Vereinheitlichung und Differenzierung im Widerstreit

Helmut Engelbrecht Vereinheitlichung und Differenzierung im Widerstreit Österreichische Schulpolitik vom 18. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenw...
Author: Valentin Engel
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Helmut Engelbrecht

Vereinheitlichung und Differenzierung im Widerstreit Österreichische Schulpolitik vom 18. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenwart

Helmut Engelbrecht

Vereinheitlichung und Differenzierung im Widerstreit Österreichische Schulpolitik vom 18. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenwart

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Umschlaggestaltung: www.b3k-design.de Satz: Peter Sachartschenko Druck: CPI buch bücher.de

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Inhalt 1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 2  Folgenreiche Weichenstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  12

2.1  Scheitern eines Zusammenlegungsauftrags Josephs II. am Widerstand des humanistisch ausgerichteten Gymnasiums (1781) . . . . . . . . . . . .  12

2.2  Die Schulform „Realschule“ im Dienste des eigentlichen Volksunterrichtes (1805) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  14

2.3  Wunsch nach Verquickung von humanistischem und realistischem Lehrgut in einer gemeinsamen Unterstufe für Gymnasium und Realschule (1849) .  15 3  Vereinigungstendenzen mit unterschiedlichen Zielen zwischen der Revolution 1848/49 und dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . .  18 3.1  Neue Blickrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  18 3.2  Das „Real-Gymnasium“ als einheitliche Unterstufe für das Gymnasium und die Realschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  19 3.3  Wunsch nach Verselbstständigung der Unterstufe und Oberstufe von „Mittelschulen“ aus nationalen Beweggründen . . . . . . . . . . . . . . . .  21 3.4  Modelle der „Mittelschule“ mit gemeinsamer Unterstufe und aufgegliederter Oberstufe („partielle Einheitsmittelschule“) . . . . . . . .  23 3.5  Vorschläge zur Verschmelzung von Gymnasium und Realschule („Einheitsmittelschule“, „Gesammt-Mittelschule“ bzw. „Universalmittelschule“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  24 3.6  Forderung eines gemeinsamen Unterrichts bis zum 16. Lebensjahr . .  27 3.7  Endphase im Ringen um eine organisatorische Vereinheitlichung der Sekundarstufe I und II (Level 2 und 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  29 3.8  Statt Vereinheitlichung Ausbau der Schulorganisation mit zusätzlichen Langformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  34 4  Die „Einheitsschule“, beschränkt auf die Sekundarstufe I (Level 2) – umkämpftes Leitbild im 20 Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  36

4.1  Die „ideologische Wende“ der B ildungspolitik . . . . . . . . . . . . . .  36 4.2  Die sozialdemokratische Forderung nach einer gemeinsamen Schulform bis zum Ende der Unterrichtspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  39

