gewohnt waren, ein paar sahen entsetzt aus, andere wiederum angewidert. Nur die wenigen Neuen an der Schule sahen neugierig rüber und begutachteten mich abschätzend. «Ginny!» Star kam auf mich zu gerannt und riss mich mit sich zu Boden. Lachend schob ich sie von mir runter. «Du hast dich die ganzen Ferien nicht gemeldet, du Verräterin!» Star schnitt eine Grimasse. «Hast du meine Mail nicht bekommen? Mein Vater hat mir mein Handy abgeknöpft und mir Telefon und Internetverbot erteilt, nachdem ich in der dritten Nacht von den Bullen nach Hause kutschiert worden bin!» Ich lachte los und rappelte mich wieder auf. «Im Ernst? Was hast du gemacht?!» «Ein paar rassistische Wahlplakate abgerissen, echt nichts Gravierendes.» Sie verdrehte die Augen. «Anstatt dass sich meine Eltern freuen, dass sie eine politisch engagierte Tochter haben! TZ!» «Ist dein Vater nicht Politiker?» «Klar, deswegen hat's ihn ja so aufgeregt», grinste Star. «Von wegen schlechter Eindruck und so. Ach, er ist eh `n ziemlicher Spießer. Was soll's. Deine Haare sind geil!» Sie fuhr mir mit den Fingern durch die kurzen Strähnen. «Steht dir voll gut!» Grinsend schüttelte sie ihren eigenen wirren Krauskopf, der in den verschiedensten Farben erstrahlte. «Wie waren deine Ferien? Was hast du so erlebt?» «Meine Schwester hat mir eine tote Ratte in die Matratze eingenäht und ich hab es erst Tage später bemerkt», erzählte ich, während wir zusammen hoch zu unserem Zimmer gingen. Es war

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das Einzige, das nicht im ersten Stock lag, wie alle anderen Mädchenschlafräume, sondern sich zwischen dem ersten und zweiten Stock befand. Genau dort, wo die Treppe eine Drehung machte, war unsere Tür. «Ist ja ekelig!», rief Star angewidert und öffnete eben diese in jenem Moment. «Dabei hast du es nicht mal gerochen», feixte ich und schmiss meinen Seesack in die Ecke von meinem Bett. Stirnrunzelnd blickte ich zu dem vierten Bett in unserem Zimmer, das im letzten Jahr unbenutzt gewesen war. Es war bezogen. Mit Bambibettwäsche. «Was… zum Geier?!» Star schnitt eine Grimasse und setzte sich aufs Sofa. «Sie haben Lisa Arschkuh zu uns ins Zimmer gepackt.» «Ach du Scheiße!», rief ich. «Das halte ich nicht aus! Nicht ein ganzes Jahr!» Lisa Arschkuh war unsere Schulschleimerin Nummer 1. Sie kroch jedem Lehrer so weit in den Arsch, wie sie nur eben konnte. Daher ihr passender Spitzname. Obwohl ich eigentlich mittlerweile ganz gut mit ihr klar kam, seit wir im letzten Jahr einiges zusammen durchgemacht hatten, war sie definitiv der letzte Mensch auf Erden, mit dem ich in einem Zimmer schlafen wollte. Und, Herrgott, wieso hatte sie scheiß Bambis auf ihrer scheiß Bettwäsche?! War sie zehn?! Verdammt, jetzt würde ich jeden Morgen an ihr furchtbares Intimtattoo denken müssen, das sich für alle Ewigkeiten auf meine Netzhaut gebrannt hatte. Ich hatte eine Woche auf Klassenfahrt mit Lisa Arschkuh in einem Zimmer verbringen müssen und das waren die schlimmsten Nächte aller Zeiten gewesen. Lisa hatte nämlich echt krasse Paranoia und nach ihrer Entführung letztes Jahr hatten sich diese vermutlich noch verdreifacht. «Wir ignorieren sie einfach», schlug Star vor. Ich schnitt eine Grimasse. «Das kannst du bei ihr nicht. Ich musste eine Woche mit ihr zusammen wohnen. Schon vergessen? Das ist die Hölle!» «Wenn sie uns auf'n Sack geht, schmeißen wir sie aus dem Fenster. Wird schon halb so schlimm.» Star zwinkerte mir zu. «Aber rate Mal, wer wiederkommt?!» «Alexa? Wirklich?!» Nachdem letztes Jahr immer mehr Schüler verschleppt worden waren, hatten die Eltern unserer dritten Zimmergenossin sie schließlich von der Schule genommen. Aber da die Verbrecher glücklicherweise gefasst worden waren, stand ihrer Rückkehr eigentlich nichts mehr im Wege. «Ja, aber sie reist erst morgen an.» Star lächelte gut gelaunt. «Warst du schon deinen Stundenplan abholen?», fragte ich, während ich mich aus der Jeans und dem Top schälte und in die Schuluniform schlüpfte. Ich beschränkte mich auf Rock und kurzärmelige Bluse, für alles andere war es eindeutig zu warm. Obwohl ich zugeben musste, dass es in den Räumen des alten Klostergebäudes angenehm kühl war. Den Rock krempelte ich oben zweimal um, damit er mir nicht mehr bis über die Knie ging und aussah wie von meiner Urgroßoma. «Ja, gestern schon.» Star schnitt eine Grimasse. «Sie haben das Fächersystem ein wenig geändert. Man kann die Nachmittagskurse jetzt selber wählen.» «Wirklich? Kann ich Physik abwählen?», fragte ich hoffnungsvoll. Star lachte los. «Nein, das nicht. Geh und guck es dir an. Ich bin hier und warte auf dich, wenn du mit dem Brüllen fertig bist.» Grinsend schlug sie die Arme übereinander und lehnte sich auf der Couch zurück. «Klingt ja aufbauend», antwortete ich und lief die Treppe wieder runter, um zum Sekretariat zu gehen.

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Die dicke Frau mit dem rosafarbenen Tweetanzug, genannt Miss Piggy, war nicht mehr da. Stattdessen saß hinter dem Tresen jetzt eine Frau, die etwa doppelt so alt war wie meine Oma. Ich wusste gar nicht, wie viele Falten ein Mensch überhaupt haben konnte! Wahnsinn. Sie sah aus wie eine Kraterlandschaft. Ich war mir auch nicht ganz sicher, ob sie noch lebte. Denn sie lag in ihrem Stuhl und hatte die Augen geschlossen. «Äh… Entschuldigung?», fragte ich vorsichtig. Sie rührte sich nicht. Ich räusperte mich. Wieder nichts. «Hallo?! Leben Sie noch?!», brüllte ich schließlich so laut, dass sie erschrocken hochfuhr und sich ans Herz griff. Nicht, dass sie jetzt einen Anfall hatte und doch noch starb. «Meine Güte, hast du mich erschreckt, Kindchen.» Kindchen. Ging ja mal gar nicht. Ich war keine sechs mehr. Meine Fresse. Ab wann wurde man eigentlich mal ernst genommen? Nur weil sie so alt war, ließ ich ihr das durchgehen. «Äh, ja», antwortete ich. «Ich wollte meinen Stundenplan abholen.» «Wie heißt du denn, Liebes?» Sie lächelte milde und setzte eine Brille auf, deren Gläser so dick waren, dass sie sicherlich auch als Schutzwände für einen Bunker funktioniert hätten. «Virginia Parker.» «Fierdschinja?», fragte sie und runzelte die Stirn. «Das ist ja ein schöner Name!» «Ja, und wie.» Ich grinste spöttisch. «Was bedeutet der Name denn?», fragte sie milde lächelnd und tippte so langsam auf der Tastatur herum, dass ich zwischendurch dachte, sie wäre wieder eingeschlafen. «Die Jungfräuliche», nickte ich und kreuzte die Arme vor der Brust. Jetzt kicherte die Alte albern und sah zu mir auf. «Wie tugendhaft!» «Äh… Ja. Ist aber nicht mehr allzu up to date, aber das kann ich meinem Vater ja schlecht auf die Nase binden, wenn ich um eine Namensänderung bitten würde.» Sie sah mich verständnislos an, weil sie wahrscheinlich kein Englisch konnte. Vielleicht besser so. Seufzend ging ich um den Tresen herum und tippte meinen Namen in die Suchanzeige ein, nachdem sie dreimal bereits Fehlmeldungen als Antwort erhalten hatte. «Ah, da bist du ja!», rief sie lächelnd. «Du kommst jetzt in die elfte Klasse! Für die Oberstufen wurde ein neues Fächersystem eingeführt. Hier ist dein vorläufiger Stundenplan.» Sie öffnete eine Datei und ich starrte auf die überfüllte Tabelle. Ging's denen noch ganz gut? Na immerhin nachmittags hatte ich immer frei. «Für die Nachmittagskurse kannst du dann aus diesem Angebot wählen. Jeder Schüler muss einen Kurs aus dem Bereich Kreativ und Handwerk und zwei Kurse aus dem Bereich Sport wählen.» «Das ist nicht Ihr Ernst, oder?! Wann soll ich denn mal durchatmen?!» «Ich mach die Regeln nicht», hob sie verteidigend die Hände. «Also. Das sind deine Wahlmöglichkeiten.» Sie reichte mir eine Liste und ich starrte wie eine Bekloppte auf die Auswahl. Kreativ. Das war ein Wort, das ich erst ein einziges Mal in meinem Leben zu hören bekommen hatte und das war in der neunten Klasse gewesen, als ich im Kunstunterricht lauter Penisse auf mein Blatt gemalt hatte und meine Lehrerin gedacht hatte, das wäre eine abstrakte Kaktuslandschaft. Man sah halt auch nur, was man wollte. Seufzend kreuzte ich schließlich Kunst an. Das war nicht meine größte Stärke, aber der Kurs hatte zwei Vorteile: Erstens, man blamierte sich nicht öffentlich wie beim Theater-, Musik- oder Schreibkurs. Die mussten nämlich in der Regel auf unseren sonntäglichen «kulturellen»

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Veranstaltungen vorführen und sich zum Affen machen. Ich hätte beinahe den Fehler gemacht und mich für Film entschieden, aber glücklicherweise hatte ich mir den Verlaufsplan für den Kurs genauer angesehen und festgestellt, dass in dem Fach keine normalen Filme geguckt wurden und dass ein großer Teil davon theoretisch war. Der zweite Vorteil, der mich zur Wahl des Kunstkurses geleitet hatte, war die Tatsache, dass Jack Langley das Fach unterrichtete. Der würde mich schon nicht durchfallen lassen. Und ich konnte ihn mit meinen tollen Peniszeichnungen beeindrucken. Vielleicht sah er ja keine Kakteen darin. Die Vorstellung von seinem Gesichtsausdruck brachte mich zum Grinsen, während ich weiter zu den Handwerkskursen ging. Ach du Scheiße war das wirklich deren Ernst?! Werken, Handarbeit, Elektrotechnik, Hauswirtschaft und Bildhauerei. Gut, dass da keine Geschlechterklischees bedient wurden. Ich hätte ja aus Protest Werken oder Bildhauerei gewählt, wenn ich nicht in meinem letzten Jahr an einer öffentlichen Schule im Werkunterricht meiner Mitschülerin einen Hammer fast ins Gehirn gerammt hätte. Sie hatte mehrere Wochen im Krankenhaus gelegen und war am Kopf operiert worden. Ich war in manchen Dingen doch eher unbegabt und, dass ich danach vom Werken ausgeschlossen worden war, sollte mir eigentlich Warnung genug sein. Da ich absolut überhaupt keine Ahnung hatte von Technik und ich wirklich keine Lust hatte, Kissen zu besticken oder Rüschen zu häkeln, wählte ich also schließlich das schlimmste aller Übel und belegte Hauswirtschaft. Beim Sport gab es eine etwas größere Auswahl, aber ich hatte weder Lust auf Tanz und Gymnastik noch auf Fußball. Ich wählte also die einzigen beiden Kurse, in denen ich wenigstens eine Waffe benutzen durfte, sodass ich den Lehrer zur Not umbringen konnte. Bogen und Degen waren zwar nicht die Sorte Waffe, die ich in einem ernsthaften Kampf wählen würde, aber besser als nichts. Nachdem Frau Hasenfuß, so stand es jedenfalls auf ihrem Namensschildchen, die Sachen in meinen Stundenplan übertragen hatte, blieb mir nur noch ein freier Nachmittag. War ja gigantisch. Das war ja die reinste Folter! «Wessen Idee war das?!», brüllte ich, als ich zurück in der Eingangshalle war. «Hey! Herr Mertens! Waren Sie das? Oder hat Direktorin Godzilla sich das ausgedacht, hm?!» «Willst du gleich den ersten Tag mit Nachsitzen verbringen, Virginia?», fragte mein Klassenlehrer lachend. «Das neue System wurde einstimmig von dem Schulrat abgesegnet. Also ist keine Einzelperson daran schuld.» «Wer sitzt in diesem Schulrat?!», fauchte ich und wedelte wie eine Bekloppte mit meinem Wisch vor seiner Nase herum. «Einige Elternvertreter, fünf Leute aus dem Vorstand, die Schulleiterin, der stellvertretende Direktor und der Vertrauenslehrer.» Ich schnappte empört nach Luft, drehte auf dem Absatz um und stürmte direkt auf Jacks Büro zu. Ich machte mir nicht die Mühe, anzuklopfen, sondern platzte so in den Raum. Jack ließ die Gabel fallen, die er gerade in seinen wirklich köstlich aussehenden Ökosalat gesteckt hatte, und starrte mich entgeistert an. «Was zum …?!», brachte er noch raus, ehe ich die Tür hinter mir zuknallte und ihm seinen Salat entgegenschmiss. «Virginia! Bist du geistesgestört?!» Salatdressing tropfte von seiner Stirn. War ja klar, dass der nur Essig und Öl auf seine Blumen goss. Yoghurtdressing war bestimmt zu fetthaltig.

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«DU hast dem hier zugestimmt!», schrie ich und klatschte ihm meinen Stundenplan auf den Schreibtisch. «Wenn hier einer geistesgestört ist, dann bist das jawohl du!» «Oh, du hast Kunst bei mir belegt, wie schön», stellte er fest. Ich kreischte wütend auf und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. «Wir haben keine Freizeit mehr!» «Doch, an den Wochenenden. Und ab 17 Uhr. Guck mal, du hast sogar den ganzen Freitagnachmittag frei und montags und donnerstags hast du nur bis vier Uhr!» «Willst du mich verarschen?! ICH SITZE DEN GANZEN VERDAMMTEN TAG NUR NOCH IM UNTERRICHT!» «Ja, wird Zeit, dass du mal was lernst, wenn du mich fragst», konterte er. Ich fauchte ihn giftig an, griff mir meinen Stundenplan und stapfte zurück zur Tür. «Ich hasse Kunst. Und ich bin gänzlich unbegabt. Das Einzige, was ich malen kann, sind Penisse.» Damit schmiss ich die Tür wieder hinter mir zu und sah zu, dass ich zurück in unser Zimmer kam. Star lachte, als sie mich sah. «Ich hab dich bis hierher hören können. Der arme Mertens.» «Nicht nur der», knurrte ich und ließ mich neben sie auf das Sofa fallen. «Sieh dir diese Sauerei an!» Sie griff sich den Zettel und grinste. «Super, wir haben Fechten zusammen! Aber wieso zur Hölle hast'n du Hauswirtschaft belegt?» «Verbrennungen sind irgendwie noch das kleinste Übel», erwiderte ich seufzend. «Und wieso haben wir Fechten zusammen? Du bist zwei Jahrgänge über mir!» «Die Nachmittagskurse haben die Oberstufenschüler zusammen. Damit so Kurse wie Bogenschießen mehr als nur zwei Mitglieder haben. Vermutlich werdet ihr trotzdem nicht mehr als zehn sein.» Sie sah mich feixend an. «Wieso wählst du das auch?!» «Damit ich jemanden abschießen kann», gab ich schulterzuckend zurück. Star lachte los. «Gott, ich hab dich echt vermisst, Ginny.» Sie drückte mich an sich und stand auf. «Lisa Arschkuh müsste bald zurück sein, wie wäre es, wenn wir uns in die Stadt verziehen, solange wir noch Freizeit haben?» «Ausgezeichnete Idee», nickte ich und griff nach meiner Sonnenbrille.

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Kapitel 3 Alexa hatte Recht behalten mit ihrer Behauptung, dass im Auditorium jedes Jahr das Gleiche erzählt wurde. In erster Linie verbreitete Frau Hartmann mit ihrer über die Maßen kolossartigen Erscheinung Angst und Schrecken und brüllte uns die Regeln entgegen. Ich kannte sie in und auswendig, nicht umsonst hatte ich letztes Schuljahr die meisten davon gebrochen. Es gab hier sogar Kleiderregeln. Als ob das bei Schuluniformen nicht überflüssig gewesen wäre. Aber ich hatte den Wisch mit eigenen Augen gesehen. Er hing im Büro der Direx, direkt neben dem Gemälde mit dem alten Sack drauf, der irgendwann mal diese Schule gegründet hatte. Dort stand genau gelistet, wie lang der Rock sein musste und dass maximal der oberste Knopf von der Bluse geöffnet sein durfte. Total bekloppt. Nicht, dass ich mich daran halten würde. «Frühstück gibt es von sieben bis neun Uhr, ab neun Uhr beginnt der Unterricht. Mittagessen wird in der Zeit von 12 bis 14 Uhr bereitgestellt und Abendessen von 18 bis 20 Uhr. Ab neun Uhr ist es den Schülern untersagt, sich noch in Räumlichkeiten außerhalb ihrer Zimmer aufzuhalten. Ab zehn Uhr ist Bettruhe, ab da wird das Licht in den Zimmern ausgemacht! Das Gelände von Elfenstein reicht sehr weit, aber es ist nicht gestattet, sich ohne Begleitung oder Genehmigung weiter als bis auf fünfhundert Meter von der Schule zu entfernen.» Wahnsinn, sie benutzte sogar genau dieselben Worte wie letztes Jahr. Ob sie das ablas? Oder kannte sie den Scheißtext schon auswendig? Ich konnte es nicht genau sagen, aber nach dem Wort «Mittagessen» hatte ich geistig abgeschaltet und starrte wie ein betäubtes Meerschweinchen nach vorne. Ich hatte nicht allzu viel Schlaf abbekommen, in der letzten Nacht. Das war in erster Linie unserer neuen Zimmergenossin zu verdanken. Ich hatte Recht behalten mit der Vermutung, dass Lisa Arschkuh noch größere Paras bekommen hatte. Sie hatte nicht nur die Zimmertür von innen verriegelt, sondern auch den Griff vom Fenster mit Brettern gesperrt, damit wir auch ja keinen Sauerstoff bekamen. Ihr Pfefferspray stand direkt griffbereit auf ihrer Kommode neben dem Bett und den Baseballschläger hatte sie unters Kopfkissen geschoben. Das wären alles noch Dinge gewesen, mit denen ich klargekommen wäre. Das hatte ich ja auch auf Klassenfahrt irgendwie überstanden. Aber blöderweise halfen ihr mittlerweile keine Ohropax mehr beim Einschlafen. Die Stille ließ sie panisch werden, bis sie irgendwann kurz vorm Hyperventilieren war und ich sie schließlich wütend anbrüllte, dass sie ihre scheiß CD einfach anmachen sollte. Ich hätte mit einem Hörspiel leben können. Drei Fragezeichen wären cool gewesen. Meinetwegen auch noch Bibi Blocksberg. Oder anständige Musik. Aber kein Walgequietsche. Das ging einfach absolut gar nicht. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, Free Willy sprach zu mir und wollte, dass ich ihn rettete. Ich hatte die halbe Nacht wach im Bett gelegen und an die Decke gestarrt. Als ich dann versucht hatte, ihren dämlichen CD-Spieler auszustellen, war sie sofort hochgefahren und hatte nach ihrem Baseballschläger gegriffen und mir eine runtergehauen. Ich war nur froh, dass sie nicht erst das Pfefferspray gewählt hatte. Danach hatte ich jedenfalls solche Kopfschmerzen gehabt, dass ich erst recht nicht einschlafen konnte. Nach zwei Paracetamol und einigen Walgesängen später war ich dann irgendwann kurz nach fünf in einen komatösen Schlaf gefallen. Wirklich erholsam war das aber nicht gewesen, vor allem, weil sie mich um kurz nach acht wieder weckte, weil ich sonst das Frühstück verpasst

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hätte. Nicht, dass mir das nicht scheiß egal gewesen wäre. Ich hätte einfach bis zum Mittagessen weitergepennt. Immerhin hatten wir an diesem Tag noch keinen Unterricht. Aber Lisa Nervensäge fing an, mir einen Vortrag darüber zu halten, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit am Tage war und man sie auf keinen Fall verpassen sollte, sodass ich eh nicht wieder einschlafen konnte. Es war also nicht weiter verwunderlich, dass ich mitten im Vortrag der Hartmann wieder wegnickte. Das merkte ich allerdings erst, als ich von Free Willy und Walfängern träumte. Ein übertrieben lautes Räuspern ließ mich hochfahren. «Ich geh zu Greenpeace», murmelte ich schlaftrunken und öffnete die Augen. «Ist ja hochinteressant», nickte Jack, der vor mir saß und mich abwartend ansah. Er hatte die Arme vor der Brust gekreuzt und sah unverschämt gut aus. «Aber ich weiß wirklich nicht, ob die Leute aufnehmen, die geistig nicht zurechnungsfähig sind.» «War auch nur so `ne Idee», seufzte ich und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Wahnsinn, wo waren die ganzen Leute auf mal hin? Der Speisesaal war komplett leer. Und Jack saß so nah vor mir. Irgendwie gruselig. «Müde?» «Jetzt geht's wieder, danke», gähnte ich. Jack schnitt eine Grimasse. «Du bekommst zu wenig Schlaf, kann das sein? Warst du gestern Nacht heimlich aus?!» Er beäugte mich misstrauisch. Ich schnaubte auf und erhob mich. «Nein, war ich nicht! Und selbst wenn, die Schule fängt erst heute wieder offiziell an, also was kratzt es dich?!» Ich schob mich die Stuhlreihe entlang in Richtung Ausgang. «Virginia …» «Sag das nicht in so einem vorwurfsvollen Ton, verdammt!», fauchte ich und drehte mich zu ihm um. «Ich war nicht weg, okay?! Wenn du es genau wissen willst: Mich bringt diese Geistesgestörte um meinen Schlaf, die irgendjemand in mein Zimmer gesteckt hat!» «Meinst du Lisa? Wir dachten, das wäre eine gute Idee. Ihr schient euch letztes Jahr ganz gut verstanden zu haben und sie hat sonst keine Freunde hier.» «Wen wundert's. Gott, Jack! Die Frau ist völlig durchgeknallt! War das etwa deine Idee?!» «Nicht nur meine!», rief er verteidigend. Ich schnitt eine Grimasse und ging ein Stück zu ihm zurück. «Sie hat mir gestern eins mit ihrem Baseballschläger übergezogen. Da.» Ich zeigte ihm die Beule an meiner Stirn. «Die Frau gehört in Therapie, wenn du mich fragst!» «Das ist sie. Sie kommt einmal die Woche zu mir.» «Du bist kein Therapeut, du bist bloß Vertrauenslehrer. Du bist definitiv nicht qualifiziert, mein Lieber.» Ich kreuzte die Arme vor der Brust. «Ich hab in den Ferien einen Kurs belegt!», rief er und folgte mir jetzt zum Ausgang. «Wow, vier Wochen? Oder fünf? Den Rest der Zeit warst du jawohl anderweitig beschäftigt.» Ich warf ihm einen vielsagenden Blick zu und er schnitt eine Grimasse. «Sei nett zu mir, ich kann dich von den Sonntagsveranstaltungen freistellen.» «Tust du aber nicht», grinste ich und blieb vor der Tür stehen. «Aber wenn du so viel Einfluss hast, wieso nutzt du den dann nicht mal für was Wichtiges und sorgst dafür, dass die Blusen keine Puffärmel mehr haben?» Jack lachte los. «Das ist wirklich äußerst wichtig.» «Auf jeden Fall, damit sieht man nämlich absolut bescheuert aus», nickte ich und öffnete die Tür zur Eingangshalle.

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«Du musst übrigens die nächsten vier Freitage in der Küche aushelfen!», rief er mir hinterher. «Was?!» «Du bist eingeschlafen. Während eines Vortrages. Das fand Andrea irgendwie nicht so nett.» «Alter, was kann ich denn dafür?! Sie labert doch eh nur den gleichen Rotz wie letztes Jahr und ich war müde! Dann soll sie bitte diese Spinnerin aus meinem Zimmer nehmen!» Jack zuckte bloß mit den Schultern. «Ich kann das nicht entscheiden.» «Ja, dafür bist du dann wieder nicht wichtig genug, oder was?!», rief ich und knallte ihm die Tür vor der Nase zu, ehe ich zurück in unser Zimmer ging. Direkt am nächsten Tag begann bereits der Unterricht, ohne dass wir uns vorher darauf seelisch hätten vorbereiten können, dass wir quasi keine Freizeit mehr hatten. Bei mir startete der Montagmorgen mit einer netten Einzelstunde Englisch bei Mr. Langley, was eigentlich immer ganz lustig war, wenn es nicht am Montagmorgen gewesen wäre. Da mein Hirn sich da in der Regel noch nicht eingestellt hatte, lag ich wie eine Halbkomatöse auf meinem Pult und hatte allergrößte Mühe damit, meine Augen offen zu halten. Lisa Arschkuh hatte wieder die ganze Nacht Walgequietsche laufen lassen, sodass ich mir Ohrenstöpsel in die Ohren hatte stecken müssen, und mit lauter Musik dagegen gehalten hatte. Das hatte an sich super funktioniert und ich schlief relativ schnell ein, wachte dafür aber irgendwann nachts panisch auf, weil ich mich mit den Kabeln beinahe selbst stranguliert hätte. Die optimale Lösung war das also definitiv noch nicht. Jack ließ mich glücklicherweise in Ruhe und pampte mich nicht gleich in der ersten Stunde an, weil ich nicht zuhörte. Danach hatten wir Informatik, wo ich die Zeit nutzte, um meine Mails zu checken und im Schulchat mit meinem Internetfreund und ein paar anderen Leuten schrieb. In Deutsch hatten wir einen neuen Lehrer bekommen, den dynamischen Herrn Fuchs, der leider Gottes so viel Energie hatte, dass sie auch für zwei Personen gereicht hätte. Er konnte keine Minute still sitzen bleiben und rannte die ganzen Stunden im Klassenraum herum, sodass man auch in der allerletzten Reihe nicht seine Ruhe hatte. Zum Abschluss des Tages gab es dann noch zwei Stunden Fechten, auf die ich mich eigentlich schon gefreut hatte. Bis ich den Sportraum betrat und innerlich zusammensackte. Mein Lieblingsfreund Herr Peters stand da in viel zu engen, weißen Hosen und strahlte in die Runde und ich wäre am liebsten gleich wieder umgedreht. Ging aber nicht mehr, weil die Kurse ja schon verteilt waren. Und Star winkte mir bereits, als sie mich entdeckt hatte. Was aber noch viel schlimmer war, als Herrn Peters in diesen Hosen zu sehen, war der Unterricht. Wir fingen mit Theorie an. Ich konnte es kaum fassen. Ich wollte eigentlich nur so ein Säbeldingens in die Hand nehmen und loslegen, aber nein. Wir begannen mit dem historischen Hintergrund und gingen dann dazu über, die Unterschiede zwischen Florett, Degen und Säbel zu analysieren. Danach war mein Hirn so überfüllt mit Informationen, dass es wie bei einem großen Luftballon, den man nicht verknotet hatte, einfach wieder alles entwich. Ich war also genauso schlau wie vorher, nur total erledigt. Der Dienstag ging sogar noch länger, war aber dadurch entspannter, dass ich die letzten drei Stunden des Tages Kunst hatte. «Was… ist das?!» Jack stand vor mir und starrte auf das Blatt auf meinem Pult. Weil das die erste Stunde in diesem Jahr war und weil Lehrer am Anfang vom Schuljahr nie so richtig

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wussten, was sie mit einem anfangen sollten, durften wir malen, was wir wollten. Ich hatte mir wirklich Mühe gegeben. Mit den Penissen. «Eine Kaktuslandschaft», schlug ich vor und stellte amüsiert fest, dass ihm fast die Augen aus dem Kopf fielen. «Eine … Willst du mich verarschen?!» Ich konnte nicht mehr und brach in Gelächter aus. Alexa lugte zu mir rüber aufs Papier. «Wieso? Sieht doch ganz gut aus, fehlt nur ein bisschen Farbe für die … Kakteen», bemerkte sie und ihre Mundwinkel zuckten leicht. Jack warf mir einen vernichtenden Blick zu, ehe er sich von mir abwandte und mich mit meinen «Kakteen» alleine ließ, sodass Alexa und ich in stummes Gelächter ausbrechen konnten. Der Mittwoch fing ganz lustig an. Erdkunde nahm ja keiner so richtig für voll und Frau Müller war zwar ein ziemlicher Drachen, seit ich aber die Sache mit den knutschenden Rentieren auf ihrem Pullover und den Flamingo-Socken in ihren Schuhen wusste, wirkte sie auf mich auch kaum noch bedrohlich. Danach hatten wir Biologie und zur Abwechslung mal eine richtig lustige, neue Lehrerin. Sie war gerademal 26 und vielleicht deswegen noch nicht so völlig verrostet und altbacken wie alle anderen hier. Und sie sah sogar ganz passabel aus mit ihrem sportlich-schicken Stil und den blondroten Haaren. Wir lernten was über krass ekelige Spinnen und Nervengifte, was echt faszinierend war, sodass wir alle freiwillig dem Unterricht folgten. Mathe danach war Gott sei Dank kurz, weil wir den Fuchs gleich in zwei Fächern hatten. Und von Mathematik war er irgendwie noch begeisterter, sodass er wie auf Speed agierte. Nach der Mittagspause hatte ich dann zum ersten Mal Hauswirtschaft. Weder Star noch Alexa hatten den Kurs gewählt, sodass ich alleine in den Raum hinter der Mensa musste. Es waren mehr Leute da, als ich erwartet hatte, fast fünfzehn bis zwanzig sogar. Davon drei Jungs und einer davon saß bereits an der Kochstelle ganz hinten im Raum und grinste, als er mich sah. Mein Herz setzte einen Moment aus und ich holte tief Luft, ehe ich zu Chip rüber ging. Ich hatte ihn die ganzen Ferien über kein einziges Mal gesehen, auch wenn ich oft an ihn gedacht hatte. Wir hatten uns erst zum Ende des letzten Schuljahres bei einer ziemlich wilden Verfolgungsjagd kennen gelernt. Das schweißte irgendwie zusammen. «Du hier?», fragte ich amüsiert und setzte mich auf den Hocker neben ihn. «Das tust du dir freiwillig an?!» «Na klar!» Er lachte und schüttelte seine blonde Haarmähne. Waren die etwa gewachsen? «Ich koch ab und zu bei uns zu Hause, ich bin gar nicht so schlecht!» «Da hast du mir einiges voraus!» Ich schob meine Tasche unter den Tisch und drehte mich zu ihm um. «Du hast die Haare anders», stellte er fest und hypnotisierte mich mit seinen dunkelbraunen Augen. Wenn er im Schatten saß, wirkten sie fast schwarz. Irritiert blinzelte ich und nickte. «Ja, auf Dauer wird's sonst langweilig.» «Steht dir aber», lächelte er, ehe er sich nach vorne wandte, weil eine kleine Frau den Raum betrat. Sie war so winzig, dass ich sie beinahe übersehen hätte. Nur an den eindeutig schlabberigen Pädagogenklamotten konnte man sie erkennen. «Guten Tag, meine Lieben!», rief sie und hievte eine riesige Tasche vor sich aufs Pult, ehe sie auf einen kleinen Tritt stieg, um mit uns auf Augenhöhe zu sein. «Da viele von euch reichen,

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überprivilegierten, verwöhnten Gören nie in den Genuss gekommen sein werden, je einen Feudel oder einen Kochlöffel in die Hand genommen zu haben, hat die Schulleitung beschlossen, Hauswirtschaftsunterricht einzuführen, um euch auf euer vielleicht nicht ganz so glamouröses, zukünftiges Leben vorzubereiten.» Ich glotzte sie fassungslos an und zischte aus dem Mundwinkel zu Chip herüber: «Was ist ein Feudel?» Er lachte leise und malte mir einen gammeligen Putzlappen auf mein Pult. Das war alles?! Irgendwie enttäuschend. Außerdem war es ja nicht so, dass ich noch nie selbst mein Zimmer aufgeräumt hätte oder Staub gewischt hätte. Ich tat das nur meistens nicht, um meine Mutter zu ärgern. (Was meistens nicht funktionierte, weil dann das Hausmädchen alles erledigte.) Und von der Küche hielt ich mich meistens fern, weil ich einfach nicht begabt war, bei so was. Ich hatte einmal Spaghetti gemacht, als meine Eltern außer Haus gewesen waren und durfte dann von einem riesigen Teigklumpen mit Kohlestellen abbeißen. War ziemlich ekelig gewesen. «Wir haben ein paar Zutaten vorbereitet, die in den Fächern links neben euren Pulten sind. Am besten holt ihr die erst einmal hervor und bestimmt die einzelnen Sachen.» Ich dachte ja, sie wollte uns verarschen, aber offenbar gab es tatsächlich Leute, die noch nie Kohlrabi in seiner Ursprungsform gesehen hatten. Danach hielt sie ein kleines Gebet für die Zutaten ab. «Bedenkt bitte bei allem, was ihr esst, dass es irgendwoher kommt und dass es einmal gelebt hat. In jeder Pflanze und jedem Tier steckt ein Lebewesen.» «Meint sie das Ernst?», flüsterte ich und Chip grinste breit. «Ich schätze, sie geht jeden Monat bei Vollmond um Bäume tanzen.» Weil sie uns in unserer ersten Stunde nicht überfordern wollte, benutzten wir noch keinen Herd oder Backofen, sondern schnippelten bloß einen gesunden Salat. Ich war gerade dabei, die Paprika zu säubern, als sie zu mir rüber getänzelt kam. «Was machst du denn da?!», rief sie und sah mich entsetzt an. Stirnrunzelnd hielt ich inne. «Ich schneid das weiße Ekelzeugs raus», erklärte ich. Als ob das nicht offensichtlich gewesen wäre. «Das kann man alles mitessen!», protestierte sie. «Ja, kann man», nickte ich. «Muss man aber nicht.» Sie schnaubte empört. «In Afrika verhungern Kinder und ihr verhätschelten Jugendlichen schmeißt hier die Hälfte der Lebensmittel einfach weg!» «Wenn Sie wollen, dann können Sie ja die weißen Fusseln aufsammeln und nach Afrika schicken», gab ich von mir. Und das brachte sie endgültig zum Platzen. Sie plusterte sich auf wie ein kleiner Vogel und brüllte rum und hielt uns einen ellenlangen Vortrag über das unerhörte Verhalten von uns egozentrischem, anmaßendem Pack. Danach brummte sie mir meine erste Strafarbeit für dieses Jahr auf und schickte uns aus dem Raum. «Ich glaube, das wird der beste Unterricht dieses Jahr», grinste Chip, der mit mir gemeinsam den Korridor entlang ging. Ich schnitt eine Grimasse. «Sie liebt mich jetzt schon.» «Auf jeden Fall, ja.» «Und was machst du jetzt noch bis zum Abendessen?», fragte ich und blickte unauffällig zu ihm rüber, als wir die Eingangshalle erreichten. «Hausaufgaben.» Er schnitt eine Grimasse. «Muss sein.» «Okay, klar.» Was zur Hölle?! Ich schob mir den Träger meiner Tasche höher auf die Schulter. «Dann … Viel Spaß.» Seufzend wandte ich mich ab, um in Richtung Treppe zu gehen.

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«Hey!», rief er mir hinterher und ich drehte mich noch einmal um. «Sehen wir uns beim Abendessen?» «Klar», grinste ich und winkte gut gelaunt, ehe ich nach oben lief. Der Wahltag war am Sonntag, wie letztes Jahr auch, aber dieses Mal war ich vorbereitet. Ich hatte Samstag beim Abendessen mehrere Brote beschmiert und rausgeschmuggelt, die Star, Alexa und ich uns genüsslich reinschoben, ehe wir gemeinsam nach unten in den Speisesaal mussten. Der Wahltag war so ziemlich die langweiligste Erfindung, die sich je ein Pädagoge ausgedacht hatte. Und da er auf einen Sonntag fiel, konnte man nicht mal genießen, dass wir keinen Unterricht hatten. Wie letztes Jahr auch trällerte der Chor einige grausige Ständchen, ehe die Hartmann anfing, einen elend langen Text vor sich hin zu leiern. Dann bekamen wir endlich die Wahlzettel und durften unsere Kreuze setzen. Zu meinem größten Entsetzen stand mein Name schon wieder darauf. Das konnte jawohl nicht wahr sein! «Welcher Idiot schreibt mich eigentlich immer auf diese verfickte Liste?!», fauchte ich und strich vehement meinen Namen durch. «Das ist echt nicht lustig!» «Du warst letztes Jahr Klassensprecherin, da wirst du automatisch wieder auf die Liste gesetzt», erklärte Star mir und tätschelte beruhigend meine Hand. «Einmal drin, immer drin, meine Liebe. Das ist der Fluch der Schülervertretung.» Ich knurrte leise und setzte bei Star in ihrem Jahrgang ein dickes Kreuz. Wenn ich schon leiden musste und das Pech hatte, wiedergewählt zu werden, dann wollte ich den Scheiß wenigstens nicht alleine durchstehen müssen. Als Vertrauenslehrerin wählte ich Frau Nowak, die neue Biolehrerin, auch wenn ich mir sicher war, dass ich keine Chance hatte, gegen die geballte Weiblichkeit anzustänkern, die allesamt Jack Langley wählte. Nicht, weil er kompetent war oder so. Aber es war doch allgemein bekannt, dass `ne Menge Schülerinnen auf ihn abfuhren. Anstatt, dass sie einen ausgebildeten Psychologen oder Sozialarbeiter anstellten. Lächerlich. Danach hatten wir Freizeit, bis sie mit den Auswertungen durch waren. «Was meint ihr, wie hoch sind meine Chancen, nicht wiedergewählt zu werden?», fragte ich und beäugte Star und Alexa skeptisch, die vor mir auf dem Sofa in unserem Zimmer saßen, während ich im Raum auf und abmarschierte. Das machte mich ganz kirre, das Warten. Ich wollte wirklich, wirklich nicht wiedergewählt werden. Für diese blöden SV-Sitzungen gingen meine gesamten Samstagvormittage drauf. Und man konnte nicht mal ausschlafen. Dafür durfte man sich drei Stunden Langeweile geben, während die Streberfront unter sich ausmachte, was es für neue oder eben keine neuen Maßnahmen gab. Da ich mich sowieso nie durchsetzen konnte, war das die reinste Zeitverschwendung. «Na ja, es gibt bei den Elften keine Klassensprecher mehr, sondern Jahrgangssprecher», erklärte Alexa. «Also müsstest du schon den ganzen Jahrgang überzeugt haben.» «Gut», nickte ich erleichtert. «Andererseits kennt dich jeder», mischte sich Star ein. Ich sackte innerlich zusammen. «Wegen meiner Haarfarbe?» «Das auch», grinste sie. «Aber in erster Linie, weil du dich im letzten Schuljahr mit Absicht hast entführen lassen, um einen anderen Schüler zu retten, den du nicht einmal kanntest. Ich glaube, von deiner Selbstlosigkeit waren einige beeindruckt.»

