Vater aller Dinge? Martin Hoch. Zur Bedeutung des Kriegs für das Menschen- und Geschichtsbild 1

Martin Hoch Vater aller Dinge? Zur Bedeutung des Kriegs für das Menschen- und Geschichtsbild 1 Trotz einer mehrtausendjährigen intellektuellen und pr...
Author: Laura Sommer
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Martin Hoch

Vater aller Dinge? Zur Bedeutung des Kriegs für das Menschen- und Geschichtsbild 1 Trotz einer mehrtausendjährigen intellektuellen und praktischen Beschäftigung mit dem Krieg weiß man erstaunlich wenig über ihn. Nach wie vor sind verschiedene wissenschaftliche Disziplinen bemüht, das Phänomen des Kriegs zu begreifen, den Krieg zu verstehen, ihn zu erklären. Das Interesse am Krieg hat sich insbesondere in der Gegenwart intensiviert, nachdem sich die katastrophalen Kriege des 20. Jahrhunderts sowie die erstmals gegebene Möglichkeit der nuklearen Vernichtung der Welt als Wendepunkte im Selbstverständnis des modernen Menschen erwiesen haben. Gegenstand der folgenden Ausführungen ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Krieg an sich2 und mit der Theorie des Kriegs – in Abgrenzung zu der Analyse und Erklärung einzelner Kriege in bestimmten Perioden, Regionen, Kulturen oder Gesellschaftsformen. Dabei geht es vor allem um folgende Fragen: Wie gehen verschiedene wissenschaftliche Ansätze mit der Tatsache um, daß es in der Geschichte der Menschheit Krieg gibt? Von welchen Prämissen aus tun sie dies? Und welche Folgerungen für das Menschen- und Geschichtsbild ergeben sich daraus? Krieg als Universalie

Krieg ist ein universales Phänomen in der Geschichte: er ist zu finden bei nahezu allen Völkern und Kulturen, in allen Zeiten und in allen Erdteilen. Dabei ist Krieg ein so großes und facettenreiches Phänomen, daß in historischen Situationen in der Regel nur Teilaspekte davon manifest werden. Daraus resultiert die Vielfältigkeit des Kriegs, der in unterschiedlichen Formen in Erscheinung tritt: einmal – um nur die Extreme zu benennen – als ritueller Krieg an der Grenze zum Spiel, ein anderes Mal als Vernichtungskrieg. Doch stets ist ihm die kollektive und öffent-

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Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines Vortrags im Rahmen des Workshops »Vom Sinn der Feindschaft« am 19./20. März 1999 im Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen; Vorüberlegungen wurden publiziert unter dem Titel »Krieg – Geschichte – Militärgeschichte«, in: Newsletter des Arbeitskreises Militärgeschichte, Nr. 7 (September 1998), S. 6–9 und Nr. 8 (Dezember 1998), S. 6–9. Herzlicher Dank gebührt einer Reihe von Freunden und Kollegen für ihre Kommentare und Anregungen zu Entwürfen dieses Manuskripts. 2 Diese abstrakte Dimension des Kriegs wird hier mit dem neutralen Begriff »Phänomen« bezeichnet, der im weiteren philosophischen Sinne etwas Reales und Wirkmächtiges meint, dessen tatsächliche Natur (die ja gerade Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen ist) zunächst aber unbestimmt bleiben kann.

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liche Gewaltausübung eigen. Der Aspekt der Kollektivität und Öffentlichkeit ist für die Definition von Krieg von entscheidender Bedeutung: Krieg ist abzugrenzen von persönlichen Formen der Gewaltausübung, wie etwa einem Kampf zwischen Einzelpersonen oder auch einer Fehde zwischen Familien. Aus diesem Grunde setzt Krieg einen gewissen Grad an sozialer Organisation voraus; nicht notwendigerweise einen Staat, aber doch beispielsweise einen Stamm oder zumindest einen Personenverband, der über den Kreis der unmittelbaren Verwandten hinausgeht. Mit der Betonung der öffentlichen Dimension des Kriegs wird nicht ausgeschlossen, daß im Krieg auch die persönliche Feindschaft einen Platz haben kann, diese ist jedoch nicht konstitutiv. Des weiteren wird durch den Verweis auf die kollektive Dimension des Kriegs keineswegs die Behauptung erhoben, daß Krieg die einzige Form kollektiver Gewaltausübung sei, wiewohl durchaus die Auffassung vertreten werden kann, es sei die wichtigste. Zum Verhältnis von Krieg und Frieden

Wenn nun der Krieg ein omnipräsentes Phänomen in der Geschichte ist, so läßt sich das gleiche auch über den Frieden sagen. Auch er ist eine Universalie. Womit sich die schwierige Frage nach dem Verhältnis von Krieg und Frieden stellt: Ist das eine nur die Abwesenheit des anderen, Frieden also nichts anderes als das (vorübergehende) Schweigen der Waffen, oder Krieg nichts anderes als der (vorübergehende und möglicherweise jeweils sogar nur punktuelle) Zusammenbruch von friedenserhaltenden Mechanismen kollektiver Interaktion? Doch sind Krieg und Frieden überhaupt Begriffe in diesem antithetischen Sinne, so daß man sie auf die genannte Weise in Beziehung zueinander setzen kann? Es scheint zumindest einen zentralen Unterschied zu geben: Nicht der Krieg, sondern der Frieden wird durch nahezu alle Kulturen und Perioden hindurch als »Normalzustand«, als konzeptioneller Bezugspunkt, angesehen.3 Der Krieg hingegen wird als »Ausnahmezustand«4 empfunden und erfordert, anders als der Frieden, als agonales Moment fast durchgängig eine Begründung oder Rechtfertigung. Krieg zielt – im Unterschied zum Frieden – in aller Regel eben nicht auf seine eigene Perpetuierung, sondern auf die Herbeiführung eines anderen Zustandes. Wenn der erstrebte Zustand herbeigeführt worden ist, entfällt auch der Grund für den Krieg. Zur Fortführung des Kriegs bzw. für einen weiteren Krieg muß ein neuer Grund gefunden werden (was allerdings,

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Lawrence H. Keeley, War Before Civilization. The Myth of the Peaceful Savage, New York: Oxford University Press, 1996, S. 143–147; John Keegan, A History of Warfare, London: Hutchinson, 1993, S. 386. 4 Die Verwendung des Begriffs »Ausnahmezustand« impliziert keine Bezugnahme auf die Theorien Carl Schmitts.