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4.3  Glöckels „Einheitsschule“ als Schulversuch („Allgemeine Mittelschule“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  44 4.4  Die „Hauptschule“ (1927) als ausbaufähiges Modell einer differenzierten Einheitsschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  51 4.5  Hindernisreicher Weg (Autoritärer „Ständestaat“ 1933–1938, National­ sozialistische Diktatur 1938–1945, Besetzung durch die alliierten Mächte 1945–1955) bis zur endgültigen Durchsetzung des Schulkompromisses von 1927 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  53 5  Die schulische Neuordnung von 1962 – Kompromisse mit wenig Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  58 5.1  Forderungen der politischen Parteien zu Erziehungs- und Schulfragen  58 5.2  Schwierige Verhandlungen trotz einer prekären Rechtslage . . . . . . .  59 5.3  Bescheidenes Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  61 6  Neue Wege in der Bildungspolitik – Einrichtung einer außerparlamentarischen „Schulreformkommission“ (1969) . . . . . . .  63 7  „Gesamtschule“ als neue Bezeichnung einer gemeinsamen Schulform für die Zehn- bis Vierzehnjährigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  65 7.1  Erprobung gesamtschulartiger Modelle im Schulversuch . . . . . . . .  65 7.2  Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse in der Schulform „Neue Hauptschule“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  71 8  Vereinheitlichung und Differenzierung an den allgemein bildenden höheren Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  74 8.1  Beschränkung der Schulversuche auf die Oberstufen . . . . . . . . . .  74 8.2  Einführung eines begrenzten „Wahlpflichtgegenstände“-Systems ab der 6. Klasse (10. Schulstufe) mit kleinen Schülergruppen (1988) . . . . . . . . .  77 9  Reaktionen der Ballungsgebiete auf die Leerung der Hauptschulen .  79 9.1  Verschiebungen in der parteipolitischen Landschaft, in den Zielsetzungen der Reformen, in den Entscheidungsträgern und den pädagogischen Schwerpunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  79 9.2  Der Schulversuch „Mittelschule“ und der „Schulverbund Mittelschule“  81 9.3  Der „Schulverbund Graz-West“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  83 9.4  Der Schulversuch „Differenzierte Kooperationsschule“ . . . . . . . . .  85 9.5  Der Schulversuch „Kooperative Mittelschule“ . . . . . . . . . . . . . .  87 10  Umwandlung der Hauptschule in die „Neue Mittelschule“ . . . . . .  91 10.1  Die gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen wieder im Mittelpunkt der Bildungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  91

Inhalt

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10.2  Der Schulversuch „Wiener Mittelschule“ . . . . . . . . . . . . . . . .  93 10.3  Das „Niederösterreichische Schulmodell“ . . . . . . . . . . . . . . . .  95 10.4  Überraschender Aufstieg des Schulversuchs „Neue Mittelschule“ zur Regelschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  97 10.4.1  Frontenbildung statt Suche nach der besten Lösung für die auftretenden Schwächen im Bildungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  97 10.4.2  Die „Neue Mittelschule“ als Regelschule . . . . . . . . . . . . . . . . . .  99 11  Weitgehende organisatorische Gleichstellung des allgemein bildenden und berufsbildenden Schulwesens in ihren Oberstufenformen ab der 10. Schulstufe und den Abschlüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  103 11.1  Umstellung auf eine standardisierte kompetenzorientierte Reifeprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  103 11.2  Einführung der „modularen Oberstufe“ . . . . . . . . . . . . . . . .  109 12 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  112 13 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  121 13 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  123 14  Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  135

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1 Vorbemerkungen

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1 Vorbemerkungen Eine Reihe von Gründen war wirksam, dass in Österreich Überlegungen zur Vereinheitlichung von Schulformen oder zumindest Abschnitten davon erst im 18. Jahrhundert angestellt wurden. Am stärksten nahm darauf Einfluss, dass bis dahin alle schulischen Einrichtungen nach heutiger Rechtsauffassung als „Privatschulen“ einzustufen waren. Für diese war es selbstverständlich, dass sie sich hauptsächlich an dem Bedarf orientierten und von diesem abhängig machten, welche Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt und welche erzieherischen Ziele verfolgt werden sollten. In der Regel waren es die katholische Kirche und ihre Stiftungen, welche die finanziellen Lasten trugen. Organisten und Kirchendiener, Kleriker im Amt und vor allem in der Ausbildung und besonders Mitglieder von Ordensgemeinschaften sorgten meist für die Erteilung des Unterrichts. Durch Jahrhunderte bot die Unterrichtswirklichkeit ein buntes, keineswegs einheitliches Bild. Als 1760 die Verstaatlichung des Schulwesens einsetzte, waren zunächst alle Anstrengungen darauf gerichtet, diesem ein einheitliches Gepräge zu geben. Da die Schulverwaltung dabei auch unterschiedliche Bedürfnisse berücksichtigen wollte, hatte sie bald mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Die erstrebte Normierung stieß an Grenzen. Diese zu überwinden, führte in Abständen immer wieder zu Entwürfen, die verschiedene Lösungen zur Vereinheitlichung anboten. Kaum einer war darunter, der nicht auch mit gewichtigen Nachteilen verbunden war. Zudem begrenzen oder erweitern bis heute Organisationsstrukturen auch Macht und Einfluss, was des Öfteren ökonomischen Überlegungen, menschlichem oder nationalistischem Egoismus mehr Gewicht als sachlichen, pädagogisch notwendigen Entscheidungen gaben. Manche Zielangaben dienten nur der Tarnung, wurden vorgeschoben, um das eigentlich Angestrebte in den Schatten zu drängen. Von diesem Bemühen zur Vereinheitlichung der Schulorganisation soll hauptsächlich die Rede sein. Es wird hier also nur ein einziges Handlungsfeld der Bildungspolitik herausgegriffen, weitgehend ausgeleuchtet und versucht, Abhängigkeiten, Zusammenhänge, Verschiebungen in den Zielsetzungen und Begründungen u. Ä. auf dem Weg zur Vereinheitlichung deutlich zu machen und die Hauptgründe des Widerstandes aufzudecken. Die Einbettung dieser Entwicklung in die Schulwirklichkeit muss sich allerdings nicht nur aus Platzgründen auf Hinweise beschränken. Mein Werk „Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs“ bietet in den Bänden 3 bis 5 (Wien 1984–1988) dazu bereits eine umfassende Hilfe.