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«Und nicht zu vergessen die wilde Verfolgungsjagd, was den ganzen Spinnern und Idioten imponiert hat», stimmte Alexa zu. «Du bist quasi berühmt.» Ich stöhnte genervt auf. «Ich bin überhaupt nicht selbstlos! Ich bin total egoistisch! Das weiß jeder, der mich näher kennen lernt!» Alexa lachte los. «Tut mir leid. Dem kann ich nicht zustimmen.» «Gnark. Ich will meine Samstage für mich haben!» «Ganz ruhig, Schätzchen. Wir sitzen das gemeinsam aus.» Star lächelte mich mitleidig an. «Meinst du, die wählen dich auch wieder?», fragte ich skeptisch. Sie schnitt eine Grimasse. «Wäre das zweite Jahr in Folge. Solange du mich nicht überholst, wird es wohl so kommen.» Ich starrte sie völlig entgeistert an. «Schulsprecherin? Ich?! Niemals!» Alexa und sie lachten gemeinsam los. «Möglich wäre es.» «Wieso wird man eigentlich nicht gefragt, ob man so einen Scheiß machen will?», fauchte ich genervt. «Soll Lisa Arschkuh doch meinen Posten kriegen, die ist ganz grell darauf!» «Aber die wählt keiner, weil sie unausstehlich ist.» «Apropos, wir müssen dringend was unternehmen bezüglich des Walgesanges.» «Geht dir das auch so auf die Nerven?», fragte Star erleichtert. Ich nickte. «Absolut.» «Die hier helfen.» Alexa hielt ihre Oropax hoch. «Davon krieg ich Kopfschmerzen. Außerdem hab ich bei den Dingern immer das Gefühl, es staut sich die Luft in meinem Schädel an und kann nicht nach außen dringen und irgendwann platzt mein Gehirn.» Alexa lachte los. «Was für ein Schwachsinn, Ginny!» «Ey, es ist so! Das fühlt sich voll ekelig an.» «Jedenfalls sollten wir uns was überlegen», stimmte mir Star zu und sah auf die Uhr. «Ich glaub, wir müssen los. Ich freu mich schon aufs Mittagessen.» «Ernsthaft? Ich wette, es gibt irgendwas mit Blumenkohl. Den hat gestern nämlich keine Sau genommen. Vermutlich schmuggeln sie den in einen Eintopf oder eine Suppe.» Grinsend öffnete ich unsere Zimmertür. Der einzige Vorteil an Lisa Arschkuh als Mitbewohnerin war, dass sie als Oberarschkriecherin nie viel Zeit in ihrem Zimmer verbrachte, weil sie ständig etwas organisieren musste oder ein Pläuschchen mit der Direx hielt. «Irg», machte Alexa und folgte uns nach unten zum Speisesaal. Vor dem Essen gab es ein weiteres Ständchen von dem Chor und sie rückten endlich mit den Wahlergebnissen heraus. Ich saß da wie auf heißen Kohlen, bis wir endlich bei dem elften Jahrgang angekommen waren. «Justus Schneider!», rief die Hartmann und ich zuckte innerlich zusammen. Das mit Justus und mir war kompliziert. Wir hatten uns erst verabscheut, dann gemocht, dann hatten wir was miteinander angefangen, was aber nicht über einen Abend hinaus gereicht hatte, ehe wir wieder bei der anfänglichen Abscheu angelangt waren. «Und Virginia Parker!» Frau Hartmann bewarf mich mit Todesblicken, als ob ich schuld daran wäre, dass mich diese ganzen Vollidioten alle gewählt hatten. Ich wusste nicht, ob ich heulen sollte, weil meine Samstage sich gerade winkend verabschiedet hatten, oder jubeln, weil ich immerhin keine Schulsprecherin geworden war. Seufzend erhob ich mich und schlurfte nach vorne zum Podium, wo mir die Hartmann ihr dickes Patschehändchen entgegenhielt und ich es widerwillig schüttelte. Dann reichte sie mir meinen Anstecker, mit dem fetten, grünen J drauf. Jahrgangssprecher. Das war noch eine Spur katastrophaler als Klassensprecherin. Und es war sogar Pflicht, dass ich

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dieses Ding permanent an meiner Schuluniform trug, damit mich jeder den Spaßbremsen zuordnen konnte und wusste, dass er mich mit seinen belanglosen Problemen zuheulen konnte. Grandios. Bei dem zwölften Jahrgang wurde Chip Jahrgangssprecher, was ich erst blickte, als er schon auf der Bühne war. Ich verfluchte mich, dass ich nicht genauer zugehört und so vielleicht mal seinen echten Namen erfahren hätte. Aber offenbar schien es ihm ähnlich zu gehen wie mir. Er war durch diese Verfolgungsjagd genauso berühmt geworden wie ich. Er warf mir ein flüchtiges Grinsen zu und schlagartig hob sich meine Laune etwas. Star hatte ebenfalls die Ehre, wieder in ihr Amt gewählt worden zu sein. Sie war mit Chris zusammen auch dieses Jahr das Schulsprecherpaar. Ich hatte Recht behalten mit dem Essen. Es gab Auflauf. Mit Blumenkohl. Jummy! «Hey, Mädels.» Chris trat an unseren Tisch und grinste gut gelaunt. Er sah seinem jüngeren Bruder nur vom Gesicht her etwas ähnlich, hatte aber fast rötliches Haar und nicht diese intensivgrünen Augen, die mich an Justus kurzzeitig so fasziniert hatten. Aber Christoph war absolut lässig drauf und ich war mir nicht ganz sicher, ob zwischen ihm und Alexa nicht etwas lief. Das konnte ich aber nicht sicher sagen. «Stopft euch nicht zu sehr voll mit diesem köstlichen Auflauf. Wir grillen heute Abend draußen!» Er grinste gut gelaunt und ich ließ augenblicklich meine Gabel sinken. «Echt? Wann und wo?» «Wir haben gedacht, wir schleichen uns so um kurz nach sieben raus. Den Grill haben wir gestern schon hinter den Pferdeställen aufgebaut. Da sieht einen von der Schule aus niemand mehr.» «Super, ich hab dieses Jahr noch nicht einmal die Regeln gebrochen!», grinste ich und Star warf mir einen vielsagenden Blick zu. «Wir sind auch erst seit einer Woche hier, Prinzessin.» «Also seid ihr dabei? Dann sehen wir uns nachher.» Er verzog sich wieder und ich schob meinen Teller von mir. Das sah nicht nur aus wie Kotze, es schmeckte auch nur unwesentlich besser. Nicht, dass ich Kotze schon mal gegessen hätte. Aber ich stellte es mir so in Etwa vor. Vielleicht nicht ganz so würzig. Ob Kotze beim Nochmalessen genauso schmeckte, wie beim Erbrechen? «An was denkst du, Ginny?» «Äh», machte ich und starrte ausdruckslos in Stars Gesicht. Das wäre zu viel, selbst für sie. «An Walgesänge.» Ich erhob mich und griff nach meinem Tablett, um es zur Geschirrrückgabe zu bringen. Star seufzte laut, während sie mir folgte. «Die Operation nehmen wir gleich jetzt in Angriff, was meinst du?» «Klingt gut», nickte ich, fing einen irritierend anklagenden Blick von Jack Langley auf und verließ die Mensa, ehe er noch auf die bescheuerte Idee kam und mich nach meinem schlechten Appetit fragte, wo ich doch normalerweise fraß wie ein Scheunendrescher. (Das wären seine Worte gewesen. Ich würde eher sagen, ich esse völlig normal, aber er als Tofufetischist konnte das halt nicht so gut beurteilen.) Wir verzogen uns zurück in unser Zimmer und hielten Kriegsrat. Lisa Arschkuh war auf Stippvisite bei der Direktorin, sodass wir ein wenig Zeit hatten, um uns einen Plan zu überlegen, ihre scheiß Walgesänge zu unterbinden, ohne uns dabei verdächtig zu machen. Wirklich erfolgreich waren wir dabei leider nicht.

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Um kurz vor Sieben wechselten wir die Uniform gegen (wir waren ja gewitzt) Schlafanzüge. Das mag auf den ersten Blick verwirrend wirken, war aber schlau durchdacht und alles Plan unserer Taktik. Über den Schlafanzug zogen wir uns die Schulmäntel, ehe wir uns auf den Weg nach draußen machten. In der Eingangshalle lungerte glücklicherweise niemand, weil der Großteil beim Abendessen war, und wir konnten uns unbemerkt aus dem Staub machen. Die Jungs warteten bereits draußen hinter den Ställen und hatten den Grill irgendwie zum Laufen bekommen. Ich setzte mich so weit wie möglich von Justus entfernt hin, um ihm keinen Anlass zu bieten, mich zu beleidigen, was nur zur Folge gehabt hätte, dass ich noch ausfallender geworden wäre als er. Und jeder, der mich kennt, weiß, dass das in der Regel nie gut ausgeht. Das Grillen war richtig lustig und Justus ließ mich größtenteils in Ruhe, bis Star mich irgendwann auf Chip ansprach. Natürlich war ihr nicht entgangen, dass ich mich gut mit ihm verstand. Und dass er mir einen Platz an seinem Mensatisch eingeräumt hatte, schien wohl auch absolutes Novum zu sein, da er und seine beiden Zimmergenossen sonst wohl nie jemanden in den heiligen Kreis ihrer Dreifaltigkeit einließen. «Was ist denn jetzt eigentlich mit dir und Chip?», wollte auch Alexa wissen, nachdem Star das Thema einmal angeschnitten hatte. Mich ärgerte das ehrlich gestanden ein bisschen, weil ich wirklich nichts von Chip wollte. Er war superlustig und er sah auch ganz gut aus, aber wir verstanden uns einfach nur gut, das war alles. «Läuft da was?» «Virginia steht doch eher auf reifere Kaliber», spottete Justus und ich hätte mich fast an meiner Bratwurst verschluckt. Dass Justus irgendwie das absolut lächerliche Hirngespinst entwickelt hatte, ich würde etwas mit Jack haben, war mir ja bekannt, aber dass er das jetzt auch noch laut äußerte, war echt die Höhe. «Nur weil ich dich abgeschossen habe, weil du dich wie ein Kleinkind benimmst, heißt das noch lange nicht, dass ich auf alte Säcke steh», patzte ich zurück. Star lachte los und Alexa stieß Justus in die Rippen, damit er nicht noch etwas hinterherschmiss. Mein Todesblick war offenbar Warnung genug für ihn, sodass er tatsächlich die Klappe hielt und es dabei beließ. «Sieh mal einer an!», ertönte eine Stimme hinter uns aus den Büschen und wir zuckten erschrocken zusammen, als Frau Nowak zu uns trat. «Zu so später Uhrzeit noch draußen?» Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. «Was mach ich denn jetzt nur mit euch?» «Wie wär's, wenn Sie sich einfach dazu setzen und mit uns eine Wurst Essen?», schlug ich vor und grinste sie breit an. «Ich bin leider Vegetarierin», lachte sie, ließ sich aber tatsächlich dazu herab, sich zu uns zu setzen. «Wir haben auch Kartoffelsalat und Brot.» Star schob beides zu ihr rüber. «Den Blumenkohlauflauf heute haben wir einfach nicht verkraftet.» «Ja die Küche ist wirklich nicht die beste, die ich bisher erlebt habe», seufzte Frau Nowak, krempelte sich die Ärmel ihrer Bluse hoch und griff nach einem Stück Baguette mit Kräuterbutter. War die Frau cool oder cool? «Wie kommt eigentlich jemand wie Sie dazu, Lehrerin zu werden?», fragte Chris grinsend. Frau Nowak zuckte mit den Schultern. «Gute Frage. Ich dachte mir, ich studiere lieber vorsichtshalber auf Lehramt, bevor ich gar keinen Job kriege. Und da bin ich jetzt.» Sie schnitt eine Grimasse. «Ich dachte immer, die lassen nur überqualifizierte Lehrer an unsere Schule, wo es doch ein Eliteinternat ist», lachte ich und schob meinen leeren Teller von mir weg. Ich war absolut

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gesättigt und vollends zufrieden mit dem Abend. Wenn Jack uns erwischt hätte, hätte er sich garantiert nicht einfach so zu uns gesetzt, der olle Spießer. Der sollte sich mal ein Beispiel nehmen an der Neuen. «Na offenbar nicht, ich bin ja auch irgendwie reingekommen.» Frau Nowak grinste breit und biss von ihrem Brot ab, ehe sie aufstand. «Ich muss wieder rein, ich habe heute Schlüsselaufsicht. Also wenn einer von euch noch mit zur Vordertür rein will, sollte er besser mit mir kommen.» Justus der Streber stand auf, ein Grund mehr für mich, seinem Beispiel nicht zu folgen. «Wir sind ein Stockwerk über euch und wir haben keinen Baum vor unserem Fenster stehen», erklärte Chris schulterzuckend, als er sich ebenfalls erhob. «Na fein, weil ihr das Essen schon alle besorgt habt, räumen wir die Sachen zusammen und bringen den Müll weg. Wir sehen uns morgen!» Die Jungen verzogen sich also, während Star, Alexa und ich uns ans Aufräumen machten. Wir schmissen alles in einen großen Beutel und hievten diesen irgendwie in einen der Müllcontainer, die hinter der Küche standen, als eben dort die Tür mit einem lauten Knall aufflog und wir kreischend losrannten, ohne darauf zu achten, wer genau da raus kam. Ich war als erste beim Tor, sprang mit Anlauf daran hoch und schwang mich irgendwie gekonnt (wie auch immer ich das machte) darüber und landete unbeschadet auf den Füßen. Star zog sich mühevoll am Tor hoch und Alexa sprang einige Male, ohne jedoch nach oben zu gelangen, sodass ich noch einmal rüber kletterte und für sie Räuberleiter machen musste. Star war bereits auf dem Baum und dabei, unser Fenster von außen aufzuschieben, das wir vorher nur angelehnt hatten, während ich als Letzte über den Rasen sprintete und durchs Fenster kroch. Es war stockdunkel bei uns im Zimmer und man hörte nur das leise Walgequietsche und unser Gemurmel, als ich das Fenster schloss und dabei Star ein Stück zur Seite schob, die mir im Weg stand. Sie stolperte nach hinten, es gab einen Knall und das Walgequietsche verstummte, gefolgt von einem panischen Aufschrei. Lisa Arschkuh war aufgewacht. Verdammt. Ich erfasste den Lichtschalter von meiner Nachttischlampe gerade noch rechtzeitig, ehe Lisa Star eins mit ihrem Baseballschläger hätte überziehen können. Sie stand mit erhobenen Armen vor ihr, bereit zum Schlag, während Star in einem Knäuel aus Kabeln neben einem Kassettenrekorder auf dem Boden lag und erschrocken aufschrie. «Scheiße!», rief Lisa und ließ den Schläger sinken. Ich war fassungslos angesichts der Tatsache, dass dieser Ausruf tatsächlich aus ihrem Munde stammte, sodass ich erst mal nichts dazu sagen konnte. Draußen auf dem Flur waren Stimmen zu hören. «Scheiße», hauchte jetzt auch Alexa und riss sich den Mantel vom Körper, ehe sie sich ins Bett schmiss. Ich wäre ihrem Beispiel gern gefolgt, aber mein schlechtes Gewissen ließ mich erst nach Star greifen und sie von ihrem Mantel befreien. Die Kabel waren so geschickt um sie verschnürt, dass ich sie einfach nicht los bekam und mich schließlich doch in die Sicherheit meiner Decke flüchtete. Es ertönte ein Klopfen an der Tür. «Ist alles in Ordnung bei Ihnen?», ertönte die Stimme von Frau Müller. Die Frau war gruselig. Sollte die nicht selbst längst im Bett sein?! Die Tür ging auf und im Flur stand nicht nur Frau Müller (die – oh Schreck – etwas Grausiges trug, das wohl so etwas wie ein Nachthemd im 16. Jahrhundert gewesen sein musste), sondern auch Herr Langley. Verwirrt sahen sie auf Star, die am Boden lag, und auf Lisa, die mit ihrem Baseballschläger da

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stand. Ich richtete mich im Bett auf, um besser sehen zu können. (Und damit es nicht so aussah, als hätte ich ein Doppelkinn. Das passierte nämlich meistens, wenn man lag.) «Gut, dass Sie hier sind!», rief Lisa Arschkuh. Gott, die blöde Kuh würde uns doch nicht etwa alle verraten, oder?! Sie wohnte mit uns zusammen, sie wollte uns wirklich nicht als Feinde. «Star wollte auf Toilette und ist über das Kabel von Lisas Anlage gestolpert», log ich schnell, ehe sie weiterreden konnte. «Äh, ja. Richtig», nickte Star vehement. «Und dann ist die Irre auf mich losgegangen.» Lisa schnappte empört nach Luft. «Das ist total gelogen! Ihr seid zum Fenster reingeschlichen! Ich dachte, du wärest ein Einbrecher!» «Das hast du wohl geträumt», mischte sich jetzt auch Alexa ein. «Da haben Sie's», sagte ich selbstzufrieden und schlug die Decke zurück, um zu Star zu gehen und ihr aus dem Kabel zu helfen. «Drei Stimmen gegen eine, Lisa hat eindeutig geträumt.» Frau Müller stöhnte entnervt auf. «Ich lege mich wieder hin, ich bin völlig fertig. Erledigen Sie das hier!» «Aber sicher», zischte Jack eine Spur zu aggressiv. Mochte er es etwa nicht, herumkommandiert zu werden? Sonst war er doch immer gerne der Arschkriecher für jeden. «Was gibt es da noch zu erledigen?», maulte ich und half Star auf die Beine, als wir endlich ihr Bein frei hatten. «Es ist doch alles geklärt.» «Ich kenne euch und ich kenne Lisa», seufzte Jack und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Ob er auch schon im Bett gewesen war? Er sah jedenfalls nicht danach aus. Er trug sogar Jeans, nicht mal eine gammelige Jogginghose oder so. Ich wollte gerade zu unserer Verteidigung ansetzen, als Jack die Hand hob. «Außerdem sprechen die Grasflecken an deiner Pyjamahose Bände, Virginia.» Ich klappte den Mund wieder zu und ärgerte mich darüber, dass ich keine Decke oder Zeitung als Unterlage mitgenommen hatte. «Und jetzt?», seufzte Star und ließ sich auf ihr Bett plumpsen. «Geht schlafen!» «Aber, Sir!», rief Lisa Arschkuh empört. «Sie hat meinen Kassettenrekorder kaputt gemacht!» Anklagend richtete sie ihren Finger auf Star. «Das bezahlt bestimmt die Versicherung. Gute Nacht.» Damit zog er die Tür hinter sich zu. Schlechte Laune, was? «Ich kann so nicht einschlafen!», rief Lisa verzweifelt und setzte sich endlich wieder, den Baseballschläger ließ sie aber immer noch nicht los. «Und wo zur Hölle wart ihr überhaupt?! Wisst ihr nicht, dass ihr nach neun Uhr nicht mehr eure Zimmer verlassen dürft?» «Wir waren ja um neun noch nicht mal im Zimmer drin, dementsprechend haben wir es ja auch eigentlich nicht verlassen», konterte ich. «Reg dich ab Lisa, das machen wir ständig so. Gewöhn dich dran. Du bist jetzt eine von uns. Vielleicht kommst du das nächste Mal einfach mit.» Das wäre zwar unangenehm, aber längst nicht so schlimm wie ihre Standpauken oder das Risiko, erneut eins von ihr übergebraten zu bekommen. Wir legten uns endlich alle in die Betten und ich hatte gerade die Augen geschlossen, als von Lisa leises Schluchzen losging. Gott, diese Frau machte mich fertig! Ich fing an, leise vor mich hinzusummen, um ihr Geschluchze zu übertönen. Das half leider nur mäßig, schien sie aber irgendwie zu beruhigen und schließlich war sie gänzlich still und am Pennen und ich konnte endlich auch einschlafen. Jetzt hielt ich der Frau schon Gutenachtständchen. Unfassbar.

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Kapitel 4 Ich hatte mich seit Beginn der Schule auf den kommenden Sonntag gefreut, weil wir da endlich einmal Gelegenheit hatten, auszuschlafen. Da ich ja wieder in der Schülervertretung war, fielen die herrlichen Samstagmorgen dem wöchentlichen Sitzungsritual zum Opfer. Das war sogar noch langweiliger gewesen, als ich es in Erinnerung gehabt hatte. Ich erlitt es stumm, weil ich wusste, dass ich dafür am Sonntag ausschlafen konnte. Sozusagen ausgleichende Gerechtigkeit. Aber irgendjemand oder irgendetwas wollte mich offenbar bestrafen oder ärgern und veranstaltete einen Höllenlärm in aller Herrgottsfrühe. Zuerst versuchte ich es zu ignorieren und einfach weiterzuschlafen, aber es wurde lauter. Und es kam näher. Oder ich bildete mir das nur ein. Da ich aber lieber auf Nummer sicher gehen wollte, öffnete ich schließlich doch die Augen und richtete mich auf. Vor unserem Fenster stand ein Mann mit Kettensäge. Zuerst dachte ich an Texas Chainsaw Massacre und ich hätte fast angefangen zu kreischen wie eine Furie, ehe ich sah, wie er die Säge an unseren Baum ansetzte. Was zur Hölle tat der da?! «Nein!», schrie ich entsetzt, sprang nun doch aus dem Bett und rannte los. «Stopp! Aufhören!!!» Ich hämmerte gegen das Fenster, aber bei dem Höllenlärm schien mich der gute Mann draußen nicht zu hören. Das Fenster zu öffnen war mir dann dennoch etwas zu gewagt. Immerhin hatte er eine Kettensäge. Stattdessen rannte ich also los, aus unserem Zimmer, die Treppe runter, durch die Eingangshalle nach draußen und über den Rasen um die Schule herum. «AUFHÖREN! Was tun Sie da?!» Der Kettensägenmann war nicht alleine. Er war in Begleitung von drei weiteren Blaumännern, die unten die Äste aufsammelten, die er bereits entfernt hatte. Endlich nahm man mich zur Kenntnis und stirnrunzelnd stellte er die Maschine ab. «Was soll das, Mädchen?!» «Ihr dürft dem Baum nichts tun!», rief ich verzweifelt. «Bitte!» «Wir haben unsere Befehle, wenn du dich beschweren willst, dann nicht bei uns.» Schulterzuckend setzte er seine dämliche Maschine wieder in Gang. Um das schlimmste noch zu verhindern, rannte ich wie eine Bekloppte zurück in die Schule und stürmte in den Korridor mit den Lehrerbüros. «Jack!» Ich hämmerte nur kurz gegen seine Tür, ehe ich einfach in sein Büro fiel. «Jack, du musst die Bauarbeiter aufhalten!» Meine Verzweiflung wuchs stetig. War ja schon fast peinlich. «Äh.» Jack saß hinter seinem Schreibtisch und hatte den Telefonhörer unters Ohr geklemmt, während er offenbar versuchte, Papierschnipsel in den Mülleimer auf der anderen Zimmerseite zu werfen. Da sah man mal wieder, wie beschäftigt Lehrer so waren. «Entschuldigen Sie, Sir», sagte er nun in den Apparat. «Ich melde mich später nochmal bei Ihnen.» Damit legte er auf und sah mich groß an. «Was denn für Bauarbeiter?» «Na diese Idioten, die den Baum vor unserem Zimmer abholzen!» «Das sind dann wohl eher Leute aus der Forstwirtschaft.» «Das ist doch scheißegal! Sie machen alles kaputt!!!» Verzweifelt raufte ich mir die Haare und Jack lachte los. «Komm runter, Virginia. Das wurde von der Direktorin veranlasst. Die stutzen nicht nur den Baum, der wird komplett gefällt.» «WAS?!» Ich fiel theatralisch auf die Knie und reckte die Hände zum Himmel. «WIESO NUR?!»

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Jack verdrehte die Augen, stand auf und kam um den Schreibtisch herum, um vor mir stehen zu bleiben. «Offiziell, weil der Baum morsch war. Inoffiziell, weil Lisa Arschkuh nach eurer nächtlichen Aktion wohl ordentlich Stress geschoben hat.» Ich kniete da und starrte ihn fassungslos an. Zum einen, weil er tatsächlich Lisa Arschkuh gesagt hatte, zum anderen, weil ich Jack noch nie aus dieser Perspektive betrachtet hatte. Und er wirkte gleich nicht mehr so makellos. Seine Nasenlöcher sahen riesig aus von hier unten und er hatte ein Doppelkinn (das musste der gleiche Effekt wie beim Liegen sein). Jack hielt mir seine Hand entgegen. «Komm schon, steh auf.» Seufzend griff ich danach und ließ mich von seinen beeindruckenden Muskeln wieder auf die Beine ziehen. Das Doppelkinn war wieder verschwunden und die Nasenlöcher sahen völlig in Ordnung aus. Langweilig. «Ich fass es nicht, dass diese dumme Kuh uns das antut!», rief ich und stampfte wütend auf. Jack grinste blöde über seine ebenmäßigen Zähne (ob er die sich mal hatte richten lassen?). «Ich finde es ehrlich gesagt ganz gut», sagte er nun und kreuzte die Arme vor der Brust. «Das hindert dich an deinen nächtlichen Ausbrüchen.» «Ausbrüche! Das trifft es, fühlt sich auch fast schon an wie im Knast!», fauchte ich und starrte ihn wütend an. Jack lachte los. «Du warst noch nie im Gefängnis, also kannst du das wohl kaum beurteilen.» Dieses Mal war es an mir, blöde zu grinsen. «War ich doch, Klugscheißer.» «Was?!» Er sah mich völlig entgeistert an. Ich grinste noch blöder. Ob das überhaupt noch möglich war? «So, ich werde gehen und gegen Lisa Arschkuh eine Petition aufsetzen, damit sie verdammt nochmal in ein anderes Zimmer kommt!» «Viel Erfolg.» Jack verzog sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Ich streckte ihm noch kurz die Zunge raus, ehe ich wütend das Büro wieder verließ und mich auf den Weg zurück zu unserem Zimmer machte. Da ich kein Unmensch war und ich es wenigstens meinen Mitmenschen gönnte, ausschlafen zu können, verzog ich mich für zwei Stunden in den Computerraum, um mich von den Sägegeräuschen draußen abzulenken. Es war ein furchtbares Gefühl, nichts dagegen unternehmen zu können. Ich musste dringend mit Star und Alexa reden. Nicht nur darüber, wie wir Lisa Arschkuh endlich loswurden, sondern auch darüber, wie wir zukünftig nachts aus der Schule und vor allem wieder hineinkamen. Zur Not musste man sonst halt draußen pennen und sich kurz vor Schulbeginn wieder reinschleichen. Ich war gerade alleine auf dem Weg zum Frühstück, weil ja immer noch kein anderer vernünftiger Mensch schon auf den Beinen war (bis auf Lisa Arschkuh hatte ich noch keinen anderen Schüler heute Morgen gesehen), als ich Jack erneut über den Weg lief. Er trug schwarze Shorts und ein ziemlich verbotenes Muskelshirt, in dem er irgendwie prollig aussah. Trotzdem konnte ich nicht umhin, zu bemerken, wie vorteilhaft seine Arme und sein Brustkorb dabei zur Geltung kamen. «Du weißt schon, dass das ganz schön gay aussieht, oder?», fragte ich stirnrunzelnd und kreuzte die Arme vor der Brust. Jack grinste schief. «Politisch korrekt heißt das homosexuell.» «Also bist du's?», fragte ich amüsiert. Jack verdrehte die Augen. «Nein. Ich geh bloß trainieren.» «Und das kann man nicht in einem normalen T-Shirt?» Jack lachte los und warf den Kopf in den Nacken. «Du solltest lieber mitkommen, anstatt dämliche Kommentare abzugeben. Täte dir bestimmt gut!»

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Ich schnitt eine Grimasse und warf einen Blick auf die Uhr. Eindeutig zu früh zum Sport, aber auf alleine frühstücken hatte ich irgendwie auch keine Lust. «Also schön, wieso nicht», seufzte ich und lief in Richtung Treppe. «Gib mir zwei Minuten, um meine Sportsachen anzuziehen!» Damit huschte ich möglichst geräuschlos in unser Zimmer und zog meine Shorts und ein rotes T-Shirt aus meinem Schrank. Alexa und Star schliefen beide noch selig in ihren Betten. Lex trug wegen der Walgesänge wieder ihre Ohropax, sodass sie von dem ganzen Massaker gar nichts mitbekommen hatte und Star schlief ohnehin immer, als hätte sie Opium geraucht. Von den Kettensägenmännern war nichts mehr zu sehen, ebenso wenig wie von unserem heißgeliebten Baum. Wehleidig sah ich kurz aus dem Fenster, ehe ich mich in die Sportsachen schmiss und zurück in die Eingangshalle lief. Die Sonne schien und der Tag sah eigentlich recht vielversprechend aus, wenn ich ihn vielleicht etwas später hätte beginnen können. Jack und ich liefen den Waldrand entlang, an den dämlichen Pferdeställen vorbei, wo es immer leicht nach deren Exkrementen müffelte, weiter hinaus in die freie Wildnis. «Oh mein Gott, dabei darf ich mich doch nur bis zu 500 Meter von der Schule entfernen!», rief ich, als wir etwa die Grenze passiert haben mussten. Jack lachte los. «Weniger reden, dann hast du mehr Luft für deine Kondition!» «Weißt du, du hättest vielleicht besser Drillcoach werden sollen, als Lehrer!», rief ich und versuchte gleichmäßig zu atmen, während Jack das Tempo beschleunigte. «Ist das nicht im Prinzip dasselbe?», erwiderte er und ich musste lachen und wurde dadurch automatisch langsamer. Jack trippelte ungeduldig auf der Stelle, während ich wieder Luft holte. «Komm schon, Entlein! Noch bis da vorne zum Baum und dann machen wir einen Spurt zurück zur Schule.» «Bist du irre?!», keuchte ich, während ich bis zu dem blöden Baum folgte. «Ich sprinte doch nicht zurück!» «Wer zuerst bei den Ställen ist!», rief er lachend und rannte los wie ein Bekloppter. Ich hielt an und holte rasselnd Atem. «Scheiße, ich lass mich doch von einem mittelalten Lehrer nicht ausstechen!», fauchte ich, ehe ich all meine Kräfte zusammensammelte und losrannte. Ich peste wie eine Besessene über die Ebene, sprang über einen riesigen Stein, schlug einen Haken um einen Baumstumpf und hatte Jack fast eingeholt, als die Ställe vor uns in Sicht kamen. «Das schaffst du nie!», provozierte mich Jack von vorne, der sich im Laufen umgedreht hatte. Ich streckte ihm beide Mittelfinger entgegen, ehe ich zu einem Endspurt ansetzte und nochmal alles gab, was in mir steckte. Ich bekam kaum noch Luft, aber das war mir egal. Der Wind sauste mir um die Ohren und das Grün um mich herum war nur noch ein verschwommener Farbfleck, die Ställe vor mir ein braunes Etwas, auf das ich kontinuierlich zuhielt. Jack war fast da, als ich an ihm vorbeiraste und triumphierend im Laufen aufschrie. Irgendwie war mein Tempo so schnell, dass ich nicht rechtzeitig abbremsen konnte, als die hölzerne Wand der Pferdeställe urplötzlich vor mir auftauchte. Ich grub meine Fersen in den Boden, trotzdem schlingerte ich direkt auf die Fassade zu und prallte frontal dagegen. Die Wucht haute mich glatt von den Beinen und benommen lag ich im Gras, während die Welt um mich herum leicht verschwamm. «Ginny! Hey!» Jack haute mir eine runter und sein Gesicht über mir wurde klarer. Er grinste. «Du hast gewonnen.»

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«Ja, habe ich», murmelte ich und richtete mich mit brummendem Schädel im Gras auf. Scheiße tat das weh. Ich fasste mir an den Kopf, während Jack neben mir in Gelächter ausbrach. «Oh mein Gott, das hätte ich zu gerne auf Video festgehalten. Ist alles okay mit dir?» «Kopfschmerzen.» Ich warf mich zurück ins Gras und starrte in den blauen Himmel. «Das wundert mich irgendwie nicht.» Jack seufzte auf. «Du solltest etwas Eis drauflegen und vielleicht ein Aspirin nehmen. Und wenn es bis morgen nicht besser ist, fahr ich dich ins Krankenhaus, falls du eine Gehirnerschütterung hast.» «Mach keinen Aufstand, Jack», maulte ich und schloss die Augen. «Alles bestens. Die Wand war einfach zu plötzlich da.» «Du bist aber auch gerannt wie der Teufel, mein lieber Schwan!» Schwang da etwa so etwas wie Anerkennung in seiner Stimme mit? Dass ich das nochmal erleben durfte. «Ich konnte dich doch nicht gewinnen lassen», lachte ich nun und Jack stimmte schließlich mit ein. Wir lagen noch einen Moment so da, während sich mein Herzschlag allmählich wieder normalisierte und ich die Nase rümpfte. «Der Pferdemist ätzt mir allmählich die Schleimhäute weg.» Jack sprang grinsend auf. «Na los, gehen wir zurück.» Er hielt mir seine Hand entgegen und bereitwillig nahm ich sie an und ließ mir von ihm aufhelfen. Als ich geduscht und zwei Aspirin genommen hatte, ging es meinem Kopf wieder einigermaßen passabel, und als ich zurück ins Zimmer kam, waren auch endlich Star und Alexa wach. Lange konnten wir unsere gemeinsame Zeit allerdings nicht genießen, weil wir nach dem Frühstück (offiziell war es das Mittagessen, aber da die meisten der Schüler Sonntags länger schliefen, hatte es sich zu einer Art Brunch entwickelt, da die Köche die elende Fragerei nach Brötchen leid geworden waren, sodass sie einfach beides anboten) fast direkt im Anschluss eine wunderbare Aufführung einer Gruppe Pantomimen ansehen durften. Diese sonntäglichen Aktivitäten hatten schon immer gestunken, aber das war echt das Schlimmste, was ich je hatte mit ansehen müssen. Ich war mir auch ziemlich sicher, wem wir diesen Scheiß zu verdanken hatten, denn so begeistert und mit strahlenden Augen wie Lisa Arschkuh da saß, konnte das nur auf ihren Mist gewachsen sein. Ich zupfte Star am Ärmel und lehnte mich zu ihr rüber. «Gleich macht sie sich nass vor Begeisterung, wetten?» Star warf einen Blick in Richtung der Lehrerlieblingsreihe ganz vorne und grinste. «Meinst du, wir könnten sie töten, ohne dass es jemand mitbekommt?» «Ich weiß nicht. Aber wir sollten uns auf jeden Fall etwas einfallen lassen, sonst raste ich irgendwann aus und reiß ihr die Eingeweide raus und dann erledigt sich deine Frage von selbst.» Star lachte leise und Frau Hartmann warf uns einen Todesblick von ihrem allesüberwachenden Platz aus zu. Sie saß direkt uns gegenüber, sodass sie zwar die Aufführung nicht selbst mit ansehen konnte, dafür aber uns Schüler mit Argusaugen überwachen konnte. Im Grunde genommen war ich mir ziemlich sicher, dass sie diese Veranstaltung für genauso schwachsinnig und überflüssig hielt wie ich. Aber sie war gezwungen, an einem Eliteinternat wie diesem ein gewisses Maß an kultureller Bildung zu vermitteln. Wobei man nicht gerade behaupten könnte, dass diese hässlichen, tanzenden Clownsfiguren viel mit Kultur zu tun hätten. «Oh mein Gott, ich fass es nicht, dass sie uns das echt antun», murmelte ich erneut, weil mir so furchtbar langweilig war. Da konnte mich auch der durchbohrende Blick der Hartmann nicht

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abschrecken. «Das sind Straßenanimateure! Irgendwann fangen die noch an, uns diese lebenden Statuen ins Haus zu schleppen.» «Ich schätze, für den heutigen Tag hat sich kein besseres Angebot finden lassen», flüsterte Star zurück. «Scheiße, macht der gerade ernsthaft die Fenster-Nummer?», knurrte ich. Irgendwie schienen sich mittlerweile auch die Mimiker von mir gestört zu fühlen. Jedenfalls kam einer ins Publikum getänzelt und setzte sich auf einen imaginären Stuhl neben mich. Nie wieder Randplatz, so viel war klar. Er sah mich schräg an und grinste dümmlich. Ich reagierte nicht, weil ich ganz enorm mit meiner Selbstbeherrschung zu kämpfen hatte. Der dämliche Pantomime stupste mich mit dem Ellbogen an und griff dann nach einem imaginären Lenkrad. Ich hatte wirklich schlechte Laune, weil ich heute Morgen nicht hatte ausschlafen können, weil der Fluchtbaum vor unserem Fenster gefällt worden war, weil ich schon in aller Herrgottsfrühe Sport gemacht hatte, weil ich schon wieder Kopfschmerzen bekam und weil mich irgendjemand dazu nötigte, mit diesem unsagbar dämlichen Scheiß meine kostbare Freizeit zu vergeuden. Es war also nicht der beste Moment, in dem sich der Pantomime sich dazu entschied, mich als Hupe für sein virtuelles Gefährt zu missbrauchen und mir in die Nase zu kneifen. In der nächsten Sekunde hatte ich seinen Arm gepackt, war aufgesprungen und hatte den Vollidioten mit einer gekonnten Drehung über meine Schulter zu Boden geworfen. Es herrschte Totenstille im ganzen Saal und die anderen Leute aus seiner Schauspielertruppe hatten in ihrem Stück innegehalten und starrten zu uns rüber, wie alle anderen in der Aula. Star neben mir brach in schallendes Gelächter aus, was irgendwie auch die anderen wieder in die Realität zurückholte. Es entstand allgemein Hektik, während sich der blöde Mimiker aufrappelte und mich anschrie. Ach, er hatte also doch eine Stimme. Die anderen seiner Truppe hielten ihn wacker zurück, sodass er sich nicht auf mich stürzte, während sie anfingen, wild auf die Direktorin einzureden. «Die Vorstellung ist für heute beendet!», rief Lisa Arschkuh in ein Mikrofon und klopfte dann in ihre Patschehändchen. «Na los, verschwindet alle auf eure Zimmer!» Ich sah zu, dass ich den anderen schnell hinterher eilte. «Das war der absolute Hammer, Ginny!», lachte Star, als ich sie in der Eingangshalle einholte. «Vielen Dank, dass du diesen grässlichen Alptraum abgekürzt hast.» «War mir ein Vergnügen», grinste ich, als mich jemand von hinten am Arm packte und ich am Weitergehen gehindert wurde. Seufzend drehte ich mich um. Jack. Wer auch sonst? «Ich fürchte, so schnell kommst du nicht davon», seufzte er und strich sich die Haare aus der Stirn. «Was ist denn eigentlich in dich gefahren?» «Was denn?! Der Kerl hat mich genervt!», rief ich. «Und er hat jawohl nicht um Erlaubnis gefragt, ob er mich anpacken darf.» «Und wirfst du mich gleich auch zu Boden, wenn ich dir an die Nase fasse?» «Das kommt drauf an», erwiderte ich und kreuzte die Arme vor der Brust. Jack verdrehte die Augen. «Na los, ich soll dich in das Büro der Direktorin bringen.» «Oh da freu ich mich aber», gab ich sarkastisch von mir, schnitt Star noch schnell eine Grimasse und stiefelte voran in Richtung Lehrerzimmergang. Das Büro der Direktorin war geräumig und eigentlich ganz gemütlich eingerichtet, wenngleich auch für meinen Geschmack ein bisschen zu altbacken. Es gab einen großen Holzschreibtisch, hinter dem ein breiter Sessel stand, in den die Hartmann sonst immer ihren dicken Hintern

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quetschte. An den Wänden reihten sich irgendwelche Aktenschränke und Ordner und es gab ein Regal mit Büchern, weil sie wohl so tun musste, als wäre sie gebildet. An der Wand neben der Tür hing ein riesiges Gemälde von einem großen Kerl mit Uniform und Schnurrbart. «Der sieht ja mal superschick aus», witzelte ich und deutete auf das Bild. «Ist das ihr Großvater?» «Das ist der Gründer dieser Schule», erklärte Jack. «Richard Elfenstein.» «Oh mein Gott, das ist wirklich sein Nachname gewesen? Das tut mir aufrichtig leid.» Ich ließ mich auf einen der beiden Stühle fallen, während Jack sich mir gegenüber an die Wand lehnte und mich abschätzend musterte. «Was?», fragte ich irgendwann, weil mir das ein bisschen auf die Nerven ging und Frau Hartmann sich reichlich Zeit ließ, sich hierher zu bequemen. «Das war ein beeindruckend guter Wurf», sagte Jack und ich musste heftig loslachen. Das war das Einzige, was er dazu zu sagen hatte? «Danke», grinste ich, nachdem ich mich einigermaßen wieder beruhigt hatte. Jack wollte gerade erneut etwas sagen, als die Tür aufflog und die Direx hereingepoltert kam. «So eine ungeheure Frechheit!», rief sie und ließ sich in ihren Sessel sinken. Er ächzte laut unter ihr. «Du kannst von Glück sagen, dass wir die Schausteller einigermaßen beruhigen konnten und mit einer Abfindung nach Hause schicken konnten, ohne dass sie uns eine Klage auf den Hals hetzen!» «Und wenn schon», antwortete ich augenverdrehend. «Mein Vater hat ziemlich gute Anwälte.» «Du kannst nicht immer alles im Leben von Daddy regeln lassen, ich hoffe, das ist dir bewusst!», schnauzte sie weiter. «Irgendwann wirst du Verantwortung für dich selbst übernehmen werden und dann kannst du nicht einfach so daherlaufen und fremde Leute attackieren.» «Er ist mir auf die Pelle gerückt, das war sexuelle Belästigung», konterte ich. Frau Hartmann starrte mich an wie ein zu dicker Hamster, der kurz davor stand, zu explodieren. «Du … Du kannst von Glück reden, dass dein Vater so einen großen Einfluss hat, sonst hätte ich dich schon längst von dieser Schule geschmissen!», schrie sie. «Na sehen Sie», antwortete ich gelassen und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. «Daddy regelt ja doch alles.» Sie schnappte empört nach Luft. «Wir kriegen dir schon noch Manieren beigebracht! Du hast Ausgehverbot für den restlichen Monat und wirst die nächsten zwei Wochen jeden freien Nachmittag draußen Müll aufsammeln und bei jeder kommenden kulturellen Veranstaltung wirst du nur noch in Begleitung eines Lehrers erscheinen, damit du unsere Schule nicht noch einmal so fürchterlich blamierst! Und für jede weitere Unverschämtheit, die ich von dir erdulden muss, wirst du eine Stunde nachsitzen, ist das klar?! «Begleiten Sie mich bei den Veranstaltungen?», fragte ich und beäugte sie abschätzend. «Nur damit ich Bescheid weiß und mich Ihrer Garderobe farblich anpassen kann.» Ich grinste gehässig und sie funkelte bedrohlich zurück. «Fred? Diese Aufgabe überlasse ich Ihnen.» Jack sah sie entgeistert an. «Was?» Natürlich, sonst hatte er sich immer irgendwie um diese dämlichen Veranstaltungen gedrückt, da kam er jetzt wohl erstmal nicht mehr drum herum haha.

