Thomas MANN Zeitgenossen BIOGRAPHIEN 08-1/2-183 Wer ist wer im Leben von Thomas Mann? : ein Personenlexikon / Heinz J. Armbrust ; Gert Heine. - Frankfurt am Main : Klostermann, 2008. - 345 S. ; 25 cm. - ISBN 978-3-465-035589 : EUR 39.00 [9732]

Nachschlagewerke zum persönlichen und literarischen Umfeld bedeutender Schriftsteller erfreuen sich seit jeher großer Beliebtheit, und einzig die Systematik, mit der man heutzutage an Arbeiten solcher Art geht (man denke etwa an Martin Müllers Gottfried Keller : ein Personenlexikon zu seinem Leben und Werk1), mag ein Phänomen erst jüngster Zeit sein. Ihre Nützlichkeit wird dabei selten einmal ernstlich in Frage gestellt. Für gewöhnlich setzt man einfach voraus, sie seien selbst für die Kenner der Materie ein unverzichtbares Hilfsmittel, und Laien bzw. schlicht Kulturbeflissene gewännen gewissermaßen mit einem einzigen Handgriff Zugang zu Leben und Œuvre eines Autors. Fragen nach dem Cui prodest? werden daher in begleitenden Vor- und Nachworten, editorischen und sonstigen Berichten nicht eigentlich beantwortet, sondern eher mit ebenso vagen wie großartigen Umschreibungen und imposanten Zahlen zum Schweigen gebracht. Wer bliebe denn auch unbeeindruckt von Hinweisen darauf, daß, wie im Falle des vorliegenden Werkes, „Artikel zu über 400 Personen, mit denen Thomas Mann in einer ‚buchenswerten Beziehung stand“, beigebracht worden seien? Daß darüber hinaus in diesem Lexikon „neben literaturgeschichtlichen Aspekten […] die ganze Bandbreite des Zeithintergrundes […] von den familiären bis zu politischen Bezügen [zum Ausdruck]“ komme und „die Arbeit in ihrer Gesamtheit […] ein kulturgeschichtliches Mosaik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ darstelle (alle Zit. S. 7)? Nun wird man vortrefflich, lange und vermutlich auch vergeblich darüber streiten können, ob Heinz J. Armbrust und der 2007 verstorbene ThomasMann-Kenner Gert Heine wirklich den Zeithintergrund der ersten Hälfte des eben vergangenen Jahrhunderts ausgeleuchtet haben und damit zugleich dessen kulturgeschichtliches Mosaik liefern. Außer Frage hingegen steht, daß hier eine geradezu immense Arbeit geleistet wurde, die man gar nicht hoch genug schätzen kann. Dennoch sei im folgenden der Finger auf die eine oder andere Wunde dieses Personenlexikons gelegt.

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Vgl. Gottfried Keller : Personenlexikon zu seinem Leben und Werk / Martin Müller. - Zürich : Chronos-Verlag, 2007. - 502 S. - ISBN 978-3-03-400870-9.

