UNTER ENGELN UND KANNIBALEN

presse_boe.qxd 23.04.2003 08:17 Seite 1 Helmer Boelsen UNTER ENGELN UND KANNIBALEN Die schönsten Geschichten aus 55 Jahren Radsportjournalismus ...
Author: Victor Kästner
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Helmer Boelsen

UNTER ENGELN UND KANNIBALEN Die schönsten Geschichten aus 55 Jahren Radsportjournalismus

Leseprobe Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags

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Guatav Kilian schaute nachdenklich drein. Wir waren auf dem Rückflug von der Rad-Weltmeisterschaft 1977 in Venezuela. Eigentlich war sie erneut nicht schlecht gelaufen für ihn und seine Schützlinge. Gregor Braun war Weltmeister geworden im Verfolgungsfahren der Profis. Offiziell fiel das zwar nicht mehr in die Zuständigkeit des Bundestrainers Kilian, aber er hatte den «Bär aus der Pfalz« mitbetreut, der schon ein Jahr vorher unter seiner offiziellen Leitung in Mexiko Olympiasieger im Verfolgungsfahren und im Bahnvierer geworden war, und sogar »Sportler des Jahres« der Bundesrepublik. Silber hatte Günther Schumacher im Zeitfahren ebenso erstritten wie der Vierer, Bronze waren an den Amateursteher Rainer Podlesch und das Tandem Horst »Hotte« Gewiss/Wolfgang Schäffer gegangen. Die Gesamtbilanz des Gustav Kilian hatte sich in den 17 Jahren seiner Tätigkeit auf 16 goldene, 12 silberne und 8 bronzene Medaillen gesteigert. Und als er 1978 den Profi Gregor Braun bei der Weltmeisterschaft in München noch einmal zum Titel »betreute«, erhöhte sich die Goldbilanz auf 17. »Du überlegst, ob du weitermachen sollst«, sagte ich ihm auf den Kopf zu. »Woher weißt du das?« »Das seh’ ich dir an.« »Lass uns mal gemeinsam überlegen.« Denn das große Negativerlebnis, das in ihm rumorte, war die Endlaufniederlage seines Vierers ausgerechnet gegen den der DDR. Es war zum vierten Mal geschehen, dass es zu deutsch-deutschen Endläufen der Bahnvierer gekommen war. 1970 in Leicester, 1972 bei den Olympischen Spielen in München und 1974 in Montreal hatte der

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Kilian-Vierer mühelos gewonnen. Und jetzt das! Dabei war es leicht erklärbar, gar entschuldbar. Am späten Abend, als der Endlauf angesetzt war, verzögerte sich das Programm um 20 Minuten. Und als die Vierer zum Startplatz rollten, setzte der Regen ein. Er weitete sich aus zum Wolkenbruch. Eine nervtötende Wartezeit begann. Sie währte bis um zwei Uhr morgens. Da entschied die Jury: »Der Endlauf findet um acht Uhr statt!« Völlig irreguläre Bedingungen also. Kein Schlaf, frühes Essen, frühes Warmfahren. »Meine vier sind Morgenmuffel«, schwante Gustav Kilian nichts Gutes. In der Qualifikation war die DDR um vier Sekunden schneller gewesen, aber das machte Kilian keine Sorgen. Anfangs brauchte sein Quartett immer seine Zeit, um in Schwung zu kommen. Im Viertelfinale trennten beide die Winzigkeit von acht Hundertstelsekunden zugunsten der Bundesrepublik, im Halbfinale waren die Zeiten kein Maßstab mehr, weil die Russen früh aufsteckten und Kilians Vierer verhalten ins Ziel fahren konnte. Es war also alles offen. Kilian machte noch in Optimismus: »Wir sind eine Turniermannschaft. Wir werden von Lauf zu Lauf besser, besonders, wenn zwei Rennen an einem Tag gefahren werden.« Aber um acht Uhr morgens war die Chance der Hans Lutz, Günter Schumacher, Peter Vonhof und Henry Rinklin gleich null. 4:21,34 Minuten wurden für Norbert Durpisch (er hatte auch das Turnier der Amateur-Verfolger gewonnen), Gerald Mortag (später Trainer in Thüringen), Matthias Wiegand und Volker Winkler gemessen, 4:29,09 für die resignierenden Gegner, bei denen der nervöse Neuling Henry Rinklin nach sieben Runden abgefallen war. Bei einer späteren großen Geburtstagfeier von Gustav Kilian – er wurde an diesem Tag 80 – schrieb ich ihm einmal ein kleines Gedicht mit den Zeilen: »Das Terzett Schummi, Vonhof, Lutz, das haute mächtig auf den Putz. Mit Haritz, Thurau oder Braun, ließ es sich keinen Titel klaun. Erst als der Rinklin zu ihm stieß, geschahs, dass diese Serie riss.« In San Cristobal in Venezuela war eine tolle Serie gerissen. Seit 1972, seit den Olympischen Spielen in München, hatte der Vierer fünfmal hintereinander gewonnen, und immer waren Günter