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«Sie haben mich schon verstanden!», brüllte sie. «Und jetzt raus, alle beide!» Sie fuchtelte mit einem Stapel Papier vor unseren Nasen herum und seufzend erhob ich mich und folgte Jack auf den Korridor. «Na da freut sich aber einer, dass er zukünftig so viel Kultur erleben darf!», rief ich hämisch. Jack verdrehte entnervt die Augen. «Das ist so eine Zeitverschwendung!» «Sag das nicht mir, ich weiß das! Mach das lieber mal unserer Diktatorin da drinnen klar.» «Ginny, überspann den Bogen nicht.» «Bogenschießen hab ich erst Donnerstag wieder», konterte ich und stiefelte zurück in die Eingangshalle, während Jack in die andere Richtung zu seinem Büro ging. Ich verbrachte also meine Nachmittage die nächsten Wochen draußen beim Müllaufsammeln. Das war in der Tat nicht besonders spaßig, aber nach drei Tagen war ich mir ganz sicher, dass niemand mich noch beobachtete. Ich verzog mich also einfach hinter die Pferdestelle, rauchte gemütlich ein oder zwei Zigaretten, füllte die schwarzen Plastikbeutel dann mit etwas Laub und einigen Ästen, ehe ich obendrauf zur Tarnung ein bisschen Müll stopfte und sie anschließend abgab. Das klappte so weit ganz gut und in der darauffolgenden Woche handhabte ich das auf ähnliche weise. Am Freitag regnete es dann in Strömen und ich versuchte irgendwie, um meine Strafe herumzukommen. Aber die Hartmann war hartherzig und konnte mich nicht ausstehen, also blieb sie erbarmungslos. «Sie sind doch nicht aus Zucker, oder?», rief sie, als ich nach dem Mittagessen zu ihr an den Tisch trat und sie darum bat, die Strafe nächste Woche stattdessen abzuleisten. «Ziehen Sie sich anständige Regenkleidung an und bringen Sie es hinter sich!» Ich schnitt ihr eine Grimasse und sparte mir den Kommentar, dass ich gar keine anständige Regenkleidung besaß. Stattdessen holte ich mir bei der Putzkolonne eine Greifzange und einen Müllsack, zog mir die Jacke von der Schuluniform aus und ging in weißer Bluse und Schulrock nach draußen in den Regen. Ich blieb absichtlich immer in direkter Nähe zum Fenster, damit mich auch ja jeder sehen konnte. Es dauerte keine zehn Minuten, da war ich bis auf die Knochen durchnässt und meine Kleidung hing wie eine zweite Haut an mir. «Ginny! Hey!» Star kam rausgerannt und hielt sich notdürftig den Blazer über den Kopf. «Was zur Hölle tust du denn hier draußen?!» «Die Hartmann will, dass ich Müll sammle, also tue ich das auch», erwiderte ich angriffslustig, griff ein Papier vom Boden und schmiss es in den Sack. «Das ist doch lächerlich, komm rein, du holst dir hier draußen noch den Tod!» «Ach Quatsch. Was mich nicht umbringt, macht mich nur härter», grinste ich und warf meine nassen Haare aus dem Gesicht. «Aber du solltest lieber wieder rein.» Star seufzte auf. «Ich versuch mal, mit der Direktorin zu reden. Vielleicht lässt sie sich ja erweichen, wenn sie dich so sieht.» «Ich würde mich nicht drauf verlassen», grinste ich, während Star wieder zurück in die Schule lief. Ich krempelte meinen Rock oben am Saum zweimal um und knotete die Bluse um die Hüfte. Mein roter BH zeichnete sich gut sichtbar unter der Bluse ab und ich hatte so richtig Lust, einen Poledance hinzulegen. Das hätte die Hartmann so richtig schön auf die Palme gebracht. Aber entweder sie hatte mich gar nicht mitbekommen, oder sie schickte wie immer ihren Lakaien nach draußen, jedenfalls tauchte Jack mit Regenschirm in der Eingangstür auf und stürmte die Treppenstufen zu mir runter. «Was zur Hölle tust du da?!», rief er mir schon von Weitem aus zu.

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«Ich sammle Müll, sieht man doch», entgegnete ich und hob beweiskräftig ein weiteres Stück Abfall auf. «Und wieso siehst du dabei aus wie eine Prostituierte?» Jack stand jetzt vor mir und stierte mich ungläubig an. Ich grinste breit. «Weil ich Frau Hartmann eine gute Show bieten wollte.» Jack hielt den Regenschirm auch über mich. «Du gehst rein und ziehst dich um, bevor du dich erkältest, verstanden?!» «Sir, ja, Sir!», rief ich und salutierte spöttisch vor ihm. «Aber die Diktatorin hat mir befohlen, rauszugehen, trotz des Regens.» «Beweg deinen Arsch ins Haus, sofort.» «Na, wo du mich schon so liebevoll darum bittest.» Ich sah ihn vielsagend an und kreuzte die Arme vor der Brust. Das puschte diese ungewollt nach oben, jedenfalls stierte Jack darauf, als hätte er noch nie Titten gesehen. Schien ihn aus dem Konzept zu bringen, jedenfalls fiel ihm keine Antwort auf meine Trotzreaktion ein. Ich wollte gerade einen dämlichen Kommentar von mir geben, aber da hatte er sich schon wieder gefangen und sah mir in die Augen. «Geh … bitte wieder rein», brachte er hervor. «Ich will nicht, dass du krank wirst.» Das war so nett, dass ich auch mal nett sein wollte und ihm den Gefallen tat. Ich machte einen kleinen Knicks vor ihm und lief durch den Regen voran zurück zur Schule. In der Eingangshalle wurde ich mit Pfiffen und Jubelrufen von den männlichen Schülern begrüßt. Grinsend verneigte ich mich vor ihnen, ehe ich die Treppe hochlief und mich umzog. Die Hartmann schäumte vor Wut. Obwohl sie offenbar nicht wusste, wie sie angemessen auf meine Aktion reagieren konnte (schließlich hatte ich nur getan, was sie mir befohlen hatte), stierte sie mich beim Abendessen so hasserfüllt an, dass es einem Angst machen konnte. Irgendwann würde sie sich irgendwas einfallen lassen, um mich dafür zu bestrafen, da war ich mir sicher. Aber solange sie noch keine Idee dafür hatte, triumphierte ich vor ihr.

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Kapitel 5 Obwohl ich wesentlich länger im Regen gestanden hatte, ging es mir bestens, während Star zur keuchenden, wandelnden Seuche mutierte. Das an sich war schon anstrengend, auch wenn ich es ihr nicht übel nahm, weil sie ja im Prinzip nichts dafür konnte. Aber ein paar Tage später hatte sie es dann tatsächlich geschafft, dass auch Alexa und sogar Lisa Arschkuh sich angesteckt hatten. «Ich werde sonst nie krank», jaulte Lisa rum, die mit dickem Schal und einem vollgerotzten Taschentuch auf ihrem Bett saß und Star immer wieder vorwurfsvoll anstarrte. «Ich hab keine Zeit dafür, krank zu werden!» «Das ist die Strafe dafür, dass du unseren Baum hast fällen lassen», konterte ich und kreuzte die Arme vor der Brust. Ich hatte vorsichtshalber einen Mundschutz aufgesetzt. Man wusste ja nie, vielleicht war‘s Tuberkulose oder so. «Das habe ich nur getan, damit nicht auch Verbrecher oder Perverse da einsteigen können, wenn sogar ihr das schafft!», fauchte sie zurück. «Als ob irgendwelche Verbrecher in einer dämlichen Schule einbrechen würden, da gibt es doch sowieso nichts zu holen.» Ich sah sie wütend an. «Und Perverse sind in unserer Schule sowieso schon genug, als ob sich da noch extra welche für einschleichen müssten. Mal ganz davon abgesehen, dass es für beide Kategorien wesentlich einfacher wäre, einfach durch eins der Fenster im Erdgeschoss zu steigen, und zwar bei einem der Zimmer, zu denen man nicht erst über das schmiedeeiserne Tor klettern muss.» «Hört auf zu streiten», krächzte Alexa, die quasi keine Stimme mehr hatte. Die Luft in unserem Zimmer roch, als wäre mindestens eine der kranken Personen schon am Verwesen, aber ich wollte nichts sagen, weil zwei davon ja immerhin noch meine Freundinnen waren. Lüften durfte ich nicht, das hatte ich schon gestern festgestellt. Jedenfalls ging relativ schnell das Gezeter los, wenn ich das Fenster mal aufmachte, weil alle anderen im Raum froren. «Können wir bitte einfach schlafen? Ich bin völlig fertig.» Alexa legte sich im Bett zurück und verkroch sich unter ihrer Decke. Lisa Arschkuh ließ sich auch widerwillig nieder und gab Ruhe und Star war ohnehin schon halb weggetreten. Ich saß da, um halb zehn früh am Abend und war hellwach. Offiziell war hier ab zehn Uhr ja sowieso immer Bettruhe, und wenn die Aufsicht unter den Türen noch Licht sah oder Stimmen hörte, wurde man gleich dafür gerügt. Aber normalerweise guckten wir dann mit Kopfhörern noch einen Film oder flüsterten leise und schwiegen, sobald wir Schritte auf dem Gang hörten. Jedenfalls war es absolut unmöglich, so früh schon einzuschlafen. So müde konnte ich gar nicht sein, dass ich wirklich um Punkt zehn Uhr wegratzte. Die Aufsicht schlich immer bis kurz vor zwölf in den Gängen herum, bevor sie die Eingangstür von innen verriegelte und sich ebenfalls zu Bett begab. Das war keine besonders dankenswerte Aufgabe und die wenigsten der Lehrer meldeten sich freiwillig dafür. Jedenfalls konnte ich so lange nicht raus, es sei denn, ich timte es so geschickt, dass die Aufsicht gerade an unserer Tür vorüber war und ich mich dann heimlich in die andere Richtung davonstahl. Aber bevor ich das in die Tat umsetzte, sollte ich mir erstmal überlegen, wohin ich eigentlich wollte. Denn die Computerräume, die mich im Moment am meisten reizten, hatten alle so dämliche Gucklöcher in ihren Türen, sodass ich da jedenfalls nicht allzu lange bleiben konnte, ehe die Aufsicht ihre nächste Runde beendet hatte.

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Blöderweise hörte ich genau in diesem Moment die plumpen Schritte von (so weit ich das mittlerweile richtig einschätzen konnte) dem etwas schwerfälligen Herrn Mertens. Mit meinem Klassenlehrer kam ich eigentlich ganz gut klar. Er gehörte zu den älteren Semestern, ich schätzte ihn so auf Ende 40, Anfang 50, deswegen hatte er fast schon Opa-Status bei uns und keiner konnte ihn so richtig ernst nehmen. Wenn der mich erwischte, war das wenigstens nicht so schmerzlich wie bei Herrn Peters oder der Hartmann. Und immerhin hörte man Herrn Mertens schon von Weitem, weil er ein bisschen schlurfte und des Öfteren stehen blieb, um zu verschnaufen, während andere Lehrer, insbesondere mein Lieblingsenglischlehrer, sich so lautlos bewegten, dass man kaum eine Chance hatte, nicht entdeckt zu werden. Blöderweise hatte Herr Mertens auch nur einmal im Monat Aufsicht, weil es seine Pflicht war. Die restlichen Tage verteilten sich auf die Leute, die das Zusatzgeld nötig hatten (wie Herrn Fuchs, der den Gerüchten zufolge eine gewisse Neigung zum Glücksspiel hatte, oder Herrn und Frau Sanders, die auf ihren Ruhestand hin sparten, um sich dann eine Villa in Florida leisten zu können), oder die Schlafstörungen hatten (wie Herrn Peters, dessen Adrenalin bei seinen ständigen Aggressionen wahrscheinlich nie zur Ruhe kam - seine Augenringe bildeten zwei riesige, schwarze Krater in seinem Gesicht). Der Einzige, der das offenbar freiwillig und ohne ersichtlichen Grund tat, war Jack. Ich sollte ihn mal fragen, wieso. Geldprobleme schien er jedenfalls nicht zu haben, sonst würde er sich nicht diesen protzigen, auf Hochglanz polierten Mercedes leisten. Und für Schlafstörungen sah er einfach viel zu ausgeruht und entspannt aus. Aber er schien wirklich ständig Aufsicht zu haben. Vielleicht hatte die Hartmann ihn darum gebeten, der Schleimer konnte ja doch keinen Wunsch von ihr ausschlagen, haha. Als die Schlurfschritte vom Mertens die Treppe runter verklungen war, öffnete ich vorsichtig die Tür, huschte hinaus und schloss sie leise wieder. Hier draußen war die Luft gleich wesentlich angenehmer. Ich machte den Mundschutz ab und atmete einige Male tief ein und aus. Es roch nach Freiheit. Grinsend huschte ich die Treppe nach oben in den ersten Stock, in dem die Mädchenschlafräume lagen, weiter in den zweiten Stock, wo sich die Jungenzimmer befanden. Jetzt war ich schon auf gefährlich verbotenem Terrain und weit entfernt von jedem Ort, an dem ich mir noch eine Ausrede hätte einfallen lassen können. Im dritten Stock war es totenstill und stockdunkel. Hier oben befanden sich neben den Computerräumen noch die Bibliothek, den Schülervertretungsraum und einige kleinere Studierräume, die während der Unterrichtszeit vom 12. und 13. Jahrgang für Gruppenarbeit und kleinere Kurse genutzt wurden und ab nachmittags allen zum Lernen zur Verfügung standen. Ein Großteil der Räume stand also meistens einfach nur leer, außer den Oberstufenschülern hielt sich da eh keiner freiwillig drin auf und diese auch vorwiegend nur in der Endzeit kurz vor den Abiturprüfungen. Der Vorteil war, dass diese Räume nie verschlossen wurden. Blöderweise hatten aber auch diese ein Guckloch in ihrer Tür, nutzten mir also im Moment herzlich wenig. Ich schlich an den ganzen leeren und dunklen Räumen vorbei und huschte letztlich doch in einen der Computerräume, um mir in der hintersten Reihe einen Platz zu suchen. Ich hatte gut eine halbe Stunde, bis Herr Mertens hier vorbeikommen müsste. Die Zeit nutzte ich, um meine Mails zu checken und ein wenig mit Sneak zu chatten. Ich wusste nicht viel über den Jungen, der immer ein großes Geheimnis um seine Identität machte. Aber er ging auf jeden

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Fall auf unsere Schule und er hatte den Schulchat überhaupt erst ins Leben gerufen und programmiert. Allgemein schien er ein ziemlicher Crack zu sein, was Computerzeugs anging. Daher vermutete ich, dass er eher in einem der beiden Jahrgänge über mir war. Vermutlich war er in Wirklichkeit extremst schüchtern und irgendwie nerdig und machte deswegen so ein riesiges Geheimnis um seine Person. Konnte ich sogar nachvollziehen. Ich hatte aufgehört, ihn um einen Namen oder ein Treffen anzubetteln und es akzeptiert, wie es war. Auch wenn es mich wurmte, dass er schon nach einigen Malen erraten hatte, wer ich war. Sneak: Hey, Kleines! Du bist noch wach? Wie kommt das? Lilith (das war ich): Ich kann nicht schlafen. Bei uns im Zimmer riecht es, als wäre jemand darin gestorben! Sneak: Ich hab schon gehört, dass Star krank ist … Lilith: Nicht nur sie, die anderen auch! Ich bin als Einzige noch nicht infiziert. :P Sneak: Sei doch froh! Lilith: Bin ich ja auch, aber es ist einfach nicht zum Aushalten da. Von der schlechten Luft bekomm ich Kopfschmerzen und alle drei Minuten kriegt einer von denen einen lautstarken Hustenanfall. Ich hab keine Ahnung, wo ich heute Nacht bleiben soll, ich tendiere wirklich ernsthaft dazu, auf dem Flur zu schlafen. Sneak: Das klingt gemütlich. Lilith: Und ob. ;) Aber allemal besser, als zu ersticken. Sneak: Bist du oben in einem der PC-Räume? Lilith: Richtig. Denn ICH habe leider keinen Laptop, so wie du. Sneak: Hörst du die Schritte nicht? Lilith: Was für Schritte? Ich lauschte angespannt und tatsächlich … Sehr, wirklich sehr leise vernahm ich das Geräusch von Schuhen auf dem Flur. War der Junge Hellseher oder was? Lilith: Oh fuck, ich muss weg! Ich loggte mich hastig aus, ehe ich in die Hocke ging und mich unter dem Tisch versteckte. Da diese dämlichen Computer leider uralt waren, brauchten sie immer eine Ewigkeit, um herunterzufahren. Der Bildschirm leuchtete also schön blau in die Dunkelheit hinein. Mein Herz setzte einen Moment aus, als im Flur jemand direkt vor der Tür stehen blieb. Ich robbte auf den Knien unter dem Schreibtisch her in Richtung Wand. Endlich schaltete sich der Bildschirm ab und hüllte mich in endgültige Finsternis. Ich hielt den Atem an und wartete ab. Draußen war nichts mehr zu hören. Zwei Minuten wartete ich, ehe ich mit zittrigen Knien aufstand und mich zur Tür vortastete. Vorsichtig schob ich sie auf und trat auf den Flur hinaus, als jemand mir eine Hand vor den Mund hielt und ich entsetzt aufkreischte. Ich wirbelte herum und wollte schon zum Angriff übergehen, als ich wie angewurzelt in der Umdrehung innehielt, als ich das Gesicht vor mir erkannte. Nur wenig Licht von den Laternen draußen auf dem Schulhof schien zu uns herauf, sodass Jacks Züge irgendwie noch kantiger waren als sonst und seine blauen Augen gespenstisch leuchteten.

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«Gott, du hast mich zu Tode erschreckt!», zischte ich, während mein Herz so schnell in meiner Brust hämmerte, dass es jeden Moment herausfallen müsste. «Herr Mertens kommt gleich um die Ecke, wie wäre es, wenn wir von hier verschwinden?» Er sah mich groß an und ich starrte wahrscheinlich noch größer zurück, weil ich so verblüfft war. Es gab keine Standpauke von ihm und er wartete auch nicht, bis ein zweiter Lehrer meine Fehltat bezeugen konnte. Nein, er half mir sogar. Stumm nickte ich und folgte Jack so lautlos wie möglich in Richtung Haupttreppe. Herr Mertens schien eine der Turmtreppen benutzt zu haben. «Was wolltest du da oben?», fragte ich, als wir zwei Stockwerke tiefer waren und vor der Tür anhielten, die zu den Lehrerschlafräumen führten. Niemand der Schüler hatte je einen Blick hinter diese Tür werfen können, sie war nur mit einer persönlichen Magnetkarte zu öffnen, die jeder Lehrer besaß. «Ich wollte eigentlich Herr Mertens fragen, ob ich ihn ablösen soll», erklärte Jack nun und beäugte mich schräg. «Aber dann hast du dich dazu entschieden, doch lieber mich zu retten?», fragte ich. «Ehrlich gesagt wusste ich nicht, dass du da in dem Raum gehockt hast wie ein ängstliches Kaninchen», grinste er nun. Ich kreuzte die Arme vor der Brust. «Wieso bist du so scharf darauf, nachts Aufsicht zu führen?» «Ich bin nicht scharf darauf», verteidigte er sich. «Aber ich gehe sowieso nie vor 1 Uhr ins Bett und die anderen Lehrer sind froh, wenn sie es nicht müssen und die meisten Schüler sind froh, weil ich ziemlich gnädig bin.» Er grinste schief. «Also aus Nächstenliebe? Das kauf ich dir nicht ab», grinste ich amüsiert. Oben war ein Schlurfen zu hören. Der Mertens näherte sich allmählich der Treppe. «Geh zurück in dein Zimmer, Ginny», seufzte Jack nun leise. Ich schüttelte den Kopf. «Nein, auf keinen Fall. Ich halte es nicht aus da drin mit den ganzen Bazillenschleudern. Da schlafe ich ja lieber draußen!» Jack seufzte erneut und warf einen Blick die Treppe hinauf, ehe er schließlich seinen Schlüsselbund aus der Tasche kramte und die Karte durch den Magnetstreifen zog. Haute der jetzt einfach ab und überließ mich doch noch den Fängen vom Mertens?! «Na komm schon, Ginny! Ich schlaf auf der Couch.» Er hielt mir die Tür auf und ich starrte völlig perplex zu ihm und zu dem Gang, der sich vor mir auftat. War das sein Ernst? Was wohl die Strafe hierfür war? Vermutlich würden wir beide hochkant rausgeworfen werden, wenn irgendjemand davon Wind bekam. Das machte es fast noch reizvoller. Adrenalin schoss mir in den Kopf. Jack zog am Ärmel von meinem Schlafanzug und nickte in Richtung Gang. Herr Mertens musste jetzt so nahe sein, dass er uns hören konnte. Hastig betrat ich den Korridor, ehe Jack die Tür hinter uns zuzog und das Licht anschaltete. «Wow», hauchte ich, weil es richtig nett aussah, ganz im Gegenteil zu dem, was ich mir immer vorgestellt hatte. Der Boden war mit rotem Teppich ausgelegt und an beiden Enden des Flurs standen ein Sessel und ein großes Bücherregal, in dem offenbar jede Menge Lesestoff für die Erwachsenen vorhanden war, der in unserer normalen Bibliothek oben nichts zu suchen hatte. Ob es da auch Erotikbücher bei gab? Der Gedanke war gruselig. «Ja, genieß es, den Anblick wirst du nämlich nie wieder zu Gesicht bekommen», wisperte Jack und schloss die Tür gegenüber des Bücherregals auf. Das Zimmer von Jack war erstaunlich groß und gemütlich. Es war auch in zwei Teile durch eine Zwischenwand unterteilt wie unseres,

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allerdings befanden sich dahinter keine vier Einzelbetten sondern ein sehr bequem aussehendes Doppelbett. «Jack!», rief ich empört. «Du hast so viel Platz wie wir zu viert!» «Übertreib es nicht, es sind gut 14 Quadratmeter weniger.» «Aber du bist alleine und wir sind zu viert! Deinen Kleiderschrank teilen wir zu viert!» Ich stand davor und betrachtete das riesige Ungetüm neidisch. «Das soll euch daran hindern, zu viel unnötige Kleidung zu kaufen, ihr tragt ohnehin fast nur die Schuluniform.» «Aber ich musste die Hälfte meiner Sachen zu Hause lassen, weil wir keinen Platz dafür haben! Und wenn ich Glück habe, findet meine Mutter sie vor meiner Rückkehr und schmeißt sie weg!» «Bring sie nächstes Jahr mit, mein Schrank ist nicht mal zur Hälfte gefüllt.» Er legte seinen Schlüssel auf den großen Schreibtisch im vorderen Bereich ab. «Was ist da drin?», fragte ich und deutete auf die Tür, die neben dem Kleiderschrank lag. «Ihr habt doch nicht etwa …» Ich öffnete sie und starrte neiderfüllt hinein. «Doch. Habt ihr. Ein eigenes Badezimmer. Und du hast sogar eine Badewanne! Ich hab seit den Ferien nicht mehr baden können!» «Wer badet denn schon gerne?», fragte Jack stirnrunzelnd. «Weißt du, wie unökonomisch das ist? Außerdem dauert es immer ewig, bis die Wanne überhaupt mal voll wird, für sowas hab ich keine Zeit.» Ich lachte los. «Aber es gibt nichts Geileres, als ein richtig schön heißes Bad, vor allem an kalten Tagen.» «Bitte, tu dir keinen Zwang an. Ich muss eh noch ein paar Hausarbeiten korrigieren.» «Wirklich?», fragte ich grinsend. Jack setzte sich an seinen Schreibtisch und startete seinen Laptop. «Handtücher sind im Schrank vorne rechts.» Ich schnappte mir eins davon und verschwand dann in Jacks Badezimmer. Die Situation war absolut seltsam und gleichzeitig ziemlich entspannt. Seit Jack die Ferien bei mir verbracht hatte und wir quasi einige Wochen lang zusammen gewohnt hatten, hatte man sich ziemlich gut auf den anderen und seine Gewohnheiten einstellen können. Daher wusste ich, dass Jack ziemlich pingelig sein konnte und nasse Handtücher auf dem Fußboden ihn kirre machten. Als ich eine Stunde später also aus der Wanne gestiegen war und mich abgetrocknet hatte, hängte ich es fein säuberlich neben seines, schlüpfte wieder in den Schlafanzug und ging zurück in den Wohnraum. Jack saß immer noch am Laptop und telefonierte jetzt zeitgleich. Als er mich und die Dampfschwaden, die hinter mir aus dem Bad stiegen, bemerkte, beendete er das Telefonat. «Ich kann nicht mehr weiterreden, ich ruf morgen nochmal an, ja?» Damit legte er auf. Wie höflich. Ich grinste gut gelaunt und fläzte mich auf das große Sofa. Es war etwas moderner als das in unserem Zimmer. «Und, hast du mein Bad überschwemmt?», fragte Jack amüsiert und drehte seinen Stuhl so, dass er mich ansehen konnte. «Klar», grinste ich und zog die Beine mit auf die Couch. «Ohne Seekarte wirst du nicht mehr reinfinden.» «Es ist schon nach elf, Ginny. Und ihr habt morgen Unterricht.» Wahnsinn, damit implizierte er doch nicht etwa eine Aufforderung zum Schlafengehen? «Ich bin aber kein Stück müde», maulte ich und stützte das Kinn auf dem Knie ab.

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«Manchmal hörst du dich wirklich wie eine Zehnjährige an», grinste er und ich streckte ihm die Zunge raus. «Du kannst mir ja noch eine Gutenachtgeschichte erzählen, vielleicht schlaf ich dann ganz schnell ein.» Jack lachte los. «Ja, bestimmt. Also schön, wie wäre es, wenn wir uns noch einen Film ansehen?» «Jeah, du bist der Beste!», grinste ich triumphierend, wandte aber schnell ein: «Aber nur, wenn es kein Dokumentarfilm ist.» «Weil man da ja eventuell auch noch etwas bei Lernen könnte», witzelte Jack augenverdrehend und öffnete auf seinem Laptop irgendeinen Film. «Wenn ich mal das Bedürfnis habe, etwas zu lernen, höre ich im Unterricht einfach mal zu», konterte ich und Jack ließ sich kopfschüttelnd neben mir nieder. «Ich hoffe doch sehr, dass du in meinem Unterricht immer artig aufpasst.» Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und ich nickte vehement. «Aber natürlich, immer!» Jack lachte los und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Der Vorspann begann. «Jack!», rief ich begeistert, als ich erkannte, dass es der erste Teil von Stolz und Vorurteil war. Die britische Verfilmung mit Colin Firth, die wesentlich besser war als die amerikanische Version. «Mein Lieblingsfilm! Danke.» Ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange und merkte erst hinterher, dass das irgendwie zu viel gewesen war. Jack räusperte sich und nickte. «Ja, ich dachte mir, davon wird man wenigstens schläfrig. Und es ist immerhin eine Literaturverfilmung, da komme ich mir nicht so vor, als würde ich vollends verblöden.» Wir schwiegen beide und starrten konzentriert nach vorne, während sich mein Kopf viel zu heiß anfühlte. Ich befürchtete, dass ich auch knallrot war. Dreck aber auch. «Du riechst nach meinem Duschgel», kommentierte Jack nach zehn Minuten unangenehmen Schweigens. «Schlimm? Ich mag den Geruch.» Jetzt war ich auch noch verunsichert. Spitze. «Nein, es ist nur irritierend», murmelte er und stand auf, um im Bad zu verschwinden. Er war eine Ewigkeit da drin, sodass ich die Folge quasi alleine sah. Denn als er wieder raus kam, lief schon der Abspann und ich war halb eingedöst. «Siehst du, ich sage ja, dass der Film beim Einschlafen hilft», grinste er nun. «Leg dich ins Bett, ich werde noch ein bisschen arbeiten und dann auf dem Sofa schlafen.» «Ich kann auch auf dem Sofa schlafen», bot ich an, weil ich es irgendwie dreist fand, sein Bett zu beschlagnahmen. Nicht, dass wir nicht auch problemlos beide reingepasst hätten, aber das wagte ich nicht auch nur zu denken, nach der Situation gerade. «Ich bestehe darauf, dass du das Bett nimmst», erwiderte er und an der Art, wie er es sagte, erkannte ich, dass er keine Wiederrede dulden würde. Da war er doch sehr dickköpfig manchmal. Seufzend erhob ich mich also und schleppte mich rüber in das große Bett. Ich versank in einem Meer aus Kissen und einer riesigen Decke. Das war wirklich ein Traum. Hier war der Geruch von Jack noch viel präsenter und mit dem Gesicht halb im Kissen vergraben schlief ich irgendwann ein. Ich hatte nicht das Gefühl, wirklich viel geschlafen zu haben, als ich auch schon wieder geweckt wurde. Irgendetwas stupste mir beständig gegen den Kopf, bis ich irgendwann murrend das Gesicht hob. Es war noch stockdunkel draußen und im Zimmer dämmerte es vor sich hin. Erst nach einigen Sekunden begriff ich, dass ich nicht in unserem Viererzimmer lag, sondern bei meinem Englischlehrer im Bett.

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«Oh Gott», murmelte ich, weil das fast so katastrophal war, wie es klang. «Du musst in dein Zimmer, bevor irgendjemand aufsteht», sagte Jack, der vor mir stand und der offenbar für das Stupsen verantwortlich war. «Wie viel Uhr ist es?», fragte ich verschlafen und richtete mich in dem riesigen Bett auf. So eins wollte ich auch in meinem Zimmer. «Halb 5.» «Wahnsinn», seufzte ich und strich mir die zerzausten Haare aus der Stirn. «Wer steht denn so früh auf?» «Niemand, aber um fünf. Also noch solltest du gefahrlos abhauen können.» Er hielt mir etwas entgegen, das sich nach einem zweiten Blinzeln von mir als meine Sweatshirtjacke entpuppte. Ich griff danach und zog sie mir über, ehe ich mich aus dem Bett erhob. Jack sah so fit aus, als hätte er zehn Stunden lang schlafen können. Dabei konnten es bei ihm maximal 3 oder 4 Stunden gewesen sein. Gruselig. «Wir sehen uns nachher im Unterricht.» Er öffnete mir die Tür zum Flur und lugte vorsichtshalber einmal in den Korridor, ehe er mich hinausschob. «Und? Irgendwo Scharfschützen gesichtet?», konnte ich mir einen spöttischen Kommentar nicht verkneifen. Jack verdrehte die Augen. «Geh und versuch noch ein wenig zu schlafen, du siehst aus, als hättest du Mary Shelley zu Frankensteins Monster inspiriert.» Ich grinste schief, ehe ich zu der Tür huschte, die zu den normalen Fluren im ersten Stock führte, drehte mich nochmal um und schenkte Jack einen Stinkfingerkuss (das war eine Erfindung von mir, um die lächerliche Gestik eines Luftkusses zu persiflieren - man benutzte nur den Mittelfinger) und verschwand, ehe er irgendetwas darauf erwidern konnte. Die drei Seuchenschleudern schliefen alle gleichmäßig vor sich hinschnorchelnd in ihren Betten. Da es einigermaßen ruhig war, legte ich mich auch noch einmal hin. Die Luft war zwar katastrophal in dem Raum, aber ich war so müde und irgendwie noch im Halbschlaf, dass ich das ignorieren konnte. Trotzdem war ich allgemein doch eher matschig im Hirn, als ich zur ersten Stunde in den Unterricht musste. Viel bekam ich also nicht mit vom Unterricht, konnte aber auch nichts allzu Wichtiges sein, immerhin machte sich Alexa keinerlei Notizen und auf die war immer Verlass, wenn es um die elementaren Dinge ging. Erst nach der Mittagspause wurde ich dann wieder etwas fitter. Bogenschießen war eigentlich ein wirklich cooler Sportkurs, vor allem, weil Herr Dreyer, der den Kurs gab, absolut cool war. Ich verstand mittlerweile auch, wieso er und Jack befreundet waren. Herr Dreyer war ihm im Prinzip sehr ähnlich, mit dem großen Unterschied, dass er nicht so spießig und langweilig war, sondern irgendwie durchgeknallt. Wir waren nur sieben Leute in dem Kurs, was das Arbeiten an sich sehr entspannend machte. Außer mir gab es noch fünf Jungs, von denen zwei Mittelalterfreaks und einer Indianerfan waren. Dann gab es da noch einen, der offenbar zu oft Herr der Ringe gesehen hatte und sich für Legolas hielt, und einen, der aussah, als würde er das als Übung für einen Amoklauf nehmen. So richtig dicht war also ehrlich gestanden keiner in diesem Kurs. Außer mir gab es nur noch ein anderes Mädchen, das ganz offensichtlich den Kurs nur belegt hatte, um Herrn Dreyer nahe sein zu können. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gedacht, sie würde in die siebte Klasse gehen. Offenbar war sie in Stars Jahrgang, also dem Abiturjahrgang. Gruselig. Sie war mindestens einen Kopf kleiner als ich und ihre Beinchen waren so dünn wie meine Oberarme. Es

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musste für sie schon wahnsinnig anstrengend sein, den Pfeil und Bogen überhaupt oben halten zu können. Jedenfalls zitterte sie oftmals so stark, dass Herr Dreyer ihr beim Halten des Bogens half - was ihr jawohl nur gelegen kam. «Vielleicht solltest du mal mehr Proteine zu dir nehmen, Klarissa», schlug er auch heute wieder grinsend vor, ehe er sich dem restlichen Kurs zu wandte. Ich hatte mittlerweile ein ganz gutes Gefühl für Pfeil und Bogen entwickelt und war soweit treffsicher genug, dass ich keine Leute mehr in Gefahr brachte (zu dem Thema schweige ich lieber), sondern immerhin die Zielscheibe traf. Eher im äußeren Bereich, aber es war ein Fortschritt. Ehrlich gesagt machte mir das Schießen richtig Spaß. Die Mischung aus Konzentration und Anspannung war Balsam für meine Seele und meinen Körper. Ich fühlte mich danach immer fast wie neu geboren. «Es ist schon wieder soweit, ihr Pappnasen!», rief Herr Dreyer und ich ließ den Bogen sinken und drehte mich irritiert zu ihm um. «Die Zeit ist um, ich danke vielmals für eure Aufmerksamkeit und bis zum nächsten Mal.» Damit verbeugte er sich albern und Klarissa klatschte ganz eifrig in ihre kleinen Händchen. Da wir gerade ohnehin an der frischen Luft waren, nutzte ich die Zeit, nachdem wir die Sachen alle weggebracht hatten, um noch eine zu rauchen. Herr Dreyer trat zu mir und starrte auf die Zigarette in meiner Hand. Ich war mir sicher, dass gleich eine Predigt und eine angemessene Strafe erfolgen würden, aber das war mir egal. «Würd‘s dir was ausmachen, wenn ich mir eine schnorre?», fragte Herr Dreyer stattdessen und völlig fassungslos glotzte ich ihn an. Genau das meinte ich. Definitiv nicht spießig. «Äh, klar.» Ich hielt ihm die Schachtel und das Feuerzeug hin. Ich wartete, während er sich eine anzündete und genüsslich den Rauch in die Luft pustete. «Wie kommt man eigentlich dazu, Bogenschießen zu machen?», fragte ich ihn stirnrunzelnd und nahm ebenfalls einen Zug. Herr Dreyer zog eine seiner hellen Augenbrauen nach oben. Sein Gesicht sah echt wahnsinnig jugendlich aus. Vielleicht noch mehr als das von Jack, weil der zwar jung aussah, aber immerhin nicht so ein Babyface hatte. «Du hast es auch gewählt, oder?» «Ja, ich wollte was abschießen. Und Sie?» «Ich auch», grinste er und ich musste loslachen. «Das ist gruselig.» «Gleichfalls.» Amüsiert drehte er sich in Richtung Wald. «Ich hab damit sogar mal ein Tier erlegt. War ziemlich lecker.» «Uh, das müssen Sie unbedingt König Artus und Lancelot erzählen», schlug ich vor. Herr Dreyer sah mich stirnrunzelnd an. «Du meinst Tobias und Hendrik?» «Ja», grinste ich und er lachte los. «Ja. Das passt.» Kopfschüttelnd warf er die aufgerauchte Kippe zu Boden und trat sie aus. Ich folgte seinem Beispiel. «Was für ein Tier war es?», fragte ich neugierig, als wir zurück Richtung Sporthalle gingen. «Eine Ente.» Ich musste loslachen. «Das sollten Sie den beiden vielleicht lieber vorenthalten, sonst könnte der Eindruck geschmälert werden.» «Ich werd‘s mir merken», grinste er und verschwand in der Umkleide des Sportlehrers. Ob sich da schon mal irgendjemand reingeschlichen hatte, um einen Streich zu begehen? Die Verlockung

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war groß, vor allem wenn man bedachte, dass die da drin auch duschen konnten. Aber das würde ich mir für jemand weniger Sympathisches aufsparen. Auch an diesem Abend war die Luft so gruselig in unserem Zimmer, dass ich mir wirklich nicht vorstellen konnte, dort zu schlafen. Aber noch einmal bei Jack Langley zu nächtigen kam genauso wenig für mich in den Sinn. Das war einfach zu gruselig gewesen, letzte Nacht. Ich saß also um halb zwölf im Bett und überlegte fieberhaft, wo ich mich stattdessen verkrümeln konnte. Aber nach zwölf Uhr war das sowieso egal, weil ich dann von niemandem mehr entdeckt werden könnte. Ich konnte mich also genauso gut in einem der Studierräume oben verstecken. Seufzend schlug ich die Bettdecke zurück und schlüpfte lautlos in meine Pantoffeln. Offenbar nicht ganz so lautlos, wie ich gedacht hatte, denn Star im Bett neben mir drehte sich um und sah mich verschlafen an. «Ginny?», flüsterte sie mit ihrer Krächzstimme. «Was machst du denn?» «Ich schlaf im Flur, ich halt es hier nicht aus. Sorry, Süße.» «Was?» Sie rieb sich verschlafen die Augen. «Wieso schläfst du nicht im Schülervertretungsraum? Ich hab einen Schlüssel, bin ja die Schulsprecherin.» Sie öffnete die unterste Schublade von dem Regal neben dem Bett und fingerte einen Schlüsselbund heraus. «Du bist die beste, danke», hauchte ich, nahm ihr den Schlüssel ab und huschte möglichst leise aus dem Zimmer. Die Schritte von Herrn Peters waren irgendwo im Stockwerk unter mir, vermutlich durchquerte er gerade die Eingangshalle. Ich nutzte die Gelegenheit und huschte die Treppen hoch bis in den dritten Stock. Der Raum für die Schülervertretung war das ideale Versteck. Der Raum war immer verschlossen, sodass niemand auf die Idee kommen würde, darin nachzusehen, ob sich jemand versteckte. Es gab auch kein Fenster in der Tür, weil es natürlich alles streng geheim war, was wir hier drin für Entscheidungen trafen (so wichtige Dinge wie die Einführung eines Kummerbriefkastens, wo jeder seine Beschwerden reinwerfen konnte...). Außerdem war der Raum wirklich gemütlich und es gab neben zahlreichen Sesseln auch zwei riesige Sofas, von denen das eine groß genug war, dass ich mich ganz darauf ausstrecken konnte. Der Raum war quasi perfekt für eine Nächtigung außerhalb des Zimmers. Es gab sogar einen Kühlschrank mit jeder Menge Erfrischungsgetränke. Ich schlief die nächsten drei Nächte also in diesem wirklich angenehmen Raum, ohne dass irgendjemand etwas davon mitbekam, von Star mal abgesehen. Am Samstagmorgen wunderten sich zwar einige der Vertretungen über die leeren Saftflaschen im Papierkorb (die kamen sonst nur samstags nach den Versammlungen vor und danach wurde immer gleich brav aufgeräumt), aber Star beschuldigte den nervigen Jungen aus dem zwölften Jahrgang, sodass die Sache schnell erledigt war.