„Buchenswert“ ist ein durchaus hintersinniger Begriff in Manns Lotte in Weimar, der als Klammer des Romans zu unterschiedlichen Assoziationen einlädt. Zweimal führt ihn der gebildete Kellner des Weimarer Gasthofs ‚Zum Elephanten , Mager, im Munde. Gleich zu Beginn der Erzählung, als ihn die „Hofräthin Witwe Charlotte Kestner, geb. Buff“ mit der Preisgabe ihrer Identität ausrufen läßt: „Großer Gott, […] Frau Hofräthin, welch buchenswertes Ereignis!“ Und dann als Beschluß des Werkes: „Guter Himmel, Frau Hofrätin, ich muß es sagen: Werthers Lotte aus Goethe’s Wagen zu helfen, das ist ein Erlebnis – wie soll ich es nennen? Es ist buchenswert.“2 Ein fiktiver Besuch ist also zu einem Buch geworden. Ein Buch ganz anderer Art, ein Nachschlagewerk, ein „Lexikon“, liegt mit dem Wer ist wer im Leben von Thomas Mann? vor, das Licht in das Privatleben und die intellektuelle Biographie Manns bringt, in die Welt seiner zahllosen persönlichen und/oder brieflichen Bekanntschaften. „Buchenswert“ erschienen den Autoren dabei alle Beziehungen, die sich anhand von Manns „Tagebücher[n] […], der vielen Briefwechsel, der einschlägigen Forschungsliteratur und sonstiger Quellen“ belegen lassen. Vollständigkeit war dabei nicht angestrebt, „da sich mit vielen Namen keine Beziehung oder auch nur mitteilenswerte Episode“ verbinde (alle Zit. S. 7). Und die Legitimität solcher Beschränkung wird niemand ernsthaft in Frage stellen. Aber wie steht es mit den lohnens- bzw. „buchenswerten“ Beziehungen, deren hauptsächliches Auswahlkriterium „die persönliche Bekanntschaft“ oder doch wenigstens „eine mitteilenswerte Episode“ – also etwa ein einschneidendes politisches, familiäres, gesundheitliches Ereignis im Leben Thomas Manns – darstellt? Bei dem Versuch, dieser Frage eine Antwort zu geben, stößt man in diesem Werk zunächst einmal auf Lücken, d.h. einige Einträge bzw. Namen sucht man darin vergebens: etwa die von Hans Sahl oder auch Siegfried Kracauer. Und ihr Fehlen ist selbst bei großzügigster Auslegung dieser Kriterien kaum zu rechtfertigen. Sahl war ein enger Freund Erika und Klaus Manns, u.a. auch Mitarbeiter (Texter) ihres Kabaretts ‚Die Pfeffermühle . Zwar ging er nicht ‚ein und aus im Hause Mann, doch war er wenigstens gelegentlicher Gast. Einen – offenbar den ersten – dieser Besuche hat er ausführlich im zweiten Band seiner literarisierten Erinnerungen beschrieben. Unter dem Titel Die Audienz heißt es dort u.a.: „[…] Tee […]. Es war fünf Uhr, die Kinder standen hinter ihren Stühlen und warteten auf ihn. Er sah anders aus, als ich erwartet hatte. Ich hatte mir den Autor des Tonio Kröger eher fragil vorgestellt, zarter, ein wenig leidend, an der Realität leidend, an sich selbst, an seinen Kindern, aber Thomas Mann trat fest auf, ging mit festen Schritten auf den Tisch zu, bei aller Sensibilität wirkte sein Gesicht doch eher robust, fleischlich. Er gab mit einem Kopfnicken seinen Kindern ein Zeichen zum 2

Lotte in Weimar : Roman / Thomas Mann. - Ungekürzte Ausg., 221. - 225 Tsd. Frankfurt am Main : Fischer-Taschenbuch-Verlag, 1984. - 299 S. - ISBN 3-59620300-7. - Hier S. 9, 12 und 299.

Hinsetzen. Die Kinder flüsterten noch immer miteinander und warteten darauf, daß der Vater das Wort an sie richtete. […] Es schien mir, als ob Thomas Mann Wert darauf legte, sogar ein Gespräch mit seiner Familie wie eine Buchseite zu komponieren. Da wurde nicht durcheinander geredet, jeder kam an die Reihe zu gegebener Zeit. Thomas Mann hielt Audienz, er erteilte das Wort, er hörte zu, er kommentierte, er sorgte dafür, daß niemand zu kurz kam. Er verteilte die Portionen seiner Liebe gleichmäßig wie ein Küchenchef, der mit einem großen Suppenlöffel die Teller auffüllt. Es ging alles sehr gepflegt zu. Es wurde sogar gelacht, aber niemals zu laut. Es wurde sogar improvisiert, aber niemals über das Ziel hinaus. Thomas Mann sprach druckreif. Er brach das Brot der Grammatik mit den Seinen und verteilte es huldvoll über die Teller. Einmal wandte er sich zu mir. ‚Und was hören Sie denn von der Lotte Goslar, Herr Doktor? fragte der Monarch. […] Alle sahen mich erwartungsvoll an. Es fiel mir nichts, aber auch nichts zu Lotte Goslar ein, was im Rahmen dieser Audienz von Belang gewesen wäre. Und plötzlich spürte ich, was ich häufig in solchen Augenblicken spüre, wenn es keinen Ausweg mehr gibt, den Zwang, den Felsen zu sprengen, zu schockieren, zu brüskieren, Anstoß zu erregen. ‚Fräulein Goslar , hörte ich mich sagen, ‚hat mir mitgeteilt, daß sie soeben einen Tanz beendet hat, in dem sie mich zeigt, wie ich morgens aus dem Bett komme und noch keinen Kaffee getrunken habe, es heißt Ein Häufchen Unglück. Es trat eine Stille ein. Die Kinder stießen sich unter dem Tisch an und sahen erwartungsvoll auf ihren Vater. Thomas Mann ließ sich nichts anmerken. Er war in Gedanken bereits bei dem Manuskript, das nebenan aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch lag. ‚Vortrefflich , sagte er und sah auf die Uhr. ‚Es tut mir leid, daß ich Fräulein Goslar bisher noch nicht auf der Bühne sehen konnte, aber ich werde es demnächst nachholen. Bitte richten Sie Fräulein Goslar meine herzlichsten Grüße aus. Er erhob sich, trank schnell im Stehen seine Tasse aus und ging festen Schrittes davon, mit der Hand seine Untertanen zum Abschied grüßend. Die Audienz war beendet.“3