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wie zahlreiche historische Beispiele zeigen, alles andere als eine unüberwindliche Aufgabe darstellt). Diese Zuordnung von »Normalität« gilt in erster Linie auf einer abstrakt-konzeptionellen Ebene, die nicht unmittelbar konstitutiv für die Ziele menschlichen Handelns in konkreten Situationen ist. Aus ihr folgt nämlich nicht, daß Zeiten des Friedens in einzelnen Gesellschaften, Perioden oder in der Geschichte insgesamt länger gewesen wären als die Zeiten des Kriegs, oder daß sie höher geschätzt oder intensiver erlebt worden wären als der Krieg. Sie ist auch nicht notwendigerweise identisch mit der Antwort auf die Frage (im Sinne der Dichotomie der Ansätze von Hobbes und Rousseau), ob der natürliche Zustand des Menschen friedfertig oder kriegerisch ist. Dennoch scheint das beschriebene Muster von »Normalität« und »Ausnahme« eine Hierarchie im Verhältnis von Krieg und Frieden zu konstituieren; man kann hier durchaus von einer anthropologischen Konstante sprechen. Unterhalb dieser abstrakt-konzeptionellen Ebene, bei der empirischen Betrachtung des Verhältnisses von Krieg und Frieden in der Geschichte, wird jedoch ein Paradoxon deutlich, das sich nicht unmittelbar in das beschriebene Muster der Hierarchie einfügen bzw. aus diesem ableiten läßt: Denn der Zustand des Friedens ist nicht etwa von sich aus stabil, sondern Anstrengung, Planung, Kosten und Verzicht sind nötig, um ihn aufrechtzuerhalten. Und genau das gleiche gilt für den Krieg.5 Wo nicht Anstrengung aufgewandt wird, den jeweiligen Zustand beizubehalten, wandelt er sich in sein Gegenteil, der Frieden zum Krieg und der Krieg zum Frieden. Von sich aus stabil scheint in der Geschichte allenfalls der stete Wechsel von Krieg und Frieden zu sein – genauer gesagt: das Hervorgehen des jeweils einen aus dem anderen. Damit wird eine gleichwertige Parallelität von Krieg und Frieden beschrieben, die in einem zumindest tendenziellen Widerspruch zu der Hierarchisierung dieser beiden Begriffe auf der abstrakt-konzeptionellen Ebene steht. Krieg und Geschichte

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Es wäre eine irreleitende Verkürzung, wenn man entweder den Krieg oder den Frieden zum Ausgangspunkt des Verständnisses von Geschichte machen wollte. Man kann nicht im Krieg den alleinigen Motor oder Katalysator historischer Prozesse sehen – genau dies aber war etwa in der Antike der Fall, als die Beschreibung von Kriegen über lange Zeit der Hauptinhalt und das Hauptinteresse von Geschichtsschreibung war. Diese Auffassung steht heute freilich nicht mehr zur Diskussion. Genausowenig ist allerdings die spiegelbildliche Sicht haltbar, daß die Rolle des Motors bzw. Katalysators der Geschichte dem Frieden zukomme. Interes-

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Donald Kagan, On the Origins of War and the Preservation of Peace, New York: Doubleday, 1995, S. 567.

santerweise hat aber gerade diese Auffassung in der jüngeren Vergangenheit zahlreiche Anhänger gefunden und eine eigene wissenschaftliche Disziplin – oder zumindest ein eigenes wissenschaftliches Selbstverständnis – begründet, die Friedenswissenschaft. Es dürfte wohl kaum ein Zufall sein, daß diese Verklärung des Friedens gerade zur Zeit des Kalten Kriegs und der erstmals in der Geschichte gegebenen Möglichkeit der nuklearen Weltvernichtung ihren Höhepunkt erreichte. Doch konzeptionell ist die Friedenswissenschaft genauso monokausal auf den Frieden als Ausgangspunkt des Verständnisses von Geschichte ausgerichtet wie die antiken Geschichtsschreiber auf den Krieg fokussiert waren. Eher schon kann man im erwähnten steten, sich gegenseitig bedingenden Wechsel – der Dialektik – von Krieg und Frieden eine wesentliche Triebkraft der Geschichte ausmachen. Gleichwohl macht die Tatsache, daß der Krieg – sei es direkt oder indirekt – die Menschen mit ihrer Endlichkeit konfrontiert und somit eine existentielle Herausforderung darstellt, ihn selbst, seine Bedingungen und Auswirkungen zu einem eigenständigen Gegenstand der Erörterung von historischer Erfahrung. Dies soll nicht heißen, daß der Frieden nicht auch ein wertvoller Gegenstand eines historischen Diskurses sein kann, jedoch sicherlich nicht getragen von denselben Erkenntnisinteressen wie der Diskurs über Krieg. Aus der Universalität und Wirkmächtigkeit des Kriegs in der Geschichte ergibt sich evident das Postulat, daß dieses Phänomen in angemessener Form in der Geschichtswissenschaft zu berücksichtigen ist.6 Daraus folgt aber auch, daß die Leugnung des Phänomens Krieg als einer Grundkonstante der Geschichte eine unzulässige Verzerrung wäre, handelt es sich doch um eines jener Phänomene, die ein Erfahrungskontinuum zwischen Menschen über Zeit und Raum hinweg darstellen.7 So schrecklich Krieg sein mag, er ist deswegen für das Verständnis von Geschichte so wichtig, weil er, ähnlich anderen elementaren menschlichen Erfahrungen und Institutionen wie Liebe, Angst, Haß, Familie, Religion und Tod, ein Element der Gemeinsamkeit und Verbundenheit von Menschen darstellt, das unabhängig von konkreten Kulturen, Perioden und geographischen Räumen gegeben ist. Aus dem gleichen Grund ermöglicht die Beschäftigung mit dem Thema Krieg – zumindest in Teilaspekten – Aussagen über das Allgemeine in der Geschichte, nämlich über eine der Grundkonstitutionen des Menschen. Dies steht durchaus im Kontrast zu der Erörterung des Besonderen (im Sinne eines mikrohistorischen Betrachtungshorizontes), das in

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Vgl. Michael Geyer, »Eine Kriegsgeschichte, die vom Tod spricht«, in: Mittelweg 36, Bd. 4. 2 (1995), S. 57–77, hier S. 59–60. 7 Vgl. Eva Horn, »Der Krieg als Ort anthropologischer Erkenntnis« in: Newsletter des Arbeitskreises Militärgeschichte, Nr. 7 (September 1998), S. 14–16.

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unserer Zeit in den Mittelpunkt des geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresses gerückt ist.8 Allerdings liegt gerade in den auf das Allgemeine zielenden Aussagen der Beitrag einer Wissenschaft für die Diskurse innerhalb einer Gesellschaft.9 Konkret eröffnet die Beschäftigung mit dem Phänomen des Kriegs in der Geschichte den unverstellten – wiewohl oft gescheuten – Blick auf die »dunkle Seite« des Menschen, also seine immanente Fähigkeit, seine Bereitschaft und seinen Willen, anderen Menschen Schaden, Leid und Tod zuzufügen.10 Einschränkend sei gesagt, daß diese »dunkle Seite« nicht als gleichbedeutend mit der ganzen Natur des Menschen aufzufassen ist; in der menschlichen Natur sind sowohl aggressive als auch fürsorgliche Momente koexistent. Die Grundkonstitution des Menschen zeichnet sich durch das ambivalente Nebeneinander dieser widerstreitenden Prinzipien aus. Die Erforschung des Kriegs erlaubt jedoch besonders den Zugang zu der »dunklen Seite«, die wiederum für das umfassende Verständnis des Menschen und seines Handelns, und damit für das Verständnis von Geschichte, unverzichtbar ist. Zum Ursprung von Krieg

Was nun die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Kriegs betrifft, so erweist sich bereits die dem Historiker naheliegende Frage nach dem Ursprung von Krieg in der Geschichte der Menschheit als einer der klassischen Streitpunkte. Diese Frage ist deswegen von so großer Bedeutung, weil sich je nach der Antwort – das heißt nach der Auffassung über den Zeitpunkt, an dem Krieg in die Geschichte der Menschheit eingetreten ist – grundsätzlich andere Perspektiven für die Bewertung des Phänomens Krieg in Geschichte und Gegenwart ergeben. Vor allem aber ergeben sich unterschiedliche Implikationen für die Zukunft: Es geht um nichts weniger als die Frage, ob Krieg jemals abgeschafft werden kann. Die Bejahung dieser Frage fällt desto leichter, je später der Eintritt des Kriegs in die Menschheitsgeschichte angesetzt wird; ein weiterer wichtiger Aspekt sind die konkreten Umstände bzw. Bedingungen dieses Eintritts. Es liegt auf der Hand, daß das nukleare Zeitalter und damit einhergehend die Fähigkeit der Menschheit, sich selbst zu vernichten, der Frage nach der grundsätzlichen Abschaffbarkeit des Kriegs eine neue Brisanz verliehen haben.