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Kapitel 6 Am Sonntag hätte ich dann beinahe verschlafen. Eigentlich hatten wir sonntags ja nur nachmittags diese nervigen «Kultur»-Veranstaltungen, aber an diesem Sonntag wurden wir schon früh morgens in die Mensa geordert. Wovon ich natürlich nichts mit bekam, weil ich tief und fest am Schlafen war. Glücklicherweise fiel Star noch rechtzeitig ein, wo ich war, um mich zu wecken, sodass ich noch gerade pünktlich, dafür allerdings im Pyjama, im Speisesaal eintraf. Die zahlreichen Blicke, die auf mir ruhten, ignorierte ich gekonnt und stolzierte erhobenen Hauptes neben Star her zu unserer Sitzreihe, wo Alexa und Chris uns zwei Sitzplätze freihielten. «Worum geht es denn überhaupt?», fragte ich verschlafen und kreuzte die Beine mit meinem Koalabärschlafanzug. Das Oberteil hatte sogar eine Kapuze mit Ohren dran. Ziemlich cool. «Offenbar um die heutige Aktion», erklärte Chris und hielt mir eine Tüte Chips entgegen. Ich verzog das Gesicht. So direkt nach dem Aufstehen konnte ich noch nicht denken, geschweige denn essen. «Schön, dass Sie alle rechtzeitig hier erschienen sind», begann die Hartmann ihre Ansprache. Sie trug rosa. Gruselig. «Wir haben wundervolle Neuigkeiten bezüglich des heutigen Kulturevents. Die Oberstufenschüler wurden durch die aktive Mithilfe von Frau Nowak von Professor Pietersen herzlich dazu eingeladen, sich seine exklusive und sonst für niemanden zugängliche Sammlung anzusehen!» Sie sagte das so enthusiastisch, als erwarte sie brennenden Applaus. Aber offenbar hatten die meisten anderen genauso wenig Ahnung wie ich, wer dieser Professor auch immer sein mochte und was er sammelte. Briefmarken vielleicht? Das wäre ein neuer Höhepunkt auf unserer Skala. Wenn wir uns tatsächlich zu so einem freakigen Knallkopf gesellen würden, der uns seine lahme Briefmarkensammlung zeigte. «Da natürlich nicht alle auf einmal in sein Haus können, haben wir Sie alphabetisch in Gruppen aufgeteilt, die über den Tag verteilt hinfahren werden.» «Alphabetisch?!» Ich zog die Nase kraus. «Was soll das denn?!» Die Wahrscheinlichkeit, dass ich mit irgendeinem meiner Leute in einer Gruppe landen würde, war extrem gering. Star war mit ihrem Nachnamen ganz am Ende des Alphabets, Alexa fast ganz am Anfang und ich ziemlich im Mittelbereich. Einzig allein Chris könnte noch bei mir landen, dafür würde dann allerdings auch sein Bruder anwesend sein, was mir den Ausflug wohl eher verderben würde. Auf Justus‘ Sticheleien hatte ich momentan wirklich keine Lust. «Ich lese Sie jetzt der Reihe nach vor und ordne sie anschließend dem Zeitplan zu.» Und dann fing sie doch tatsächlich an, jeden einzelnen Namen runterzuleihern. Ich wäre beinahe wieder eingeschlafen, bis sie endlich bei meinem Namen ankam. Sie nannte noch drei weitere und danach unsere Uhrzeit. Der Bus von der dritten Gruppe würde um 16 Uhr wieder vor der Schule halten und uns aufgabeln. Um 16 Uhr. Ja, tatsächlich. Hätte uns das jemand gestern Abend mitgeteilt, hätte ich ohne Probleme und ganz in Ruhe ausschlafen können. Aber nein. Ich bekam langsam das Gefühl, dass Frau Hartmann das mit Absicht machte, um uns Schüler zu ärgern. Als sie endlich fertig war mit ihrer Rede, erhob ich mich aus meinem Stuhl. Ein Glück hatte ich mich noch nicht umgezogen oder gar geduscht für den Scheiß. Ich konnte einfach so wieder ins Bett fallen und weiterpennen. «Hey, ist das nicht aufregend?!» Jack hatte mich in der Eingangshalle eingeholt und sah mich begeistert an. Ich runzelte irritiert die Stirn. «Was?» «Na der Ausflug! Professor Pietersen ist ein bedeutender Sammler.»

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«Von Kronkorken?», witzelte ich. Jack schnitt eine Grimasse. «Er ist im Besitz zahlreicher Antiquitäten, vieler großartiger Kunstwerke und Handschriften aus dem 13. Jahrhundert. Das ist wirklich großartig.» «Klingt spitzenmäßig. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich habe ein Date mit meinem Bett.» Jack sah mich vorwurfsvoll an. «Du solltest wirklich etwas dankbarer sein für diese Chance, Virginia. Dieser Besuch ist ein Privileg. Janine hat einiges deichseln müssen, um uns diesen Besuch verschaffen zu können.» «Janine?», fragte ich spitz und kreuzte die Arme vor der Brust. «Äh, ja. Frau Nowak.» «Meine Biolehrerin?» Ich zog fragend eine Augenbraue hoch. «Ihr anderes Fach ist Kunstgeschichte. Sie hat wirklich bemerkenswerte Kontakte.» «So bemerkenswert können sie nicht sein, sonst würde sie nicht unterrichten müssen», konterte ich und drehte mich wieder in die Richtung, die ich vorher angesteuert hatte. «Vergess deinen Ausweis nicht, die Grenzen sind zwar eigentlich offen, aber bei so vielen Jugendlichen könnten wir bestimmt in eine Kontrolle geraten.» Ich blieb stehen und drehte mich nochmal zu ihm um. «Wir fahren nach Holland?», fragte ich. Jack nickte bestätigend. «Korrekt heißt es eigentlich Niederlande. Holland ist nur ein Teil davon.» Ich ignorierte seinen Klugscheißerkommentar. «Wir fahren wirklich nach Holland und das Einzige, was wir uns angucken, sind alte, vermoderte Bücher? Gute Nacht!» Damit marschierte ich die Treppen hoch und verbarrikadierte mich wieder im Schülervertretungsraum. Um kurz nach zwei stand ich dann schließlich doch auf, um noch in Ruhe zu duschen, bevor es losging. Den Kranken in unserem Zimmer ging es schon wesentlich besser. Star war einigermaßen wieder fit und Alexa hustete nur noch ab und zu mal. Lisa war schon wieder voll im Einsatz. Sie hatte sich mit Antibiotika zugebombt, um nichts in ihrem Terminkalender sausen lassen zu müssen. Also im Prinzip alles beim Alten. Alexa war schon längst wieder von ihrem Ausflug zurück, als ich fertig geduscht und mit geföhnten Haaren in unser Zimmer kam. «Und?», fragte ich grinsend. «Gab es irgendwo Gras zu kaufen?» Alexa schnitt eine Grimasse. «Was denkst du?» «Eher weniger?» «Wir haben direkt vor der fetten Villa von diesem alten Sack gehalten, sind reingegangen, haben uns alles angesehen und sind wieder direkt in den Bus und zurück.» «Und der alte Sack hatte kein Gras im Haus?», warf Star amüsiert ein. «Obwohl er Holländer ist?» «Nein und ich konnte ihn leider auch nicht fragen, weil er sich irgendwo in seine Privatgemächer verzogen hatte. Aber die alten Sachen waren zum Teil ganz cool. Da gab es ein Diadem, das angeblich Claudia von Chalon gehört haben soll.» «Muss man die kennen?», fragte ich irritiert. Alexa lachte los und endete in einem Hustenanfall. «Nein», sagte sie, als sie sich wieder beruhigt hatte. «Sie hat quasi das Geschlecht des holländischen Königshauses begründet. Erfährst du alles dort, wenn du nachfragst.» «Danke für den Tipp, ich werd die Klappe halten», nickte ich, verwuschelte mit etwas Haarspray meine Haare und legte etwas Kajal auf, ehe ich auf die Uhr sah. «Ich glaub, ich muss los. Bis

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später, Mädels.» Ich griff mir meine Handtasche und machte mich auf den Weg in die Eingangshalle und nach draußen auf den Parkplatz. Der Bus war noch nicht in Sicht, dafür tummelten sich schon zahlreiche andere Schüler dort herum. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich wirklich viele von denen kannte. Ehrlich gesagt war ich mir bei einigen nicht mal sicher, ob ich sie überhaupt schon jemals gesehen hatte. Daher war ich heilfroh, als mir immerhin ein bekanntes Gesicht unter den Leuten auffiel. Chip stand etwas abseits von den anderen und rauchte. Einfach so, direkt vor der Eingangstür, durch die jede Sekunde ein oder mehrere Lehrer treten dürften. Grinsend trat ich zu ihm, nahm ihm die Zigarette aus der Hand und zog einmal daran, ehe ich sie ihm wieder gab. «Ich hätte dir auch eine eigene gedreht, wenn du gefragt hättest», grinste er jetzt und beäugte mich abschätzend. «Danke, aber ich kann es mir im Moment nicht leisten, aufzufallen.» Ich kreuzte die Arme vor der Brust. «Die Hartmann hat mich sowieso schon im Visier.» «Ah ja, deine Stripteaseversion vom Müllaufsammeln, ich erinnere mich!» Chip zog noch einmal an der Kippe, ehe er sie zu Boden warf und austrat. «War schwer beeindruckend.» Ich grinste und warf den Kopf in den Nacken. «Danke, Sir. Sie nehmen also auch an der heutigen Nachmittagsexkursion teil? Ohne Begleitung?» «Mich dünkt, ja», konterte er. «Fürwahr sind meine beiden treuen Gefährten bereits heute Vormittag zur Matinee aufgebrochen. Aber wenn es euch ebenfalls eines Begleiters mangelt, biete ich mich hiermit geziemend dafür an.» Ich musste loslachen. «Es wäre mir eine große Ehre, Sir …?» «Markwart. Johannes Markwart.» «Wirklich?», fragte ich amüsiert. Chip nickte. «In der Tat, ja. Seht, dort kommt unser Gefährt.» Tatsächlich fuhr der Bus gerade auf den Parkplatz und drehte dort, ehe er anhielt und die Schüler aus der Gruppe vor uns herausströmten. «Wollen wir?» Chip hielt mir seinen Ellbogen entgegen und grinsend hakte ich mich bei ihm ein. «Du bist richtig begabt, man könnte fast meinen, du wärst aus einer anderen Zeit», grinste ich. Chip lachte los. «Tja ich muss dich enttäuschen. Ich bin weder heimlicher Zeitreisender, noch glitzernder Vampir, der die Zeit überlebt hat.» «Wie enttäuschend», spottete ich und wartete, bis die Letzten auch ausgestiegen waren, ehe ich den Bus betrat. Natürlich prügelten sich alle darum, ganz hinten zu sitzen, weil vorne immer die Lehrer rumhingen. Jack saß in der ersten Reihe und schenkte mir eine Grimasse, als ich bei ihm vorbei kam. Ich blieb stehen und runzelte die Stirn. «Waren Sie nicht in der Gruppe, die gerade angekommen ist? Wollen Sie nicht aussteigen?» «Ich habe das Vergnügen, den Besuch gleich zweimal abzuhalten», antwortete er, während sich ein Junge aus der Zwölften an mir vorbeiquetschte und ich fast auf Jack gefallen wäre. Glücklicherweise hielt Chip mich rechtzeitig am Arm fest. «Im Ernst?», fragte ich Jack. Dieser sah mich vielsagend und mit einem ziemlich durchbohrenden Blick an, bis bei mir der Groschen fiel. «Sie fahren wegen mir nochmal mit? Ernsthaft? Hat sich die Hartmann immer noch nicht abreagiert?» «Ich fürchte nicht. Und jetzt setz dich hin oder geh weiter, du hältst den ganzen Bus auf.»

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Ich streckte ihm die Zunge raus und ging weiter bis hinten durch, wo ich mir einen Platz am Fenster suchte. «Was war das gerade?», fragte Chip neugierig, der sich neben mich setzte. «Ach, die Hartmann war stinksauer wegen der Sache mit den blöden Pantomimen», erklärte ich. «Dass sie J… Mr. Langley damit beauftragt hat, mich bei jeder zukünftigen kulturellen Veranstaltung zu begleiten und darauf aufzupassen, dass ich mich anständig benehme. Ich habe quasi einen Wachhund. Wuff, wuff!» Chip lachte los. «Ach ja, dein knallharter Knockout! Immerhin weiß ich jetzt, dass ich mich vor dir in Acht nehmen muss.» Ich musste ebenfalls lachen. «Solange man mir nicht auf die Nerven geht, ist alles okay.» «Wenn du lieber einen Sitz für dich alleine haben willst …» Chip machte Andeutungen, aufzustehen. Ich hielt ihn grinsend fest und zog ihn zurück auf den Sitz. Frau Nowak kam durch die Reihen gestiefelt und zählte die Schüler durch. «42», beendete sie schließlich ihre Zählung in der letzten Sitzreihe, ehe sie zurück nach vorne ging, dem Busfahrer Anweisungen gab und sich neben Jack setzte. Frau Müller war ebenfalls mit von der Partie. Hatten sie die Lehrer, die mitkamen, tatsächlich auch alphabetisch zugeteilt? Da hatte ich wohl Schwein gehabt, dass sich Herr Peters nicht für Kunst interessierte. Wir fuhren gut eine halbe Stunde durch die Pampa des Emslands und Hollands, ehe wir schließlich vor einem imposanten Anwesen Halt machten und nacheinander ausstiegen. Natürlich konnten wir nicht einfach so reingehen, ohne erstmal eine Standpauke vorher zu überstehen. Ich hörte nur halbherzig zu, wie Frau Müller über die große Ehre schwafelte und dass wir uns anständig und unserem Alter entsprechend benehmen sollten, es waren schließlich nicht umsonst nur die Oberstufenschüler, die dieses Privileg bekommen hatten, blablabla. «Um Gottes willen! Was hast du mit deinem Ärmel gemacht, Jan?!» Frau Nowak packte einen Jungen am Arm und hielt ihm diesen vorwurfsvoll vor sein Gesicht. Wenn sie mich fragte, sah es so aus, als hätte er ihn durch ein Fass Tinte gezogen. Aber wieso die sonst so gechillte Frau Nowak deswegen jetzt so rumstänkerte, war mir nicht klar. Offenbar stand sie ziemlich unter Stress, weil sie die ganze Sache ja organisiert hatte. «Du gibst das Jackett sofort in die Reinigung, wenn wir zurück sind, verstanden?!» Sie sah ihn tadelnd an und der Junge mit der plattgedrückten Nase verdrehte genervt die Augen und knurrte ein «Natürlich, Ma‘am!», was in meinen Ohren sehr sarkastisch klang. Frau Nowak ignorierte es und scheuchte ihn stattdessen voran die Treppenstufen hoch zur Haustür hin. Seufzend folgte ich ihm und den restlichen Schülern in das Haus. Wir bekamen eine super Führung von Frau Pietersen - ihrem Mann war die Zeit dafür offenbar zu schade, jedenfalls bekamen wir ihn genauso wenig zu Gesicht wie Alexa. Es war wirklich gähnend langweilig, sie schwadronierte gut eine halbe Stunde lang über einen hässlichen, uralten Schrank, der angeblich irgendeiner Königin gehört haben sollte. Danach folgten einige weitere alte Möbel, die alle irgendwie komisch müffelten. Würde mich nicht wundern, wenn schon die ein oder andere Generation darin gestorben war. Ich dachte schon, jetzt hätten wir es geschafft, als wir eine Treppe hochgingen und in einen neuen Raum traten. Immerhin gab es hier keine hässlichen Möbel mehr, sondern Gemälde. Damit konnte ich doch ein wenig mehr anfangen. «Das hier sind die drei Schmuckstücke unserer Sammlung», sagte Frau Pietersen voller Stolz und deutete auf drei Bilder hinter sich. «Links ist ein wundervolles Gemälde von Van Gogh, die

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eine Hälfte eines Paars. Seine Schwester befindet sich ebenfalls in Privatbesitz. In der Mitte sehen Sie ein Bildnis von Monet und rechts befindet sich ein Bild von Gauguin.» Damit ging sie weiter und erklärte die anderen Gemälde. Ich konnte es kaum fassen. Da gab es mal wirklich was Interessantes und Sehenswertes und sie verschwendete keine zwei Minuten darauf, etwas mehr darüber zu erzählen. Ich blieb vor den drei Bildern stehen und betrachtete sie genauer. Offenbar hatte der Professor ein Faible für Landschaftsmalerei. Das Bild von Van Gogh gefiel mir am besten und ich trat näher heran, um es besser betrachten zu können. Irgendwie hingen die Bilder ganz schön hoch (der Pietersen musste ein Riese sein). Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um den Himmel besser sehen zu können. Ich fand‘s irgendwie cool, dass man bei Van Gogh immer noch jeden einzelnen Pinselstrich genauestens nachvollziehen konnte. Die Bewegungen, die dadurch entstanden, verliehen jedem Bild irgendwie eine ganz eigene Dynamik. «Entschuldigung, Miss. Würden Sie bitte nicht so nah an die Bilder herantreten?» Einer der Sicherheitsmänner packte mich an der Schulter. Ein ziemlich blöder Fehler, da ich immer noch auf Zehenspitzen stand und durch seine Berührung das Gleichgewicht verlor. Ich ruderte wie eine bekloppte mit den Armen und suchte verzweifelt irgendwo nach Halt, während ich bedrohlich weit nach vorne kippte. Meine Nasenspitze berührte quasi das Bild und ich konnte den moderigen Geruch von alter, getrockneter Farbe wahrnehmen, als mich jemand von hinten am Kragen festhielt und verhinderte, dass ich mit dem ganzen Gesicht auf das Gemälde fiel. Ein ohrenbetäubendes Schrillen hallte durch den Raum, während ich nach hinten gezogen wurde. Erschrocken sah ich mich um und stellte fest, dass mich alle anstarrten. Jack hatte mich vor dem Fall gehindert und hielt immer noch meine Bluse hinten fest, drei Sicherheitsmänner standen um mich herum und Frau Nowak kam ebenfalls angewuselt und stierte mich völlig entgeistert an. «Kann BITTE jemand den Alarm ausstellen?!», rief Jack, weil keiner sonst irgendwie in Aktion trat. Daraufhin nahm einer der Sicherheitsmänner ein Handy und wählte offenbar die Nummer von der Polizei, um denen den falschen Alarm zu melden, während ein weiterer losrannte, um in der Sicherheitszentrale den Krach auszuschalten. Frau Nowak fauchte mich unerwartet heftig an. «Kannst du nicht aufpassen?! Oh mein Gott, hast du eigentlich eine Ahnung, was diese Bilder wert sind, Kindchen?!» Dass sie mich Kindchen nannte, machte es nicht besser. Sie sank ganz erheblich in meinem Ansehen. Endlich war der Alarm abgestellt und es kehrte wieder Ruhe ein. «Es ist nichts passiert, gehen wir weiter», sagte Jack bestimmend und offenbar hatte keiner sonst eine bessere Idee. «Kann ich kurz auf Toilette?», fragte der Junge mit der platten Nase. Frau Pietersen nickte irritiert. «Natürlich. Gleich die Tür rechts gegenüber.» Erleichtert eilte ich hinter den anderen her und wollte mich zwischen den anderen Schülern unsichtbar machen, aber Jack hielt mich am Arm fest. «Du bleibst ab jetzt schön an meiner Seite, klar?» Ich schnitt eine Grimasse. «Ich konnte gar nichts dafür, der Wachmann hat mich quasi geschubst.» «Genau.» Jack sah mich spöttisch an und ich verdrehte die Augen und folgte ihm in den nächsten Raum. Dies war offensichtlich die Abteilung «Schmuck», denn neben zahlreichen Colliers und edelsteinbesetzten Ringen hielt ich schließlich direkt vor dem Diadem, von dem Alexa mir

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erzählt hatte. Es war wirklich wunderschön, wenngleich auch etwas überladen mit Diamanten und einigen Smaragdsteinen. Ich wollte gerade meinen Vorwand brechen und bei Frau Pietersen nach der Geschichte dazu fragen, als mit einem Schlag das Licht ausging. Was genau danach passierte, ging so rasend schnell, dass ich es kaum richtig mitbekam. Irgendetwas klirrte und der schrille Alarm ging wieder los, ich hörte einen Schrei und laute Rufe von den Sicherheitsbeamten. Etwas schnitt mein Gesicht und ein stechender Schmerz schoss durch meine Wange. Jack riss mich zu sich herum und warf sich mit mir zusammen zu Boden. Ich spürte den Aufschlag gar nicht, da ich gar nicht richtig auf dem Boden landete, weil mich Jack mit dem Arm auffing, mein Gesicht war irgendwo in seinem Hemd vergraben und ich konnte den Herzschlag in seiner Brust spüren. Und auf einmal nahm ich nichts anderes mehr um mich herum wahr, außer uns. Jede Zelle meines Körpers stand wie unter Strom und überall wo wir uns berührten, prickelte meine Haut. «Ginny?», fragte er leise und ich befreite meinen Kopf, um in sein Gesicht zu sehen. Natürlich sah ich nichts, weil es stockdunkel war, aber ich spürte seinen Atem auf meiner Wange und mein Herz setzte einen Moment aus. «Jack?», flüsterte ich zurück und hielt den Atem an. «Fass nicht auf den Boden, hier sind überall Scherben», sagte er, stand auf und zog mich zeitgleich mit hoch. Das Licht ging wieder an und Jack war so schnell wieder weg, dass ich es erst einen Moment später realisierte. Völlig irritiert stand ich da und starrte auf die zersplitterte Glasvitrine vor mir, in der vor ein paar Minuten noch die Tiara gelegen hatte. Ich wusste nicht, wie lange ich einfach nur so da stand und vor mich hinstierte, während um mich herum das Chaos regierte. Die Sicherheitsmänner waren sichtlich überfordert und brüllten sich gegenseitig an, während alle Schüler panisch umherliefen. Fast alle hatten irgendetwas abbekommen von den umherfliegenden Splittern. Ein Mädchen war offenbar sogar mit einem Brecheisen oder was auch immer benutzt worden war, um die Kästen zu zerschlagen, getroffen worden. Sie hatte eine klaffende Wunde an der Schläfe und hielt sich benommen an der Wand fest. Ich war in drei Schritten bei ihr und half ihr zu einer Sitzbank rüber. Das Blut quoll aus der Wunde und hilflos riss ich ein Stück von meiner Bluse ab und hielt es an die Stelle, damit sie nicht noch mehr Blut verlor. «Hey, alles okay?», fragte ich und beäugte sie näher. Sie sah eigentlich ganz nett aus, nicht so eingebildet und künstlich wie die meisten an unserer Schule. Sie lächelte flüchtig und nickte. «Geht schon, danke.» Ich sah mich hilfesuchend im Raum um. «Kann mal jemand einen Krankenwagen rufen?!», brüllte ich dann. «Ist schon unterwegs.» Jack tauchte wie aus dem Nichts vor uns auf und ging vor uns in die Hocke. Seltsamerweise sah er nicht das Mädchen an, sondern mich. «Du blutest», stellte er fest und fuhr mit dem Daumen über meine Wange, wo ich offenbar von einer Scherbe getroffen worden war. «Äh», machte ich, weil das ziemlich lächerlich war. «Das ist nichts.» Mein Blick blieb an seinen Händen hängen und ich wäre fast in Ohnmacht gefallen. In seiner rechten Hand steckten dutzende Scherben und Splitter und Blut lief überall aus den Schnitten. Aber sein linker Arm sah noch viel schlimmer aus. Das musste der Arm gewesen sein, mit dem

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er mich abgefangen hatte, während er sich mit der anderen Hand am Boden abgestützt hatte. «Heilige Scheiße!», rief ich und deutete auf das Glas in seiner Haut. «Schon okay», antwortete er und stand wieder auf. «Bring sie runter zur Eingangstür, der Krankenwagen dürfte gleich da sein. Schaffst du das?» Ich nickte benommen, ehe Jack wieder loslief und mit den Sicherheitsleuten diskutierte. Sah ein bisschen so aus, als würde er sie herumkommandieren. Ich half dem Mädchen auf die Beine. Gemeinsam schafften wir es irgendwie aus dem Raum und die Treppe hinunter. «Erzähl mir was, ich hab ein bisschen Angst, dass dein Hirn beschädigt ist», grinste ich verzweifelt. «Wie heißt du?» «Valeska», antwortete sie und stöhnte schmerzerfüllt auf. Ich geleitete sie irgendwie nach draußen. Wir warteten nicht lange, da hörte ich auch schon die Sirenen von der Ambulanz und, da war ich mir sicher, auch von der Polizei. «Scheiße, ich glaub ich hab meine Handtasche drinnen liegen lassen», sagte das Mädchen verzweifelt. «Da ist meine Versicherungskarte drin und alles!» «Setz dich, ich geh sie eben holen», nickte ich und half ihr auf die unteren Stufen. «Wie sieht sie aus?» «Sie ist aus braunem Leder und relativ klein», erklärte Valeska und lehnte sich gegen das Geländer. «Bin gleich zurück», antwortete ich und lief die Treppe wieder hoch. Oben war immer noch das totale Chaos und irgendwie konnte ich nirgendwo in dem ganzen Gewühl und Scherbenhaufen eine Tasche entdecken. «Was machst du denn noch hier?», fragte Jack, packte mich mit seiner heilen Hand am Arm und zog mich mit Richtung Ausgang. «Ich wollte ihre Tasche holen», antwortete ich irritiert, als der erste Polizist den Raum betrat. «Niemand verlässt dieses Haus, ist das klar?!», rief er und sah direkt uns an. Jack seufzte genervt auf und ließ mich wieder los. Immerhin wurde es danach endlich etwas organisierter. Wir wurden alle rüber in den Raum mit den alten Möbeln gebracht, die übrigens alle noch an Ort und Stelle standen. Ein paar Sanitäter kümmerten sich um die Leute, die schwerere Schnittwunden davongetragen hatten und die Polizisten unterhielten sich mit den Sicherheitsbeamten. Frau Pietersen schien einer Ohnmacht nahe und Frau Nowak, die selbst etwas durch den Wind wirkte, kümmerte sich um sie. Herr Pietersen wurde verständigt und so kam ich jetzt doch noch in den Genuss, dem Professor selbst zu begegnen. Er war tatsächlich ziemlich hoch gewachsen und bestimmt schon 60 oder älter. Gemeinsam ging er mit einem der Beamten durch den Raum und offenbar auch durch die anderen, um genau aufzuzählen, was alles fehlte. Zwei weitere Beamten fingen an, die Taschen von uns Schülern zu durchsuchen und uns zu befragen. Einer der Sicherheitsmänner diskutierte gerade offenbar mit dem Polizeibeamten, der hier das Sagen hatte. Ich wollte mich gerade unauffällig näher heranstehlen, um ein bisschen zu lauschen, als der Wachmann auf mich deutete und beide zu mir rübersahen. Ich konnte mir das Heranstehlen also sparen, weil beide geradewegs auf mich zukamen. «Wie heißt du?», fragte der Beamte und beäugte mich abschätzig. «Äh … Virginia Parker», antwortete ich irritiert.

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«Du hast also den falschen Alarm vorhin ausgelöst, stimmt das?» Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. «Ja», gestand ich seufzend ein. «Tut mir leid.» «Kann es sein, dass das Absicht war, um mal vorher auszutesten, wie das abläuft?!», fauchte er nun und seine Stimme wurde zunehmend unfreundlicher. «Was?!», rief ich entsetzt. «Nein, natürlich nicht! Ich hab das Gleichgewicht verloren, das ist alles.» «Ganz zufällig?» Sein Blick durchbohrte mich und nagelte mich an die Wand hinter mir. Das waren echt gruselige Augen. Allgemein hatte das Äußere des Mannes ziemlich viel Ähnlichkeit mit einem gefährlichen Raubvogel. Seine schwarzen, buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. «Wenn Sie es genau wissen wollen», fauchte ich und streckte mich etwas, um nicht eingeschüchtert zu wirken. «Hat mich einer von diesen Security-Gorillas quasi geschubst!» «Was? Das ist eine Lüge!», rief offenbar der Sicherheitsmann, der mich an der Schulter gefasst hatte. «Ich wollte sie bloß davon abhalten, noch näher an das Bild heranzutreten!» «Hat ja offenbar nicht so gut geklappt, was?», spottete ich und kreuzte die Arme vor der Brust. «Wie kommt es, dass Sie als Einzige hier im Raum nur eine winzige Schramme abbekommen haben?», fragte der Polizist jetzt weiter. Ich schnappte nach Luft. Die hatten sich mich als Sündenbüßer herausgepickt und ließen jetzt alles an mir aus, was ihnen einfiel. Ganz groß. «Ich hab mich gebückt», antwortete ich mit zittriger Stimme. Ich log und ich war mir dessen so sehr bewusst, sodass ich mir fast sicher war, dass mein Gegenüber es auch merken musste. Er beäugte mich abschätzig. «Das ist alles?!» «Hinter einer Vitrine», fügte ich hinzu, was immerhin nicht gelogen war. Er wandte sich von mir ab und ich atmete erleichtert aus. Während er noch ein paar weitere Schüler befragte, kam Jack zu mir, wusch mir mit einem desinfizierten Mulltuch über die Wange und klebte ein Pflaster über den Schnitt. «Willst du nicht lieber das Glas aus deinem Arm ziehen?», fragte ich stirnrunzelnd. «Wie?» Jack sah an sich herunter. Offenbar hatte er ganz vergessen, dass er so aussah. Mein Gott, der Mann hatte ein Schmerzempfinden, das war beneidenswert. «Oh, ja. Danke.» Er zupfte die größeren Scherben aus der Handfläche, während ich wie hypnotisiert darauf starrte. Einer der Sanitäter kam zu uns und bestand darauf, dass Jack mit ihm kam, damit er sich das genauer ansehen konnte. Vielleicht besser so. Ich entdeckte Chip am anderen Ende des Raumes und ging zu ihm rüber. Er sah müde und verwirrt aus wie die meisten hier, aber er hatte keine sichtbaren Verletzungen davongetragen. «Alles okay bei dir?», fragte ich seufzend und ließ mich neben ihm auf der Sitzbank nieder. Er nickte. «Ja, ehrlich gesagt habe ich gar nichts mitbekommen», stöhnte er und lehnte den Kopf an die Wand hinter sich. «Ich war gerade auf Toilette, als das Licht ausging.» «War da nicht gerade Jan drauf gegangen?» «Der Typ mit der platten Nase? Ja, ich bin direkt nach ihm gegangen.» Der Polizeihauptkommissar stierte schon wieder zu mir her und kam erneut rüber. «Sie sind?!», fragte er unfreundlich an Chip gewandt. «Johannes Markwart», antwortete dieser artig. «Und wie kommt es, dass Sie keinerlei Verletzungen abbekommen haben?», fragte der Beamte.

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«Ich war auf Toilette», antwortete Chip kühl. Der Polizist runzelte die Stirn und stierte kurz zu mir, ehe er seinen Adlerblick wieder Chip zuwandte. «Gibt es dafür irgendwelche Zeugen?» «Die Kloschüssel und das Waschbecken, schätze ich», konterte Chip, woraufhin ich ziemlich lachen musste und der Kommissar losbrüllte und irgendetwas von ernsten Ermittlungen schwafelte. «Was haben Sie gemacht, nachdem das Licht ausging?!», fauchte er dann. «Wenn Sie es genau wissen wollen», antwortete Chip. «Ich stand etwa zehn Minuten lang mit runtergelassener Hose im Dunkeln und habe darauf gewartet, dass das Licht wieder angeht. Ich dachte, mir will jemand einen Streich spielen. Sie wissen schon. Das Licht ausschalten, während jemand auf Toilette ist und so.» Irgendjemand rief nach dem Polizisten, sodass wir vorerst wieder unsere Ruhe hatten. Nach gut zehn Minuten kam er wieder und räusperte sich laut. «Also gut, es können alle gehen.» Erleichtert stand ich auf und wollte gerade den Ausgang ansteuern, als ich festgehalten wurde. «Sie nicht.» «Was?!» Erschrocken drehte ich mich herum und sah dem Polizisten in seine schwarzen Augen. «Wieso nicht?» «Weil Sie ziemlich verdächtig sind, deswegen», antwortete er patzig und riss mich grob zurück in den Raum. «Was ist mit ihm?», fragte ich verzweifelt, als Chip ohne Probleme den Raum verlassen konnte. Er sah sich suchend nach mir um und unsere Blicke begegneten sich - meiner verzweifelt, seiner hilflos. «Er war die ganze Zeit über auf Toilette, das ist deutlich auf den Überwachungsvideos zu sehen», erklärte der Beamte und drückte mich auf die Bank nieder, auf der ich vorher noch gesessen hatte. Jetzt, da ich zum Sitzen gezwungen wurde, kam mir die Bank wie eine Fessel vor. Ich hatte keinerlei Fluchtmöglichkeiten in irgendeine Richtung. «Aber wenn Sie Videos haben, dann müssten Sie doch auch wissen, dass ich nichts getan habe!», rief ich verzweifelt. «Die Kameras wurden gemeinsam mit dem Strom ausgestellt. Und das Letzte, was wir darauf gesehen haben, war, wie du direkt vor der Vitrine mit der Tiara standest und sie gierig angestarrt hast.» «Das ist jawohl lächerlich!», rief ich. «Als ob ich mir so ein hässliches, protziges Teil jemals aufsetzen würde. Ich hab es mir nur angeguckt, weil es Teil der Ausstellung war, sonst nichts!» Jack kam in den Raum geplatzt. «Was ist hier los?», fragte er bestimmt. «Nichts weiter, wir vernehmen nur eine Verdächtige», antwortete der Beamte. «Das ist nicht Ihre Angelegenheit, bitte verlassen Sie den Raum.» «Sie war es nicht», widersprach Jack. Aus seiner Stimme sprach die ganze Inbrunst seiner Überzeugung. Gott war ich froh, dass er da war. Frau Nowak kam in Begleitung von Herrn und Frau Pietersen ebenfalls in den Raum. Stirnrunzelnd sah sie uns der Reihe nach an. «Janine, die Schüler sind alle unten und steigen in den Bus ein, Frau Müller ist bei ihnen. Fahr mit den anderen zurück in die Schule, ich bleibe bei Virginia und kümmere mich um die Angelegenheit.» Jack sah sie eindringlich an und Frau Nowak nickte gedankenverloren. «Ja, natürlich», antwortete sie und griff nach ihrer riesigen Kunstmappe. «Ma‘am? Was ist das, dürften wir dort hineinsehen?», fragte einer der Beamten.