Ist das keine „mitteilenswerte Episode“? (Übrigens war auch Mann wenigstens einmal Gast zum „Thee“ bei Sahl, wie dem Eintrag seines Tagebuchs vom 22. Juli 1938 zu entnehmen ist.)4 Doch was die Beziehung Sahl-Mann auch im Sinne der Autoren dieses Personenlexikons wirklich „buchenswert“ macht, ist ihre Korrespondenz (wenigstens) der Jahre 1938 - 1942. Deren Anlaß und Gegenstand, soviel ergibt sich aus den wenigen bislang überlieferten Stücken,5 bildeten einerseits die 3

Das Exil im Exil / Hans Sahl. - 2. Aufl. - Frankfurt am Main : LuchterhandLiteraturverlag, 1990. - 228 S. : Ill. ; 24 cm. - (Memoiren eines Moralisten / Hans Sahl ; 2) (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt ; 63). - ISBN 3-630-80007-6. - Hier S. 43 - 45. 4 Tagebücher / Thomas Mann. Hrsg. von Peter de Mendelssohn. - Frankfurt am Main : S. Fischer. - 1937 - 1939. - 1980. - VIII, 986 S. - ISBN 3-10-048194-1. - Hier S. 259 (Eintrag vom 22.7.1938). 5 Das Regesten-Verzeichnis der Briefe Manns führt Schreiben vom 27.5.1938, 16.7.1938 und 7.1.1941 an Sahl auf: Die Briefe Thomas Manns : Regesten und Register / bearb. und hrsg. unter Mitwirkung des Thomas Mann-Archivs der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich von Hans Bürgin und Hans-Otto