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Vgl. Lothar Gall, »Das Argument der Geschichte. Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Geschichtswissenschaft«, in: Historische Zeitschrift, Bd. 264.1 (1997), S. 1–20, hier S. 14–16 (mit Bezug auf Jacob Burckhardt). 9 John L. Gaddis, »Expanding the Data Base: Historians, Political Scientists, and the Enrichment of Security Studies«, in: International Security, Bd. 12.1 (1987), S. 3–21. 10 Christopher Browning (im Gespräch mit Thomas Sandkühler), »Böse Menschen, böse Taten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. 2. 1997.

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In der Diskussion über den Ursprung von Krieg lassen sich mehrere Hauptlinien unterscheiden, die im folgenden – wenn auch stark vereinfacht und verkürzt – dargestellt werden sollen:11 a) Die Hobbessche Sicht

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An erster Stelle ist die Auffassung zu nennen, daß Krieg seit eh und je ein unveränderlicher Bestandteil menschlicher Geschichte, um nicht zu sagen: der menschlichen Natur, sei. Platon hat dies in dem Wort »Nur die Toten haben das Ende des Kriegs gesehen« ausgedrückt. Man könnte auch an die Sentenz von Heraklit denken, der im Krieg bzw. im Prinzip des Widerstreits das Urprinzip der Welt, den, wie er sich ausdrückte, »Vater und König aller Dinge« sah. Der klassische Vertreter und Namengeber dieser Denktradition ist jedoch Thomas Hobbes (1588–1679) mit seiner Auffassung vom Krieg als natürlichem Zustand der Gesellschaft von Natur aus egoistischer Menschen (state of warre ). Mit dieser Theorie griff Hobbes den antiken mainstream auf, wie er etwa von den genannten Philosophen, aber beispielsweise auch von Thukydides vertreten wurde. Auch im weitesten Sinne sozialdarwinistische und soziobiologische Ansätze des 19. und 20. Jahrhunderts (wie etwa diejenigen von Herbert Spencer und Walter Bagehot) sind dieser Richtung zuzuordnen. Gerade unter diesen hat sich mit Berufung auf die Hobbessche Prämisse schließlich eine Tendenz etabliert, die Krieg als anthropologische Konstante in gewisser Weise durch die Natur legitimiert sieht: Durch den Krieg werden die Schwachen einer Gesellschaft eliminiert, während Eigenschaften wie Mut, Stärke und Intelligenz begünstigt werden. Das Bestreben, Krieg abzuschaffen oder einzuhegen, erscheint in diesem Interpretationsschema gleichsam als ein Versuch, dem natürlichen Lauf der Dinge Einhalt zu gebieten. Allerdings ist diese Schlußfolgerung keineswegs zwingend. Die pazifistische Variante des Sozialdarwinismus, die es im 19. Jahrhundert auch gegeben hatte und die aus denselben Grundannahmen heraus eine altruistische Gesellschaft anstrebte – weil nämlich Altruismus als überlegene Form sozialer Existenz gesehen wurde –, konnte sich gegen die militanten Interpretationen aber letztlich nicht durchsetzen. Der normative Stellenwert, der in diesen Denkmodellen der Natur zugesprochen wird, verdient aufmerksame Betrachtung: Die völlige Unterwerfung unter das präsumtive Diktat der Natur ist nämlich keineswegs das, was die Hobbessche Theorie propagierte: Hobbes hatte aus dem state of warre vielmehr die Forderung nach der Einhegung des Kriegs abgeleitet, und eben nicht die Berechtigung, ihm freien Lauf zu lassen. Genau letzteres ist jedoch die Folgerung, welche die sozialdarwinistischen und 11

Hierzu und zum Folgenden siehe Doyne Dawson, »The Origins of War: Biological and Anthropological Theories«, in: History and Theory, Bd. 35.1 (1996), S. 1–28 (mit Hinweisen zu weiterführender Literatur).

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soziobiologischen Ansätze daraus gezogen haben. Offenbar handelt es sich hierbei um eine Auswirkung des inzwischen einem signifikanten Wandel unterworfenen Verständnisses von Natur.12 Während etwa für die Aufklärung die Natur etwas dem Menschen Vorgegebenes, aber nicht Festgeschriebenes war, und insbesondere etwas, das durch den Fortschritt verändert bzw. überwunden werden konnte, wird in unserer Zeit vermehrt Natur als absolutes normstiftendes Paradigma angesehen, gegen dessen Regeln man nicht ungestraft verstoßen darf. In dieser populären Auffassung von »nature knows best« konvergieren romantische Naturvorstellungen und naturwissenschaftliche Evolutionsmodelle. Aufgrund dieses Bedeutungswandels hat die Natur bzw. die natürliche Ordnung in manchen zeitgenössischen Deutungssystemen den Platz eingenommen, den in einem theozentrischen Weltbild Gott füllt. b) Die Rousseausche Tradition

Die zweite Hauptlinie bei der Beschäftigung mit dem Ursprung von Krieg geht davon aus, daß der Urzustand des Menschen ein friedliches »Goldenes Zeitalter« gewesen sei. Krieg habe sich erst zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter bestimmten Rahmenbedingungen, etwa als Folge von Eigentum und Ungleichheit, in der Geschichte manifestiert. Das Phänomen des Kriegs wäre demnach das Produkt dieser Rahmenbedingungen, und ihr Wegfall in der weiteren menschlichen Entwicklung würde prinzipiell die Möglichkeit eröffnen, Krieg wieder abzuschaffen. Der klassische Vertreter dieser Richtung ist Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), dessen Naturrechtstheorie von der Prämisse ausgeht, daß der Mensch im Urzustand friedfertig gewesen sei. Auch diese Auffassung hat Vorläufer in der Antike, zu denen etwa Ovid und Seneca zählen. In der gleichen Denktradition stehen im 20. Jahrhundert kulturdeterministische Ansätze, die insbesondere in der Kulturanthropologie weit verbreitet sind (wie etwa diejenigen von Franz Boas und Margaret Mead). Sie gehen so weit zu behaupten, daß der menschliche Geist zum Zeitpunkt der Geburt eine tabula rasa sei, auf der allein die Kultur – nicht aber die Biologie bzw. die Gene – Spuren hinterlasse. Aber auch sehr viel differenziertere moderne Konzeptionen gehen davon aus, daß Krieg erst zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt und unter konkreten Umständen in die Geschichte eintrat. So sieht beispielsweise der amerikanische Historiker Robert L. O’Connell in der strukturellen Unvereinbarkeit von seßhafter und nomadischer Lebensweise sowie in der Bedeutung eines festen Territoriums die Entstehungsumstände des Kriegs.13 Es liegt auf

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Zu den vielfältigen Facetten und historischen Veränderungen des Begriffs der »Natur«, siehe Peter Coates, Nature. Western Attitudes since Ancient Times, Cambridge, Engl.: Polity Press, 1998. 13 Robert L. O’Connell, Ride of the Second Horseman. The Birth and Death of War, New York: Oxford University Press, 1995.