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«Was? Ja, natürlich! Darin hatte ich nur die Skizzen, die ich Wilhelm mitgebracht habe.» Sie öffnete die Holzklappe und präsentierte die leere Rückseite der Mappe. «Die Skizzen habe ich im Wohnzimmer, falls Sie die auch sehen wollen», sagte Professor Pietersen. Kam es mir nur so vor, oder schwang da ein wenig Spott in seiner Stimme mit? Einer der Beamten ging mit den Pietersens ins Wohnzimmer, während Frau Nowak ihre Mappe wieder zuklappte und damit ebenfalls aus dem Raum verschwand. «So, zurück zu dir», knurrte der Beamte. «So ein absolut unprofessionelles Verhalten habe ich noch nie erlebt», mischte sich Jack ein. «Was ist das hier, eine Befragung? Ohne einen Anwalt oder irgendeinen triftigen Beweis, rein auf Spekulation beruhend? Wenn Sie Virginia verhören wollen, dann laden Sie sie gefälligst mit einer ordentlichen Genehmigung dafür aufs Revier ein, ja?» Er wandte sich mir zu. «Komm, wir gehen.» «Sie gehen nirgendwohin!», fauchte der Beamte. «Das hier ist keine Kinderveranstaltung! Und für wen zum Teufel halten Sie sich?!» Er starrte Jack mit seinem Adlerblick an. «Verlassen Sie sofort diesen Tatort und überlassen Sie die Ermittlungen den Profis, ja?!» «Reden Sie nicht so mit mir», antwortete Jack kalt und starrte gruselig zurück. «Sonst wird das hier die letzte Ermittlung gewesen sein, die Sie führen durften.» «Wie bitte?!» Jetzt rastete der Vogel richtig aus. «Schaffen Sie diesen Mann aus dem Raum!», brüllte er dann seinen Gefolgsleuten zu. Diese kamen einen Schritt näher. Jack seufzte genervt auf, verdrehte die Augen und zog sein Handy wieder hervor. Er drückte eine Kurzwahl darauf, hielt sich das Telefon ans Ohr und wartete, während es tutete. Zwei von den Polizeibeamten waren jetzt bei ihm. «Richard?», fragte Jack, als auf der anderen Seite offenbar abgenommen wurde. Er schob sich mit erhobenen Händen von alleine durch die Tür. Ich konnte nur hoffen, dass Jacks Beziehungen zu seinen ehemaligen Arbeitgebern gut waren, sonst würde das hier eine lange, sehr unangenehme Nacht werden. Sein Kontaktmann hieß Richard. Wie alt war der, 70? «Das ist Ihr Englischlehrer, oder nicht?», fragte der Kommissar skeptisch. Offenbar war er jetzt doch ein bisschen eingeschüchtert. Konnte ich verstehen. Jacks Auftreten war der Wahnsinn gewesen. Ich war ein bisschen stolz auf ihn. «Ja», grinste ich und kreuzte die Beine übereinander. Noch blieb ich optimistisch. Jack kam wieder herein und ich sah fragend zu ihm hin. Er hatte das Handy wieder weggesteckt. Einige Sekunden passierte nichts und ich bekam fast schon wieder etwas Angst, als das Telefon von dem Inspektor klingelte und er ranging. Ich konnte nicht genau verstehen, was der Mann am anderen Ende von sich gab, aber es klang böse. Sehr böse. «Sir …», versuchte der Raubvogel sich zu verteidigen. Jetzt tat er mir fast ein bisschen leid. «Ja, aber … Nein, natürlich nicht. … Ja. …Ich verstehe. … In Ordnung.» Er legte auf und sein Kopf war so rot wie eine gut gereifte Tomate. «Sie können gehen», murrte er und man sah ihm an, dass es ihn seine ganze Selbstbeherrschung kostete, nichts weiter hinzuzufügen. Triumphierend stand ich auf und lief zu Jack rüber. «Meine Herren», sagte dieser spöttisch. «Es war mir eine Freude, Sie kennen zu lernen.» Er legte beschützend einen Arm um mich und schob mich mit sich aus dem Raum. Gemeinsam liefen wir die Stufen hinab bis in die Eingangshalle und schließlich nach draußen. Dort angekommen ließ

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er mich wieder los und drehte sich zu mir um. «Alles in Ordnung?» Er betrachtete mich abschätzend. Ich nickte benommen. «Ja. Ehrlich gesagt habe ich ziemlichen Hunger.» «Was hast du heute gegessen?», fragte er skeptisch. «Äh … Ich fürchte, ich hab das Frühstück und Mittagessen verschlafen. Und so wie es aussieht, habe ich das Abendessen auch verpasst», fügte ich nach einem Blick auf meine Uhr hinzu. «Wie kommen wir jetzt von hier weg?» «Ich hab ein Taxi gerufen», erklärte er und ließ sich auf die Stufen nieder. Ich folgte seinem Beispiel. Wir schwiegen beide einen Moment, ehe ich das Schweigen unterbrach. «Wieso hast du das gemacht?», fragte ich und beäugte ihn schräg von der Seite. «Was?» Jack sah mich groß an. «Mich aufgefangen, als es dunkel wurde.» «Ich hab dich ja auch hingeschmissen, wäre etwas unhöflich gewesen, wenn ich dich fallen gelassen hätte», erwiderte er. Ich runzelte die Stirn. «Nein, im Ernst. Wieso hast du mich … geschützt?» «War ‘n Reflex.» Er sprang auf, als das gelbe Auto um die Ecke gefahren kam. Seufzend folgte ich ihm zu dem Wagen und stieg vor ihm ein. Jack nannte dem Fahrer eine Adresse in Lingen und zog die Tür hinter sich zu. «Fahren wir nicht in die Schule zurück?», fragte ich stirnrunzelnd. «Doch, aber erst gehen wir was essen.» Ein flüchtiges Lächeln stahl sich auf sein Gesicht und ich grinste erleichtert zurück. Ich war noch nie so froh darüber gewesen, dass er bei mir war.

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Kapitel 7 Ich konnte nicht gerade behaupten, dass die folgenden Tage besonders angenehm gewesen wären. Natürlich stürmten von allen Seiten fragen auf die Leute ein, die bei dem letzten Ausflug dabei gewesen waren. Und natürlich hatte es sich wie ein Lauffeuer an der Schule herumgesprochen, dass ich als einzige Schülerin von der Polizei in die Mangel genommen worden war und damit offensichtlich als schwer verdächtig galt. Aus der vorher doch sehr beliebten, coolen Jahrgangssprecherin, die im letzten Jahr die Entführer gestellt hatte, war also innerhalb weniger Stunden die unheimliche und irgendwie ja schon immer auffällige Schwerverbrecherin geworden. Jedenfalls starrten mich immer und überall permanent irgendwelche Leute an. Und das auf eine besonders nervige, auffällige Art und Weise. Ich konnte nicht mal mehr in Ruhe in der Mensa sitzen und mein Essen in mich schaufeln, ohne von allen Seiten angestarrt zu werden und Getuschel hinter meinem Rücken zu ertragen. Am dritten Tag wurde es mir dann irgendwann zu blöd und ich setzte mir ein Plastikdiadem aus einem Kinderbastelladen auf den Kopf und ging damit nach unten zum Frühstück. War reichlich witzig, was die Leute für Gesichter machten. Ich hatte richtig Spaß, um ehrlich zu sein. Bis schließlich auch die Lehrer darauf aufmerksam wurden und unsere Direx auf mich zugestampft kam. «Was ist das?!», rief sie ganz aufgeregt. Ihr dickes Gesicht war ganz rot angelaufen, sah nicht gesund aus, wenn man mich fragte. «Ein Krönchen», erwiderte ich und schob mir ein Stück Toast in den Mund. Provokant langsam kauend sah ich sie an. «Was soll das?!», rief sie wütend. «Für wen halten Sie sich eigentlich?!» Und dann ging es richtig los. Ich stellte auf Durchzug und aß in Ruhe weiter, bis sie irgendwann in ihrem Gebrüll stoppte, weil ihr offenbar nichts mehr einfiel. «Regen Sie sich nicht so auf, das ist nur ein Stück Plastik», gab ich schließlich von mir und schob den leeren Teller von mir. «Nur ein … Willst du mich verarschen?! Das ist wirklich absolut nicht witzig!» Ich verdrehte entnervt die Augen und zog mir das gute Stück vom Kopf. «Zufrieden?», fragte ich dann. Die Hartmann krallte es sich und zerbrach es unsanft. «Das hat Konsequenzen!», brüllte sie. «Ach ja? Seit wann ist es denn verboten, Schmuck zu tragen? Das steht nicht in den Ankleidungsregeln. Und ich muss es ja wissen, so oft, wie ich die schon abschreiben durfte.» Ich schnitt eine Grimasse und unsere Direktorin zuckte mit der rechten Hand ganz beachtlich in meine Richtung. Ich dachte schon, sie würde mir wirklich eine runterhauen, aber offenbar hatte sie sich dann doch noch so weit unter Kontrolle, um es zu verhindern. Stattdessen drehte sie sich schwungvoll um und stampfte nilpferdlike zurück zu einem der Lehrertische. Ich grinste gut gelaunt in die Runde, ließ das Tablett einfach stehen (ich war ja kriminell und so, da konnte man das schon mal machen) und verzog mich zurück in Richtung unseres Zimmers. Der Unterricht war heute noch langatmiger als sowieso sonst immer schon. In Erdkunde faselten wir stundenlang über Brunnenbauprojekte in der Dritten Welt, die Frau Müller in ihren jüngeren Jahren offenbar organisiert hatte und auf die sie wahnsinnig stolz war. Bio war auch nicht wirklich besser. Frau Nowak war mir nach dem letzten Wochenende irgendwie unsympathisch

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geworden und komischerweise hatte ich das Gefühl, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Ganz so, als würde auch sie mich im Stillen für diesen Diebstahl verdächtigen und mich dafür verantwortlich machen, dass ihr geliebter Professor Pietersen jetzt ein schlechtes Bild von unserer Schule bekommen hatte und ich sie vor ihm blamiert hatte. Jedenfalls nahm sie mich auffällig oft dran, obwohl ich mich nicht gemeldet hatte. Und da wir jetzt nicht mehr über krass ekelige Spinnen oder coole Nervengifte redeten, sondern über Molekulargenetik, hatte ich auch nicht wirklich viel Motivation, zuzuhören. Dementsprechend konnte ich ihre blöden Fragen nicht wirklich beantworten und sie hatte noch mehr Grund dazu, mich böse anzustarren. «Gott, kommt dir Frau Nowak auch nicht mal mehr halb so cool vor, wie am Anfang vom Schuljahr?», fragte ich Star, als wir in der Mittagspause aufeinandertrafen. «Was?» Star lachte los. «Sie ist doch total super drauf! Sag bloß, du benimmst dich jetzt auch wie die ganzen Langley-Groupies, die alle geradezu so tun, als hätte Frau Nowak sie angeschossen wie arme Bambis!» «Äh … Was?», machte ich und nahm einen Teller mit Nudeln von der Küchenhilfe entgegen. Ich wartete hinter der Kasse, bis Star mich eingeholt hatte. Natürlich war das Essen hier für die Schüler umsonst, aber wir mussten jedes Mal unseren Schülerausweis durch einen Automaten ziehen, damit wir nicht doppelt Essen abstaubten oder fremde Leute sich mit durchfraßen. Nicht, dass auch nur irgendjemand in die Nähe unserer Schule kommen würde … «Sag bloß du hast noch nicht davon gehört», grinste Star und setzte sich an einen freien Tisch. Ich ließ mich gegenüber von ihr fallen. «Wovon?» «Ach, es kursiert das Gerücht, dass unser lieber Englischlehrer was mit der Nowak am Start hat.» «Was?!», fragte ich erneut und dieses Mal fiel mir wirklich alles aus dem Gesicht. Star verdrehte die Augen. «So unvorstellbar ist es nicht, oder? Die sind beide noch relativ jung und halbwegs attraktiv, im Gegensatz zu dem restlichen, tattergreisigen Lehrkörper. Und wer könnte es ihr verübeln, Mr. Langley ist wirklich ein Leckerbissen!» Ich starrte sie an, ohne zu bemerken, wie dämlich ich dabei aussehen musste. Ich konnte auch gar nichts dazu sagen, weil mir dazu einfach absolut nichts einfiel. Es dauerte einen kleinen Moment, bis ich mich gefasst hatte. «Das ist völliger Blödsinn. Nie im Leben würde der was mit so einer anfangen.» Damit stopfte ich mir den Mund so voll, dass ich nicht mehr sprechen konnte. Nach der Mittagspause hatte ich Hauswirtschaft. Unsere kleine Lehrerin, von der ich ehrlich gestanden immer noch nicht den Namen wusste, war wie immer noch nicht da, als ich den Raum betrat. Sie hatte die Angewohnheit, prinzipiell einige Minuten, gern aber auch mal eine Viertelstunde zu spät zu kommen. Was natürlich äußerst sinnvoll war, wenn man etwas kochen wollte und dabei Back- oder Kochzeit mit einplanen musste. Chip wartete bereits an unserer Kochstelle und grinste gut gelaunt, als er mich kommen sah. «Na, wo hast du dein Krönchen gelassen?», fragte er amüsiert. Offenbar war er auch in der Mensa gewesen. Oder er hatte davon gehört. Hier machten solche Dinge ja offenbar gerne die Runde. «Es wurde mir weggenommen und mutwillig zerstört», antwortete ich mit einem Schmollmund. Chip lachte. «Das tut mir leid. Ich besorg dir ein Neues, wenn du willst.» «Danke», grinste ich und ließ mich neben ihm fallen.

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«Alles klar bei dir?» Er beäugte mich abschätzig und ich zuckte bloß mit den Schultern. «Klar, alles bestens.» «Ich hoffe, dieser wirklich anstrengende Kommissar hat dich nicht mehr zu lange festgehalten?» Obwohl mir die ständigen Fragen danach mittlerweile ziemlich auf die Nerven gingen, störte es mich bei Chip nicht im Geringsten. Vielleicht war es die Art und Weise, wie er es fragte. Oder die Tatsache, dass er selbst kurz vor mir noch in den Genuss von einer Befragung gekommen war. «Es ging. J … Mr. Langley hat sich sehr dafür eingesetzt, dass ich bald gehen durfte.» «Meinst du, die haben schon irgendeinen konkreten Hinweis oder eine Spur, wer das gewesen sein könnte?» Er senkte die Stimme etwas, damit die anderen Schüler im Raum uns nicht belauschen konnten. «Ich weiß es nicht», seufzte ich. «Aber wenn nicht, wären die doch bestimmt hier aufgetaucht, oder? Ich mein, wenn unser Besuch der einzige Anhaltspunkt gewesen wäre …» Als hätte mich irgendjemand zu wörtlich genommen, fuhren gegen Ende vom Hauswirtschaftskurs zwei dunkle Wagen auf den Parkplatz der Schule. Dass das Bullen waren, konnte man schon von Weitem riechen. Ich sah betont beiläufig aus dem Fenster und beobachtete, wie die fünf Männer in Zivil sich auf dem Schulgelände umsahen, ehe sie die Eingangstür ansteuerten. Ich hätte zu gerne gewusst, wohin die wollten, aber unser Kuchen war noch im Backofen und die Stunde noch nicht ganz vorbei. «Musst du auf Toilette?», fragte Chip jetzt, der mich die ganze Zeit beobachtet hatte. «Geh ruhig, ich kann zwei Minuten alleine auf den Kuchen aufpassen.» Er war wirklich der Beste. «Danke», lächelte ich flüchtig, ehe ich nach draußen und den Korridor bis zur Eingangshalle entlang lief. Kurz davor blieb ich stehen und stellte mich in den Schatten an die Wand. Da alle Schüler noch Unterricht hatten oder in den Studierräumen oder in ihren Zimmern für sich arbeiteten, war es absolut leer in der Eingangshalle. Besser für mich, da ich so ohne Probleme hören konnte, was dort besprochen wurde. Die Polizisten redeten mit Frau Hartmann, die offenbar völlig überfordert war. «Wir haben einen Durchsuchungsbefehl für die Zimmer der oberen Jahrgangsstufen», erklärte der leitende Ermittler (der wohlbemerkt nicht der Vogelmann von Sonntag war). «Wir wären Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn das schnell und ohne größere Probleme über die Bühne gehen würde.» «Wie stellen Sie sich das vor?! Der Unterricht ist gleich vorbei, da sind alle Schüler auf ihren Zimmern!» «Das ist nicht unser Problem», antwortete der Inspektor. Jack trat zu den anderen Gestalten. Was machte der denn da? Hatte der etwa keinen Unterricht mehr? «Wir könnten nach dem Abendessen alle Oberstufenschüler in die Mensa rufen», schlug er jetzt vor. «Andrea, sie wollten doch sowieso noch bezüglich des Austauschprogrammes mit den Schülern sprechen. Das wäre doch eine gute Gelegenheit.» Sein Blick flog in meine Richtung und erschrocken fuhr ich zusammen. «Entschuldigen Sie mich», sagte er dann und steuerte doch tatsächlich direkt auf mich zu. Ich sah zu, dass ich die Biege machte und zurück in den Kurs kam. «Und? Wie war‘s auf Toilette?», fragte Chip grinsend. Er saß auf der Fensterbank und hatte die Hände auf den Knien abgestützt.

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«Informativ», antwortete ich und setzte mich daneben. Ich drehte mich zu ihm, zog die Füße mit auf die Fensterbank und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand. «Sieht so aus, als würden ein paar Schnüffler in unseren Sachen rumstöbern wollen.» Chip zog fragend eine Augenbraue hoch. «Das geht so einfach?» «Mit Genehmigung geht alles», nickte ich. Chip seufzte auf. «Dann muss ich wohl meine Pornosammlung verstecken.» Ich lachte los. «Ob du für so viel Material genug Stauraum finden wirst?» «Ja, das ist eine gute Frage. Meine Sammlung ist aber auch so wahnsinnig umfangreich!» Er verdrehte die Augen. Ich musste noch mehr lachen, wurde aber jäh unterbrochen, als unsere Lehrerin um den Tisch geschossen kam (sie war so klein, dass man sie oft erst bemerkte, wenn sie schon bei einem war). «Was sitzen Sie hier so faul herum und gackern wie die Hühner?! Wenn Sie nichts zu tun haben, räumen Sie gefälligst auf oder helfen ihren Mitschülern! Und überhaupt, was riecht hier so verbrannt?!» «Oh Scheiße!», rief ich, sprang auf und riss die Tür von unserem Backofen auf. Eine schwarze Wolke kam mir entgegen und ich hielt entsetzt die Luft an, während ich den Herd abstellte und mit ein paar Handschuhen das Backblech herauszog. Unser Kuchen war schwarz. Nicht nur an einer Ecke oder am Rand oder so. Flächendeckend. «Scheiße», wiederholte ich, nahm das gute Stück aus seiner Form und steuerte damit den Mülleimer an. «Was machen Sie denn da?!», kreischte die Lehrerin ganz hysterisch. «Das kann man noch essen!» «Äh», machte ich, weil mir dazu echt nicht mehr viel einfiel. Den schwarzen Klumpen hätte ich nicht mal mehr in Afrika hungernden Kindern angeboten. Ich donnerte das Teil in die Mülltonne, ehe sie mich hätte aufhalten können. Da rastete sie völlig aus. «Was sind Sie doch für ein ungeschickter, unsensibler Tölpel!», fauchte sie mich an. War ja richtig niedlich im Vergleich zu dem, womit mich die Hartmann sonst immer beschimpfte. Und dann holte sie das Ding doch tatsächlich wieder aus dem Mülleimer hervor. Ich sah ihr entgeistert dabei zu, wie sie den schwarzen Rand an allen Seiten grob wegschnitt und so etwas wie garer, eigentlich ganz gut aussehender Teig, in der Mitte zum Vorschein kam. «Na los, probieren Sie!», fauchte sie in befehlshaberischem Ton und schob sich selbst ein Stück davon in den Mund. «Ja, die Auswahl der Zutaten war gut gewählt. Also passen Sie das nächste Mal gefälligst besser auf ihre Ofenzeit auf!» Damit notierte sie sich irgendwas auf ihrem Block und marschierte davon. Chip griff sich ein Stück und hielt mir ebenfalls eins entgegen. Schulterzuckend nahm ich es und schob es mir in den Mund. Es schmeckte wirklich erstaunlich gut. Das musste an Chips Fähigkeiten liegen, er schien es echt ganz gut drauf zu haben. Ohne ihn hätte ich in den letzten Wochen weitaus schlechter abgeschnitten. «Ich fass es nicht, dass wir gerade Kuchen aus dem Mülleimer essen», murmelte ich und Chip lachte los. «Oh ja, und er ist sogar richtig lecker!» Grinsend schob er sich noch ein Stück hinterher und ich folgte seinem Beispiel. Da wir glücklicherweise ja Bescheid wussten, dass unsere Zimmer durchsucht werden würden, konnte ich mich darauf etwas vorbereiten. Ich stopfte also sowohl das Pfefferspray als auch meinen gefälschten Ausweis, auf dem ich schon 18 war, in die Taschen meines Blazers, ehe wir zum Abendessen gingen. Star und Alexa hatte ich natürlich eingeweiht. Auch wenn die beiden

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nicht zur Tatzeit dort gewesen waren, waren sie indirekt betroffen, weil alle Zimmer der oberen Jahrgänge durchsucht werden würden. «Hey, Virginia!» Jack kam zu mir, als wir uns gerade an einen freien Platz gesetzt hatten. Er setzte sich doch tatsächlich einfach so neben mich, obwohl Star und Alexa direkt mir gegenüber saßen. «Gute Neuigkeiten.» «Haben Sie jemanden festgenommen?», fragte ich. Jack lachte los. «So gut dann auch wieder nicht. Nein, ich dachte es freut euch zu hören, dass Lisa Fentura ab Sonntag die nächsten vier Wochen nicht mehr bei euch im Zimmer nächtigen wird.» «Was?! Das ist ja super!» Ich grinste gut gelaunt. «Wie kommt es dazu?!» «Sie nimmt an einem Austauschprogramm teil. Dazu erfahrt ihr nachher noch alles genauer.» Er beäugte mich schräg, wie ich herzhaft in mein Sandwich biss. «Ist das Thunfisch?», fragte er dann doch tatsächlich. Er wollte doch nicht etwas davon abhaben, oder? «Jap.» Kauend nickte ich. «Dafür sterben Delfine. Und jede Menge andere Tiere.» Nein, er wollte klugscheißen … Und den Öko raushängen lassen. «Ach, tatsächlich? Deswegen schmeckt das so gut!», erwiderte ich und biss erneut ab. Ehrlich gesagt schmeckte es gar nicht sonderlich gut. Irgendwie pampig und ein bisschen abgestanden. «Wir sehen uns später bei der Versammlung», lachte er, schnappte sich sein Tablett und verschwand damit in Richtung Lehrertisch. «Seltsam», bemerkte Star und ich konnte ihr da nur zustimmen. Auch wenn ich mich trotzdem über die Neuigkeiten freute. Vier Wochen ohne Lisa waren besser als keine Wochen ohne sie. Das würde wie Urlaub werden. Nach dem Abendessen wurden wir wie schon erwartet von Frau Hartmann dazu aufgerufen, uns um acht Uhr in der Mensa einzufinden. Wir entschlossen uns dazu, in der Eingangshalle bis dahin zu warten, um nicht zu verpassen, was vor sich ging. Inzwischen hatten vier Mannschaftswagen von der Polizei vor der Eingangshalle gehalten und mittlerweile durfte auch dem letzten Schüler klar geworden sein, worum es hier ging. «Sie sind Virginia Parker, richtig?», fragte mich der leitende Ermittler, der direkt auf uns zugesteuert kam. «Würden Sie bitte mitkommen?» «Äh», machte ich, weil ich keine Ahnung hatte, was das sollte. Dennoch folgte ich ihm schulterzuckend in Richtung der Lehrerzimmer. Erst als wir im Büro der Direktorin angekommen waren, hielten wir an. «Würden Sie bitte ihre Taschen leeren?», fragte er und sah mich auffordernd an. Mir wurde schlecht. Bei dem Pfefferspray hätte ich mich noch herausreden können, dass ich Angst vor bissigen Hunden hätte. Aber ich hatte keine Ahnung, was genau einem für eine Strafe drohte, wenn man im Besitz eines gefälschten Ausweises war. «Was?» Ich sah ihn groß an, ohne zu reagieren. Frau Hartmann stand hinter ihrem Schreibtisch und sah mich triumphierend an. Ging das hier etwa auf ihre Kappe?! Bestimmt hatte sie den Ermittlern von meinem Scherz heute Morgen erzählt. «Daniela?» Der Ermittler sah auffordernd zu einer weiblichen Polizistin rüber, die mit uns im Raum war. Jetzt war mir auch klar, wieso. Weil er mich nicht persönlich begrabschen durfte. «Würden Sie bitte Ihre Arme heben?», forderte sie mich auf und widerwillig tat ich, was sie mir befahl. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Mein Herz blieb stehen, als sie in meine

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Jackentaschen griff und irgendetwas zu erfassen bekam. Sie zog mein Handy hervor und legte es auf den Tisch. Danach folgten eine Packung Kaugummi und ein Taschentuch. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass ich das alles dadrin gehabt hatte. «Das war‘s, Sir», sagte sie, als sie fertig damit war und nachdem sie mir noch die Beine angetatscht hatte. Ich konnte es kaum fassen. Hatte sie die Sachen wirklich nicht entdeckt oder hatte sie mir einfach so geholfen? Sie sah mir nicht nach der Sorte Mensch aus, mit der man viel Spaß haben konnte oder die Verständnis für einen gefälschten Ausweis hatte. Der Ermittler sah genauso unzufrieden aus wie die Hartmann. Offenbar hatten sich beide von der Ausbeute mehr erhofft. «Sonst noch was?», fragte ich überheblich, weil ich mich jetzt wieder sicher fühlte. «Oder darf ich gehen?» «Ja, gehen Sie», fauchte die Direx. «Aber denken Sie daran, dass Sie in zehn Minuten in der Mensa sein müssen!» «Natürlich, Sir», antwortete ich spöttisch und zog die Tür geräuschvoll hinter mir zu. Das hier war ja die reinste Schikane. Hinter mir im Gang ertönte ein Pfiff und irritiert drehte ich mich um. Jack stand in seiner Bürotür und winkte mich zu sich. «Hier.» Ich konnte es kaum fassen. Er hielt mein Pfefferspray in seiner Hand. «Das hab ich dir beim Abendessen gestohlen.» Er lächelte flüchtig. «Deinen Ausweis werde ich wohl leider behalten müssen.» «Ich komm in keine Disko mehr, ohne das Teil», maulte ich. Jack nickte. «Richtig, so wie es sich gehört.» Ich verzog das Gesicht. «Trotzdem danke», murrte ich, weil er mich offenbar schon wieder gerettet hatte. Keine Ahnung, wie ich das jemals wieder gutmachen sollte. Ich zögerte einen Moment, ob ich ihn auf diese lächerlichen Gerüchte ansprechen sollte, bezüglich unserer Biolehrerin, ließ es dann aber doch bleiben und stiefelte zurück in die Eingangshalle. Star und Alexa warteten dort und sahen mich fragend an, als ich zu ihnen kam. «Was haben die gewollt?» «Ach die wollten mich nur gerne mal begrapschen», erklärte ich schulterzuckend. Star sah mich stirnrunzelnd an und ich grinste schief. «Alles okay, keine Sorge.» Frau Hartmann betrat gemeinsam mit dem Kommissar die Eingangshalle und wir folgten ihr in die Mensa, während der Polizist draußen stehen blieb und seine Leute zusammentrommelte. «Ich habe gute und schlechte Neuigkeiten», begann die Hartmann ihre Rede, nachdem alle sich hingesetzt hatten. «Zuerst die guten Nachrichten, da ich vermute, dass wir diese wesentlich schneller abhandeln können.» Sie seufzte herzhaft auf. «Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass unser Internat in diesem Jahr an einem interkulturellen Austausch mit einer anderen Schule teilnehmen wird. Ende nächster Woche werden die Austauschschülerinnen und -Schüler aus Bosnien-Herzegowina zu uns kommen und im Gegentausch dazu einige von unseren Schülern dort rüber fahren und in deren Familien leben. Das ist eine großartige Chance, die Kultur und Gesellschaft dort kennen zu lernen und den internationalen Austausch zu unterstützen.» Bosnien? Da fuhren wirklich Leute freiwillig hin? Allen voran Lisa Arschkuh mit ihrer wahnsinnigen Paranoia?! «Ich hoffe, ihr werdet eure neuen Mitschüler und Mitbewohner freundlich empfangen und ihnen helfen, wobei ihr nur könnt, damit sie sich hier wohlfühlen. Sie bleiben sechs Wochen lang und zum Abschied haben wir eine Party für die Oberstufenschüler organisiert, ehe sie dann über

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Weihnachten wieder nach Hause fliegen werden. Nächsten Sonntag findet keine kulturelle Veranstaltung statt, da wir die Neuankömmlinge gebührend begrüßen wollen. Da ist ihre Anwesenheit natürlich trotzdem Pflicht», fügte sie mit einem Lächeln hinzu. «Und was genau daran soll jetzt die gute Nachricht gewesen sein?», fragte ich an Star und Alexa gewandt. «Die Party am Ende?», gab Star zurück und ich grinste flüchtig. Irgendwie war mir schlecht. Vielleicht war das mein Unterbewusstsein, weil sie gerade unser Zimmer auseinandernahmen. Ich konnte bloß hoffen, dass sie sorgsam mit den Sachen umgingen und nicht alles kaputt machten. «Nun zu den weniger erfreulichen Nachrichten.» Die Hartmann legte eine Spannungspause ein und holte noch einmal tief Luft. «Sicherlich haben Sie alle mitbekommen, dass die Polizei hier ist. Ich fürchte, dass sie eure Zimmer durchsuchen werden auf Hinweise nach dem Täter oder dem Verbleib der geraubten Schmuckstücke.» Ein allgemeines Raunen hob sich. Mich schockte das nicht mehr, ich wusste ja bereits davon. Aber mein Magen fühlte sich an, als hätte mir jemand voll reingeschlagen. «Außerdem kann es sein, dass Sie auf Einzelne von euch zurückkommen werden, um ein paar Fragen zu dem Abend zu stellen. Ich bitte Sie darum, kooperativ zu sein und den Polizisten zu helfen, so gut es geht, damit wir diese ganze unangenehme Sache bald hinter uns haben und wieder Ruhe hier einkehrt.» Erneut schwieg sie, während die Schüler in allgemeines Gemurmel ausbrachen oder gar lautstark diskutierten. «Vielen Dank für euer Verständnis», rief sie dann, etwas lauter. «Das war auch schon alles. Ich würde Sie bitten, sich die nächste Stunde noch von Ihren Zimmern fernzuhalten, da die Durchsuchungen noch etwas Zeit in Anspruch nehmen werden.» Damit verschwand sie einfach von der Bühne und aus dem Raum und ließ die teils doch sehr aufgewühlten Schüler einfach so sitzen. Spitzenmäßige Führungsqualitäten hatte die Frau. Seufzend erhob ich mich mit den anderen. War vielleicht keine so gute Idee, weil mir dadurch noch schlechter wurde. Es erreichte allmählich einen nicht mehr tragbaren Grad an Unwohlsein. «Ich glaub, ich nutz die Zeit und werd nach meinem Pferd sehen», sagte Alexa gelassen und schon war sie auf dem Weg. Ihr Gaul stank echt gewaltig. Ich ging ein paar Meter, ehe mir der Brechreiz kam. Dann rannte ich los, aus der Mensa raus, quer durch die Eingangshalle und ins nächste Mädchenklo. Nachdem ich mich übergeben hatte, ging es mir deutlich besser. Ich spülte mir mehrmals den Mund im Waschbecken mit Wasser aus. Draußen vor der Tür waren Stimmen zu hören. «Ginny?!» «Was ist mit ihr los?» War das Jack? Hatte der nichts anderes zu tun, als in der Eingangshalle herumzulungern? «Ich glaub sie muss kotzen», antwortete eindeutig Star. «Ist sie schwanger?», fragte doch tatsächlich mein Englischlehrer. «Nein, bin ich nicht!», rief ich, trocknete mir die Hände ab und öffnete die Tür zum Gang. «Gott, das muss dieses scheiß Sandwich gewesen sein.» Jack zog eine Augenbraue hoch. «Wäre es unangebracht, wenn ich jetzt ein bisschen schadenfroh wäre?» «Ja!» Star sah ihn böse an. «Sollten Sie nicht Hausarbeiten kontrollieren oder so?!» Ich musste lachen, ließ es aber lieber wieder, als mir erneut schlecht wurde. Jack sah jetzt doch eher besorgt aus. «Soll ich dich lieber ins Krankenhaus fahren?»

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«Die können mir auch nicht beim Kotzen helfen», erwiderte ich und hielt mir die Hand vor den Bauch. «Ich leg mich lieber hin.» «Ich fürchte bloß, dass euer Zimmer noch nicht freigegeben ist», seufzte Jack und sah sich in der Eingangshalle um. Offenbar suchte er nach Alternativen. «Vielleicht sollten wir dich in den Krankenraum bringen?» «Bloß nicht, die Frau da macht mich völlig fertig.» Unsere sogenannte Krankenschwester war verhuscht, inkompetent und extrem anstrengend. Jack biss sich auf die Unterlippe und sah die Treppe hoch. Er überlegte doch nicht ernsthaft, mich wieder bei sich einzuquartieren, oder?! «Wir könnten uns im Schülervertretungsraum verkrümeln», schlug Star vor und ich nickte erleichtert. «Ja, super Idee. Da haben wir auch unsere Ruhe vor den Bullen.» «Polizisten, Virginia», korrigierte Jack mich. «Natürlich, Sir», erwiderte ich und schnitt eine Grimasse. «Ich geh den Schlüssel holen, ja? Bin gleich wieder da.» Damit verschwand Star die Treppe hoch. Jack sah mich skeptisch an. «Sicher, dass es dir gut geht?» «Ja, man! Mach nicht so einen Stress, das ist nichts. Ist ja nicht so, als ob ich eine Fleischwunde hätte. Apropos. Hast du schon was aus dem Krankenhaus gehört, wie es dem Mädchen geht?» «Welchem Mädchen?» «Na vom Überfall», erwiderte ich augenverdrehend. «Die Kleine, die ich runtergebracht habe. Die mit dem angedetschten Kopf?!», half ich ihm auf die Sprünge. «Was?!» Er starrte mich völlig entgeistert an. «Bist heute nicht so auf geistiger Höhe, oder?», spottete ich. Jack glotzte mich immer noch an. «Nein, das ist es nicht … Aber es ist niemand ins Krankenhaus gefahren worden.» «Nicht?» Jetzt runzelte ich die Stirn. «Die Wunde sah aber schon ziemlich heftig aus. Haben die ihr einfach ein Pflaster drübergeklebt oder was?» «Was hat das Mädchen dir erzählt? Habt ihr über irgendetwas gesprochen?!» Jack hielt mich jetzt an den Schultern fest und sah mich eindringlich an. War ja gruselig. «Äh … Sie hieß Valeska und sie wollte, dass ich ihre Handtasche holen geh.» «Scheiße.» Jack ließ mich wieder los. «Alles okay?» Jetzt sah ich ihn besorgt an. «Ja, es ist nur … Ich wüsste nicht, dass wir eine Valeska in der Oberstufe haben. Und ich kenne die meisten Schüler mittlerweile.» «Meinst du …» Mir stockte der Atem. «Sie gehörte gar nicht dazu? Aber, dann … dann hab ich ihr ja quasi zur Flucht verholfen!» «Da war ich mindestens genauso dran schuld. Immerhin hab ich dich mit ihr runter geschickt.» Er warf den Kopf in den Nacken. «Das darf doch alles nicht wahr sein. Ich muss los.» Damit sah er wieder zu mir, so als ob er mich gerade erst wiederentdeckt hätte. «Kommst du klar, alleine?» «Sicher. Außerdem ist Star in einer Minute zurück», nickte ich. «Alles klar. Erhol dich gut.» Damit stürmte er davon in Richtung Eingangstür. «Fred? Fährst du in die Stadt?» Frau Nowak kam hinter ihm hergelaufen und mir wurde schon wieder schlecht. «Kannst du mich mitnehmen?» «Äh …», machte Jack, der eigentlich nicht so aussah, als ob ihm das lieb wäre. «Sicher.» Damit verließen die beiden das Schulgebäude. «Wir können.» Star tauchte vor mir auf und irritiert wandte ich den Blick wieder ab.

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«War irgendwas?», fragte sie, aber ich schüttelte bloß den Kopf und folgte ihr nach oben in den SV-Raum. Hier hatten wir immerhin unsere Ruhe und konnten uns gechillt auf den Sofas ausbreiten. Star machte ein wenig Musik an und reichte mir eine Cola rüber. «Soll ja angeblich gut sein bei Magenproblemen.» Dankbar nahm ich einen Schluck, in erster Linie allerdings, um den Geschmack loszuwerden, der mir immer noch in der Speiseröhre hing. Seufzend lehnte ich mich zurück, als mein Handy klingelte. Stirnrunzelnd ging ich ran, weil ich die Nummer nicht kannte. «Ist euer Zimmer schon fertig durchwühlt worden?» «Äh … Chip?», vermutete ich. «Woher hast du diese Nummer?» «Würde es dich gruseln, wenn ich sage, dass ich in die zentrale Schülerdatenbank eingebrochen bin und sie geklaut habe?» «Ein bisschen, ja.» «Okay, dann sag ich dir die Wahrheit. Ich hab diesen Typen aus deinem Jahrgang danach gefragt. Justus oder so?» Hach ja, der gute Justus. «Was gibt‘s denn?», fragte er nun. «Ich wollte eigentlich um Asyl bitten. Ich ertrage es nicht länger, mit ansehen zu müssen, wie meine heilige CD-Sammlung durcheinandergebracht wird.» «Tja, ich fürchte, da kann ich dir nicht weiterhelfen. Bei uns ist auch noch Action angesagt.» Ich warf einen flüchtigen Blick zu Star und hielt den Sprecheingang zu. «Würde es dich stören, wenn Chip zu uns stößt?», fragte ich. Star schüttelte den Kopf. «Nö, kein Ding. Er soll einen Film mitbringen, wir können den DVD-Player anschmeißen.» «Gute Idee», nickte ich und ließ die Hand wieder sinken. «Hast du gute Filme auf DVD?» «Was?» Chip lachte los. «Ich sprach von meiner CD-Sammlung, nicht von meiner DVD-Sammlung.» «Also nein?» «Doch, ein paar.» «Bring mal was mit. Wir sind oben im Schülervertretungsraum.» Damit legte ich auf und steckte mein Handy wieder in die Tasche. Chip tauchte kurze Zeit später bei uns auf und wir sahen uns gemütlich einen Film zu dritt an, ehe wir wieder nach unten gingen. Natürlich war längst Ruhe eingekehrt und die meisten Schüler schon in ihren Betten, weil wir eigentlich schon längst Korridorverbot hatten. So kamen Star und ich (Chip hatte sich im zweiten Stock von uns getrennt und war in sein Zimmer gegangen) aber noch in den Genuss, das Gespräch mitzubekommen, das unten in der Eingangshalle geführt wurde. «Haben Sie irgendwas gefunden?» «Nichts bis auf ein kleines Päckchen Gras und einem Dolch aus dem 14. Jahrhundert. Offenbar ein Sammlerstück des Großvaters», seufzte der Kommissar. «Aber den Mann mit den Drogen werden wir trotzdem wiedersehen müssen.» «Natürlich!», rief Frau Hartmann. «Wer war es?! Das ist ja ungeheuerlich! Drogen an meiner Schule!» «Felix Rotten.» «Jeah, dann wissen wir ja jetzt, an wen wir uns wenden müssen, wenn wir mal Bedarf haben», flüsterte ich zu Star. Sie grinste bloß und nickte in Richtung unseres Zimmers. Leise folgte ich ihr. Immerhin hatten die Polizisten einigermaßen ordentlich gearbeitet, sodass es keine groben Verwüstungen gab, sondern nur kleinere Veränderungen, die aus Unwissenheit passierten, wie

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die Bambi-Unterhose von Lisa Arschkuh in meiner Schublade. Was hatte diese Frau nur mit Bambi?! Trotzdem fühlte sich unser Zimmer für einen Abend irgendwie fremd an und, als ich mich ins Bett legte, war mir ein bisschen unbehaglich zu Mute.