Veröffentlichungen Sahls: das 1938 aufgeführte und im selben Jahr im Druck erschienene Oratorium Jemand6 sowie das 1942 publizierte poetische Tagebuch der französischen Exiljahre, Die hellen Nächte.7 Andererseits wechselten Briefe hin und her, die Sahls Arbeit für das Emergency Rescue Committee Varian Frys8 und Thomas Manns Zusammenarbeit mit dem American Guild for German Cultural Freedom betrafen, mithin ihre Beteiligung an der Rettung vieler durch die Nazis bedrohter Intellektueller. Einen letzten Widerhall hat dann diese Beziehung noch in einem Artikel Sahls im New Yorker Aufbau über ein Thomas-Mann-Symposion anläßlich seines 100. Geburtstages gefunden.9 Wäre Sahl der einzig fehlende Name von ‚buchenswertem Belang, würde man vermutlich mit dem Hinweis darauf, daß derlei Fehler unterlaufen können, zur Tagesordnung übergehen. Doch beinahe schwerer wiegt der Fall Mayer. - Frankfurt am Main : S. Fischer. - Bd. 2. Die Briefe von 1934 bis 1943 / bearb. und hrsg. unter Mitarbeit von Yvonne Schmidlin (Thomas Mann-Archiv Zürich) von Hans Bürgin und Hans-Otto Mayer. - 1980. – XI, 802 S. - ISBN 3-10046302-1. - S. 220 und 490. - Manns Tagebuch erwähnt darüber hinaus unter dem Datum des 5.1.1942, daß er an Sahl geschrieben habe: Tagebücher / Thomas Mann. Hrsg. von Peter de Mendelssohn. - Frankfurt am Main : S. Fischer. - : 1940 - 1943. - 1982. - XI, 1199 S. - ISBN 3-10-048197-6. - S. 374. - Und Sahls Memoiren enthalten einen langen Auszug aus einem Brief Manns vom 17.3.1941: Das Exil im Exil / H. Sahl (wie Anm. 3), S. 101 - 102. 6 Vgl. jetzt Jemand [Medienkombination] : ein Chorwerk / Hans Sahl. Gregor Ackermann ; Momme Brodersen (Hrsg.). - Berlin : Bostelmann und Siebenhaar. (Akte Exil ; 4). - Buch. Nach dem Holzschnittzyklus "Die Passion eines Menschen" von Frans Masereel : Materialien und Selbstzeugnisse. - 2003. - 159 S. : Ill. - CD. Eine weltliche Kantate : nach den Holzschnitten "Die Passion eines Menschen" von Frans Masereel / dargestellt und erzählt von Hans Sahl. Musik: Tibor Kasics (Victor Halder). - 2003. - 1 CD. 7 Die hellen Nächte : Gedichte aus Frankreich / Hans Sahl. [Mit einem] Holzschnitt von Hans Alexander Mueller. - New York : Fles, 1942. - 70 S. - Das Buch wurde bereits Ende 1941 ausgeliefert. – Was Empfang und Lektüre beider Werke betrifft, vgl. Die Briefe Thomas Manns, Bd. 2 (wie Anm. 5), S. 220 und 490. 8 Zu Varian Fry vgl. neuerdrings: Ohne zu zögern : Varian Fry: Berlin - Marseille New York ; [ein Projekt des Aktiven Museums Faschismus und Widerstand in Berlin e.V. in Kooperation mit der Akademie der Künste Berlin ; Ausstellung: Akademie der Künste, Pariser Platz 4, Berlin, 18. November - 30. Dezember 2007] / Aktives Museum. [Red.: Angelika Meyer und Marion Neumann]. - Berlin : Aktives Museum, 2007. - 493 S. : Ill. ; 24 cm. - Biographien S. 401 - 467. - ISBN 978-3-00022946-6 : EUR 20.00 zzgl. Porto [9450]. - Rez.: IFB 07-2-384. - Flüchtlingspolitik und Flüchtlingshilfe 1940 - 1942 : Varian Fry und die Komitees zur Rettung politisch Verfolgter in New York und Marseille / Anne Klein. - Berlin : MetropolVerlag, 2007. - 542 S. : Ill. ; 24 cm. - (Reihe Dokumente, Texte, Materialien / Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin ; 61). - Zugl.: Berlin, Freie Univ., veränd. Diss., 2004 u.d.T.: Klein, Anne: Flüchtlingshilfe 1940 1942. - ISBN 978-3-938690-17-8 : EUR 24.00 [9516]. - Rez.: IFB 07-2-385. 9 Rutgers Universität ehrt Thomas Mann / H[ans] S[ahl]. // In: Aufbau. - 41 (1975), Nr. 17 vom 25.4., S. 7.

Siegfried Kracauers. Wie zahlreiche seiner Artikel für die Frankfurter Zeitung belegen,10 hat Kracauer dem Schreiben und Wirken Thomas Manns bereits frühe, andauernde und nicht selten ironisch-kritische Aufmerksamkeit geschenkt - wenigstens was den Publizisten und Kulturpolitiker betraf, gegen den er (Kracauer) den ‚Dichter Thomas Mann stets in Schutz nahm: „Der Dichter Thomas Mann verdient vor Thomas Mann, dem praeceptor Germaniae, in Schutz genommen zu werden; vor dem Praezeptor das Massenhafte der Demokratie. Es muß gesagt sein: das sonderbare Liebeswerben des großen bürgerlichen Prosaisten um die Demokratie, oder was er so nennt, ist ein Schauspiel unerquicklicher Art. Sein Instinkt ist über der Anstrengung unsicher geworden, sein Urteil hat sich verwirrt, seine Ironie sich vollends ins Grundlose verlaufen. Das Bild des Dichters erhielte sich reiner, wenn der demokratische Präzeptor sich weniger bemühte.“11