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Schumacher und Peter Vonhof dabei, ab 1973 dann auch Hans Lutz. Kein Vorwurf an Henry Rinklin. Er war gerade einmal 19 Jahre alt, und es drückte schon wie eine Last auf ihm, dass er Klassefahrer wie Günter Haritz, Dietrich Thurau oder Gregor Braun ersetzen sollte, die allesamt, wie auch vorher der »München-Starter« Udo Hempel zu den Profis abgewandert waren. Und nun in Venezuela sagte Günter Schumacher schon vor dem verlorenen Finale: »Ich will jetzt Profi werden, mir noch ein paar Mark bei Sechstagerennen verdienen«, und Hans Lutz erklärte ebenfalls seinen Rücktritt. Nur Peter Vonhof hatte fröhlich hinausposaunt: »Mit Vonhof in die Achtziger Jahre!« Das floss natürlich ein in unsere Überlegungen auf dem Rückflug. »Dir laufen die Rennfahrer weg. Neue, die sie ersetzen können, sehe ich im Moment nicht – weder bei den Amateuren noch bei den Junioren. Die DDR aber wird ihre Mannschaft behalten und hinter den Vieren stehen ja noch andere Klassefahrer wie der Uwe Unterwalder, der in der Verfolgungs Zweiter geworden ist. Sie haben hier ja nicht nur Vierer und Verfolgung gewonnen, sondern auch einen Dreifachsieg im Sprint und einen Sieg im Zeitfahren gefeiert. Die haben das seit Mitte der 70er im Griff«, kommentierte ich die WM in Südamerika. Und Gustav Kilian ergänzte meine Anmerkungen: »Und nächstes Jahr sind die Weltmeisterschaften bei uns in München. Nicht, dass ich Angst hätte, aber wir kennen doch die Erwartungen… und blamieren möchte ich mich nicht.« Ich erinnerte ihn noch: »Im November wirst du 70. Das ist doch ein wunderbarer Moment, deinen Rücktritt zu erklären. Man wird es dir nicht übel nehmen.« Und so geschah es auch. Bis zur Feier des 70. Geburtstages am 3. November 1977 in der Halle Münsterland, wo der damalige BDRPräsident Hans-Joachim Hangstein als Hallendirektor residierte, hielten wir den Entschluss geheim. Ich hätte lange eine »ExklusivMeldung« verbreiten können. Aber ich hatte Gustav Kilian mein Wort gegeben. Dann bat er in Münster um seine Entlassung aus dem Amt des Bundestrainers. Rein körperlich, konditionell lag kein Grund vor. Die 70 Lebensjahre standen bei Gustav Kilian nur auf dem Papier. Er war