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Kapitel 8 Wir beschlossen, Lisa Arschkuhs Auszug gebührend zu feiern. Vier Wochen ohne sie waren wie ein absoluter Traum. Da Alexa immer noch etwas kränkelte, verzichtete sie darauf, mit uns in die Stadt zu kommen. Wir boten ihr zwar an, stattdessen bei ihr zu bleiben und mit ihr in unserem Zimmer zu feiern (wäre bestimmt supergut angekommen, wenn Lisa Arschkuh uns mit Alkohol erwischt hätte und dann den Anlass unserer Party erfahren hätte, haha), aber sie wollte lieber früh ins Bett gehen, damit sie bald wieder fit war. «Damit ich die Zeit dann voll auskosten kann, versteht ihr?», grinste sie, als Star und ich dabei waren, uns fertigzumachen. Star trug ein saugeiles Kleid in Zinnoberrot und schminkte sich gerade die Augen, während ich immer noch vor meinem Kleiderschrank stand und irgendwie unzufrieden mit der Auswahl war. Ich sollte dringend mal wieder shoppen gehen, wenn ich Gelegenheit dazu hatte, coole Geschäfte von innen zu sehen. Ergo in den Weihnachtsferien in Berlin, da in Lingen keinerlei Geschäfte vorhanden waren, die in irgendeiner Weise cool gewesen wären. Oder Star und ich müssten mal einen geheimen Trip nach Holland planen, da gab es mit Sicherheit auch eine Menge. «Ich werde jede Sekunde genießen, wenn Lisa nicht hier ist, das schwöre ich euch!» Alexa saß auf ihrem Bett und blätterte in einer Zeitschrift herum. «Oh ja, das auf jeden Fall. Ich werde ausschlafen an den Sonntagen, so lange ich will!» Ich zog eine schwarze Jeans aus meinen Sachen und griff mir dazu ein kariertes Oberteil. Beides zog ich schnell über, ehe ich mich ebenfalls dem Kajal zuwandte. «Und ich kann Musik hören, ohne dass sich jemand beschwert!» Star schnitt eine Grimasse und knotete ihre kurzen Haare zu zwei Zöpfen. Ich beäugte sie skeptisch. «Willst du aussehen wie eine Zwölfjährige?» Star lachte los und löste die Zöpfe wieder. «Nein, du hast ja Recht. Aber meine Frisur ödet mich an. Ich brauch was Neues.» «Kommt auf die Liste», nickte ich. «Zum Frisör gehen machen wir gleich als Erstes, solange noch einer auf hat.» «Ich glaub, ich lass mir Dreadlocks machen», überlegte sie doch tatsächlich. «Och nö, Star», gab Alexa von sich. «Sau geil!», antwortete ich. Star grinste selbstgefällig. «Siehst du, genau deswegen höre ich immer auf Ginny.» «Ja, weil du und sie immer auf dieselben hirnamputierten Ideen kommt», konterte Lex. Ich musste loslachen. «Komm schon, wir sollten uns beeilen.» Der Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits sieben Uhr war. Die beste Gelegenheit, um sich zu verpieseln, ehe es zu auffällig wurde. Nach dem Abendessen waren kaum noch Schüler in den Korridoren unterwegs, und wenn man da ohne Schuluniform rumlief, war man gleich verdächtig. Wenn wir aber in der ganz legalen Zeit mit unseren Mänteln die Eingangstür ansteuerten, konnte davon ausgegangen werden, dass wir lediglich einen kurzen Verdauungsspaziergang unternahmen vor dem Schlafengehen. Ich zog den Mantel der Schuluniform über und zerstrubbelte mir noch kurz die Haare, ehe ich nach meiner Handtasche griff. Star wartete bereits an der Tür auf mich.

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«Viel Spaß», wünschte uns Alexa, ehe wir uns auf den Weg machten. Wir hatten Glück, es war nur ein Lehrer in der Eingangshalle und der war so damit beschäftigt, einen armen Siebtklässler zusammenzubrüllen, dass er uns gar nicht wahrnahm. Wir huschten durch die Tür und gingen schnellen Schrittes über den Parkplatz, bis wir hinter den Bäumen vom Schulgebäude aus nicht mehr zu sehen waren. Dann rannten wir los, damit wir den Bus noch erwischten, der diese Stunde abfuhr. Wir schafften es tatsächlich noch rechtzeitig in die Innenstadt, um einen Frisör zu finden, der noch geöffnet hatte. Star bekam also ihre Dreadlocks verpasst. Ich fand es ziemlich cool und zu ihr passte das auch absolut super. Ich nutzte die Gunst der Stunde, um meine Haare gleich mal wieder anständig nachfärben zu lassen, sodass mein Kopf jetzt wieder in gleißendem Rot erstrahlte. Gut gelaunt machten wir uns auf den Weg ins Kino. Der Film, den wir ausgewählt hatten, war irgendwie saulustig. Jedenfalls für uns. Alle anderen sahen wohl nicht die versteckte Ironie und Parodie darin. Wir lachten uns halb tot, während alle anderen uns mit strafenden Blicken bedachten. Danach suchten wir uns eine kleine, gemütliche Eckkneipe, in der wir noch ein Bier tranken. Wenigstens das konnte ich ja legal kaufen, nachdem mir Jack meinen Ausweis abgeknöpft hatte. Star bestellte knallhart zwei kurze Jägermeister. «Das geht nicht, tut mir leid», sagte die Kellnerin und lächelte entschuldigend. «Was denn? Die sind beide für mich», antwortete Star tatsächlich, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Kellnerin zog eine Augenbraue hoch. «Soll ich lieber woanders hingehen, wenn ich hier nicht bedient werde?!» Seufzend verschwand die Kellnerin also und kam kurz darauf mit den zwei Gläsern wieder. Sie behielt uns die ganze Zeit skeptisch im Auge, sodass Star alleine einen der kurzen hinunterkippte. «Entschuldigung?!», rief ein Typ zwei Tische weiter und die Bedienung wandte sich schließlich ab, sodass ich den anderen trinken konnte. Der Alkohol stieg mir direkt zu Kopf. Ich hatte aber auch schon ewig nichts mehr getrunken. Der Kerl grinste und zwinkerte mir zu und gut gelaunt raunte ich ihm ein stummes Danke entgegen. Die Kellnerin brachte ihm drei Gläser und verschwand dann irgendwo im hinteren Bereich des Lokals. Unser Nachbar stand jetzt auf und kam mit den Getränken rüber. «Hallo ihr zwei!» Er schob jedem von uns ein Glas entgegen. Tatsächlich sah er eigentlich sehr nett aus und gar nicht so viel älter als wir. Dennoch blieb ich skeptisch. War ja nicht dämlich oder so. «Ich bin noch auf einer Party eingeladen, habt ihr nicht Lust, mitzukommen?» «Äh», machte ich. «Eher nicht, danke.» Er lachte los. «Ich versteh schon. Fremder Typ, der allein zwei Frauen anspricht. Da wäre ich auch vorsichtig.» Er kippte sein Glas hinunter. «Ich bin Andreas, ihr könnt mich aber gerne Andi nennen. Und falls es euch beruhigt, es kommen vorher noch ein paar andere Leute hierher, mit denen ich zusammen auf die Feier geh. Wir werden sowieso erst in drei Stunden weiterziehen, solange könnt ihr euch das überlegen und einfach mit uns Spaß haben, wie wär‘s? Ich hab meinen Abschluss bestanden, deswegen geht heute Abend alles auf mich!» «Im Ernst?», fragte Star und trank ihr Glas aus.

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«Ja, nach drei Jahren Studium endlich den ersehnten Abschluss!», rief er lachend. Ein Student also. Wirkte auf mich doch eher harmlos. Dennoch fühlte ich mich wohler, als tatsächlich mehrere seiner Freunde hier auftauchten, nicht nur Kerle, sondern auch ein paar Mädchen. Es wurde sogar richtig lustig, wir verstanden uns ziemlich gut mit allen und die meisten waren total nett und kümmerten sich um uns, weil wir ja noch «so jung» waren mit unseren 18 Jahren. Dass ich eigentlich noch jünger war, musste zumindest Andi klar sein, da er mir ja bei dem Jägermeister geholfen hatte. Als sie sich dann einige Stunden später auf den Weg machten, überlegten Star und ich nur kurz. Es war bereits ein Uhr durch, das hieß also, wir konnten ohnehin nicht mehr ins Schulgebäude rein. Ob wir jetzt noch hier herumgammelten und dann vermutlich rausgeworfen werden würden, weil die Kneipe zu machte, oder ob wir mit ihnen gingen, war da auch egal. Andis Wohnung war eine absolut typische Studentenbude. So etwas Cooles hatte ich noch nicht gesehen. Das Wohnzimmer war riesig, aber gut ein Viertel davon war übersäht mit leeren Flaschen, die zwar feinsäuberlich aufgestellt worden waren, aber dafür wirklich flächendeckend den Raum wegnahmen. Es gab einen Tischkicker und sogar einen Billardtisch und eine wirklich gigantische Dachterrasse. Die Wände waren alle zugeklebt mit Postern und Fotos aus der WG und seine beiden Mitbewohner schienen genauso verrückt wie er selbst. Wenn Studenten immer so wohnten, dann wollte ich auf jeden Fall auch studieren. Star und ich amüsierten uns wahnsinnig gut und sie bändelte doch tatsächlich mit Andis Mitbewohner an. «Deine Tattoos sind stark», bemerkte ich zu einem Kerl, der direkt vor mir stand. Er grinste breit, als er mich jetzt bemerkte. «Danke. Ich kann dir auch eins machen, wenn du willst.» «Wirklich?!», rief ich begeistert. «Klar. Ich hab ein Studio hier in der Nähe. Komm doch mal vorbei.» «Kannst du mir jetzt gleich eins machen?!» Ich strahlte gut gelaunt. Gott, der Alkohol ließ mich übermütig werden. Er lachte los. «Ich hab schon was getrunken. Ich glaube nicht, dass du das willst.» «Ich hab auch getrunken, ist total egal!», winkte ich ab. «Hey, Ginny!», rief Andi zu mir rüber, der am Tischkicker stand. «Ich brauche Verstärkung in meinem Team! Beweg deinen Arsch hierher.» «Ups, dann später!» Kichernd schob ich mich zu Andi durch und gab mir größte Mühe bei dem Spiel. Allzu viel sah ich von dem Ball allerdings nicht mehr. Ich merkte gar nicht, wie die Zeit dahinraste, aber als nur noch wenige Gäste da waren und Star sich gerade von ihrer Bekanntschaft verabschiedete, die noch weiterziehen wollte, sah ich mal wieder auf die Uhr. Es war zwanzig nach vier. «Ach du scheiße, wir müssen mal langsam zurück», murmelte ich zu Star, auch wenn es mir keinen Spaß machte, den Moralapostel zu spielen. «Es ist schon fast fünf. Und um sechs Uhr wird die Eingangshalle geöffnet.» «Wir gehen einfach direkt so zum Unterricht», kicherte Star und ich stieg mit ein. «Hey Mädels, wie kommt ‘n ihr nach Hause?», fragte Andi uns, als wir uns verabschiedeten. «Wir laufen», grinste Star. «Jawohl. Wir marschieren!», stimmte ich ihr zu und salutierte vor ihm. Er lachte los. «Alles klar, ich ruf euch ein Taxi.» Damit zog er sein Handy aus der Hosentasche. «Wo müsst ihr hin?»

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«Buckingham Palace», antwortete ich und Star lachte los. «Ja, da wohnen wir.» «Nein, im Ernst», bat Andi. Ich seufzte laut auf. «Elfenstein. Das Schlösslein. Das reimt sich.» Und dann kicherte ich mit Star weiter. Andi grinste breit. «Sagt bloß, ihr kommt vom Internat?» «Eventuell», nickte ich. «Und, wäre das schlimm?» «Für euch vielleicht», antwortete er. «Ihr kriegt bestimmt riesigen Ärger. Ich hoffe, ihr fliegt nicht von der Schule.» «Ach das geht klar. Ihr Vadder is Politiker und meiner sitzt im Schulbeirat … oder so», lallte ich. Andi lachte erneut. «Na dann bin ich ja beruhigt! Euer Taxi ist da. Kommt gut nach Hause, ihr zwei.» Er brachte uns noch zur Tür und wartete, bis wir ins Taxi gestiegen waren. Wir mussten zweimal unterwegs anhalten, weil Star sich übergeben musste. Dem Taxifahrer stank das glaub ich ganz schön gewaltig, aber offenbar zwang ihn sein Gewissen dazu, uns nicht einfach im Nirgendwo rauszuschmeißen. Vermutlich, weil er uns zu einer Schule fahren sollte und sich daher denken konnte, dass wir noch nicht volljährig waren. Wir erreichten schließlich die Schule und es wurde langsam schon wieder hell draußen. Der Taxifahrer nahm die zerknitterten Scheine von mir entgegen und verschwand dann wieder um die Ecke. Irgendwie schaffte ich es mit Star bis zu den Treppenstufen, ehe wir uns dort niederließen. «Ich bin so müde», seufzte diese jetzt und legte sich mitten auf den Stufen pennen. «Star, der Boden ist kalt. Die Tür geht doch gleich auf.» Aber Star war nicht mehr ansprechbar. Ich war gerade am Überlegen, wie ich sie ungesehen bis in unser Zimmer kriegen würde, als ein Auto auf den Parkplatz fuhr. War da etwa noch ein Schüler ausgeflogen? Es war aber auch zu ärgerlich, dass Star kein eigenes Auto hatte, wie viele der älteren Schüler. Der dunkle Wagen parkte irgendwo in einer der Reihen und mein Herz setzte aus, als ich Jack aussteigen sah. So eine Scheiße. Ich wollte schon fliehen, dachte dann aber doch an Star, die ich ungern alleine hier liegen lassen wollte. Also blieb ich einfach sitzen und grinste gut gelaunt, während Jack auf uns zu kam. «Ginny», sagte er und seine Stimme klang irgendwie komisch. «Jack!» Ich strahlte ihn an. «Du bist ja schon wach.» «Richtig», knurrte er. «Und du bist betrunken.» «Vielleicht», kicherte ich. «Was zum Teufel habt ihr gemacht?!» Er ging in die Hocke, um mit mir auf Augenhöhe zu sein. «Wir waren feiern! Weil Lisa Arschkuh doch jetzt weggeht und so.» «Und wo genau wart ihr, wenn du in keine Disko mehr reinkommst, ohne deinen gefälschten Ausweis?!» Er klang eventuell verärgert. Genau konnte ich das aber nicht sagen. «Auf einer total coolen Studentenparty! Andi hat uns eingeladen. Der hat nämich seinen Abschluss gemacht und so.» «Andi», wiederholte Jack. «Wer zum Teufel ist das?!» «Keine Ahnung, haben wir heute kennen gelernt. Aber der is‘ echt total lustig!» Ich grinste und hickste laut auf. Verdammt, jetzt bekam ich auch noch Schluckauf. Jack atmete einmal tief ein und wieder aus. «Wenn du irgendjemandem erzählst, was ich jetzt tue, werde ich dich umbringen müssen.» «Küsst du mich etwa?», fragte ich, sah ihn groß an und hickste. Jack lachte los. «Nein, ganz bestimmt nicht. Aber gib mir bitte dein Handy.»

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«Willsu das auch behalten?» Irritiert zog ich es aus meiner Hosentasche und reichte es ihm. Jack tippte darauf herum. «Nein. Ich geb dir meine Nummer.» Als er fertig war, sah er wieder auf und ich hickste erneut. «Wenn du irgendwann irgendwo nicht wegkommst oder wenn du nachts unterwegs warst und nicht mehr in die Schule kommst, oder wenn du egal wann und egal wo bist, dann ruf mich an. Ich komm dich abholen. Verstehst du mich?» Er sah mich groß an und ich nickte und hickste. Jack lachte los. «Man kann dich nicht ernst nehmen, wenn du betrunken bist, hat dir das schon mal jemand gesagt?» Er zog mich hoch und lehnte mich gegen die Tür. «Aber ich will nicht, dass du nochmal bei irgendeinem wildfremden Kerl mitgehst, verstanden?» «Jawohl, Sir», brachte ich unter Hicksen hervor. Jack schüttelte seufzend den Kopf und hob jetzt Star hoch und warf sie sich über die Schulter. «Ein Student? Der war doch bestimmt schon über 20!» «25, um genau zu sein», nickte ich. «Aber echt voll cool.» «Solltest du dich nicht lieber mit Leuten in deinem Alter abgeben?» Jack hatte seinen Schlüssel rausgekramt und öffnete die Eingangstür. «Aber die sind meistens langweilig und kindisch», erwiderte ich. Jack trug Star über der einen Schulter und zog mich mit dem freien Arm mit sich, damit ich nicht gegen die Wand lief, die erschreckend nahe kam. «Und du bist erwachsen und reif?», spottete er, als wir die Treppenstufen hochgingen. «Das merke ich.» Ich öffnete leise die Tür zu unserem Zimmer und Jack legte Star vorsichtig auf dem Sofa ab, ehe er mich mit sich raus auf den Flur winkte. Seufzend folgte ich ihm. «Versprich mir bitte, dass du nicht noch einmal auf irgendeine fremde Party gehst. Bitte.» Ich seufzte auf und verdrehte die Augen. «Na gut, versprochen!» «Danke.» Er lächelte flüchtig und ich musste mich stark konzentrieren, um ihm ins Gesicht zu sehen. «Jack?», fragte ich gähnend. Na immerhin hatte der Schluckauf aufgehört. «Wieso tust du das?» «Was?» «Wieso bist du so nett zu mir?» «Ich … Das würde ich für jeden Schüler machen.» Er sah auf die Tür unseres Zimmers. «Du solltest schlafen gehen. Allzu viel dürftest du ohnehin nicht mehr davon haben. Der Unterricht fängt in zwei Stunden an.» «In echt jetzt?», maulte ich. Jack lachte los. «Das hast du dir selbst zuzuschreiben, tut mir leid. Schlaf gut.» Damit lief er die Treppe wieder nach unten. Ich stolperte in unser Zimmer und schaffte es irgendwie unbeschadet ins Bett, wo ich augenblicklich einschlief. Der nächste Tag war hart, sehr hart. Ich hatte auch nicht wirklich das Gefühl, das ich schon wieder annähernd nüchtern war, als ich in der ersten Stunde vor Herrn Peters saß. Mein Magen fühlte sich auch nicht allzu gut an, während es Star wieder blendend ging. Aber die hatte ja auch alles wieder ausgekotzt, was sie getrunken hatte. Sie hatte sich heute Morgen einen Liter Wasser reingezogen und war danach wieder ziemlich gut drauf und vollkommen nüchtern gewesen. Das Einzige, mit dem sie sich in ihrem Kurs also gerade herumplagen musste, war ihre Müdigkeit. Ich dagegen musste mich gleichzeitig darauf konzentrieren, nüchtern zu wirken, wach zu bleiben und mich nicht zu übergeben. «Fangt mit den Übungen an, ihr habt eine halbe Stunde, dann will ich Ergebnisse sehen!» Herr Peters wandte sich seiner Lektüre zu und überließ uns Schülern uns selbst. Ich hatte einen Typen

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als Laborpartner, den ich vorher noch nie so richtig wahrgenommen hatte. Aber meine Sicht auf fremde Menschen war ehrlich gestanden auch eher eingeschränkt. Ihn ausgerechnet heute und in diesem Zustand kennenzulernen, würde ihn mir vermutlich auch nicht wirklich näher bringen, da ich spätestens morgen sein Gesicht wieder vergessen haben würde. «Hey, du bist das Striptease-Girl, oder?», fragte er und grinste mich breit an. Ich zog fragend eine Augenbraue hoch. Offenbar kannte er mich genauso wenig, wie ich ihn. Bis auf den Striptease. «Äh, ja. Ich fürchte schon. Und du bist wer gleich nochmal?» Er lachte los und warf den Kopf in den Nacken. «Du hast noch nicht davon gehört? Ich dachte, mittlerweile wäre ich an der ganzen Schule verpönt als der Kerl mit dem Gras im Schrank.» «Hey!», rief ich grinsend und wedelte mit dem Finger vor seinem Gesicht herum. Ja, ich war definitiv noch betrunken. «Du bist der Zombiejunge … Dingens. Rotten?!» «Felix.» Er lachte erneut und kam jetzt mit seinem Gesicht näher zu mir heran. «Wundert mich ehrlich gesagt, dass Herr Peters deine Fahne nicht bis vorne zu seinem Pult riechen kann.» Er verengte die Augen zu Schlitzen. «Wenn du kotzen musst, sag mir vorher Bescheid, ja?» «Geht klar!» Ich nickte und ließ meine Arme auf den Tisch fallen. «Also meine Hübsche, ich schlage vor, du kommst dem Bunsenbrenner lieber nicht zu nahe. Alkohol ist doch stark entflammbar.» Er zwinkerte mir zu, griff sich meine Hand und drückte einen Stift hinein, ehe er mir einen Block unter den Arm schob. «Du tust so, als würdest du Protokoll führen, kriegst du das hin?» «Ich kann Penisse malen», schlug ich vor. Felix lachte erneut. «Das klingt großartig, aber falls der Peters eine Runde dreht, bräuchten wir vielleicht doch ein paar Buchstaben.» Ich seufzte laut auf und stützte meinen Kopf mit dem einen Arm ab. «Was soll ich schreiben?» «Irgendwas, liest sich sowieso kein Schwein hinterher mehr durch.» «Das krieg ich hin», giggelte ich wie eine Zwölfjährige und fing an irgendwas vor mich hinzuschreiben, während ich gedanklich abdriftete und dabei zusah, wie die Flammen aus dem Bunsenbrenner stoben. Felix hantierte mit den Geräten herum und machte irgendwas, von dem ich keine Ahnung hatte. Aber irgendwann breitete sich ein widerwärtiger Gestank im Raum aus. «Eh, du», murmelte ich, als mein Magen schließlich kapitulierte. «Ich glaub, jetzt isses so weit.» «Was?» Felix sah mich an und ihm ging offenbar ein Licht auf. «Oh Scheiße, komm schon. Du willst doch nicht direkt hier vor allen auf den Tisch kotzen, oder?» Er zog mich hoch. «Virginia ist schlecht, ich glaub ich bringe sie besser kurz raus!», rief er und schleppte mich mit auf den Korridor. «Wie lange hältst du noch durch?», fragte er und sah sich suchend um. «Nicht mehr lang», grunzte ich. Felix half mir zu dem nächstgelegenen Mülleimer, ehe ich mich schließlich erbrach. «Das is so entwürdigend und peinlich», brabbelte ich vor mich hin. Felix lachte los. «Genau das ist der Grund, warum ich lieber `nen Joint rauche, als zu saufen. Hier.» Er reichte mir ein Taschentuch und ein Kaugummi und dankbar wusch ich mir den Mund ab und warf anschließend das Kaugummi ein. Das war schon wesentlich besser. «Hier stinkt‘s irgendwie», murmelte ich verwirrt. Felix nickte. «Ja, ich glaub da vorne hat jemand in den Mülleimer gekotzt. Ich bin mir aber nicht sicher.» Jetzt musste ich loslachen. «Wer macht denn so was?!» «Ich weiß nicht. Könnte im Prinzip jeder gewesen sein.» Grinsend lehnte er sich an die Wand und sah mich abwartend an. «Geht‘s dir wieder besser?»

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«Ja, danke», seufzte ich und strich mir die Haarfransen aus dem Gesicht. «Meinst du, wir können wieder rein gehen?» «Wäre vielleicht besser. Der Peters lässt mich gerne nachsitzen. Der findet immer einen Grund.» Damit gingen wir zurück in den Chemieraum und beendeten unser Experiment. «Darf ich das Protokoll behalten?», fragte Felix am Ende der Stunde. «Jeah, sicher», nickte ich. «Da steht sowieso nichts Sinnvolles, fürchte ich.» Die Stunde Französisch danach war anstrengend, aber nicht so schlimm wie die Doppelstunde Englisch im Anschluss. Jack schien es offenbar sehr amüsant zu finden, irgendwelche Anspielungen bezüglich meines Zustands zu bringen, die kein Mensch außer mir verstand. Ich saß also größtenteils mit knallrotem Kopf da, während alle anderen nur verwirrt waren. «Das war voll uncool», beschwerte ich mich am Ende der Stunde. Jack lächelte scheinheilig. «Ich weiß wirklich nicht, was du meinst. Ich muss jetzt los. Offenbar hat irgendjemand in den Mülleimer im Kunsttrakt gekotzt.» Er sah mich groß an und irgendwie hatte ich das blöde Gefühl, dass er mich im Verdacht hatte. «Echt? Ist ja krass», nickte ich. «Ich weiß wirklich nicht, wer das war.» Jack lachte los. «Schon klar.» Damit nahm er seine spießige Lehreraktentasche und verließ den Raum. Blödmann. Immerhin hatte ich den Nachmittag frei. Wenn ich da auch noch Sport oder Hauswirtschaft gehabt hätte, wäre sicherlich noch irgendetwas Schlimmeres passiert. Dennoch war irgendwie das ganze Wochenende danach im Eimer. Samstag verbrachte ich nach der SV-Sitzung ausschließlich im Bett und Sonntag mussten wir schon wieder früh aufstehen, weil Lisa Arschkuh schon in aller Herrgottsfrühe abreiste und wir doch tatsächlich die Schüler verabschieden durften, die am Austauschprogramm teilnahmen. Dafür mussten wir uns anziehen und in der Eingangshalle erscheinen. Ich war sogar so müde, dass ich Lisas Abreise nicht mal gebührend feiern oder würdigen konnte, sondern einfach nur lethargisch da stand und nach vorne starrte. Nach einem zweiten Schlaf dann ging es mir endlich wieder ganz gut. «Ich werde NIE wieder was trinken», schwor ich, sobald ich geduscht und in sauberen Jeans und Sweatshirt auf meinem Bett saß. Alexa und Star lachten beide ziemlich lange darüber, was ich echt unangebracht fand, anlässlich meines feierlichen Eids. «Weißt du, Ginny … Das sagen ständig irgendwelche Leute, bevor sie wieder richtig blau werden», grinste Star und fummelte in ihren neuen Dreadlocks herum. «Wann kommen die Austauschschüler an?», fragte ich und lehnte mich gegen die Wand. «In einer Viertelstunde etwa», antwortete Alexa. «Gut, ich brauch eine Zigarette», seufzte ich, stand auf und sah zu, dass ich nach draußen kam. Es war arschkalt draußen und ich hatte nicht daran gedacht, mir einen Mantel mitzunehmen. Ich zündete mir eine Zigarette an und zog den Rauch ein, ehe ich ihn wieder in die Atmosphäre blies. «Was machst du hier?» Ich zuckte erschrocken zusammen und drehte mich um. «Gott, du hast mich fast zu Tode erschreckt!», beschwerte ich mich und drehte mich wieder in Richtung Wald. Jack stellte sich neben mich und stützte sich auf dem Zaun vor uns ab. «Du hast deine Uniform noch nicht an, dabei kommen in jedem Moment die Gäste.» Sein Blick blieb an der Zigarette hängen. «Und du rauchst?!»

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«Wie haben Sie das bloß herausgefunden, Dr. Watson?», spottete ich und nahm einen weiteren Zug. Jack lachte los. «Apropos Dr. Watson. Ich hab mal die Oberstufenschüler gecheckt. Es gibt tatsächlich keine Valeska dabei.» «Also habe ich wahrscheinlich einer Diebin zur Flucht verholfen», nickte ich. «Spitzenmäßig.» Da nahm ich gleich noch einen Zug. «Mach dir keine Vorwürfe, ich habe da mindestens genauso viel zu beigetragen. Aber sie kann das unmöglich alleine durchgezogen haben.» «Da sind wir zur Abwechslung mal einer Meinung.» Ich drehte mich um, und sah ihn an. «Sie hatte auf jeden Fall Hilfe.» «War nur schlau von ihr, sich selbst zu verletzen, um als Erste dort wegzukommen. Wenn sie nicht durch uns Gelegenheit zum Weglaufen bekommen hätte, hätte sie es vermutlich im Krankenhaus geschafft.» «Ja, ziemlich gerissen. Und gleichzeitig sau dämlich. Das muss doch höllisch weh getan haben und ich habe auch fast damit gerechnet, dass sie in Ohnmacht fällt.» «Das lief vielleicht nicht so ganz nach Plan.» Jack seufzte auf. «Wer weiß das schon.» Wir schwiegen einen Moment und ich rauchte still vor mich hin. „Rauchen ist ungesund“, fing Jack dann an zu nerven. „Ich weiß.“ Ich verdrehte die Augen. „Deine Lunge wird mit Teer vollgepumpt und das Krebsrisiko steigt erschreckend!“ „Ich weiß!“ „Außerdem steigert das Nikotin dein Suchtverhalten und irgendwann rauchst du fünf Packungen am Tag.“ „ICH weiß!“ „Weißt du, dass man vom Rauchen total ekelige und verschrumpelte und verschimmelte Zähne bekommt?“ „JACK!“ Ich musste loslachen und trat die Kippe aus. „Würdest du bitte aufhören?!“ „Was denn?“ Er grinste. „Das ist nur die Wahrheit.“ „Ich will die Wahrheit aber gar nicht hören!“ „Du versteckst dich also in einer Scheinwelt, ja?“ «Klar, immer noch besser als in der Realität zu leben, was?», erwiderte ich. Auf dem Parkplatz fuhr ein Bus vor. «Ach Scheiße!», rief ich und rannte los, weil ich immer noch nicht die verkackte Uniform an hatte. Natürlich kam ich voll zu spät, als alle anderen bereits in der Mensa warteten. Machte sicherlich einen super ersten Eindruck auf die Neuen. Frau Hartmann warf mir einen Todesblick zu, also setzte ich mich hastig hin, ohne mir die Mühe zu machen, mich zu Alexa und Star durchzuschieben. Vorne standen eine Reihe Schüler in einer potthässlichen Uniform. Sie war kackbraun und sah sogar noch prüder und schlimmer aus als unsere. Ich beäugte die Schüler skeptisch und fragte mich, welches von den Mädels wohl zu uns ins Zimmer kommen würde. Sie alle sahen nur so mäßig begeistert und teilweise verunsichert aus, aber immerhin nicht wie die super Streberleichen, die wir zu ihnen nach Hause geschickt hatten. Die Hartmann hielt eine ausführliche Ansprache und versuchte sich dann doch tatsächlich an der englischen Sprache. Es war gelinde gesagt zum Totlachen. Selbst Jack musste sich ab und an das Lachen verkneifen bei ihrem grauseligen (eine Mischung aus grausig und gruselig - meine

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Kreation) Vokabular. Der Arsch hatte sich irgendwie unbemerkt reinschleichen können, unfair. Da die Neuankömmlinge aber offenbar genauso schlecht Englisch verstanden wie die Hartmann sprach, sahen sie danach noch verwirrter aus als vorher. Im Anschluss wurden dann die Neuen auf die Zimmer aufgeteilt und unser Mädchen kam reichlich irritiert zu uns. Ich hatte mich in der Zwischenzeit zu Alexa und Star gesellt, damit wir sie gemeinsam begrüßen konnten. Sie sah eigentlich ganz nett aus und sie lächelte freundlich, als sie zu uns kam. Wir stellten uns der Reihe nach vor. «War es wichtig, was die dicke Frau eben erzählt hat?», fragte Marta danach mit Akzent, aber doch recht gut verständlich, und ich musste richtig heftig loslachen. «Nein. Vergiss es einfach.» Star winkte ab. «Die redet gerne mal, ohne dass ihr jemand zuhört.» Marta grinste und nickte erleichtert. «Und wo ist unser Zimmer?» Ich mochte das Mädchen jetzt schon.

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Kapitel 9 Es war faszinierend, wie rasend schnell sich meine Meinung geändert hatte. Marta war die Hölle. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, aber sie war sogar noch anstrengender als Lisa Arschkuh. Auf eine gänzlich andere Art und Weise und die war irgendwie noch schlimmer. Und Lisa hatte sich wenigstens immer nur selten im Zimmer aufgehalten, Marta hockte fast den ganzen Tag dort herum, wenn sie nicht im Unterricht sein musste. Es fing morgens an mit der Tortur. Sie stand prinzipiell drei Stunden eher auf als wir. Die Zeit nutzte sie aber nicht, um sich schon mal zu duschen und fertigzumachen oder sich leise etwas durchzulesen, so wie Lisa das ab und an getan hatte. Nein, Marta telefonierte. Und das nicht besonders leise und auch nicht wenigstens auf dem Flur, sondern bloß im zweiten Teil unseres Zimmers auf dem Sofa. Sie brüllte auf ihrer anstrengenden Sprache ins Telefon oder per Skype am Laptop und das in einer Lautstärke, mit der ich normalerweise nur Menschen anschrie, wenn ich stinksauer war (also größtenteils meine Familie, so gesehen wäre es vielleicht sogar verständlich, dass sie so brüllte, wenn sie mit ihren Eltern sprach. Da stellte sich dann aber die Frage, wieso sie überhaupt mit denen telefonierte). «Ich weiß ja nicht, ob es dir aufgefallen ist», brachte Star irgendwann an einem Morgen überaus gereizt zwischen den Zähnen hervor. «Aber es gibt hier keine Tür zu unserem Schlafbereich.» «Doch, habe ich gesehen», nickte Marta, als wäre es das normalste der Welt. Und dann brüllte sie weiter. «Ich werde sie töten», sagte ich in der zweiten Woche mit ihr. Sie hatte ihre dreckige Unterwäsche auf meinem Bett zwischengeparkt, weil auf ihrer vollgemüllten Matratze kein Platz mehr dafür war. «Oder ich kack ihr verdammt nochmal auf ihr Kopfkissen!» Star lachte los. «Das würde sie vermutlich nicht einmal bemerken.» Mit Marta als Mitbewohnerin war es ein bisschen so, als würde man mit einem Flodder zusammenleben. Nur irgendwie noch ekeliger und anstrengender. Als sie irgendwann ihre benutzte Binde auf dem gemeinsamen Nachttisch von ihr und Alexa liegen ließ, war eine gewisse Grenze überschritten, mit der wir alle nicht mehr leben konnten. «Sie muss verschwinden», sagte Star, als wir drei alleine im Raum waren und ich alles mit Desinfektionsspray eingesprüht hatte. «Sie fährt doch eh in einigen Wochen wieder», wandte Alexa ein. «Ich halt‘s auch keinen Tag länger mehr mit ihr aus», seufzte ich und warf den Kopf in den Nacken. «Ich geh und spreche mit unserem Vertrauenslehrer. Vielleicht kann der irgendwas regeln.» Seufzend erhob ich mich. «Und ich geh und rede nochmal mit Marta. Vielleicht nimmt sie ja dann ein bisschen mehr Rücksicht», überlegte Alexa und erhob sich ebenfalls. «Viel Glück! Ich bin gleich wieder da. Hoffentlich mit guten Neuigkeiten.» Damit machte ich mich auf den Weg zu Jacks Büro. Der würde sich schon irgendwas einfallen lassen. Vielleicht musste Marta aus psychologischen Gründen in ein anderes Zimmer verlegt werden, weil sie bei mir schlimme Erinnerungen aus der Kindheit hervorrief. Oder so was in der Art. Ich schlüpfte in den Flur mit den Lehrerbüros und lief den Korridor hinunter bis zu Jacks Tür. Ich klopfte nur einmal kurz, ehe ich hineinging und mitten in der Bewegung erstarrte.

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Jack war nicht allein. Frau Nowak war bei ihm und - gottverdammte Scheiße - so wie es aussah, waren sie kurz davor oder wären kurz danach bei der Sache gewesen. Die beiden standen eng umschlungen da und sie hatte ihre hässliche Bluse aufgeknöpft, sodass ich ihren noch hässlicheren BH darunter sehen konnte. Ich stand da und starrte beide einfach nur völlig entgeistert an, während mein Hirn und mein Herz sich nicht einig darüber wurden, wie ich reagieren sollte. Ich tat das einzig Sinnvolle, was mir in dem Moment einfiel. «‘Tschuldigung!», rief ich, schmiss die Tür wieder zu und ging hastigen Schrittes den Korridor zurück. «Ginny! Hey! Warte!» Jack kam mir hinterher. Ich lief schneller, stürmte in die volle Eingangshalle und immer weiter. Ich konzentrierte mich einzig und allein auf meine Schritte, um bloß nicht nachzudenken. «Virginia! Bleib sofort stehen!», rief er jetzt richtig laut und wütend wirbelte ich herum und starrte ihn an. «WAS?!», schrie ich zurück. «Was ist denn, verdammt nochmal?!» Es war still um uns herum geworden und alle starrten uns an. Aber mir war das gerade jetzt in diesem Moment mehr als einfach nur scheiß egal. «Komm bitte mit mir in mein Büro, ich möchte mit dir darüber reden», sagte er und sah mich forschend an. Ich verspürte das dringende Bedürfnis, ihm meine Fingernägel ins Gesicht zu graben. «Worüber soll man denn da noch reden?!», fauchte ich und dann brüllte ich etwas, das ich mir vielleicht besser hätte verkneifen sollen: «Es weiß sowieso schon die ganze Schule, dass Sie unsere Biolehrerin ficken!» Damit stürmte ich endgültig aus der Eingangshalle und rannte über den Rasen in Richtung Wald. Immerhin folgte mir keiner und ich konnte meiner Wut freien Lauf lassen. Ich schrie und ich brüllte und ich trat mehrmals gegen einen ziemlich dicken Baumstamm, was mir wohl letztendlich mehr wehtat als ihm. Danach war ich einfach nur noch erschöpft und sackte innerlich zusammen. Ich wollte nicht heulen, nicht wegen so etwas Bescheuertem, aber ich konnte es einfach nicht verhindern. «Hey.» Ich zuckte erschrocken zusammen und fuhr herum, bereit, irgendetwas zutiefst Verletzendes zu sagen, als ich in das Gesicht von Justus blickte. Was zur Hölle wollte der denn hier?! Er zog mich zu sich in den Arm und hielt mich wortlos fest und ich heulte noch viel mehr, weil ich einfach nicht anders konnte. «Tut mir leid», sagte er nach einer Ewigkeit, als aus mir nur noch leise Schluchzer kamen. «Dass ich geglaubt habe, dass du etwas mit diesem Idioten hattest.» Er drückte mich auf einen umgefallenen Baumstamm und setzte sich neben mich, ehe er mir ein Taschentuch reichte. «Ich war damals nur einfach so furchtbar verletzt und gedemütigt, dass ich wohl etwas überreagiert habe.» «Justus …» Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich sagen konnte oder sollte. «Schon gut.» Er lächelte schwach und strich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr. «Vergiss es. Wir sind Freunde, ja?» Ich nickte stumm und putzte mir die Nase. «Ja. Das wäre schön.» «Du siehst ein bisschen aus wie ein krankes Pandababy», grinste er dann und ich musste lachen. «Woher willst du denn wissen, wie kranke Pandababys aussehen?» «In etwa so, vermute ich. Ich könnte es fotografieren und für die Nachwelt festhalten und dann bei Gelegenheit ein Beweisfoto schießen, aber ich weiß nicht, ob du das wirklich als Andenken haben willst.»