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der Hand, daß unter diesen Prämissen die Abschaffung des Kriegs – eben bei Wegfall der für seine Entstehung verantwortlichen Rahmenbedingungen – als eine durchaus reale Möglichkeit anzusehen wäre. c) Der kosmologische Ansatz

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Es gibt noch eine dritte, in der Diskussion seltener berücksichtigte Hauptlinie der Theorien über Ursprung und Funktion des Kriegs. Dieser Theoriestrang geht davon aus, daß Krieg das Instrument eines rationalen und geordneten Kosmos sei und eine für den Menschen nicht unmittelbar erkennbare regulierende Funktion habe. In dieser Denktradition ist der Mensch nicht mehr handelndes Subjekt, sondern faktisch eine Marionette kosmischer Gesetzmäßigkeiten. Konsequenterweise kann unter diesen Voraussetzungen der Krieg auch kein Gegenstand ethischer Überlegungen sein. Der klassische Vertreter dieser Tradition ist Thomas Malthus (1766–1834), der sich konkret auf die demographischen Gesetzmäßigkeiten bezog und im Krieg einen Mechanismus des Kosmos sah, die Bevölkerungszahl den verfügbaren natürlichen Ressourcen anzupassen. Der Ansatz, die Urheberschaft am Krieg einem rationalen und geordneten Kosmos zuzuschreiben, hat sich als übertragbar erwiesen: Auch neuere kulturökologische Ansätze (wie etwa der von Marvin Harris) zielen in diese Richtung. Sie postulieren das Gleichgewicht der Natur als übergeordnetes Prinzip und sprechen dem Krieg die Regulierungsfunktion zu, dieses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Auch für diesen kosmologischen Ansatz, dem eine zyklische Geschichtsauffassung zu eigen ist, gibt es Vorläufer in der Antike, zu denen etwa die Stoiker zu rechnen sind. In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion über den Krieg spielt diese dritte Hauptlinie allerdings keine herausragende Rolle; das erklärt, warum die Diskussion oft auf die Gegenüberstellung der Menschenbilder der Hobbesschen und Rousseauschen Denktraditionen reduziert wird. Für eine mögliche künftige Aufwertung der dritten Hauptlinie spricht allerdings ein wichtiger Umstand: Wie bei den sozialdarwinistischen und soziobiologischen Ansätzen wird auch in der kosmologischen Denktradition das Bild einer höheren Ordnung – hier der Kosmos, dort die Natur – transportiert, welche das Verhalten der Menschen determiniert. Es handelt sich bei diesem kosmologischen Ansatz um die grundlegende Alternative zu den theozentrischen bzw. anthropozentrischen Weltbildern der Vergangenheit.14 Die Attraktivität dieses kosmologischen Weltbildes – um nicht zu sagen dieser kosmologischen Sinndeutung – besteht darin, daß sie eine zwar rationale (und damit für Menschen erschließbare) Ordnung der Welt, jedoch ohne persönlichen Urheber oder Bezugspunkt postuliert. Damit wird der Zeitgeist der Moderne besonders gut getroffen, der

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Als weitere Variante erscheint noch das Konzept eines völligen Chaos möglich, das jedoch von vornherein einer systematischen Betrachtung entzogen ist.

im großen und ganzen die unmittelbare Wirkmächtigkeit Gottes (bzw. einer transzendenten Dimension überhaupt) bestreitet, das Vertrauen in den Menschen als Mittelpunkt der Welt verloren hat, gleichzeitig aber um eine rationale Erklärung für das Vorhandensein von Ordnung bemüht ist. d) Zwischenfazit

Zugespitzt läuft die Dichotomie der Erklärungsansätze von Hobbes und Rousseau auf die Fragestellung hinaus, ob Krieg im weitesten Sinne ein kulturelles (also vom Menschen geschaffenes) Phänomen ist, oder ob es sich dabei um natürliche (biologische bzw. genetische) Aggressionsmuster handelt, die in einem komplexen Geflecht von Sozialbeziehungen die Form eines organisierten Kriegs annehmen. Es handelt sich bei der Frage nach dem Ursprung von Krieg also um einen Teilaspekt der sehr viel weitergehenden Diskussion darüber, inwieweit der Mensch in seinem Wesen und Verhalten durch seine kulturelle und materielle Umwelt bzw. durch seine genetische Disposition bestimmt ist. Damit offenbart sich diese Diskussion als Teil der sogenannten nature-versus-nurture- Debatte. Ihre Bedeutung geht weit über die Disziplinen der Biologie und der Anthropologie hinaus und berührt den Kern des modernen Menschenbildes: Inwieweit der Mensch das Produkt seiner Umwelt oder seiner Ahnen ist, ist eine der Grundfragen des menschlichen Selbstverständnisses in einem posttheozentrischen Deutungssystem. Neben den Hobbesschen und Rousseauschen Auffassungen, wiewohl auf einer anderen Ebene, stehen die kosmologischen bzw. naturorientierten Erklärungsansätze. Im Unterschied zu ersteren sprechen sie dem Menschen die Qualität eines handelnden Subjekts ab und sehen in ihm quasi ein Rädchen in einem kosmischen Getriebe oder ein heteronomes Element der Natur. Die Bemühungen der Menschen, ihr eigenes Handeln zu bestimmen, sind dabei notwendigerweise dysfunktional. In einem solchen Deutungssystem, in dem der Mensch nicht mehr selbst als Handelnder auftritt, wird er aber auch in letzter Konsequenz von jeder ethischen Verantwortung für sein Handeln befreit. Zur Definition von Krieg

Im Zusammenhang des Themas ist es notwendig, den Begriff »Krieg« präziser zu definieren. Im Sinne der vorliegenden Ausführungen bezieht sich »Krieg« auf das Töten und Getötetwerden von Menschen in großer Zahl,15 und zwar zu einem Zweck, der über den unmittelbaren Vorteil der faktischen Täter hinausgeht. (Diese Einschränkung ist erforderlich, um

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Die Definition ist angelehnt an die – allerdings in erster Linie auf die Neuzeit bezogenen – Ausführungen von Geyer, »Kriegsgeschichte«, bes. S. 57, 74–75. »In großer Zahl« ist bewußt als relativer Begriff formuliert, um auch Kriege zwischen kleineren Bevölkerungsgruppen erfassen zu können.