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jünger, beweglicher, kräftiger, dynamischer und viel besser aussehend als manch 40-Jähriger, und mein Dortmunder Kollege und Freund Gerd Rensmann nahm in seinem Kilian-Buch unter dem Titel: »Allein ist man nichts – als Mannschaft alles« auch den Kilian-Spruch auf: »Lieber 70 Jahre jung als 40 Jahre alt...« Schon die erste Karriere des Gustav Kilian als begnadeter Rennfahrer endete ja in einem Alter, wo andere längst Seniorenrennen fahren. Er war 46, als er das Rennrad in die Ecke stellte, mit 43 war er noch in Paris Fünfter der Steher-Weltmeisterschaft geworden, mit 42 hatte er zum letzten Mal mit seinem Stammpartner Heinz Vopel in Berlin ein Sechstagerennen gewonnen, und sich danach noch etliche Male gut platziert. Und dieses Phänomen des »Ewig jungen Gustav« sollte nach dem Rücktritt als Trainer noch mehr als zwei Jahrzehnte andauern. In Dortmund bestaunten nicht nur die Nachbarn den munteren Radfahrer bei seinen täglichen Ausfahrten, die gut und gern ihre 60 bis 80 Kilometer dauerten. In den Schwarzwaldkurort Obertal wurde er Jahr für Jahr eingeladen. Quasi als »Vorzeigepatient« demonstrierte er, wie man auch im hohen Alter sportlich und vital sein kann. Und er konnte als bekennender Asket auf einen Lebensstil verweisen, bei dem Alkohol und Nikotin auf dem Index standen. Als ihm zwischen der ersten und der zweiten Sportkarriere von der Stadt Dortmund einmal die Pacht einer Gastwirtschaft übertragen wurde, mahnte er seine Gäste vergeblich, doch lieber die gute Milch als das Dortmunder Bier zu trinken. Er war dort völlig deplatziert. Es war ein schmerzliches Ereignis, das auch dem scheinbar Unverwüstlichen den Lebensmut nahm. Verwitwet war er lange, Ehefrau Friedel war 1974 gestorben. Er lebte mit seinen Kindern im eigenen Haus in Dortmund-Eving. Er selbst oben im zweiten Stock – die Treppen stürmte er hinauf und hinunter – im Parterre Sohn Gussy, der auch einmal ein tüchtiger Radamateur war, im ersten Stock Tochter Christel mit ihrem Mann. Und dann hörte er eines Tages im September 1998 aus dem Keller ein Wimmern: »Papa, Papa.« Sein Sohn war zusammengebrochen. Der Vater trug ihn in seine Wohnung,

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holte den Arzt, doch auf dem Weg ins Krankenhaus starb der Sohn, gerade einmal 58 Jahre alt an einem Herzinfarkt. Vater Gustav war 91. Zwei Jahre später starb auch er. Diesen Schicksalsschlag konnte er nicht verwinden, auch wenn viele Freunde und besonders seine neue Lebensgefährtin Bärbel Kerstein, mit der er 19 Jahre befreundet war, ohne dass beide zusammen wohnten, sich um ihn bemühten. Denn körperlich krank und siech war er auch im Greisenalter nicht. Am 20.Oktober 2000, zwei Wochen, bevor er 93 Jahre alt geworden wäre, starb Gustav Kilian. Geboren war er in Luxemburg. Die Mutter war Luxemburgerin, aber nach dem ersten Weltkrieg zog die Familie nach Dortmund, betrieb ein Lebensmittelgeschäft. Gustav selbst lernte Autoschlosser, und das kam ihm zugute, als er – angesteckt von Freunden und Nachbarskindern – ein renntüchtiges Fahrrad haben wollte und der strenge Vater es verweigerte. Da bastelte er es sich selbst. Auf der Schutthalde fand er einen zerbeulten Rahmen und suchte sich Felgen, Lenker, Reifen dazu, um dann mit den anderen um eine nahe Radrennbahn zu kurven. Heimlich meldete er sich beim Radfahrverein Vehmlinde an, heimlich fuhr er Rennen, und als der ahnungslose Papa plötzlich in der Zeitung las: »Ein talentierter junger Nachwuchsfahrer namens Gustav Kilian hat das Amateurrennen Westfalendamm–Soest–Westfalendamm gewonnen!«, da setzte es erst einmal ein paar saftige Ohrfeigen. Doch dann ging der Vater zum Vereinsvorsitzenden und fragte: »Hat der Gustav Aussicht, einmal ein guter Rennfahrer zu werden?« Die Antwort: »Der Junge kann was.« Von da an war Vater Kilian der glühendste Anhänger des »talentierten Nachwuchsfahrers«. Dass 1925 die Westfalenhalle mit einer schmucken Radrennbahn eröffnet wurde, war ein besonderer Glücksfall für Kilian und all die anderen radsportbesessenen Dortmunder Jungen, zu denen auch Hans Pützfeld, der erste Partner von Gustav Kilian, und Heinz Vopel zählten, mit dem er dann später eine ungewöhnliche Karriere ansteuern sollte. Die Halle stand jeden Tag offen und an jedem Sonntagmorgen rollten spannende Amateurrennen. Und als der