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Ich schnitt eine Grimasse. «Eher nicht.» «Das dachte ich mir.» Ich seufzte laut und warf den Kopf in den Nacken. «Ich brauch ganz dringend eine Zigarette.» «Ich fürchte, damit kann ich nicht dienen.» Justus sah mich abschätzend an. «Bist du okay?» «Ja.» Ich seufzte erneut. «Ja, mir geht‘s gut.» «Gut ist vielleicht etwas zu optimistisch», grinste Just. «Aber du siehst zumindest fast schon wieder gesellschaftsfähig aus.» «Danke.» Ich streckte ihm die Zunge raus und atmete die frische Luft tief ein und wieder aus. Das war nicht annähernd so beruhigend wie Nikotin, aber half auch irgendwie. Wir saßen eine Weile schweigend da, ehe es draußen allmählich kalt wurde. «Gehen wir zurück», schlug ich also vor und erhob meinen eingefrorenen Hintern. Justus folgte meinem Beispiel. «Justus?», fragte ich kleinlaut, als der Parkplatz schon in Sichtweite war. «Du sagst es doch keinem, oder?» «Nein. Versprochen.» Er drückte kurz meine Hand, ehe er sie wieder los ließ und er voran zur Eingangstür und hindurch ging. Natürlich starrten mich eine Menge Schüler an, nach der Aktion vorhin. Ich war darauf vorbereitet gewesen und hatte meine arrogante Maske aufgesetzt, mit der mir niemand zu nahe treten konnte. «Virginia Parker, kommen Sie sofort mit zur Direktorin», forderte mich Frau Müller auf, als sie mich entdeckt hatte. Sie sah mich irgendwie seltsam an. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, kam es mir sogar freundlich vor. Seufzend folgte ich ihr bis ins Büro der Direx. Frau Hartmann saß mit ihrem breiten Fettarsch in dem Stuhl hinter ihrem Schreibtisch und dahinter standen Jack und unsere bratzige Biolehrerin. Alle drei starrten sie mich an, während ich mich darum bemühte, nur der Hartmann ins Gesicht zu sehen und niemanden sonst im Raum zu beachten. Mir war schlecht und es kribbelte mich überall, sodass ich das dringende Bedürfnis verspürte, duschen zu gehen. «Was gibt‘s denn?», fragte ich patzig und wartete auf eine Reaktion von der Hartmann. Jack wollte offenbar etwas sagen, überlegte es sich dann aber doch anders. Feigling. Dreckiger, scheiß Schleimscheißer. «Was erlauben Sie sich eigentlich für eine Ausdrucksweise gegenüber einer Autoritätsperson?!» Frau Hartmann sah mich wütend an. «Das ist wirklich ungeheuerlich! Und haben Sie überhaupt eine Ahnung, was so eine Äußerung verursachen kann?!» «Entschuldigen Sie, Sir», entgegnete ich spöttisch. «Aber Sie haben mir doch immer eingetrichtert, stets die Wahrheit zu sagen, also tue ich das auch.» Frau Hartmann schnappte empört nach Luft und Frau Nowak ergriff das Wort. «Ich verstehe ja, dass das eine unangenehme Situation für dich war», sagte sie. «Für uns war sie bestimmt nicht leichter. Aber solch ein Ausraster in Anwesenheit fast aller Schüler …!» «Was geht Sie das eigentlich an?», fragte ich kalt und sah sie jetzt doch direkt an. Gott, wie ich sie hasste. «Ich habe ja nicht Sie angeschrien und den Schülern von ihrem gruselig hässlichen Blümchen-BH erzählt, oder wie Sie Ihre verschwitzten Arschbacken auf einem Stapel Hausarbeiten gerieben haben, oder?!» Ihr fiel der Kiefer nach unten, was ziemlich dämlich aussah, wenn man mich fragte. «Ginny, das ist absolut unangebracht», sagte Jack und ich wagte es, ihm direkt in die Augen zu sehen. Hass loderte in mir auf und ich starrte ihn feindlich an. «Und das wagst tatsächlich

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wirklich DU mir zu sagen?! Soll ich dir mal sagen, was unangebracht ist?!», fauchte ich. Frau Hartmann brüllte schon wieder rum und kloppte mit ihrer Faust auf den Schreibtisch. «Das hat Konsequenzen, Virginia!» «Ach, ich werde bestraft, ja?!», rief ich nun und wandte mich wieder ihr zu, weil ich diesen grässlichen Blick von Jack nicht mehr ertragen konnte. «Weil ich zwei Lehrer dabei erwischt habe, wie sie es in der Schule getan haben? Meinen Sie nicht, das ist Bestrafung genug? Ich fürchte, das hat sich für alle Ewigkeiten auf meiner Netzhaut festgesetzt und ich werde mich vermutlich im Traum daran erinnern und mich übergeben müssen und dann ersticke ich an meiner eigenen Kotze, wenn ich mir nicht vorher die Augen ausreiße.» Jetzt waren offenbar alle drei sprachlos vor Schockiertheit. Dabei hatte ich noch gar nicht alles rausgeholt, was noch so in mir steckte. «Haben wir das dann geklärt, ja? Ich würde gerne gehen und nach einem Fläschchen Salzsäure suchen, mit dem ich mir die Augen ausätzen kann.» Damit verließ ich unter lautem Gebrüll der Hartmann ihr Büro wieder und marschierte zurück zu unserem Zimmer. Ich war immer noch auf hundertachtzig und irgendwie wollte sich mein Puls auch nicht so richtig beruhigen. Star und Alexa saßen zusammen auf dem Sofa und sahen mich groß an, als ich ins Zimmer kam. «Ginny, was war los?!» «Ach nichts», seufzte ich und ließ mich neben ihnen fallen. «Wir werden es irgendwie mit Marta aushalten müssen. Tut mir leid.» Die nächsten Tage waren schrecklich. Ich fühlte mich krank und wäre am liebsten gar nicht mehr aus dem Bett gekommen, obwohl Marta immer noch in unserem Zimmer herumspukte. Ich konnte kaum schlafen und lag stundenlang wach und starrte an die Decke, weil ich auf keinen Fall nachts in der Schule umherlaufen wollte, um ihm nicht allein begegnen zu müssen. Ich verpasste mit Absicht die Essenszeiten, um seinen Blicken nicht ausgesetzt sein zu müssen. Frau Nowak behandelte mich noch herablassender und unfreundlicher als vorher. Das mit dem hässlichen BH hatte sie offenbar persönlich genommen. Sie war mir egal und ihr Unterricht stank sowieso derbe. Aber am allerschlimmsten war der Unterricht bei ihm. Der einzige Ort, an dem ich ihm nicht aus dem Weg gehen konnte. Und das ausgerechnet in einem Raum, in dem er keine fünf Meter von mir entfernt stand, obwohl ich schon in der allerletzten Reihe saß. Ich starrte konzentriert aus dem Fenster oder auf meine Unterlagen, nur um ihn nicht direkt ansehen zu müssen. Aber seine Anwesenheit war überall im Raum spürbar. Seine Stimme drang beständig an mein Ohr und ich fühlte seinen Blick auf mir liegen. Meine ganze Haut kribbelte und ich stand wie unter Strom, unfähig mich auch nur eine Sekunde zu entspannen. Aus den Augenwinkeln verfolgte ich jeden seiner Schritte, die immer wieder gefährlich nah an mich herankamen. Aber aufrufen tat er mich nicht. Noch problematischer war der Kunstunterricht, bei dem ich ihn nicht einfach ignorieren konnte, weil er sich mit jedem Schüler persönlich beschäftigte. Wir waren im letzten Monat zur Landschaftsmalerei übergegangen, bei der ich mit meiner Peniskunst irgendwie nicht mehr punkten konnte, obwohl es ja eine «Landschaft» war. «Das ist alles kompletter Scheiß!», rief Mr. Langley diese Stunde für ihn doch sehr unüblich ziemlich laut. «Was soll das sein, hm?!» Er tippte auf die Skizze eines Mädchens aus meinem

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Jahrgang. «Sollen das Büsche sein?! Die sehen aus wie riesige Wattebällchen! Hast du noch nie einen Busch gesehen?! Da gibt es Struktur drin und feingliedrige Äste!» Ich starrte vor mir auf mein weißes Blatt Papier. Er seufzte laut auf und fasste sich offenbar wieder. «Packt eure Sachen zusammen. Na los.» Ich dachte schon, er würde den Unterricht vorzeitig beenden, aber so viel Glück war mir nicht vergönnt. «Wir gehen nach draußen, in die Natur. In der Hoffnung, dass die euch ein wenig mehr Inspiration verleiht.» Er griff sich seine Jacke und wartete vorne an der Tür. Ich merkte, dass er mich schon wieder anstarrte, also stopfte ich hastig meine Sachen in die Tasche und flüchtete viel zu nah an ihm vorbei aus dem Raum. Wir gingen raus aus der Schule und um das Gebäude herum, ehe wir in einiger Entfernung stehen blieben. «Seht ihr die Bäume?» Er deutete in Richtung des Waldes, der vor uns lag. «Ich will, dass ihr sie darstellt. Sucht euch einen Fokus, einen Aspekt, auf den ihr euch konzentriert. Die Dynamik, die Farbenvielfalt, die Perspektive. Aber betrachtet alles ganz genau, ich will keine Wattebälle mehr sehen, ist das klar?!» Die meisten der Schüler setzten sich auf den Rasen, der immerhin trocken, aber auch arschkalt war. Wir hatten schließlich bereits Anfang Dezember. Ich war froh, dass ich den Schulmantel an hatte. Mr. Langley posierte sich rechts vorne vor den Schülern und beobachtete sie dabei, wie sie ihre Sachen auspackten, ehe sein Blick zu mir rüber glitt. Ich ertrug das nicht länger, drehte mich um und setzte mich mit dem Rücken zu ihm hin. Vor mir lag das Schulgebäude mit seiner hässlich grauen Fassade und den schmutzigen Wolken darüber. Es war dunkel, obwohl es mitten am Tag war und mir kam das Gebäude vor wie eine riesige, schwarze, gruselige Festung. «Virginia?!» Ich zuckte innerlich zusammen, als er meinen Namen rief. Scheiße, konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen?! Wütend presste ich die Kohle in meiner Hand auf mein Papier und ratschte über die leere Seite, um die groben Konturen der Schule nachzumalen. Ich ignorierte ihn einfach und zeichnete weiter, betonte die Schattierungen besonders stark, um diese Bedrohlichkeit festzuhalten, die die Schule ausstrahlte. «Virginia», ertönte seine Stimme einige Zeit später erneut. «Was denn?!», fauchte ich wütend, weil ich wirklich nicht mit ihm reden wollte. «Die Stunde ist vorbei.» Überrascht sah ich auf und stellte fest, dass die meisten anderen Schüler bereits wieder Richtung Schule gegangen waren. «Zeig mal her», forderte er auf und ich reichte ihm wortlos mein Bild, ohne ihn anzusehen. Hastig sammelte ich meine Sachen vom Boden auf. «Das … ist wirklich gut», sagte er und klang nicht nur überrascht, sondern auch beeindruckt. Keine Ahnung, ob er das nur sagte, um sich wieder mit mir gutzustellen. Es war mir sowieso scheißegal, ob er das Bild wirklich mochte oder nicht. «Danke», antwortete ich kalt, riss es ihm aus der Hand und eilte den anderen hinterher Richtung Kunstraum. Danach hatte ich Schulschluss. Ich verzog mich direkt in unser Zimmer und schmiss mich noch mit Uniform ins Bett. «Ginny.» Star blieb vor meinem Bett stehen und sah mich besorgt an. «So kann das nicht weitergehen. Was ist denn los mit dir? Rede mit mir, bitte!»

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«Es ist nichts», murmelte ich und vergrub das Gesicht im Kissen. «Ginny, bitte! Du hast seit Tagen nichts mehr richtig gegessen. Wir machen uns Sorgen um dich.» «Es ist alles okay, wirklich.» Star riss mir das Kissen vom Kopf. «Sag mir, was los ist!» «Es ist … es ist nur …» Ich hatte keine Ahnung, was ich ihr sagen sollte. Ich wollte sie nicht belügen, also entschied ich mich für eine Halbwahrheit. «Ich glaub, ich bin verknallt.» «Was?» Star setzte sich zu mir auf die Bettkante. «Aber das ist doch kein Drama!» «Doch, es ist … kompliziert! Und absolut bescheuert.» Star seufzte auf und strich mir die Haare aus der Stirn. «Wieso? Weil es Chip ist? Liebes, er mag dich wirklich gern! Ich bin mir sicher, er würde dir eine Chance geben.» Ich starrte sie groß an. «Was?» «Na, es ist doch kein Problem. Viele Leute verlieben sich erst, nachdem sie gut befreundet waren. Man kennt den anderen und manchmal entwickelt sich da halt mehr raus. Chip scheint ein wirklich anständiger Kerl zu sein. Und er hat keine Freundin, so weit ich weiß. Also, was genau hindert dich?!» Ich starrte sie immer noch an, während mein Hirn auf Hochtouren arbeitete. «Du hast Recht», sagte ich dann und sprang auf. «Ich werd‘s ihm einfach sagen. Jetzt gleich!» «Äh», machte Star. «So war das jetzt nicht gemeint.» «Nein, aber es ist eine hervorragende Idee», nickte ich, schlüpfte aus dem Mantel und lief zur Tür. «Danke, Star.» Ich schenkte ihr ein Lächeln. «Du bist die Beste.» Ich rannte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Die meisten Leute waren gerade auf dem Weg zum Abendessen, also hatte ich eine gute Chance, ihn in der Mensa zu erwischen. Doch so weit musste ich gar nicht suchen. Er stand in der Eingangshalle und unterhielt sich mit zwei älteren Schülern. Ich ging geradewegs auf ihn zu und er sah auf, als er mich kommen sah. Noch ehe er irgendetwas fragen konnte, sagte ich: «Ich steh auf dich!» und drückte meine Lippen auf seinen Mund. «Ginny?!» Chip zog mich ein Stück beiseite und sah mich verwirrt an. «Hast du eine Wette verloren oder so?» Ich lachte los. «Nein. Wobei das witzig gewesen wäre. Aber Wetten enden irgendwie meistens damit, dass ich irgendwo nackt herumlaufen muss.» «Ach, wirklich?», fragte Chip und grinste jetzt ebenfalls. «Vielleicht sollte ich auch mal mit dir wetten.» Ich musste erneut lachen. «Vielleicht kommst du auch ohne eine Wette in den Genuss.» Ich zog ihn zu mir und küsste ihn erneut, diesmal allerdings richtig und mit Beteiligung von seiner Seite. Er fuhr mir mit der Hand durchs Haar und den Rücken hinunter, während ich meine Hände hinter seinem Nacken verschränkte. «Aufhören!!!», ertönte irgendwo die kreischende Stimme von Frau Müller. «Auseinander, sofort! Das ist absolut obszön und abstoßend!» Ob die Frau jemals Sex in ihrem Leben gehabt hatte? «Gibt es jetzt auch ein Knutschverbot?», fragte ich amüsiert, als ich mich von Chip gelöst hatte, ihn aber immer noch festhielt. «Das muss aber neu sein, davon habe ich noch nichts in den Regeln gelesen.»

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«Das ist jawohl eine Selbstverständlichkeit!», rief Frau Müller. Jetzt wurde mir auch klar, warum sie mich vor einigen Tagen so freundlich angesehen hatte. Weil sie die Vorstellung von Sex offenbar allgemein ekelig fand und sie Mitleid mit mir hatte, dass ich unseren Englischlehrer mit der Bioschnepfe erwischt hatte. «Rauf mit Ihnen in Ihr Zimmer, Virginia! Und Johannes, hören Sie gefälligst auf so selbstgefällig zu grinsen!» Ich musste loslachen. «Wir sehen uns später, ja?» «Kann‘s kaum erwarten.» Chip drückte kurz meine Hand, ehe er in Richtung Speisesaal davonging, während ich kopfschüttelnd zurück in unser Zimmer lief. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte ich mich wieder lebendig.

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Kapitel 10 Chip sah ich erst wieder am nächsten Tag, als ich den Raum hinter der Küche betrat, in dem wir Hauswirtschaftsunterricht hatten. Er saß an unserem Tisch und sah auf, als ich hereinkam. Ich lächelte flüchtig und trat zu ihm. Die Situation war irgendwie seltsam und die Anspannung zwischen uns quasi greifbar. «Hey, alles klar?» Chip sah mich an und ich nickte und schob mir eine Haarsträhne hinter das Ohr, was bei meiner Haarlänge eher lächerlich aussehen musste. Jetzt so im Nachhinein kam mir meine Idee vom Vortag doch eher dämlich vor. Ich hatte impulsiv und ohne nachzudenken gehandelt und das war jetzt das Ergebnis, mit dem ich leben musste. Vorher war mit Chip alles so furchtbar einfach gewesen, ich hatte nie darüber nachdenken müssen, was ich sagte oder was ich tat. Und jetzt tat ich die ganze Zeit nichts anderes mehr. Ich setzte mich steif auf meinen Platz und starrte auf die Tafel vorne. «Ginny, ich …», setzte Chip an, doch da flog auch schon die Tür auf und unsere kleine Lehrerin schob sich in den Raum. Ihr Timing war wirklich spitzenmäßig. «Heute werdet ihr lernen, wie man selbst Pralinen macht. Ich dachte mir, das wäre eine nette Idee, da ihr die an eure Familien oder Freunde verschenken könnt, jetzt zur Vorweihnachtszeit.» Tatsächlich war seit einigen Tagen Dezember, ohne dass ich es wirklich realisiert hätte. Letztes Jahr hatten Alexa, Star und ich einen riesigen Adventskalender in unserem Zimmer aufgehängt mit je einer Kleinigkeit für eine der anderen beiden pro Tag. Dieses Jahr hatten wir das in unserem Stress mit Marta völlig vergessen. «Sind Pralinen nicht viel zu teuer und dekadent für uns überprivilegierte, undankbare Kinder?», fragte ich leise, eher zu mir selbst. «Sag das lieber nicht zu laut, hinterher überlegt sie es sich anders und lässt uns Kartoffelkekse zu Weihnachten verschicken», raunte Chip mir ins Ohr und mich überkam eine Gänsehaut. Ich musste grinsen und drehte mich mit meinem Stuhl halb zu ihm rum. «Gibt es wirklich Kekse aus Kartoffeln?» Ich sah ihm in seine dunkelbraunen Augen, die mit ein paar grünen Sprenklern versehen waren und absolut ungewöhnlich aussahen. Irgendwie brachte mich das aus dem Konzept, sodass ich mich lieber auf seine Lippen konzentrierte. «Meine Großtante Dorothea hat vor zwei Jahren welche zu Weihnachten mitgebracht und die ganze Zeit zugesehen, während wir probieren mussten. Glaub mir, das möchtest du nicht erleben.» Sein Mund verzog sich zu einem hübschen Grinsen. Verdammt, ich hatte wirklich wahnsinnig Lust, ihn erneut zu küssen. «Nach was haben sie geschmeckt?», flüsterte ich zurück, während mein Herz unruhig vor sich hin trommelte. Jetzt lachte Chip leise, beugte sich noch näher zu mir herüber und raunte in mein Ohr: «Nach Kartoffeln.» «Gibt‘s ja gar nicht», lachte ich ebenfalls. Unsere Lehrerin kam auf uns zu gehechtet und warf mir den Todesblick zu. «Was soll das hier werden?! Hören Sie gefälligst auf mit diesem albernen Gekicher und machen Sie sich an die Arbeit! Na los jetzt.» Sie deutete in Richtung Tafel, wo sie das Grundrezept für die Pralinen aufgeschrieben hatte. Es war relativ simpel und die Aromen konnten wir jeweils selbst dazu auswählen. «Wofür bist du?», fragte ich, weil mir die einfache Grundform zu langweilig erschien.

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«Schade, dass wir keinen Likör verwenden dürfen», seufzte Chip und strich sich seine zerzausten Haare aus dem Gesicht. Ich verspürte das dringende Bedürfnis, meine Finger ebenfalls dadurch zu streichen. «Also ich wäre stark anti Kokosnuss und pro Vanille oder Orangenaroma.» Chip sah mich fragend an und ich nickte zustimmend. «Ja, Kokos stinkt. Ich steh auf Pfefferminz, aber das ist immer schlecht zu verschenken, weil viele die Kombination mit Schokolade nicht mögen. Also nehmen wir wohl am besten Vanille und Orange, oder?» «Ist gut. Kannst du schon mal die Sahnetüte aufschneiden und in den Topf schütten?» Chip kannte mich als Kochpartnerin inzwischen so gut, dass er wusste, welche Aufgaben man mir zumuten konnte und welche nicht. «Klar, kein Problem», antwortete ich also und tat, wie mir geheißen. Wir waren in der Küche ein ziemlich gutes Team, auch wenn Chip die größte Arbeit erledigte und ich nur die Deppenarbeiten übernahm. Aber dadurch wurden die Sachen immerhin meistens auch genießbar. Trotzdem war ich heute so nervös, dass ich nicht nur die Mandelsplitter über der halben Anrichte verteilte, sondern es auch noch schaffte, die Hälfte der Sahne über meinen Schulrock zu kippen. «Du bist heute in Topform, wie ich sehe?», witzelte Chip und reichte mir den Lappen, mit dem ich das Schlimmste beseitigen konnte. «Du kennst mich», erwiderte ich schulterzuckend und ließ mich auf meinen Stuhl fallen. Chip schob unsere Rohmasse in den Gefrierschrank, wo sie kurz schockgefrostet werden musste, ehe wir damit weiterarbeiten konnten. «Ja, deswegen ja.» Grinsend drehte er sich zu mir um. Gott, er sah wirklich verdammt gut aus. Ich fürchtete fast, dass ich tatsächlich auf ihn stand. «So, ich glaub wir haben ein paar Minuten Zeit, um mal zu reden.» Er zog seinen Stuhl zu mir rüber und setzte sich direkt vor mich. Mein Herz setzte aus. Gott, jetzt wurde es unangenehm. «Über meine Unfähigkeit? Tut mir leid, ich bemühe mich wirklich in der Küche, nicht allzu viel Schaden anzurichten.» Chip lachte los und schüttelte den Kopf. «Nein, das meinte ich nicht.» Er sah mir direkt in die Augen und mir wurde heiß. Am schlimmsten fand ich es jetzt, dass so viele andere Leute um uns herum anwesend waren. Dabei waren gestern in der Eingangshalle wesentlich mehr Leute dabei gewesen, als ich ihn geküsst hatte. Aber jetzt störte mich das. «Meintest du das ernst, gestern?» Sein Blick ließ keinerlei Schlüsse darauf zu, was er im Inneren dachte oder fühlte. Er war einfach nur abwartend und neugierig, was mich völlig wahnsinnig machte, weil ich absolut keine Ahnung hatte, was ich jetzt antworten sollte. «Ja», flüsterte ich, noch ehe ich wirklich darüber hätte nachdenken können. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ein bisschen Homer-Simpson-Gen in mir steckte. In Momenten, wenn mein Körper mal wieder schneller war, als mein Gehirn. Ich senkte den Blick, weil ich völlig verunsichert war. Das hier würde alles zerstören. Unsere wunderbare, unkomplizierte Freundschaft. «Gut.» Chip lächelte, als ich wieder hochsah. «Ich möchte nämlich, dass das hier funktioniert.» Er strich mir mit der Hand über die Wange. «Also was hältst du davon, wenn wir es nochmal versuchen, auf eine etwas weniger direkte Art?» Er grinste schief und ich musste loslachen. «Tut mir leid, ich hab dich wohl ziemlich überrumpelt.» «Nur ein wenig. Aber von dir hätte ich auch nichts anderes erwartet.» Wahnsinn, sein Lächeln war echt hinreißend. «Also, was meinst du? Würdest du mit mir am Wochenende ausgehen?»

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«So ein richtiges Date?», fragte ich lachend, während mein ganzer Körper wie elektrisiert war. Ich wollte ihn anfassen, aber ich traute mich nicht mehr. «Ja, ein Date.» Chip stand auf und reichte mir die Hand. Grinsend nahm ich sie und ließ mir von ihm hoch helfen. «Samstag?» «Klingt wunderbar», nickte er und ließ mich leider wieder los, weil er die Matsche aus dem Gefrierfach nehmen musste, ehe man sie gar nicht mehr bewegen konnte. Die restliche Zeit verbrachten wir mit den Pralinen. Das Verzieren machte sogar richtig Spaß und sie sahen wirklich gut aus, als wir fertig waren und unserer Lehrerin das Ergebnis präsentierten. Offenbar war sie auch zufrieden, jedenfalls meckerte sie nicht rum wie sonst üblich. «Also wir sehen uns dann am Samstag, ja? Ich sag dir noch Bescheid, wann und wo es hingeht.» Chip hauchte mir einen Kuss auf die Wange, griff sich seine Tasche und zwinkerte mir im Gehen zu. «Kann‘s kaum erwarten!», rief ich ihm hinterher, ehe er ganz aus der Tür verschwunden war. Seufzend griff ich mir eine meiner Pralinen und schob sie mir in den Mund. Sie waren wirklich echt lecker. «Entschuldigen Sie mal!», rief unsere Lehrerin, als ich noch eine nahm. «Sie sollen die Pralinen verschenken! Denken Sie denn eigentlich nie an andere und immer nur an sich selbst?!» «Äh», machte ich, weil mir das irgendwie zu dumm war. Mal abgesehen davon, dass mir sowieso niemand in den Sinn kam, dem ich die Pralinen hätte schenken können, außer Star und Alexa, die gerade beide eine «vorweihnachtliche Diät» machten und daher wahrscheinlich nicht allzu angetan gewesen wären von meinem Geschenk, ging es sie doch wirklich nichts an, was ich damit tat, oder?! «Die sind viel zu gut, um sie zu verschenken», gab ich also von mir und stopfte mir noch eine in den Mund, einfach nur, um sie zu provozieren. «Es ist bald Weihnachten!», entrüstete sie sich. «Schenken Sie die doch an Leute, die sonst vielleicht nicht so viel Beachtung und Aufmerksamkeit bekommen, die selten wertgeschätzt werden für ihre Arbeit oder an Bedürftige!» «Solche Leute kenne ich nicht», entgegnete ich. «Sie könnten die Pralinen an einen Lehrer schenken, der Ihnen dieses Jahr sehr geholfen hat», schlug sie vor und erinnerte mich damit wieder an den einzigen Menschen, an den ich im Moment einfach nicht denken wollte, was ich die letzten Stunden auch erfolgreich geschafft hatte. «Ah ja, Sie haben Recht!», rief ich, griff mir die restlichen sieben Pralinen, knetete Sie zusammen und stopfte sie mir auf einmal in den Mund. Sie starrte mich völlig entgeistert an und brüllte dann herum wie eine Furie und drückte mir gleich zwei Strafen auf einmal auf. Seufzend akzeptierte ich sie und verzog mich aus dem Raum. Nach den vielen Pralinen war mir irgendwie schlecht und dazu kam auch noch mein blödes Gewissen, sodass ich an diesem frühen Abend Star und Alexa in die Sporthalle begleitete, für ihr alltägliches Workout. Das war ehrlich gestanden doch eher luschig, sodass ich nach ihrer obligatorischen halben Stunde Joggen alleine weitermachte. Ich war gerade so richtig in Fahrt und verprügelte den Boxsack, der im Jungsbereich hing, als mir wieder einfiel, was die Strafe von unserer Hauswirtschaftslehrerin tatsächlich für mich bedeutete.

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«Scheiße!», fauchte ich, schlug noch einmal besonders fest zu und zog dann mein Handy aus der Hosentasche, um Chips Nummer zu wählen. «Ich hab‘s vergeigt», sagte ich direkt, nachdem er abgenommen hatte. «Was genau?» «Ich hab Ausgehverbot, befürchte ich», seufzte ich und strich mir die Haare aus der Stirn. «Das mit dem Date sieht eher schlecht aus.» «Wir haben uns noch vor einer Stunde gesehen, wie genau hast du das hinbekommen, Sweetheart?», fragte Chip lachend. «Der blöde Giftzwerg hat mich provoziert», erklärte ich. «Und da hab ich mir alle Pralinen auf einmal in den Mund gesteckt.» «Waren sie gut?» «Oh, ja!», lachte ich. «Aber mir war danach ein bisschen schlecht.» «Wie genau sieht deine Strafe aus?» «Ich darf die nächsten zwei Wochen das Schulgelände nicht verlassen und muss die nächsten Stunden bei ihr immer länger bleiben und beim Aufräumen helfen», seufzte ich und machte mich auf den Weg zu den Umkleidekabinen und damit zeitgleich zum Ausgang. «Aber du hast den Samstagnachmittag trotzdem frei?» «Ja, nach der Schülervertretung.» «Na dann steht unser Date noch. Ich lass mir etwas einfallen, wofür wir nicht vom Schulgelände müssen. Wir sehen uns spätestens bei der Sitzung.» «Gut», grinste ich. «Ich freu mich.» Damit legte ich auf und stopfte das Handy zurück in die Hosentasche, ehe ich zurück in unser Zimmer ging. Marta saß auf ihrem Bett und schnitt sich die Zehennägel, wobei die abgeschnittenen Stücke sich im ganzen Raum verteilten. Selbst das konnte mich im Moment nicht wirklich betrüben. Dennoch freute ich mich schon wahnsinnig auf den Tag, an dem sie abreisen würde. Nur noch vier Wochen. Am nächsten Samstag war ich zur Abwechslung mal richtig Feuer und Flamme auf die Schülervertretungssitzung. Das lag weniger an dem Ereignis selbst, als an dem, was danach kommen würde. Ich stand sogar eher auf als Star, um mich zu duschen und hübsch zu machen. Blöderweise mussten wir bei den Sitzungen auch die Schuluniform tragen, sodass ich zumindest outfittechnisch nicht auftrumpfen konnte. Ich gab mir dennoch Mühe, die Uniform so attraktiv wie nur irgend möglich zu gestalten, krempelte den Rocksaum oben zweimal um, steckte das weiße Hemd nicht IN den Rock (eine absolute Totsünde, wenn man mich fragte, aber eigentlich war das Pflicht) und ließ einen Knopf vom Hemd mehr auf, als erlaubt. Die Ärmel krempelte ich bis zu den Ellbogen hoch, sodass es einigermaßen passabel aussah. Ich schminkte mich und legte etwas Parfüm auf, ehe ich gemeinsam mit Star aufbrach in den dritten Stock. Alle anderen warteten bereits auf uns, weil wir mal wieder die Letzten waren. Auch Chip saß in einer Ecke und lächelte mich an, als ich den Raum betrat. Irritiert registrierte ich sein blau geschwollenes Auge, konnte aber nichts mehr dazu sagen, weil die Vorsitzende bereits angefangen hatte mit reden. Stattdessen lächelte ich also nur zurück und ließ mich mit Star auf die letzten beiden freien Plätze fallen. Die Sitzung zog sich ewig in die Länge und war so gähnend langweilig, dass ich einige Male fast weggeratzt wäre. Als unsere Vorsitzende, Franziska Pferdegesicht, tatsächlich zum Thema des

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skandalös hohen Toilettenpapierverbrauchs kam, konnte ich nicht länger an mir halten und verdrehte entnervt die Augen. Blöderweise bemerkte Pferdegesicht das auch noch und rümpfte die Nüstern. «Ja, Virginia, hast du irgendein Problem?!», fragte sie spitz. Ich konnte diese Frau nicht ausstehen. Sie war ein Jahrgang unter uns, total hochnäsig und arrogant, weil ihre Mutti ein halbes Vermögen zur Renovierung unserer Bibliothek gespendet hatte und sie damit in die Schülervertretung eingekauft hatte. Dadurch hatte sie irgendwie das blöde Gefühl, dass sie hier das Sagen hatte, und ging uns allen damit auf die Nerven. Ich war mir sicher, dass selbst Blondie und Dummchen, die immer wie ihr Hofstaat um sie herumscharwenzelten und ihr bei allem zustimmten, sie nicht ausstehen konnten. Blondie war intelligent und strebte eine Karriere als Model an, weswegen sie natürlich auf die Connections von Franzis Mutter hoffte, die als angesehene Schönheitschirurgin in Hollywood einige Größen kannte. Die andere war höchstwahrscheinlich einfach zu blöd, um eine eigene Meinung zu haben oder eine bestimmte Absicht zu verfolgen. Ich vermutete schlichtweg, dass sie von Franzis herrischer Art eingeschüchtert wurde. «Im Ernst jetzt, wir haben gerade beschlossen, ein Vermögen für die gerüschten Socken statt schlichter, einfacher Strümpfe auszugeben und da bleibt kein Geld mehr fürs Klopapier?!» Franzi rümpfte die Nase. «Du verstehst nicht, worum es dabei geht, Virginia», sagte sie in ihrem belehrenden Tonfall. «Die Uniform repräsentiert unsere Schule, daher sind selbst so kleine Details wie die Strümpfe elementar für das Image und das Prestige dieses Institutes. Klopapier interessiert keinen. Ich denke, da könnten wir einen großen Teil des Honorars kürzen.» «Ehrlich gesagt, finde ich es wesentlich elementarer, wenn ich auf dem Klo sitze und kein Papier mehr da ist, als Rüschen an den Füßen zu tragen, die sowieso an absolut jedem einfach nur lächerlich aussehen», konterte ich. «Und wenn du so um das Image besorgt bist, können wir ja auch Klopapier mit dem Schullogo drauf einstanzen lassen, damit man selbst bei jedem Toilettengang daran erinnert wird, dass wir die Schule repräsentieren. Dann traut sich bestimmt auch keiner mehr, laut zu furzen.» «Das finde ich super!», grinste nun Star. «Ich möchte mir bitte mit dem Schullogo zukünftig den Arsch abwischen. Wer ist dafür, dass wir das Budget der Rüschensocken lieber in das Klopapier investieren?!» Sie als Schulsprecherin hatte glücklicherweise auch noch etwas Autorität, sodass sie solche Abstimmungen einfach vornehmen lassen konnte. «Das ist absolut lächerlich und unverschämt», spielte sich nun Franzi auf. «Wenn der Gründer dieser Schule, Richard Elfenstein, davon wüsste, würde er sich im Grabe herumdrehen!» «Wenn der nur halb so verklemmt und spießig war wie du, dann bestimmt», stimmte ich ihr zu. «Aber vielleicht war der Typ ja viel cooler und hipper, als immer alle annehmen.» «Dass sie dich auf dieser Schule zugelassen haben, ist ein schlechter Witz», fauchte Franzi nun und warf sich ihre Pferdemähne aus dem Gesicht. «Du bist absolut inkompetent, geistig unterentwickelt und hast auf einem solch angesehenen Internat wirklich nichts verloren.» Jetzt wurde sie persönlich, das konnte ich auch. «Na, wie du ja selbst am besten wissen dürftest, wird hier jeder Vollidiot zugelassen, der nur genug Geld mit sich bringt, um die Schulgebühren blechen zu können. Und wenn dann jemand auch noch obendrauf einen Haufen Gold extra scheißt, wird er gleich als Vorsitzender der Schülervertretung eingestellt, obwohl er absolut nicht befähigt ist und keiner ihn richtig ernst nehmen kann.» Sie schnappte empört nach Luft. «Wie siehst du eigentlich aus?!», fauchte sie nun, weil ihr offenbar nichts Besseres mehr einfiel. «Du läufst rum wie eine Hure!»

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«Es reicht», sagte Star und sah mich warnend an, weil sie wusste, dass ich das nicht auf mir sitzen lassen würde. Ich musste mich nicht so beleidigen lassen, erst recht nicht von Pferdegesicht und besonders nicht vor Chip! «Wie kommt es eigentlich, dass deine Mutter zulässt, dass du mit so einem Gesicht herumläufst?», fragte ich und kreuzte die Arme vor der Brust. «Ist das nicht Rufmord, wenn ihre eigene Tochter aussieht wie ein alter Gaul?» Franzi sprang mit einem Kreischen auf und wollte sich auf mich stürzen, aber Star trat dazwischen und hielt die Furie fest. «Die Sitzung ist für heute beendet!», rief sie so laut sie konnte, um das Chaos zu übertönen. So richtig gelang es ihr nicht. «RUHE!», brüllte letztendlich Chip mit einer solchen Dominanz, dass schlagartig alle verstummten. «Wir vertagen die Klopapierdebatte auf die nächste Sitzung», sagte er dann. «Franziska, beruhig dich wieder! In deiner Position solltest du dich wirklich erwachsener benehmen und nicht solche absolut kindischen Beleidigungen äußern, das ist einfach nur unangebracht. Da musst du dich echt nicht wundern, wenn etwas auf gleicher Stufe zurückkommt.» Damit kam er zu mir und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. «Was?», maulte ich, weil der Vorwurf in seinen Augen deutlich zu lesen war. «Ich weiß, dass das albern war. Aber sie hat angefangen und ich lasse mich nicht ungehindert beleidigen.» «Ich weiß», sagte er und öffnete mir die Tür. «Gehen wir?» Erleichtert schlüpfte ich durch den Spalt, um dem jetzt wieder aufbrandenden Lärm zu entkommen. Als die Tür hinter uns zufiel, wurde es gleich wesentlich leiser auf dem Flur. «Tut mir leid», seufzte ich, weil ich irgendwie das Gefühl hatte, mich rechtfertigen zu müssen. «Mir nicht», grinste Chip. «Wir sind früher rausgekommen und ich bin auch ganz froh, wenn genügend Toilettenpapier vorhanden ist.» Ich musste loslachen. «Ich fass es immer noch nicht, dass sie das Geld dafür kürzen wollte. Was hätten wir stattdessen machen sollen, jedes Blatt dreimal verwenden?!» «Jetzt wird‘s richtig unschön», nickte Chip. «Apropos unschön», wechselte ich das Thema und deutete auf sein Auge. «Warst du in eine krasse Prügelei verwickelt oder was hast du gemacht?!» «So was in der Art», murmelte er und sah ausweichend zu Boden. «Wer war das?», hakte ich nach. «Und was genau ist passiert?» «Blöde Meinungsverschiedenheit, das ist alles», erklärte er schulterzuckend. «Ist halb so wild.» «Hast du zurückgeschlagen?» «Nein. Ich wollte keinen Ärger.» Wirklich nobel. So viel Anstand hatte ich nicht. «Wer war das? Dem trete ich gehörig in die Eier!» Chip lachte los. «Das weiß ich sehr zu schätzen, aber ich will auch nicht, dass du Ärger bekommst.» «Wieso meldest du es nicht? Dann könnte derjenige bestraft werden», schlug ich stattdessen also vor. «Gott Ginny, lass es einfach gut sein, okay?!», rief er verärgert. Ich zuckte kaum merklich zusammen. «Tut mir leid», seufzte er nun. «Ich will das Ganze nur einfach vergessen. Können wir einfach nochmal anfangen? So sollte unser Date wirklich nicht beginnen.» «Also gut», nickte ich. Chip schob mich zurück zur Tür. «Da bist du ja», grinste er dann und reichte mir seine Hand. «Bereit für unseren Ausflug?» «Aber unbedingt», lächelte ich und ließ mich von ihm mitziehen. «Wo geht es denn hin?»