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2  Folgenreiche Weichenstellungen 2.1  Scheitern eines Zusammenlegungsauftrags Josephs II. am Widerstand des humanistisch ausgerichteten Gymnasiums (1781) Schon die ersten Schritte beim Aufbau eines zentral gelenkten Schulwesens führten zu einem Zustand, für den bis heute Lösungen gesucht werden. Ursache dafür war die „Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt- und Trivialschulen in sämmtlichen Kaiserl. königl. Erbländern“ von 1774, welche die Unterrichtspflicht für alle Sechs- bis Zwölfjährigen anordnete. Sie spiegelte noch stark das erst ansatzweise schwächer werdende ständische Denken der Zeit. Jedem sollte nach den Worten Maria Theresias der seinem Stande angemessene Un­ terricht verschaffet werden.1 Das hatte zur Folge, dass drei Arten von Elementarschulen eingerichtet wurden: Die ein- bis zweiklassigen „gemeinen Deutschen oder Trivialschulen“ im ländlichen, durchwegs noch von Analphabeten bevölkerten Raum, in denen nur Religion, Schreiben, Lesen und Rechnen unterrichtet und eine „Anleitung zur Rechtschaffenheit und Wirtschaft“ gegeben wurde, überwogen bei weitem. Sie vermittelten nur die Elementarfächer, also das, was wir heute Grundbildung (primary education) nennen und nach der International Standard Classification of Education (ISCED) den Level 1 einnimmt. Die drei- oder vierklassigen „deutschen Hauptschulen“ in größeren Städten bzw. Klöstern (zumindest eine in jedem Kreis, Viertel oder Distrikt) sollten nach Möglichkeit zusätzliche Lehrinhalte ähnlich wie die vierklassige „Normalschule“ anbieten und ragten durch diese Forderung bereits in den mittleren Bildungsbereich (Level 2, secondary education first stage). In diesen war die höchste Art der Elementarschule, die so genannte „Normalschule“, sogar weitgehend einzuordnen. Sie musste in jeder Hauptstadt einer Provinz errichtet werden. Ihr war sogar vorgeschrieben, nicht nur vertieft die so genannten Elementarfächer Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern auch Geschichte, Geographie, Naturlehre und Zeichnen zu lehren. Zudem musste in ihr für eine Reihe von Berufen vorbereitet werden, was die Vermittlung von etwas Latein (für Apotheker, Wundärzte und für jene, die in ein Gymnasium übertreten wollten), eine Anleitung zum schriftlichen Aufsatz, Kenntnis der Grundsätze für die Haushaltung und die Landwirtschaft oder der Anfangsgründe des Feldmessens, der Baukunst und Mechanik notwendig machte. Vor allem diente die Normalschule auch der Ausbildung der Lehrer in „Präparandenkursen“, die anfangs etwa drei Monate dauerten. Dieses umfangreiche Lehrprogramm der Nor-