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erfahrene Anton Joksch einmal auf seinen erkrankten Partner Benninghaus verzichten musste und sich den blutjungen Gustav Kilian zum Mitstreiter erwählte, beide ein internationales Rennen in Hamburg gewannen und Joksch voller Lob war für den Neuling, da kostete Kilian aus, was es heißt, Erfolg zu haben. Er wurde süchtig danach. All das erzählte er selbst in dem 1978 erschienenen Buch von Gerd Rensmann. Kilian war mit Leib und Seele Bahnfahrer. Straßenrennen lockten ihn weit weniger. Um die Kurven flitzen, den Buckel krumm machen, vom oberen Bahnrand steil hinunter stoßen, gar mal das markante Kinn auf den Vorderradreifen legen, das waren so Kabinettstückchen, die Gustav Kilian zur Gaudi der Kollegen und Zuschauer vorführte. Später in den USA nannten sie ihn »Crazy Gus«. Er war ein Akrobat auf dem Rennrad. Doch kaum hatten er und Heinz Vopel sich auf den deutschen Winterbahnen etabliert, waren bei Sechstagerennen mal zusammen, mal mit ihren vorherigen Partnern Hans Pützfeld und Karl Korsmeier Zweiter, Vierter, Fünfter der Sechstagerennen in Stuttgart, Breslau, Frankfurt, Dortmund, München geworden, da drohte ihre ganze Existenz zu scheitern. Die nationalsozialistische Reichsregierung beziehungsweise deren Reichssportführung hatte beschlossen, Sechstagerennen in Deutschland zu verbieten. Sie seien gesundheitsschädlich, dekadent, sensationslüstern, zu amerikanisch. 1934 fand das Letzte statt. Wo also Geld verdienen? Gustav Kilian hatte im Februar 1933 seine Friedel geheiratet, die er auf der Rennbahn kennen gelernt hatte. Er wollte eine Familie gründen. Er war froh, dass er Ende 1931 die andere große Gefahr für die Karriere abgewehrt hatte. Am 27. Dezember war er bei einem Drei-Stunden-Rennen in der Halle Münsterland schwer gestürzt. Er lag in Führung mit Hans Pützfeld. Da knallte der Hinterradreifen weg, beim Sturz an die Barriere des Innenraums waren die Beine eines Zuschauers im Weg. Das riss den Lenker herum, und der traf mit der hohlen Innenseite das Knie von Kilian, riss ein tiefes Loch hinein. Glücklicherweise war sofort ein

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Arzt da, der den Blutstrom stoppte, ihn ins Krankenhaus begleitete und operierte. Einige Tage bestand die Gefahr, dass das Bein steif bliebe, und in den Zeitungen stand schon voreilig: »Karriere Kilians ist beendet!« Drei Tage schlief er nach einer Spritze, dann begann ein langer, von Zweifeln begleiteter Weg zurück aufs Rennrad. Ein halbes Jahr später hatte er ihn gewonnen. Entscheidend geholfen hatte ihm Masseur Otto Thiel, der ihn mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen trotz der verkürzten Sehne wieder aufs Rennrad brachte. Der Sprung in die amerikanischen Sechstagerennen nahm seinen Ausgang in Holland. Dort gab es im Sommer viele Mannschaftsrennen, bei denen Kilian/Vopel dem damaligen »Sechstagekaiser« Piet van Kempen imponierten. Der empfahl sie einem Veranstalter in London, und als sie dort im Sechstagerennen Zweite wurden, nahm Veranstalter Spencer sie für die USA unter Vertrag. Der war zwar nicht der ganz große Boss in den Staaten, hielt aber auch über einige Rennbahnen seine Hand. Die Überfahrt aber mussten die beiden selbst bezahlen. Ein Glück, dass es Tanta Litta gab, die etwas begütert war und nun dank der Überredungskunst von Friedel Kilian die nötigen 1.000 Reichsmark vorstreckte. Damals ein ungeheurer Betrag. Mit der »Kolumbus« schipperten sie dann zum ersten Mal über den Ozean. Acht Tage dauerte die Reise, während der man sich auf Hometrainern in Form halten musste. Es sollten noch zwanzig weitere solcher Seereisen auf den verschiedensten Ozeanriesen folgen, obwohl die erste Reise auf der »Träneninsel« Ellis Island beinahe umgehend wieder zu Ende gewesen wäre. »Wo ist Ihre Kaution?«, fragte barsch der Emigrationsoffizier. Daran hatten sie gar nicht gedacht, und wurden erst einmal weggesperrt. Aber dann kam Erich Paetz, ein guter alter Bekannter und Hüne von Mann, mit der Kaution, die er einem reichen Amerikaner abgeluchst hatte. Das Abenteuer konnte beginnen. Es gab noch viele knifflige Situationen zu meistern. Es war noch ein langer Weg, ehe Kilian/Vopel von Spencer zum viel einflussreicheren Veranstalter Chapman wechselten, der die wichtigsten Bahnen – den Madison Square Garden in New York und