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«Wir müssten dafür die Schulregeln brechen, wärest du da eventuell zu bereit?» Ich musste loslachen. «Das fragst du ernsthaft mich? Nichts wie los!» Wir gingen den Korridor entlang bis zu einer der vier Turmtreppen, die ich meistens nie benutzte, weil mein Zimmer zum einen direkt an der Haupttreppe lag und ich zum anderen die engen Wendeltreppen aus Stein teilweise etwas unheimlich fand. Doch wider meiner Erwartung steuerte Chip die Treppenstufen nach oben an, was für mich keinen so rechten Sinn ergab, da wir bereits im dritten Stock waren und meines Wissens danach auch kein Stockwerk mehr kam. «Äh», machte ich, doch Chip lächelte einfach nur breit. «Vertrau mir.» Er drückte meine Hand kurz und schulterzuckend ging ich neben ihm die Stufen nach oben. Dort angekommen befanden wir uns vor einer weiteren Tür. Fasziniert sah ich dabei zu, wie Chip die alte Holztür mit einem recht neuen Schlüssel in dem rostigen Schloss herumdrehte und ruckelte, bis es schließlich klickte und die Tür sich öffnen ließ. «Nach dir.» Chip hielt mir die Tür auf und neugierig trat ich in den runden Raum. Offenbar befanden wir uns jetzt in einem der Turmzimmer, die über das normale Dach hinaus reichten. Die Mauern waren unverputzt und der Wind pfiff durch die alten Fenster, aber es war wirklich richtig schön hier und offenbar hatte Chip sich allergrößte Mühe gegeben. Auf dem Boden lag eine Picknickdecke, es standen zahlreiche Kerzen im Raum verteilt, es gab etwas zu Essen und zu trinken. «Wow», hauchte ich, weil das so ziemlich das erste richtige Date war, das ohne prollige Witze und Bierflaschen stattfand. «Das ist absolut fantastisch.» Gut gelaunt drehte ich mich zu Chip um. «Wahnsinn, wie hast du diesen Raum gefunden? Und wie bist du an den Schlüssel gekommen?» «Ich musste letztes Jahr hier Strafarbeit verrichten und das ganze Gerümpel entmisten, das hier rumstand», erklärte er und deutete auf das alte Klavier, das noch an einer Wand stand. «Einige wenige Sachen waren aber wirklich schön. Jedenfalls dauerte die Aufgabe mehrere Wochen und man gab mir den Schlüssel, damit ich nicht jedes Mal von einem Aufseher begleitet werden musste. Also habe ich mir einen Zweitschlüssel anfertigen lassen.» Er zuckte beiläufig mit den Schultern. «Hier oben kommt sowieso nie irgendjemand hin und ich habe einen Ort, an dem ich mich ungestört zurückziehen kann.» «Das ist wirklich cool.» Ich fuhr mit den Fingern über einen alten Lehnsessel, der schon einige Jahrhunderte hinter sich haben musste. Früher war er sicherlich mal ein wahres Prachtstück gewesen. Das Gold blätterte jedoch vom Holz und die samtigen Polster waren verfärbt und stockig. «Ich glaube die ganzen Sachen stammen noch aus der Zeit, bevor das Gebäude eine Schule wurde. Siehst du das da? Das ist ein Beichtstuhl.» Chip deutete auf das große hölzerne Bauwerk links von mir. Interessiert trat ich darauf zu. «Wie viele Geheimnisse hier drin wohl ausgeplaudert wurden?», grinste ich. «Unmengen, vermutlich.» Chip beobachtete mich interessiert, während ich den Raum entlang schritt. «Weißt du, was in den anderen Türmen ist?», fragte ich dann, da es immerhin vier davon gab. «Nein, keine Ahnung. Ich musste nur diesen hier entrümpeln. Ich vermute, sie sehen ähnlich aus. Der Schlüssel passt auch leider nur für diese Tür, ich hab die anderen schon ausprobiert.» «Immerhin!», rief ich. «Das ist doch schon total geil. Ich bin ein bisschen neidisch.»

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«Dabei hast du das Beste noch gar nicht gesehen», grinste Chip und ging zu einer kleinen Tür, die ich zuvor noch gar nicht bemerkt hatte. Sie war nicht verschlossen, offenbar hielt das keiner für notwendig, da ja der Raum davor schon verriegelt war. Die Holztür schliff über den Boden und ließ sich nur schwer aufdrücken und dahinter wehte mir ein kalter Wind entgegen. Chip half mir eine Treppenstufe hoch und fasziniert sah ich auf das Dach unserer Schule und die umgrenzende Wildnis. «Wahnsinn.» Gefesselt trat ich auf das Dach hinaus und sah in die Ferne. Man konnte sogar den Kirchturm von Lingen in der Ferne erahnen. «Gefällt‘s dir?», fragte Chip, der hinter mir aufs Dach getreten war. «Gefallen ist gar kein Ausdruck!», rief ich und drehte mich zu ihm herum. «Das ist absolut der Oberhammer!» «Gut.» Er grinste zufrieden. «Wollen wir wieder reingehen oder willst du lieber hier draußen noch ein bisschen sitzen? Man darf allerdings nicht zu nah an die Balustrade, sonst riskiert man, erwischt zu werden.» Ich strich über eine der alten Steinspitzen, die uns vom Abgrund trennten. «Wieso gibt es diese Zinnen?» «Ich glaube, das Kloster hat in Angriffssituationen auch als Festung gedient.» Chip zuckte mit den Schultern. «Das Gebäude ist ja schon uralt.» «Chip?», fragte ich und trat näher an ihn heran. Er zog bloß fragend die Augenbrauen hoch, was ich irgendwie sehr an ihm mochte. «Darf man beim ersten Date schon küssen oder ist das noch nicht vorgesehen?», witzelte ich und umfasste seinen Nacken. Chip lachte los. «Ich fürchte, offiziell ist bloß ein Abschiedskuss am Schluss genehmigt.» «Dann beenden wir hiermit offiziell das erste Date und kehren über zum Zweiten», schlug ich vor und näherte mich seinem Mund. Dieser verzog sich zu einem Grinsen. «Ich mag es, dass du immer nach deinen eigenen Regeln lebst und nie nach denen anderer», flüsterte er, ehe er mich zu sich zog und küsste.

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Kapitel 11 Mit Chip war alles irgendwie sehr unkompliziert. Wir verstanden uns prima, er konnte wirklich gut küssen und ich musste nur noch sehr selten an Menschen denken, an die ich nicht denken wollte. Wir verbrachten die Nachmittage oft gemeinsam in einem der Seminarräume, wo Chip für seine bevorstehenden Prüfungen ackerte, während ich mir Klatschmagazine durchlas oder mir die Nägel neu lackierte. Nur selten schlichen wir uns nach oben in den Westturm, weil wir nicht riskieren wollten, erwischt zu werden und unser Versteck dann gestorben wäre. Ich saß gerade neben Chip im Speisesaal am Abendessen, als Star aufgeregt zu mir kam. «Ginny! Nur noch eine Woche!» «Was?», fragte ich irritiert, weil ich keine Ahnung hatte, wovon sie redete. «Nur noch zwei Wochen, bis Marta zurück in ihr bulgarisches Dreckskaff kehrt und wir Lisa Arschkuh wieder haben!» «Das sollten wir feiern», nickte ich, weil ich jeden Anlass für eine gute Party fand. «Wir könnten uns am Wochenende mal wieder rausschleichen.» «Klingt nach einer hervorragenden Idee», grinste Star, machte einen albernen Knicks und verschwand dann wieder. Chip zog fragend die Augenbrauen hoch. «Wenn du willst, kannst du mitkommen», schlug ich also vor. Er lachte los. «Nein danke, klingt nach einem Mädchenabend. Und hinterher hält Star uns noch für siamesische Zwillinge. Außerdem hab ich meinen Zimmergenossen versprochen, das ganze Wochenende mit ihnen durchzuzocken.» «Echt jetzt?», fragte ich grinsend. «So eine richtig nerdige Lan-Party?» «Heutzutage geht das alles wireless», witzelte er. «Aber ja. Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht.» «Auch gut, dann geh ich allein mit Star.» Ich stand auf und griff nach meinem vollen Teller, weil unser Englischlehrer just in diesem Moment den Raum betrat. «Ich hab keinen Hunger, ich werd nach oben gehen. Wir sehen uns morgen?» «Auf jeden Fall», lächelte Chip und ich gab ihm noch einen flüchtigen Kuss, ehe ich den Teller lieblos auf die Rückgabestelle donnerte und aus dem Raum hastete. Star und Alexa kamen kurz nach mir ins Zimmer und wir verbrachten den Abend gemeinsam damit, Marta dabei zuzugucken, wie sie eine Dose Katzenfutter auslöffelte. «Wieso genau … tut sie das?», fragte ich leise und starrte fasziniert auf den gräulich glatten Klumpen auf ihrem Löffel. Star saß neben mir auf meinem Bett und zuckte bloß mit den Schultern. «Keine Ahnung, frag sie.» «Frag du sie», zischte ich zurück. Alexa lachte los. «Hey, Marta. Schmeckt das?» «Es geht», erwiderte unsere Zimmergenossin. «Aber es ist guter Fleisch, viel besser, als was sie hier uns geben.» «Da hast du‘s», grinste Star und mimte dann ihren Akzent nach. «Es ist guter Fleisch.» «Gott, das stinkt bis hierher», knurrte Alexa, die auf dem Boden neben meinem Bett hockte. Sie traute sich nicht näher an ihr eigenes Bett heran, weil Marta auf dem daneben saß und ein paar Katzenfutterbrocken auf dem Fußboden verteilte. «Du willst probieren?», fragte sie doch allen Ernstes und hielt uns die Dose entgegen. «Äh», machte ich. «Nein, danke. Aber Star hätte bestimmt gerne etwas.»

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Ich bekam einen Ellbogen in die Rippen gestoßen, aber das hielt mich nicht davon ab, trotzdem gemeinsam mit Alexa loszulachen. Nachdem Marta aufgegessen hatte und die leere Dose unter ihr Bett geschoben hatte (ich wollte gar nicht wissen, was sich da schon alles so angesammelt hatte), konnten wir dann auch endlich zu Bett gehen. Blöderweise hatte ich jetzt, nachdem der penetrante Geruch wieder verflogen war, richtig Hunger. Ich hatte beim Abendessen ja quasi nichts gegessen und mein Magen knurrte laut auf. «Gott Ginny, vielleicht hättest du doch etwas Katzenfutter nehmen sollen», murmelte Star verschlafen von ihrem Bett aus. Ich musste grinsen. «Tut mir leid, ich hab echt Hunger!», flüsterte ich zurück, weil von Alexa bereits leises Schnarchen zu hören war. «Haben wir noch irgendwo Chips rumfliegen?» «Ich glaube nicht», seufzte Star und drehte sich zur anderen Seite um. Ein weiteres Magengrollen ließ mich aufstehen. «Ich geh und such in der Küche nach was Essbarem», wisperte ich Star zu, damit sie sich keine Sorgen machte. «Nimm die leere Dose mit, die müffelt immer noch», bat sie mich. Seufzend griff ich also unter das Bett von Marta, fasste erst in etwas ekelig Matschiges und bekam Gott sei Dank direkt danach die kalte Blechbüchse zu fassen. Ich eilte aus dem Raum und lauschte angespannt, ob von irgendwo Schritte zu hören waren. Da das nicht der Fall war, lief ich die Treppe hinunter und durch die Eingangshalle, um in die Küche zu lugen. Blöderweise war die Tür verschlossen, sodass ich mit dem scharfkantigen Deckelrand der Dose am Türschlitz entlangfuhr und mit einigen Mühen tatsächlich Erfolg hatte. Triumphierend öffnete ich die Tür und schlich mich in die Küche. Ich knipste das Licht an und brauchte einen Moment, um mich daran zu gewöhnen. Es war das erste Mal, dass ich in der Küche war. Sie war wirklich riesig groß und sah ehrlich gesagt ziemlich versifft aus. Es lagen ein paar gammelige Gemüsereste auf dem Boden, der Herd sah aus, als wäre er seit Jahren nicht mehr gewaschen worden und an einer Ecke an der Wand erahnte ich sogar einen dunkelgrauen Schimmelfleck. «Ieuh!», machte ich und rümpfte die Nase. Mein Hunger war dennoch so groß, dass ich einen der Schränke öffnete und auf jede Menge Dosen Ravioli blickte. Ich zog eine davon hervor und begutachtete sie näher. Das Datum war bereits vor vier Monaten abgelaufen. Ich wollte meinem Ekel gerade erneut Ausdruck verschaffen, als ich hinter mir irgendwo eine Tür zufallen hörte und dann Schritte auf dem Gang. «Scheiße», murmelte ich und sah mich hilfesuchend nach einem zweiten Fluchtweg um. Das Licht in der Küche würde mit Sicherheit nicht unbemerkt bleiben. Ich eilte schließlich zu einem der Fenster und rüttelte daran. Das Dritte lies sich letztlich öffnen und ich schlüpfte hinaus in die Kälte. Ich zog das Fenster hinter mir zu und beobachtete unauffällig, wie ausgerechnet Jack die Tür zur Küche öffnete und hineinlugte. Stirnrunzelnd durchquerte er den ganzen Raum und ich duckte mich eilig, als sein Blick in meine Richtung schweifte. Er stand direkt vorm Fenster und sah hinaus, während ich mich so klein wie möglich machte und an die Wand kauerte, sodass er mich gerade so nicht bemerkte. Mit einem Wums schloss er das Fenster, kurz darauf ging das Licht aus. «Doppelt Scheiße», kommentierte ich, weil ich jetzt ausgesperrt war. Ich tapste barfuß über den kalten, feuchten Rasen um das große Gebäude herum, schmiss die Dosen über den Zaun, ehe ich selbst darüber kletterte und schließlich damit bis zu unserem Zimmer lief. Ich konnte bloß hoffen, dass Star immer noch nicht ganz eingeschlafen war, ansonsten würde ich die Nacht wohl

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draußen verbringen. Und es war wirklich arschkalt. Meine Zehen fingen schon an, schmerzhaft zu stechen. Ich warf die leere Blechbüchse gegen das Fenster, weil ich Angst hatte, mit der vollen Dose das Glas kaputtzumachen. Oben konnte ich schemenhaft Bewegung wahrnehmen, ehe das Licht anging und das Fenster geöffnet wurde. «Gott, Ginny hast du mich erschreckt!», zischte Star von oben. «Was zur Hölle machst du da draußen?!» «Es kam jemand, da bin ich aus dem Fenster geflüchtet», raunte ich zurück. «Aber der dämliche Mr. Langley hat es zugemacht und jetzt komm ich nicht mehr rein!» «Alter eh, wie du das immer hinkriegst!» Sie sah mich fassungslos an. «Und jetzt? Soll ich ein Bettlaken raushalten und dich hochziehen?» «Das könnte funktionieren», überlegte ich. Star grinste schief, verschwand kurz und kam kurz darauf wieder mit einem ihrer sauberen Bettlaken. Es reichte fast ganz bis zum Boden. Immerhin. Ich griff danach und versuchte mich daran hochzuziehen, aber sowohl ich als auch Star waren eindeutig zu schwach dafür. «Versuch es an der Ecke», schlug sie vor und deutete an die Wandkante, die neben unserem verlief. Ich setzte einen Fuß an dem Stein an, rutschte aber beim ersten Sprungversuch wieder ab. «Ich will unseren Baum wieder», maulte ich, nachdem ich mir das Bein an der Wand aufgeschrappt hatte und rücklings zu Boden gefallen war. «Ja, nicht nur du», seufzte Star und strich sich die Haare aus der Stirn. «Was sollen wir denn jetzt machen? Soll ich Mr. Langley holen?» «Nein, auf keinen Fall!», rief ich, weil ich alles wollte, außer Jack zu sehen. Da würde ich doch noch eher die Nacht hier draußen verbringen. «Scheiße Ginny, du erfrierst noch!» Star sah besorgt zu mir runter. «Komm schon, der ist Vertrauenslehrer und so. Der wird dich schon nicht allzu hart bestrafen.» «Scheiße nochmal!» Ich trat gegen die Wand und griff die Dosen fester. Ein Stich durchfuhr meine Hand und ich stellte fest, dass ich mich auch noch an der scharfen Dosenkante geschnitten hatte. «Keine Widerrede, ich geh ihn holen. Du verstümmelst dich noch selbst, so begabt, wie du bist.» Damit verschwand Star vom Fenster wieder und ich hüpfte von einem Bein aufs andere, während ich mich seelisch auf den bald folgenden Zusammenstoß vorbereitete. Mir war schlecht und meine Hände zitterten leicht, sodass ich die Dosen fester umgriff, um meine Finger stillzuhalten. Etwas Blut lief mir an der linken Hand hinab und tropfte zu Boden, aber ich ignorierte es. Kurze Zeit später tauchte Star wieder im Fenster auf. «Er kommt jetzt und er hat mir befohlen, umgehend zurück ins Bett zu gehen. Wir sehen uns gleich, ja? Ich drück dir die Daumen, dass es nur Nachsitzen wird.» Damit schloss sie das Fenster, was mich noch mehr zum Zittern brachte. Mir wäre es deutlich lieber gewesen, wenn sie dabei gewesen wäre. So war ich auf mich allein gestellt. Und ich war das erste Mal seit Ewigkeiten wieder mit ihm allein. Ich hörte seine Schritte und sah schließlich auch seinen Schatten, der vor mir zum Stehen kam. Ich roch sogar sein verdammtes Parfüm. «Sollte ich wissen wollen, wieso du mit zwei Dosen mitten in der Nacht hier draußen stehst?», fragte er. «Das ist nur Abfall», murmelte ich und hob die offene Dose hoch. «Und das ist Beweismaterial.» «Beweismaterial», wiederholte er. «Und wofür genau?»

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«Egal.» Ich klammerte mich jetzt mit ganzer Kraft an die blöden Büchsen. «Können Sie bitte einfach die Eingangstür aufschließen und mir eine Strafarbeit aufgeben?» «Ginny …» Es war dieser Tonfall, der mich innerlich zusammenbrechen ließ. Und das Schlimmste daran war, dass er mich nicht verletzte oder mich kränkte, sondern dass ich diesen besorgten Klang so wahnsinnig vermisst hatte. Er gab mir das Gefühl, dass ich ihm nicht egal war. Dass ich ihm auf irgendeine Art etwas bedeutete. Aber vermutlich war das bloß Einbildung und es klang bei jedem Lehrer genauso. «Ginny, sieh mich an», sagte er jetzt und kam näher. Ich reagierte nicht und konzentrierte mich auf das Metall in meiner Hand. «Ginny, bitte sieh mich an!» Seine Stimme klang flehendlich, und ohne, dass ich es wirklich wollte, hob ich den Kopf und sah ihm in die kristallblauen Augen. Er sah müde aus und sein Gesicht wirkte angespannt. Aber er sah immer noch aus wie er. «Es tut mir leid», sagte er nun, während er mir direkt dabei in die Augen blickte. «Ich wünschte, das wäre alles anders gelaufen. Ich finde es unerträglich, wie du mich ignorierst. Aber ich versteh, dass das deine Art ist, um mich zu bestrafen.» Ich runzelte irritiert die Stirn. «Ich will dich nicht bestrafen», sagte ich und blinzelte. Dass er meine Ignoranz als Strafe empfand, war seltsam. In mehrfacher Hinsicht. «Dann bitte - hör damit auf», sagte er nun und sah mich ernst an. Ich schnitt eine Grimasse. «Du siehst aus wie ein Zombie, hast du die letzten Wochen jede Nachtschicht übernommen?» «Fast jede», lächelte er erleichtert. «Und was genau hast du mit dem Katzenfutter gemacht?» «Das ist guter Fleisch», erklärte ich in Martas osteuropäischem Akzent. Jack zog fragend eine Augenbraue hoch und ich musste grinsen. «Unsere Mitbewohnerin hat es gegessen, war ziemlich ekelig.» «Du veräppelst mich doch», sagte er und jetzt war ich diejenige, die die Augenbrauen hochzog. «Ehrlich mal, aus welchem Jahrhundert stammst du eigentlich?! Das heißt verarschen oder meinetwegen auch noch verscheißern, aber veräppeln sagt maximal noch meine Oma!» Jack lachte los. «Wie wäre es, wenn wir reingehen? Es ist wirklich kalt hier draußen.» «Sagte er dem Mädchen ohne Schuhe im Pyjama», konterte ich und lief voran, weil ich Angst um meine Zehen hatte. Dort angekommen verriegelte Jack die Eingangstür hinter uns wieder. «Wieso hast du mich eigentlich nicht angerufen? Ich hab dir extra meine Nummer gegeben, damit du dich in Notfällen meldest.» «Sieht der Schlafanzug so aus, als ob man darin irgendwo ein Handy verstecken könnte?», spottete ich, um ihm nicht die Wahrheit sagen zu müssen. Jack seufzte auf und fing an, an seinem Schlüsselbund herumzufingern. «Ich bin die nächsten Tage nicht in der Stadt, bin auf einer Fortbildung.» Er hielt mir einen Schlüssel entgegen. Völlig fassungslos starrte ich darauf. «Ich will nicht, dass du bei dieser Kälte draußen übernachten musst», erklärte er. «Und da ich mir auch ziemlich sicher bin, dass ich dich nicht davon abhalten kann, dich rauszuschleichen, scheint mir das die einzige Lösung. Lass dich nicht erwischen und schließ auf jeden Fall hinter dir wieder ab!» Fasziniert glotzte ich auf den kleinen silbrigen Schlüssel in seiner Hand. Ich konnte es kaum glauben. Den wollte er mir wirklich anvertrauen? War ihm eigentlich klar, was passieren würde, wenn das raus kam? Damit riskierte er seine gesamte Laufbahn als Lehrer. Ob ihm das bewusst

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war?! «Jack …», setzte ich an, aber er unterbrach mich. «Ich vertraue dir, Ginny. Nun nimm ihn endlich.» Ich reichte ihm die leere Dose und nahm stattdessen den Schlüssel entgegen. «Was hast du an deiner Hand gemacht?», fragte mein Englischlehrer prompt, als er das Blut daran entdeckte. «Geschnitten», erklärte ich, immer noch auf den Schlüssel fokussiert. Jack seufzte auf. «Schlimm?» «Nein, nur ein Kratzer.» «Reinige es und kleb ein Pflaster drauf, ja?» «Aber natürlich, Sir», grinste ich und sah jetzt wieder ihn an. «Geh schlafen», lachte Jack und verschwand mit der leeren Büchse kopfschüttelnd in einen der Korridore. Ich selbst schmiss die Ravioli in den Mülleimer, ehe ich mich auf den Weg zurück in unser Zimmer machte. Star war bereits wieder eingeschlafen, also legte auch ich mich zurück ins kaltgewordene Bett und kuschelte mich eng ein. Am nächsten Wochenende bereiteten Star und ich alles für unseren abendlichen Ausflug vor. Natürlich wollte Alexa nicht mitkommen. Ich hatte keine Ahnung, warum sie manchmal solche Anfälle von Spießigkeit hatte, ich ging stark davon aus, dass es etwas mit ihren ziemlich strengen Eltern zu tun hatte, die sie letztes Jahr bereits kurzfristig von der Schule genommen hatten und die mit Sicherheit nicht lange zaudern würden, sollte ihnen irgendein Ungehorsam ihrer Tochter zu Ohren kommen. Daher konnte ich es ihr auch nicht wirklich übel nehmen, auch wenn es schade war, dass sie nie dabei war. Marta war damit beschäftigt, ihr Bett vollzudrecken (Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie wir das jemals wieder sauber bekommen würden, wenn sie weg war. Vielleicht sollten wir die ganze Zimmerhälfte einfach wegbomben.) während Star und ich die Kleiderschränke durchwühlten. «Ihr gehen feiern?», fragte sie doch allen Ernstes. Hinterher wollte sie noch mit oder so. «Äh», machte ich und sah hilflos zu Star rüber, in der Hoffnung, ihr würde eine Ausrede einfallen. Diese zuckte bloß mit den Schultern. «Ja. Komm halt mit, wenn du willst.» War die Frau lebensmüde? Wenn der dummen Austauschschülerin irgendwas passierte, dann würde uns dafür das Leben zur Hölle gemacht! «Okay», grinste Marta und zog etwas aus ihrem Koffer, das bei uns nicht mal mehr Nutten angezogen hätten. Na damit würden wir bestimmt nicht auffallen. In Lingen. Ich starrte entgeistert auf ihre Titten, die sie irgendwie in viel zu wenig Stoff quetschte und zurechtrückte. «Du wirst doch nicht lesbisch, oder Ginny?», fragte Star amüsiert und stupste mich an. Ich wandte mich irritiert ab und schüttelte den Kopf. «Äh, ne. Ganz bestimmt nicht.» Ich zog mir ein grünes Top über und zerzauste mir die Haare. Es war sowieso völlig egal, was ich trug, wenn ich neben Marta ging, weil mich kein Mensch beachten würde. Es sei denn, ich würde nackt gehen. Um kurz nach zehn machten wir uns auf den Weg. Der Weg bis zur Eingangstür war frei und unbewacht. Angesichts der Tatsache, dass Marta nicht sonderlich gut darin war, leise zu gehen oder sich unauffällig zu verhalten, hatten wir wirklich Glück und konnten unbemerkt aus der Schule kommen, ehe wir losrannten, um möglichst schnell zur Bushaltestelle zu gelangen. Marta

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schlenderte gemütlich hinter uns her, vermutlich konnte sie nicht schneller gehen, weil dann ihre riesigen Ballons vorne aus ihrem Oberteil geplumpst wären. Star bequatschte also den Busfahrer, damit er noch eine Minute wartete, während ich draußen stand und Marta versuchte, dazu zu bewegen, ein wenig schneller zu gehen. Aber das war vergeudete Mühe. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie dann endlich auch die Haltestelle und wir konnten abfahren. Komischerweise war das Ausgehen mit Marta weniger anstrengend, als ich erwartet hatte. Vielleicht lag es daran, dass sie sich nicht sonderlich viel mit uns beschäftigte. Wir saßen zwar an demselben Tisch in der Bar, aber sie hatte sich von uns abgewandt. Es sah ähnlich aus, wie eine Raubkatze, die gerade auf Beutezug war und auf der Pirsch lag. Sobald sich die Gelegenheit ergeben würde, würde sie mit einem Satz auf und das begehrte Objekt anspringen. Bisher hatte sich offenbar kein geeigneter Kandidat dafür gezeigt, jedenfalls saß sie immer noch neben uns und ignorierte uns diskret. «Wieso genau hast du gefragt, ob sie mit will?», fragte ich Star nochmal, weil ich in der letzten Stunde erst drei Anspielungen diesbezüglich gemacht hatte. Sie schnitt eine Grimasse. «Ist ja gut, Ginny! Es kam halt einfach so aus mir raus, dir ist ja auch keine Ausrede eingefallen. Außerdem tut sie ja schließlich nichts, das ist quasi genau so, wie wenn wir alleine unterwegs sind.» «Bis auf die Tatsache, dass alle Leute herglotzen, weil sie rumläuft wie eine Prostituierte», stimmte ich zu und nahm noch einen Schluck von meinem Bier. «Sei doch froh, dadurch wenden sich die ganzen Spacken automatisch an sie und nicht an uns», grinste Star. Ich musste loslachen. «Auch wieder wahr.» Als hätte es jemand gehört, kam just in diesem Moment ein großer Kerl zu uns an den Tisch und grinste Marta mit einem süffisanten Kaugummikauen an. «Du bist hässlich. Verpiss dich», schoss es aus ihrem Mund, noch ehe der Typ etwas hätte sagen können. Völlig verblüfft starrten wir sie an. So unhöflich war ja nicht mal ich, wenn ich eine Abfuhr erteilte. Mal abgesehen davon, dass er Kerl auch ein klein wenig bedrohlich auf mich wirkte. Da wäre ich eher vorsichtiger gewesen. Man musste ja nicht gleich übermütig werden. «Entschuldige?», fragte er nun und sah ähnlich ungläubig aus wie wir. «Sprichst du mit mir?!» «Du nicht richtig hören?!», schnauzte sie und rückte ihre Titten zurecht. «Geh mir aus Bild, andere Leute mich so nicht sehen können.» «Äh», machte ich, weil der Typ bereits die Fäuste ballte. «Entschuldige, sie kommt nicht von hier, sie weiß nicht, was sie da redet! Wir wollten eh gerade gehen.» Ich stand auf und riss Marta unsanft mit hoch, damit wir uns an dem großen Kerl vorbeischieben konnten, ehe wir morgen noch der Direktorin erklären mussten, wie unser «Schützling» ein blaues Auge bekommen hatte. «Was du tust?!» Marta sah mich wütend an, als wäre es meine Schuld, dass sie geistesgestört war. «Da war guter Mann, der mich gerad gesehen!» «Ah ja. Der hätte dich auch nicht gerettet, wenn der Fettsack da eben dich zu Brei geschlagen hätte.» Hilfesuchend sah ich zu Star rüber. «Was meinst du, sollen wir noch in eine andere Kneipe oder können wir schon in die Disko starten?» «Ist noch ein wenig früh, aber dann ist es wenigstens noch nicht so voll dort», war Star einverstanden und wir machten uns gemeinsam auf den Weg zu der einzig halbwegs akzeptablen Diskothek in Lingen. Wirklich cool war sie auch nicht, aber an manchen Abenden lief ganz passable Musik und man hielt es dort ein paar Stunden aus.

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Natürlich war um diese Uhrzeit noch keine Schlange vor dem Club, obwohl Musik und Rauchschwaden bereits durch die Tür zu uns durchdrangen. Marta marschierte einfach so hindurch und ließ sogar Star für sie den Eintritt bezahlen. Unfassbar. «Hey, kann ich mal deinen Ausweis sehen?» Einer der Türsteher beäugte mich schräg. «Na klar», sagte ich und grub in meiner Tasche herum, in der Hoffnung, dass die Masche mit dem vergessenen Portmonee zog. In Berlin hatte es das ein oder andere Mal funktioniert. «Ach scheiße, ich hab mein Portmonee verloren», maulte ich nun und Star sah mich genervt an, so wie wir das geprobt hatten. «Echt jetzt?! Das ist jawohl nicht dein Ernst, oder?» «Tut mir leid», sagte nun der große Kerl in Bomberjacke. «Ohne Ausweis kein Einlass.» «Können Sie nicht eine Ausnahme machen?», fragte ich und setzte mein Bambigesicht auf. «Ich bin wirklich schon 18, ich bin ständig hier!» «Ach tatsächlich? Und wieso erinner ich mich dann nicht an dich?» «Weil wir uns nicht jedes Wochenende aus der Schule schleichen können», antwortete Star. Sie war wirklich keine Hilfe. «Darf ich deinen Ausweis auch nochmal sehen?», fragte der Typ nun, skeptisch geworden. Blöderweise war Star ja schon volljährig und hatte daher keine Probleme, sich auszuweisen. «Hey ihr beiden!» Der Mitbewohner von Andi, mit dem Star sich so gut verstanden hatte, trat an uns vorbei und bezahlte den Eintritt. «Sehen wir uns gleich drinnen?» «Klar, bestell mir schon mal ein Bier», grinste Star, ehe er mit ein paar Freunden in der Dunkelheit verschwand. «Du kannst rein, deine Freundin nicht», sagte nun der Türsteher und winkte Star zu. «Bitte!», flehte nun auch Star. «Sie ist wirklich schon 18!» «Tut mir leid. Und jetzt macht Platz, es wollen noch andere Leute rein.» «So ein Dreck. Ich geh Marta holen und ihr sagen, dass wir woanders hingehen, ja?», seufzte Star nun und sah sehnsüchtig zur Tür. «Nein, schon okay, Star. Wirklich. Geh und hab einen schönen Abend, ich bin sowieso total müde. Mach mich lieber auf den Heimweg.» «Ich lass dich bestimmt nicht alleine zurück», sagte sie nun. Ich schnitt eine Grimasse. «Andis Freund wartet auf dich, Süße. Ich nehme auch ein Taxi, versprochen. Und ich schreibe dir, sobald ich angekommen bin, ja? Pass bloß auf Marta auf, dass die uns keinen Ärger einbrockt.» «Wirklich?», fragte sie und biss sich auf die Unterlippe. Sie war hin und hergerissen. «Na klar, alles gut! Wir sehen uns morgen.» Ich drückte sie kurz an mich und schubste sie dann sanft in Richtung Eingang, damit sie es sich nicht nochmal anders überlegte. Anschließend machte ich mich auf den Weg Richtung Schule. Entgegen meiner Aussage war ich alles anderes als müde und der nächste Bus fuhr erst in vier Stunden wieder. Da mir ein Taxi zu teuer war, beschloss ich zu laufen. Das klang zwar idiotisch, aber irgendwie brauchte ich gerade frische Luft und Bewegung und ,da ich mein Pfefferspray in der Jackentasche hatte, hatte ich auch keine Angst oder so. Ich ging zuerst gemächlich, dann immer schneller, bis ich irgendwann in einen leichten Lauf verfiel. Tatsächlich machte es richtig Spaß über den dunklen Asphaltweg zu laufen, während um mich herum nach und nach immer weniger Lichter zu sehen waren. Ein Glück war der Mond in dieser Nacht so hell, sonst hätte ich vermutlich gar nichts mehr gesehen.

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Irgendwann überkam mich das ungute Gefühl, dass mich irgendjemand verfolgte, sodass ich noch einmal beschleunigte. Ich brauchte über zwei Stunden bis zur Schule und kam etwas erschöpft aber auch irgendwie zufrieden mit mir selbst vor der Eingangstür zum Stehen. Ich atmete einige Male tief ein und wieder aus, ehe ich den Schlüssel von Jack aus der Tasche zog und an der Tür lauschte. Von drinnen war nichts zu hören und das Licht in der Eingangshalle war ebenfalls aus, sodass ich gefahrlos aufschließen konnte. «Das ist jawohl nicht wahr!», ertönte eine Stimme hinter mir und erschrocken fuhr ich zusammen. Da stand mein ganz persönlicher Alptraum leibhaftig vor mir und starrte auf mich hinunter. Keine Ahnung, was Frau Hartmann um diese Uhrzeit hier draußen trieb. Es war sogar gut möglich, dass sie sich nur hier draußen herumgetrieben hatte, um endlich eine Gelegenheit zu finden, um es mir heimzuzahlen. Aber das spielte alles keine Rolle. Denn genau in diesem Moment hatte sie mich. Und ich war so gut wie tot. Schlimmer noch. Nicht nur ich. «Scheiße», brachte ich als Einziges zu Stande. Mir fiel nichts ein. Keine Ausrede, keine Hasspredigt, die sie genug verwirrte, um mich in Ruhe zu lassen, nicht einmal ein blöder Kommentar zu ihrem lächerlichen Hut. Ich war absolut am Arsch. «Woher hast du diesen Schlüssel?!» Sie packte mich grob an der Schulter und schleifte mich mit sich in die Eingangshalle. Das Licht sprang durch die Bewegungsmelder an und erhellte den leeren Saal. «WOHER?!» «Ich … Ich hab ihn gefunden!», log ich. Sie war schon wieder knallrot im Gesicht. «LÜG MICH NICHT AN!», brüllte sie nun und zog mich durch die Halle. «Wessen Schlüssel ist das?!» Mir zitterten tatsächlich die Knie, weil ich keinen Ausweg wusste. Sie würden es sowieso herausfinden. Jeder Lehrer hatte seine eigene Schlüssel. Und es gab nur einen, der momentan keine mehr besaß. «Mr. Langleys», hauchte ich und merkte, dass auch meine Stimme brach. «Gib ihn mir!» Sie hielt ihre riesige Godzillahand vor mein Gesicht. Es kostete mich meine ganze Selbstbeherrschung, um meine Finger ruhig zu halten, während ich den Schlüssel in ihre Handfläche fallen ließ. «Oh, das hat Konsequenzen!» Sie schien sich auf eine diabolische Art und Weise richtig zu freuen. «Fred kommt morgen früh zurück, sobald er im Hause ist, wird eine Disziplinarsitzung gegen dich berufen. Und jetzt geh sofort auf dein Zimmer und wage es ja nicht, noch einmal heute Nacht daraus hervorzukommen!» Sie schubste mich in Richtung Treppe und ich hastete so schnell ich konnte die Stufen hoch, einfach nur, um aus ihrer Sichtweite zu kommen. Alexa schlief friedlich in ihrem Bett, aber ich konnte nicht auch nur ans Schlafen denken. Wie eine Verrückte lief ich im Zimmer auf uns ab und überlegte mir allmögliche Auswege. Aber so sehr ich mich auch anstrengte, mir fiel nichts Gescheites ein. «Scheiße», murmelte ich erneut, ließ mich auf dem Sofa fallen und zog zitternd mein Handy aus der Hosentasche. Ich scrollte durch die Nummernliste und hielt bei Jacks Namen an. Vermutlich würde ich ihn wecken und er ahnte noch nichts von dieser ganzen Katastrophe. Ich würde ihn um eine schlaflose Nacht bringen und, so wie ich ihn einschätzte, würde er noch im selben Moment aufbrechen und zurückkommen. Ich drückte die Nummer wieder weg und schmiss mein Handy neben mich auf das Sofa. Nervös trippelte ich mit den Füßen auf dem Boden und vergrub das Gesicht in den Händen. Es gab keinen Ausweg aus dieser Nummer, so viel war klar. Aber ich würde nicht zulassen, dass ich Jack mit in den Abgrund riss.

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