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Krieg von privater Gewalt, wie Mord und Raub, unterscheiden zu können.) Beim Töten im Krieg ist unbedingt dessen grundsätzlich reziproker Charakter zu berücksichtigen. Der Tötende steht im Krieg grundsätzlich in der Gefahr des Getötetwerdens; Krieg ist vom einseitigen Töten, vom Massakrieren, zu unterscheiden.16 Es liegt auf der Hand, daß diese Definition von Krieg nicht an eine bestimmte Periode oder gesellschaftliche Organisationsform (etwa den Staat) gebunden ist, sondern universell Anwendung finden kann.17 Im Gegensatz dazu steht die geradezu inflationäre Verwendung des Begriffs Krieg in der Gegenwart: als »Handelskrieg«, »Informationskrieg« oder »Krieg gegen die Armut« kann Krieg als Synonym (in der Regel mit emphatischer Konnotation) für praktisch alle Formen konzentrierter Anstrengung zur Erlangung eines wie auch immer gearteten Vorteils oder Ziels verwendet werden. Meist gehen die im Rahmen dieser erweiterten Definition des Kriegs beschriebenen Phänomene – soweit sie nicht von vornherein metaphorischer Natur sind – mit einer Zerstörung oder Bedrohung von materiellen Gütern oder mit der Ausübung von Druck einher, nicht notwendigerweise aber mit dem gewaltsamen Tod von Menschen. Zentral für das Verständnis von Krieg ist jedoch der Aspekt des unpersönlichen, bewußt gewollten und doch zumindest tendenziell unkontrollierten bzw. unkontrollierbaren Tötens von Menschen durch andere Menschen in großer Zahl. Mehr als in irgendeinem anderen Umstand liegt hierin die Schrecklichkeit des Kriegs begründet und seine Wirkung auf Menschen wie auch seine Wirkung in der Geschichte. Keine Vernichtung von materiellen Gütern kann die gleiche extreme Wirkung erzielen wie das Töten von Menschen, denn allein die Drohung oder Begegnung mit dem eigenen Tod bzw. mit dem Tod anderer fordert den Menschen in einer existentiellen Weise heraus, konfrontiert ihn unvermittelt mit seiner eigenen Endlichkeit. Dabei ist neben dem existentiellen Aspekt des (eigenen) Todes auch der Aspekt der Unkontrollierbarkeit von Bedeutung: Krieg schränkt die Fähigkeit der Opfer ein, sich dem eigenen Schicksal zu entziehen bzw. auf ihr eigenes Schicksal Einfluß zu nehmen. Man könnte das gleiche zwar prinzipiell auch über eine tödliche Seuche oder Naturkatastrophen sagen, doch kommt für den Krieg das Bewußtsein hinzu, daß das Schicksal der Opfer von dem bewußten Handeln (bzw. vom Wollen) anderer Menschen bestimmt wird. Daraus folgt keineswegs, daß nur Vernichtungskriege, die auf die physische Eliminierung des Gegners (und zwar gleichermaßen der Kombattanten wie der Nichtkombattanten) angelegt sind, als Kriege im Sinne der Definition gelten können; bei ihnen handelt es sich gleichwohl um die extremste Mani-

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Martin van Creveld, The Transformation of War, New York: Free Press, 1991, S. 157–161. Zu Häufigkeit und Intensität von Kriegen in prähistorischen bzw. vorstaatlichen Gesellschaften siehe Keeley, War Before Civilzation, passim.

festation. Aber auch für das Verständnis eines zur Durchsetzung begrenzter Ziele geführten Kriegs ist zentral, daß das Töten bzw. die Drohung des Todes die existentielle Herausforderung darstellt. Die bekannte Definition Carl von Clausewitz’ (1780–1831), des Demiurgen der modernen Kriegstheorie, »der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen«,18 greift schon deswegen zu kurz, weil sie ganz offenbar davon ausgeht, daß der Gegner nach einem Krieg fortexistiert. Mit dieser Prämisse lassen sich aber gerade die für das 20. Jahrhundert so charakteristischen Kriegsformen nicht mehr fassen: Im Vernichtungskrieg bedeutet der »Willen« der einen Seite die vollständige Auslöschung der anderen Seite, und ein Unterwerfen unter diesen Willen, um den Krieg zu beenden, wäre ein Akt der totalen Selbstaufgabe und Selbstauslöschung. Auch ein denkbarer massiver nuklearer Schlagabtausch, der die Territorien der kriegführenden Staaten und möglicherweise sogar die gesamte Erde unbewohnbar machen würde, müßte die Grenzen der Clausewitzschen Definition notwendigerweise sprengen. Im Zusammenhang von Kriegen treten neben dem Tod in großer Zahl (bzw. dessen Androhung) regelmäßig noch eine Reihe anderer Aspekte in Erscheinung – wenn auch nicht notwendigerweise zusammen –, die in der Definition nicht enthalten sind. Darunter fallen etwa Zerstörungen und Plünderungen, Vertreibungen, sexuelle Gewalt, Hunger und Seuchen. Diese Aspekte treten freilich alle auch in anderen Zusammenhängen auf und sind mithin nicht konstitutiv für Krieg – im Gegensatz zu dem Charakteristikum des Tötens von Menschen durch andere Menschen in großer Zahl, im Sinne der angeführten Definition. Und während die genannten Aspekte für die Analyse und Beschreibung von konkreten Kriegen unerläßlich sind (in der Tat wäre es eine absurde Verkürzung, sich dabei auf den Aspekt des Todes zu beschränken), ist für das Verständnis des Gesamtphänomens Krieg vor allem der Zugang über sein Charakteristikum – jenen Aspekt, der in anderen Zusammenhängen menschlichen Handelns eben nicht in Erscheinung tritt – von zentraler Bedeutung. Krieg und andere Formen der Konfliktaustragung

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Was folgt nun aus der These, daß das Wesen und die Wirkung des Kriegs in erster Linie durch die existentielle Dimension, das heißt im Töten-und-getötet-Werden von Menschen, sich erschließen? Andere, weniger tödliche Formen der Konfliktaustragung (beispielsweise Informations- bzw. Computerkriegführung oder der Einsatz von non-lethal weapons ) mögen zwar zukünftig an Zahl zunehmen, sie bedeuten aber 18

Carl von Clausewitz, Vom Kriege, hrsg. von Werner Hahlweg, 19. Auflage, Bonn: Dümmler, 1980, Nachdruck 1991, Buch I, Kapitel 1, S. 191–192 [Erstpublikation: Berlin: Dümmler, 1832–34].

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keine Veränderung des konstitutiven Charakters von Krieg im beschriebenen Sinne, sondern allenfalls die Neueinführung bzw. Adaption von Eskalationsstufen unterhalb der Ebene des Kriegs. Krieg freilich bleibt die höchstmögliche Eskalationsstufe eines Konfliktes. Durch die Einführung neuer, niedrigerer Eskalationsstufen mag sich die Intensität von manchen Konflikten verringern, so daß es seltener zu Kriegen kommen könnte; das Wesen des Kriegs wird davon freilich nicht berührt. Dennoch spielt in der Diskussion über die Zukunft des Kriegs die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Krieg und alternativen Mechanismen kollektiver Interaktion eine wichtige Rolle. Dies betrifft in erster Linie die Ökonomie, der oft zugeschrieben wird, eine Alternative zu Krieg zu sein oder sogar eine Überwindung von Krieg leisten zu können. Das Argument etwa, daß bereits der Prozeß ökonomischer (und politischer) Globalisierung und die daraus resultierende gegenseitige Abhängigkeit der Staaten Krieg als Mittel der Politik obsolet machen werde, ist mittlerweile über 200 Jahre alt. Es wurde zuerst im Jahre 1792 von dem englischen Kleriker, politischen Theoretiker und Wissenschaftler Joseph Priestley (1733–1804) vorgebracht, und zwar hinsichtlich der Beziehungen zwischen England und Frankreich: »Die gegenwärtigen Handelsverträge zwischen England und Frankreich, und zwischen anderen Nationen, die früher miteinander verfeindet waren, scheinen zu belegen, daß die Menschheit beginnt, die Torheit des Kriegs zu erkennen. Sie verheißen eine neue und wichtige Ära für den Zustand der Welt insgesamt, (oder) zumindest in Europa.«19 Im gleichen Jahr behauptete der amerikanische Autor und Denker Thomas Paine (1737–1809), der Verfasser von Common Sense , in seinem Werk The Rights of Men: »Wenn man (nur) den Handel in dem universalen Ausmaß wirken lassen würde, zu dem er in der Lage ist, würde er das System des Kriegs beseitigen.«20 Und 1848 schrieb der englische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill (1806–1873): »Der Handel (ist) auf dem besten Weg, Krieg dadurch obsolet zu machen, daß er die Eigeninteressen, die in natürlicher Weise gegen Krieg wirksam werden, verstärkt und vervielfacht . . . Das große Ausmaß und die rasche Zunahme des internationalen Handels . . . (sind) die hauptsächliche Garantie für den Frieden auf der Welt.«21