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malschule und zum Teil gleichfalls der Hauptschulen hatte bereits eine starke Ähnlichkeit mit den „Realschulen“, die in Norddeutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts aufgekommen waren.2 Sie rückten damit auch der Unterstufe der „lateinischen Schule“ teilweise schon recht nahe, die im Level 2 bereits ihren Platz hatte. Die Überlappungen im Lehrplan waren offensichtlich. Dies bewog Joseph II. 1781 zum Handeln, sah er doch hier – wie schon in anderen Bereichen - ebenfalls eine Möglichkeit, Ausgaben einzusparen und die Staatskassa zu entlasten. Er erklärte, dass die Verbindung der lateinischen mit den Normalschulen höchst noth­ wendig sey, und forderte den Oberdirektor des deutschen Schulwesens Johann Ignaz Felbiger auf, sich mit dem Gymnasialstudiendirektor Gratian Marx zu besprechen und vorzuschlagen, was zur Erfüllung dieser Absicht nötig wäre.3 Felbigers Gutachten trug den Keim des Scheiterns schon in sich. Er sprach sich recht selbstbewusst und teilweise sogar aggressiv nicht nur für eine inhaltliche Abstimmung der Lehrinhalte, sondern auch für die Übernahme seiner umstrittenen Methodik aus. Er tadelte die Gymnasiallehrer, dass sie mit wörtlichen Aus­ wendiglernen der Bücher das Gedächtnis ihrer Schüler plagen, statt deren Verstand und das Nachdenken zu fördern. Auch bemühten sie sich zu wenig, die Schüler zum anständigen Ausdrucke des Erlernten sowohl in (der) deutsch(en) als lateinischen Sprache anzuleiten und sie zu verbessern, wo sie fehlen.4 Was in den deutschen Schulen erlernt wurde, sollte in den lateinischen fortgesetzt und erweitert, nicht vergessen werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten die Gymnasial- und Elementarlehrer eng zusammenarbeiten und deren Direktoren bzw. Präfekten die Prüfungsvorgänge an der jeweils anderen Schulform aufmerksam verfolgen. Die fünf Tage später auf diese Vorschläge eingehende „Nota“ von Gratian Marx, des Verantwortlichen für das Gymnasialwesens, blieb sachlich und überging in vornehmer Zurückhaltung in Felbigers Gutachten enthaltene offene und versteckte Angriffe. Er hielt die zum Teil gegebene curriculare Parallelität in den beiden Schulformen für notwendig, weil diese unterschiedliche Ziele verfolgten. Die Realien etwa hätten an den Normal- und Hauptschulen eine berufsbildende bzw. auf Berufe vorbereitende Aufgabe, an den lateinischen Schulen hingegen eine allgemein bildende. Sie dürften daher nicht in gleicher Weise unterrichtet werden, andere inhaltliche Schwerpunkte seien jeweils zu setzen. Zudem wies er darauf hin, dass die berufsvorbereitenden Fächer erst in der 4. Klasse der Normal- und Hauptschulen gelehrt würden, wenn die, welche Lust und Fähigkeit zur Gelehrsamkeit hätten, bereits in eine lateinische Schule übergetreten wären. Eine Übernahme von Lehrgegenständen der deutschen Normalschule in eine lateinische Schule lehnte er grundsätzlich ab, nicht nur wegen deren unter-