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die Bahn in Chicago beherrschte, und ehe sie ihre unvergleichbare Siegesserie über alle amerikanischen Rennbahnen auflegten. Nach dem ersten Sieg in Montreal 1935 sollten 28 weitere gemeinsame Siege in Chicago (6), New York (4), Montreal (4), Buffalo (4), Cleveland (4), Milwaukee (3), Columbus, Indianapolis, Pittsburgh, Saint-Louis und San Francisco folgen, darunter auch für jeden der beiden einer mit einem anderen Partner. Am Ende der Karriere hatte Gustav Kilian 34, Heinz Vopel 32 Siege eingefahren. Das besondere Kunststück war, einmal acht Siege an einem Stück zu feiern. Die Sechstagerennen jener Zeit, besonders in den USA, waren hart und unerbittlich. Streng wurde auf die Einhaltung der Neutralisiation geachtet, bei der jeweils ein Fahrer auf der Bahn sein musste. Die Jagden waren nicht genormt und nicht zeitlich festgelegt, und Ende war immer erst nach genau 145 Stunden. Kilian/Vopel waren ein Begriff in Amerika wie außer ihnen unter den deutschen Sportlern wohl nur Box-Weltmeister Max Schmeling und vielleicht der Tennisspieler Gottfried von Cramm. Und es ist eigentlich ein Widersinn, dass die Reichssportführung, die in Deutschland die Sechstagerennen verboten hatte, die beiden Sechstagekönige als Botschafter des deutschen Sports feierte. Ich selbst habe sie als 14-Jähriger einmal in der Berliner Deutschlandhalle erlebt. Nur ihretwegen war ich dort hingegangen. Die Konkurrenz fuhr gemeinsam gegen die »Amerikaner«, aber die beiden setzten sich nach langem Kampf trotzdem durch. 1939 geschah dann etwas, was aus heutiger Sicht eigentlich unvorstellbar ist. In Europa herrschte Krieg. Für Kilian/Vopel aber flatterten Einladungen aus den USA auf den Tisch der Machthaber. Und die hatten großes Interesse, dass die so beliebten Radrennfahrer diese Einladungen auch annehmen konnten. Die USA waren noch nicht in den Krieg eingetreten, auch zwischen Deutschland und der Sowjetunion herrschte noch »Frieden«. Und so klügelte man eine abenteuerliche Weise aus, um Kilian/Vopel in die USA zu bringen. Denn der Atlantik war ja praktisch ein Schlachtfeld im Krieg zwischen Deutschland und Großbritannien. Also reisten die beiden über

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Moskau, durch Sibirien, China, Japan und Hawaii nach San Francisco. Die Odyssee dauert zwei Monate. Sie froren bei 35 Grad, erlebten ein Erdbeben in Tokio, wurden einmal fast von englischen Agenten geschnappt und mussten sich tagelang in einem Schiffsbauch verstecken. Aber sie kamen an, fuhren Rennen, wurden erst einmal getrennt, weil man deutschfeindliche Aktionen befürchtete. Doch die blieben aus, und dann gewannen Gustav Kilian und Heinz Vopel 1940 noch einmal zusammen in Cleveland. Mit riesigen Koffern – sie gedachten, viel mit heim zu bringen – traten sie auf gleichem umständlichen und endlos langen Weg die Rückreise an und hatten das Riesenglück, dass zwei Fahrgäste aus dem ausverkauften Trans-Sibirien-Express von ihren Tickets zurückgetreten waren und sie dadurch noch im Juni 1941 die russisch-deutsche Grenze passierten. Nur eine Woche, bevor der Krieg mit der Sowjetunion begann. Ohne die Fahrkarten wären sie zu spät gekommen, sicherlich in Sibirien interniert worden, und Gustav Kilian hätte seinen Sohn Gussy, der inzwischen geboren war, erst nach dem Krieg – wenn überhaupt – wieder gesehen. »Eigentlich«, sagte mir Gustav Kilian einmal, als er spannend von dieser Abenteuerreise erzählte, »bin ich ein Glückskind.« [...]

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