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Zitiert nach Donald Kagan, »History is Full of Surprises«, in: Survival. The IISS Quarterly, Bd. 41. 2 (1999), S. 140–143, hier S. 140: »The present commercial treaties between England and France, and between other nations formerly hostile to each other, seem to show that mankind begin to be sensible of the folly of war, and promise a new and important era in the state of the world in general, at least in Europe.« 20 Zitiert nach Kagan, »History is Full of Surprises«, S. 140: »If commerce were permitted to act to the universal extent it is capable, it would extirpate the system of war.« 21 Zitiert nach Kagan, »History is Full of Surprises«, S. 141: »Commerce, which is rapidly rendering war obsolete, by strengthening and multiplying the personal interests which act in natural opposition to it . . . The great extent and rapid increase of international trade . . . (is) the principal guarantee of the peace of the world.«

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Dieses Denken kann also auf eine beeindruckende Tradition zurückblicken.22 Es handelt sich um die gleiche Theorie, die im gegenwärtigen Globalisierungsdiskurs von zahlreichen Politikern, Wissenschaftlern und Intellektuellen vorgebracht wird – und die Argumente haben sich im Laufe der Zeit noch nicht einmal verändert. Heute wie damals wird argumentiert, daß die gegenseitige Abhängigkeit und Verflechtung im internationalen System einen derart hohen Grad erreicht habe, daß Kriege sich nicht mehr »lohnten« bzw. ökonomisch unführbar geworden seien, da die Kosten höher wären als der Gewinn.23 Die fortdauernde Popularität dieser Theorie erweist sich nicht zuletzt darin, daß weder die Napoleonischen Kriege, weder der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 noch die beiden Weltkriege dieses Jahrhunderts – um nur einige herausragende europäische Beispiele für Kriege zwischen ökonomisch eng miteinander verflochtenen Staaten zu nennen – sie haben entkräften können. Dabei wären diese Beispiele durchaus geeignet gewesen, deutlich zu machen, daß es eben nicht in erster Linie ökonomische Kosten-Nutzen-Überlegungen sind, die für die Entscheidung über Krieg und Frieden ausschlaggebend sind. Man ist geneigt, angesichts der historischen Evidenz zu fragen, welcher weiteren Kriege es eigentlich noch bedarf, um das Argument der ökonomischen Interdependenz als Faktor der Kriegsverhinderung nachhaltig zu entkräften. Wichtig ist jedoch vor allem die Grundannahme hinter dem Argument, ökonomische Verflechtung mache Kriege unführbar: Diese rationalistische Sichtweise setzt nämlich als Prämisse voraus – und zwar oft stillschweigend und uneingestanden –, daß Kriege allein oder hauptsächlich um der materiellen Vorteilsgewinnung geführt werden und daß das Bewußtmachen zu erwartender ökonomischer Verluste Menschen davon abhalten kann, gegeneinander Krieg zu führen. Dies führt direkt zu der Frage nach den Motiven menschlichen Handelns. Zu den Motiven menschlichen Handelns

Was die Versuche zur Erklärung des Phänomens Krieg in der Geschichte betrifft, so lassen sich diese nicht zuletzt durch ihren jeweiligen Grundbezugspunkt unterscheiden. Die einen basieren auf der Annahme des Primats der (in der Regel materiellen oder machtorientierten) Interessen als Motiv menschlichen Handelns und können daher als interessen- bzw. vorteilsorientiert bezeichnet werden.24 Die anderen

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Für einen kurzen Überblick über diesbezügliche Ansätze vom 18. bis zum 20. Jh. siehe Kagan, Origins of War, S. 1–4. 23 Für eine ausführliche Diskussion und historisch-ökonomische Widerlegung dieser These anhand der Beispiele des Ersten Weltkriegs und der Gegenwart siehe Ralph Rotte, »Global Warfare, Economic Loss and the Outbreak of the Great War«, in: War in History, Bd. 5.4 (1998), S. 481–493. 24 Siehe beispielsweise die Ansätze in Dawson, »Origins of War«.

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gehen vom Primat der (oft ideologischen) Überzeugung aus, sind also überzeugungs- bzw. ideenorientiert.25 Bei dieser Dichotomie handelt es sich wiederum um eine Grundfrage menschlicher Selbstsicht: Überzeugung und Interesse sind die beiden Motive, die zielgerichtetes menschliches Handeln erklären können. In aller Regel werden diese Motive zwar als Mischform bzw. komplementär wirkmächtig; es handelt es sich bei ihnen jedoch um ein begriffliches Gegensatzpaar, und die Präferenz für eine der beiden Hauptlinien als Erklärungsansatz ist in erster Linie von den anthropologischen Prämissen des Betrachters abhängig. Gerade mit Blick auf das Phänomen des Kriegs dürfte es den meisten Historikern schwerfallen, Überzeugung als eigenständigen Faktor aus dem Kanon der Beweggründe menschlichen Handelns zu streichen oder der Interessenorientierung eindeutig unterzuordnen.26 Dem Faktor der Überzeugung und ideologischen Motivation der direkt an Krieg oder Massenvernichtung Beteiligten ist in jüngster Zeit in der Geschichtswissenschaft große Bedeutung zugemessen worden, etwa mit Blick auf den Krieg der Wehrmacht im Osten oder den Holocaust.27 Aber auch in bezug auf andere Perioden, wie etwa den amerikanischen Bürgerkrieg, wird die gleiche Frage an zentraler Stelle diskutiert.28 Auch in der Soziologie werden Interessen im hier gemeinten Sinn kaum als bestimmend für soziales Handeln angesehen. Nichtsdestotrotz scheinen gegenwärtig interessenorientierte Auffassungen in den westlichen Gesellschaften – und damit notwendigerweise auch in einzelnen Wissenschaftsdisziplinen – an Einfluß zu gewinnen. Als signifikante Beispiele sind wirtschaftswissenschaftliche Ansätze zu nennen, die aus der Grundhaltung moralischer Indifferenz heraus eine Unterscheidung zwischen überzeugungs- und interessenorientierten Motiven grundsätzlich ablehnen, deren Gesellschaftsentwürfe in der praktischen Konsequenz aber auf den Primat der materiellen Interessenmaximierung zielen. Ein weiteres Beispiel, aus der Disziplin der Internationalen Beziehungen, ist die Denktradition des Realismus, die staatliches Handeln allein aus Interesse, Vorteilserzielung und Machtstreben zu erklären bemüht ist. Die Attraktivität interessenorientierter Ansätze erklärt sich vor allem aus der einfacheren Nachvollziehbarkeit und Kommunizierbarkeit von 25

Siehe etwa Robin Fox: »Fatal Attraction: War and Human Nature«, in: The National

Interest, Nr. 30 (Winter 1992/93), S. 11–20.

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Zum Verhältnis von Interesse und Überzeugung im Kontext von Krieg siehe van Creveld, Transformation of War, S. 149–156. 27 Neben der einschlägigen Literatur von Omer Bartov, Christopher R. Browning und anderen siehe auch Stephen G. Fritz, »We are trying . . . to change the face of the world – Ideology and Motivation in the Wehrmacht on the Eastern Front: The View from Below«, in: Journal of Military History, Bd. 60.4 (1996), S. 683–710. 28 Siehe Mark Grimsley, »In Not So Dubious Battle: The Motivations of American Civil War Soldiers«, in: Journal of Military History, Bd. 62.1 (1998), S. 175–188.