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schiedlichen Zielsetzungen, sondern weil eine zu starke Anhäufung von Schulfächern in einer Klasse die Möglichkeit für Lehrer und Lernende übersteige(n).5 Die Mitglieder der Studienhofkommission dürften sich allem Anschein nach nicht mehr mit Felbigers Vorschlägen auseinandergesetzt haben, weil sie von den Argumenten des Gratian Marx überzeugt worden waren. Denn der Wunsch Josephs II. wurde nicht weiter verfolgt. Was Felbiger vorschwebte, war ziemlich offen ausgedrückt worden: eine starke Einflussnahme auf die Gestaltung der damals dreijährigen Unterstufe der lateinischen Schule. Ein Näherrücken der beiden Schulformen war als erster Schritt gedacht, gleiche Bezeichnungen und Inhalte eines Teiles der Lehrgegenstände als zweiter, schließlich ein Brückenschlag, der beide Schulformen verklammerte und zu einer Aufwertung der Normal- und Hauptschule und der an ihnen beschäftigten Lehrkräfte führen sollte. Die Chancen für eine Umsetzung dieser Wünsche standen damals nicht schlecht. Der organisatorische Aufbau des österreichischen Schulsystems stand noch in den Anfängen und war keineswegs schon verfestigt. Infolge des Lehrermangels an den lateinischen Schulen, der bereits zu verkürztem Unterricht in der Unterstufe geführt hatte, wäre durch die Abgabe von Unterrichtsaufgaben an Lehrer des Schulpflichtbereichs eine spürbare Besserung erreicht worden. Vor allem aber verfügte der Herrscher – Joseph II. – über absolute politische Macht, die einzusetzen er sich bislang nicht gescheut hatte. Das Scheitern dieses ersten Versuchs zumindest einer Annäherung der beiden Schulformen – noch dazu unter besonders günstigen Voraussetzungen – ließ wenig Hoffnung aufkommen, dass dies in absehbarer Zeit erreicht werden könnte. Die Weichen schienen auf Dauer gestellt. Die Gesprächsbereitschaft zwischen den Lehrkräften an den Pflichtschulen und an den höheren Schulen blieb auch weiterhin bescheiden. Dazu trug ohne Zweifel wesentlich die unterschiedliche Ausbildung bei, die im 18. Jahrhundert besonders weit auseinander klaffte – ein Kurs von wenigen Monaten auf der einen Seite, akademische Ausbildung auf der anderen.

2.2  Die Schulform „Realschule“ im Dienste des eigentlichen Volksunterrichtes (1805) Statt Vereinheitlichung oder zumindest enger Zusammenarbeit kam es in der Folge zu einer noch deutlicheren Trennung. Zur Zeit der Napoleonischen Kriege sahen sich die Habsburger nämlich gezwungen, vor allem wegen der schweren finanziellen Belastungen den eingeschlagenen Weg zur Säkularisierung des Bildungswesens zu verlassen. Die Mitarbeit der katholischen Kirche wurde wieder