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Interessen durch Dritte: Während es ein vergleichsweise schwieriges und aufwendiges Unterfangen ist, das Handeln von Menschen einer anderen Kultur bzw. einer anderen historischen Periode aus dem Kontext ihrer Überzeugungen heraus zu verstehen (was unter anderem eine profunde Kenntnis ihrer geistigen Welt und ihres Wertesystems voraussetzt, die zu erlangen nicht zuletzt schon aufgrund von ungenügendem Quellenmaterial oft nur in Ansätzen möglich ist), sind Interessen von Menschen – also ihre unmittelbaren und mittelbaren materiellen Vorteile – in aller Regel kultur-, zeit- und ortsunabhängig und mithin auch für Dritte leicht identifizierbar. Zumal Interessen, im Unterschied zu Überzeugungen, quantifizierbar sind und sich leichter in Hierarchien einordnen lassen. Dadurch wird der interessenorientierten Argumentation der Anschein von Objektivität und mithin größerer Wissenschaftlichkeit verliehen. Der Betrachter ist also ohne große Mühen in der Lage, die Interessen von handelnden Menschen auch außerhalb seiner eigenen Erfahrungswelt – und ohne intime Kenntnis der konkreten Umstände – zu identifizieren und über diese dann innerhalb und außerhalb seiner eigenen wissenschaftlichen Disziplin zu kommunizieren, ohne daß eine Verständigung über einen gemeinsamen Zugang zu der geistigen Welt einer fremden Kultur oder einer anderen Epoche erforderlich wäre. Für die Kommunikation über Interessen ist noch nicht einmal erforderlich, daß es unter den Gelehrten einer Disziplin gemeinsame anthropologische oder weltanschauliche Prämissen gibt. Und in einer Zeit wie unserer, in der universale Deutungssysteme ihre Erklärungskraft verloren haben, erscheinen die Interessen als kleinster gemeinsamer Nenner des Diskurses über die Motivationen menschlichen Handelns aufgrund der beschriebenen Universalität und vergleichsweise leichten Zugänglichkeit und Kommunizierbarkeit den Unsicherheiten (und Mühen) eines Diskurses unter Einbeziehung überzeugungsorientierter Erklärungsansätze überlegen. Der Vollständigkeit halber ist als weitere wichtige Triebkraft menschlichen Handelns die Emotion zu nennen; sie ist ungleich schwieriger zu fassen bzw. nachzuvollziehen als Überzeugung oder gar Interesse und erscheint Dritten oft als Irrationalität, die per definitionem nicht in ein rationalistisches Deutungsschema eingefügt werden kann. Vor allem deswegen wird der Bereich von Emotion und Irrationalität in der geschichtswissenschaftlichen Betrachtung regelmäßig vernachlässigt, worauf beispielsweise Stig Förster hingewiesen hat: »Es bliebe dann nur noch das Chaos, die Irrationalität. Geschichte ließe sich nicht mehr vorausberechnen, weil die historisch Handelnden sich jedem rationalen Kalkül entzögen. Interpretationen, die aber gerade dies unterstellten, haben es deshalb besonders schwer, weil sie an den Grundfesten unseres Weltbildes rütteln, demzufolge auch die Geschichte auf der Grundlage nachvollziehbarer Kausalitäten ver-

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läuft.«29 Nun ist aber gerade der Krieg in hohem Maße mit Emotionen verbunden. Martin van Creveld geht sogar so weit, aufgrund der vor und im Kampf freigesetzten (meist positiven) Emotionen im Krieg kein Mittel, sondern einen sich selbst genügenden Zweck menschlichen Handelns zu sehen.30 Wenn man also auch die Wirkmächtigkeit von Emotionen nicht zu gering veranschlagen darf, so wird der Historiker in der Analyse menschlichen zielgerichteten Handelns in der Regel doch auf die nachvollziehbaren Aspekte, also Interessen und Überzeugungen, beschränkt sein. Überzeugungen als Wesensmerkmal des Menschen

Interessen sind zweifellos ein wichtiger Beweggrund menschlichen Handelns, aber eben nicht der einzige. Die scheinbaren Vorteile, sich bei der Verständigung über menschliche Motivationen auf Interessen zu beschränken, werden um den hohen Preis erkauft, daß Überzeugungen als ein weiterer zentraler (und durchaus nachvollziehbarer) Aspekt der Motivation menschlichen Handelns aus dem Blickfeld geraten. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und argumentieren, daß in der Tat etwa das Verhalten von Tieren genausogut aus deren »Interessen« erklärt werden kann wie menschliches Handeln. Bei den Überzeugungen ist das anders. Es ist ein Wesensmerkmal des Menschen, daß er seinem Tun einen Sinn zuschreibt, und dieser Sinn kann – in der Form der Überzeugung – selbst wieder so wirkmächtig werden, daß er menschliches Handeln leitet. Diese charakteristische Dimension des Menschen wird durch auf die Identifizierung von Interessen ausgerichtete Erklärungsansätze oft ausgeklammert. Dadurch wird das Menschen- wie Geschichtsbild massiv simplifiziert und reduziert, und eines der zentralen Wesensmerkmale des Menschen gerät aus dem Blickfeld. Das soll nun nicht heißen, daß Menschen keine Interessen verfolgen, wohl aber, daß sich die Komplexität der Motivation zielgerichteten menschlichen Handelns nicht alleine aus den Interessen erschließen läßt und daß Erklärungsansätze, die Überzeugungen nicht berücksichtigen, notwendigerweise zu kurz greifen. Auch bei der Frage nach den Motiven menschlichen Handelns ist man also mit Auffassungen konfrontiert, die in hohem Maße von den Prämissen der Betrachter abhängig sind. Und es sind Prämissen, über die nachzudenken sich durchaus lohnt: Der amerikanische Anthropologe Robin Fox, der dezidiert in Ideen und Überzeugungen die Triebkräfte menschlichen Handelns sieht, hat den Unterschied zwischen interessen- und überzeugungsorientierten Erklärungsansätzen folgendermaßen pointiert: »Falls die von mir vertretene Auffassung zutreffend ist, dann

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Stig Förster, »Der deutsche Generalstab und die Illusion des kurzen Krieges, 1871–1914. Metakritik eines Mythos«, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, Bd. 54.1 (1995), S. 61–95, hier S. 65. 30 van Creveld, Transformation of War, S. 161–166.

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handelt es sich bei Kriegen nicht um eine Krankheit, die es zu heilen gilt, sondern um einen Teil des normalen menschlichen Zustands. Sie entspringen dem, was wir sind, und nicht irgendwelchen Zufällen unseres gelegentlichen Handelns (›Geschichte‹). (. . .) Aber ein Paradoxon bleibt: Daß uns nämlich die Verteidigung unserer Ideen – unsere Definitionen unserer selbst und unserer Gesellschaften –, so wichtig ist, daß wir willentlich danach streben, diejenigen, die wir für deren Feinde halten, zu vernichten, und dabei beweisen wir noch die höchste Form menschlicher Tapferkeit. Und was sollte daran eigentlich auszusetzen sein? Was ist denn am ehesten wert, dafür zu sterben: materielle Interessen oder die (dem Menschen) eigenen Ideen? Denn schließlich sind es die Ideen, die uns zu Menschen machen.«31 Es erscheint lohnend, diesen Punkt zu reflektieren: Inwieweit nämlich ist Krieg charakteristisch – und möglicherweise sogar konstitutiv – für Menschsein? Dieser Gedanke ist auch für im allgemeinen als negativ empfundene menschliche Einstellungen, wie etwa die eingangs erwähnte Feindschaft, relevant. Überträgt man nämlich die Argumentation von Robin Fox bezüglich des Kriegs auf die Feindschaft, so zeigt sich, daß auch Feindschaft eigentlich ein Charakteristikum (bzw. Konstitutivum) von Menschsein darstellt. Wäre es unter einer solchen Annahme überhaupt wünschenswert, Feindschaft abzuschaffen, zu überwinden oder zu stigmatisieren? Oder anders, provokanter gefragt: Inwieweit kann die Menschheit sich ihrer »dunklen Seite« entledigen – unter der Hypothese, daß dies überhaupt möglich sei –, ohne ihr Wesen so zu verändern, daß von »Menschsein« eigentlich nicht mehr die Rede sein kann? Dabei darf man nicht aus dem Auge verlieren, daß nicht alleine die Bereitschaft zu Feindschaft und Krieg (also die »dunkle Seite«) charakteristisch ist für den Menschen, sondern genauso die friedliebende, kooperative, fürsorgliche Seite. Genaugenommen ist es das ambivalente Nebeneinander dieser widerstreitenden Prinzipien, das eine Grundkonstitution des Menschen bildet. Daraus folgt nicht, daß es eitel oder gar falsch wäre, sich um die Einhegung des Kriegs zu bemühen. Aber es ist zu beachten, daß das Idealbild einer kontinuierlichen Einhegung von Krieg auf gänzlich anderen anthropologischen Prämissen beruht – und ganz andere Konsequenzen für das Menschenbild hat – als das Idealbild der endgültigen Abschaffung von Krieg. Das Ziel der Einhegung des Kriegs bedeutet die

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Fox, »Fatal Attraction«, S. 20: »If the general position outlined here be valid, then wars are not a disease to be cured, but part of the normal human condition. They stem from what we are, not from some contingencies of what we do from time to time (›history‹). (. . .) But the paradox remains: that so important is the defense of our ideas – our definitions of ourselves and our societies – that we will willingly strive to destroy their perceived enemies and exhibit the highest forms of human courage in doing so. And who is to say that we are wrong? What is most worth dying for, material interests or diacritical ideas? It is ideas that make us human after all.«

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Akzeptierung einer ambivalenten Grundkonstitution des Menschen, das Ziel der Abschaffung setzt die Annahme einer eindeutigen Grundkonstitution voraus oder betrachtet diese zumindest als herbeiführbar. Doch auch dann bliebe die Frage, inwieweit eine Grundkonstitution des Menschen verändert werden kann, ohne daß er in Diskontinuität zu sich selbst geriete.

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Schlußfolgerungen: Krieg und Weltsicht

In der anthropologischen Dimension liegt der Wert der Beschäftigung mit dem Phänomen des Kriegs in der Geschichte. Hierbei sind besonders die Aspekte der Universalität und Kontinuität des Phänomens Krieg von zentraler Bedeutung. Denn es eröffnet den unverstellten und ansonsten oft gescheuten Blick auf ein Wesensmerkmal des Menschen, nämlich seine immanente Fähigkeit, seine Bereitschaft und seinen Willen, anderen Menschen Schaden, Leid und Tod zuzufügen. Und dieser Blick eröffnet sich eben nicht nur an diskreten historischen Punkten, sondern auch und vor allem als Kontinuum über Zeit-, Raum- und Kulturgrenzen hinweg. Die Erforschung des Kriegs, der hier vor allem durch das Kriterium des zielgerichteten Tötens von Menschen durch andere Menschen in großer Zahl definiert wird, als historische Grundkonstante ist daher ein unverzichtbarer Bestandteil des Verständnisses der Geschichte der Menschheit. Deswegen kommt ihm eine zentrale Rolle für die historische wie für die anthropologische Erkenntnis zu. Die grundsätzlich ambivalente Grundkonstitution des Menschen, der sowohl aggressive als auch fürsorgliche Wesensmerkmale (seine »dunkle Seite« und seine »helle Seite«) in sich vereinigt, korrespondiert mit einer dialektischen Beziehung von Krieg und Frieden in der Geschichte. So wie es unmöglich ist, ein Bild vom Menschen zu entwerfen, das die aggressive bzw. fürsorgliche Seite ausblendet, eröffnet sich der Zugang zu Geschichte nicht ausschließlich über Krieg oder Frieden, sondern über das dialektische Verhältnis der beiden Gegenbegriffe. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Krieg erweist sich jedoch nicht zuletzt deswegen als schwierig, weil sie in mehrfacher Hinsicht und in außergewöhnlich hohem Maße von dem Welt- und Menschenbild des jeweiligen Betrachters bestimmt wird. So entlarvt sich der gelegentlich erbittert ausgefochtene wissenschaftliche Diskurs über Krieg, über seinen Ursprung, seine Funktion, seine Wirkungsweise und seine Zukunft, in jedem der genannten Punkte als eine Projektionsfläche konkurrierender Weltanschauungen bzw. anthropologischer Prämissen. Diese bewußtzumachen ist sicherlich eine notwendige Voraussetzung für einen sinnvollen Diskurs über das Phänomen des Kriegs in der Geschichte. Gleichzeitig ist in den unterschiedlichen Prämissen jedoch auch der Hauptgrund für den eingangs beschriebenen Umstand zu sehen, daß trotz einer langen und intensiven intellektuellen Beschäftigung mit

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dem Phänomen des Kriegs, gerade in unserer Zeit, bislang nur ein äußerst geringer Zugewinn an Erkenntnis zu verzeichnen gewesen ist. Und so könnte man den Eindruck gewinnen, daß das Bemühen, sich wissenschaftlich mit dem Krieg auseinanderzusetzen, weniger zu Erkenntnissen über den Krieg selbst führt, als dazu, daß man – gleichsam in einer Art Rorschach-Test – genau das wissenschaftlich bestätigt zu finden glaubt, von dem man in seinen Prämissen stillschweigend ausgegangen war. Doch warum ist die aktuelle wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Kriegs in so hohem Maße durch die unterschiedlichen Prämissen der Betrachter gekennzeichnet? Ein Grund ist sicherlich darin zu sehen, daß konträre Weltanschauungen und anthropologische Prämissen als solche nicht mehr als Gegenstand eines intellektuellen oder fachwissenschaftlichen Diskurses akzeptabel sind, nachdem spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die großen und vom Anspruch her umfassenden Deutungssysteme gründlich diskreditiert wurden. Wie an dem hier untersuchten Fall der wissenschaftlichen Diskussion über den Krieg deutlich geworden ist, haben der Wegfall der umfassenden Deutungssysteme und des Weltanschauungsdiskurses sowie der um sich greifende heuristische Minimalismus jedoch keineswegs zu einem Bedeutungsverlust der konkurrierenden bzw. konträren Weltanschauungen und anthropologischen Prämissen geführt. Zugleich aber scheint das Phänomen des Kriegs immer weniger geeignet, Auskunft über den Menschen und sein Handeln geben zu können. Der wissenschaftliche Diskurs über Krieg hat Züge eines weltanschaulichen Ersatzdiskurses angenommen, der als solcher auf der eigentlichen Ebene der konkurrierenden Weltanschauungen und Deutungssysteme in einer postmodernen Gesellschaft nicht mehr führbar ist. Als Alternative zu der Perpetuierung dieses weltanschaulichen Ersatzdiskurses könnte eine intensivere Reflexion der Ambivalenzstruktur des Menschen sowie des dialektischen Verhältnisses von Krieg und Frieden in der Geschichte fruchtbare Impulse für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Krieg versprechen.

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