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gesucht und ihr dafür viel Einfluss gewährt. Die Neuordnung des Pflichtschulwesens in der „Politische(n) Verfassung der deutschen Schulen in den k. auch k. k. deutschen Erbstaaten“ von 1805 wurde aber von der Schulverwaltung auch genützt, den sich vollziehenden sozialen und wirtschaftlichen Wandel zu berücksichtigen und ihr Lehrangebot von 1774 weiter auszubauen. Fortan musste mindestens in jedem Kreis eine vierklassige, im Lehrangebot der Normalschule gleich gestellte Hauptschule geführt werden. Neben diesen Normal- oder Musterhauptschulen, wie sie sich nennen durften, wurde auch eine neue Schulform eingeführt. Ihre Bezeichnung „Realschule“ verheimlichte schon durch die Namenswahl nicht die deutschen Vorbilder. Jünglinge, deren Seelenkräfte für einen ausgebreiteteren und gründlicheren Unterricht schon empfänglich sind, sollten sie nützen, wenn sie sich den höheren Künsten, dem Handel, dem Wechselgeschäfte, den herrschaftlichen und Staatswirthschaftsämtern (und) den Buchhaltungen wid­ men wollten. Ausdrücklich wurde festgehalten, dass solche Realschulen ein Zweig der deutschen Schulanstalten oder des eigentlichen Volksunterrichtes sind. Auf eine mögliche Verbindung mit einer gymnasialen Unterstufe wurde hingewiesen.6 Der Weg zur Errichtung einer solchen Realschule wies nur geringe Schwierigkeiten auf, wurde aber anfangs aus Kostengründen wenig genützt. Bestehende Normal- oder Musterhauptschulen konnten die Lehrgegenstände ihrer vierten Klasse nach einem vorgeschriebenen Schema auf zwei Jahrgänge verteilen, mussten aber außer den für alle notwendigen allgemeinen Gegenständen die be­ sonderen, für bestimmte Berufsgruppen nötigen lehren. Ein dritter Jahrgang sollte dafür eröffnet werden.7 Damit war die Realschule mit vorwiegend realistischem Lehrgut von gleicher Dauer wie die Unterstufe des Gymnasiums und ebenfalls zur Gänze dem Level 2 (der Sekundarstufe I) zuzuordnen. Doch sie war organisatorisch ein Teil des Pflichtschulwesens, das fortan darauf bedacht war, immer auch für die Zehn- bis Zwölf- bzw. Vierzehn-(ab 1869) und Fünfzehnjährigen (ab 1962) eine von ihm abhängige Schulform (Bürgerschule, Hauptschule, Neue Mittelschule, Polytechnische Schule) anbieten zu können.

2.3  Wunsch nach Verquickung von humanistischem und realistischem Lehrgut in einer gemeinsamen Unterstufe für Gymnasium und Realschule (1849) Es war kein Geringerer als der hochbegabte und vielseitige Ernst Freiherr von Feuchtersleben, der in seiner „Rede zum Restaurations-Feste und fünfzigjährigen Aufgebots-Jubiläum der Wiener Hochschule am 20. April 1847“ darauf einging, wie sich in der Stufenfolge der Studien die gewünschte Versöhnung realis-

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tischer und idealer Tendenzen erreichen ließe. Die zwei sich gegenwärtig be­ kämpfenden Richtungen waren seiner Meinung nach nicht nur vereinbar, sondern untrennbar und keine führt ohne die andere zum Ziele.8 Hier eine Lösung nach dem Bedürfnisse der Zeit zu finden, war ihm ein besonderes Anliegen. Als ihm im Juli 1848 angeboten wurde, das neugegründete „Ministerium des öffentlichen Unterrichtes“ zu übernehmen, lehnte er ab. Doch er war bereit, sich als Unter-Staatssekretär der Unterrichtsangelegenheiten anzunehmen. Seine Pläne waren ziemlich radikal und reichten von der Verstaatlichung des gesamten Unterrichtswesens und der Ausschaltung des kirchlichen Einflusses bis zur Gleichstellung der Nationalitäten in ihrem Anspruch auf muttersprachlichen Unterricht auf allen Bildungsebenen. Er ging davon aus, dass zunächst das Alte niedergerissen werden müsste, bevor es möglich wäre, das Neue hinzubauen.9 Während der beiden Monate, in denen er das Amt bekleidete, versuchte er zwar mit großem Einsatz, seine Vorstellungen zu einer modernen Schul- und Bildungsorganisation umzusetzen, hatte auch Erfolge, doch letzten Endes blieb es Stückwerk, was er hinterließ. Als im Oktober 1848 die Revolution nochmals aufflammte und der Kriegsminister an einem Laternenpfahl gehenkt wurde, trat Feuchtersleben von seiner Aufgabe zurück und verließ, wie 20000 andere Wiener auch, die Stadt. Nach seiner Rückkehr - bereits kränklich - war die Revolution niedergeschlagen und er nicht mehr gefragt. Feuchtersleben nützte aber die kurze Spanne Zeit, die ihm bis zu seinem frühen Tod am 3.September 1849 blieb, um sich in Zeitschriften zu rechtfertigen10 oder seine Gedanken zur Schulreform darzulegen. Sein Vortrag „Über die Frage von Humanismus und Realismus als Bildungsprinzipe“ in der Akademie der Wissenschaften am 7. März 1849 ist darunter von größerer Bedeutung. Feuchtersleben wiederholte hier zunächst seine schon 1847 dargebotene Auffassung, dass gegenwärtig eine völlige Trennung des Humanismus vom Realismus bestünde, die Kluft, die sich zwischen ihnen gebildet hat, immer weiter einreiße. Es sei jedoch notwendig, dass sich beide einen und verbinden, statt sich zu trennen, wenn ihre Aufgabe, zum Heile der Bildung, allseitig gelöst werden soll.11 Sein Wunsch war, dass humanistischer und realistischer Unterricht nicht nur in der Volksschule (Level 1), sondern auch in der Mittelstufe (Sekundarstufe I, Level 2) gleichberechtigt stattfinde. In diesen Mittelregionen des Unterrichtes würde vieles entschieden, etwa nach welcher Seite hin die Bildung sich neigen soll, um den gesonderten und zugleich den allgemeinen Ansprüchen zu genügen.12 Er sprach ihnen eine Art Gelenksfunktion zu, welche letztlich die vollständige Wendung sowohl zum Gymnasium als auch zur Realschule möglich machte. Feuchtersleben wies auf Preußen und besonders auf Frankreich hin, die mit Hilfe von Parallelklassen ein Gleichgewicht zwi-

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schen humanistischem und realistischem Bildungsgut herzustellen suchen. Auch in Österreich hatte schon 1845 ein gewisser Dr. Richter in den „Österreichischen Blättern für Literatur und Kunst“ einen derartigen Plan vorgestellt.13 Feuchtersleben wünschte jedoch eine Schulform, die zwischen dem elften und vierzehnten Lebensjahr eine humanistische und realistische Vorbildung in gleichem Umfang vermittelte. Zu diesem Zweck sollten das dreijährige Untergymnasium und die dreijährige Bürgerschule (ebenfalls übliche Bezeichnung für die Realschule) zu einer gemeinsamen Unterstufe verbunden werden. Latein durfte erst ab der 3. Klasse unterrichtet werden.14 Die Anlagen der Schülerinnen und Schüler hätten in diesem Schulabschnitt die Möglichkeit, sich für den einen oder den andern Beruf erkennbarer zu entfalten, die Selbstbeurteilung würde reifer werden. Dadurch würde es zu einer motivierten Berufswahl kommen.15 Bei der Namengebung dieser Schulform nützte er die in der Schweiz und Deutschland häufige Bezeichnung „Progymnasium“ für kleine, nur bis höchstens zur 6. Klasse führende Landgymnasien, die sich als Zubringerschulen für die Obergymnasien verstanden. Von diesem Progymnasium aus - er fügte hinzu, dass die Verwendung dieses nicht sachgemäßen Namens wohl nur vorläufig sein werde16 – konnte dann das Obergymnasium, die Oberrealschule und die so genannten „Professionsschulen“ (Fachschulen) bezogen werden oder sogleich der Übertritt ins bürgerliche Leben erfolgen. Die Weichen der schulischen Entwicklung im Level 2 waren damit schon früh gestellt worden, Konkurrenzdenken gewann mit der Zeit an Boden. Es darf nicht verwundern, dass die Pflichtschullehrkräfte ihren Ehrgeiz darein setzten, ihren im Level 2 geführten Schulen Gleichwertigkeit mit der Unterstufe der allgemein bildenden höheren Schulen zu verschaffen oder überhaupt an deren Stelle zu treten. Die Forderung nach einer gemeinsamen Unterstufe für Gymnasien und Realschulen rückte dabei immer mehr – mit stark wechselnden Begründungen – in den Vordergrund. Die Auseinandersetzungen bewegten sich dabei weniger auf der Diskussionsebene der Pädagogik, sondern zunehmend auf dem Kampffeld der Politik.

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