Mit den politischen Umwälzungen des Jahres 1933 wandelte sich dann auch Kracauers Bild vom ‚Politiker , wie seine Briefe an Mann aus den Exiljahren bezeugen. Bei ihrer gemeinsamen Korrespondenz zwischen 1934 und 1945 handelt es sich schon mehr als nur um einen gelegentlichen Briefwechsel, aus dem mindestens 16 Schreiben überliefert sind.12 Es war Kracauer, der 1934 über Julius Meier-Graefe den Kontakt zu Mann suchte, zunächst um mit dessen Hilfe einen Verleger für seinen Roman Georg zu finden. Mann war darob „etwas verdutzt“. Denn als Kracauer, „in Friedenszeiten“, noch „weitgehend den literarischen Ton [in der Frankfurter Zeitung] angab“, habe er für ihn (Mann) „nie viel übrig gehabt, was sehr milde gesagt ist.“13 Gleichwohl wollte er Kracauer angesichts der veränderten politischen Verhältnisse sowie dessen prekärer Lebenssituation im französischen Exil nichts nachtragen. Er ließ sich also das Werk zukommen und lobte es nach Lektüre (bzw. einem bloßen Blättern darin)14 in den höchsten Tönen: 10

Vgl. im einzelnen die unter den Nummern 224, 330, 538 und 1606 bibliographierten Titel in: Siegfried Kracauer : eine Bibliographie seiner Schriften / Thomas Y. Levin. - Marbach am Neckar : Deutsche Schillergesellschaft, 1989. - 404 S. : Ill. - (Verzeichnisse, Berichte, Informationen ; 14). 11 Schriften / Siegfried Kracauer. Hrsg. von Inka Mülder-Bach. - 1. Aufl. - Frankfurt am Main : Suhrkamp. - Bd. 5,2. Aufsätze 1927 - 1931. - 1990. - 426 S. - ISBN 3518-57466-3 - ISBN 3-518-57466-1. - Hier S. 55 (Thomas Mann geleitet. Zu der Serie „Romane der Welt“). 12 Im Nachlaß Siegfried Kracauers im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar liegen Kopien und Originale von insgesamt 9 Kracauer-Briefen an Thomas Mann sowie 6 Briefen und 1 Karte Manns an Kracauer, alle aus dem Zeitraum 1934 - 1945. Das Regestenverzeichnis führt lediglich das in Marbach als Kopie vorhandene Schreiben Manns vom 27.5.1938 an Kracauer auf (vgl. Die Briefe Thomas Manns (wie Anm.5), Bd. 2, S. 212). 13 Briefe 1889 - 1936 / Thomas Mann. Hrsg. von Erika Mann. - Ungekürzte Ausg., 12. - 13. Tsd. - Frankfurt am Main : Fischer-Taschenbuch-Verlag, 1995. - XI, 581 S. - ISBN 3-596-22136-6. - Hier S. 381 (an Julius Meier-Graefe, 19.11.1934). 14 Tagebücher / Thomas Mann. Hrsg. von Peter de Mendelssohn. - Frankfurt am Main : S. Fischer. - 1933 - 1934. - - 21. - 27. Tsd. - 1977. - XXI, 817 S. - ISBN 310-048189-5. - Hier S. 591 (Eintrag vom 20.12.1934).

„Die hohen literarischen Eigenschaften Ihres grossen Gesellschaftsbildes haben ihren Eindruck auf mich nicht verfehlt, und das Problem des Buches, ich meine sein Schicksal, beschäftigt mich angelegentlich. Ich habe in diesen Tagen der Lektüre seine geschmeidige Stilistik, seinen Geist, die schmerzliche Schärfe seiner Beobachtung zu sehr schätzen und ehren gelernt, als dass ich seine baldige Veröffentlichung nicht mit Ihnen wünschen müsste, – unter welchem Titel, das ist freilich auch für mich eine schwierige wie reizvolle Frage, und zwar besteht die Schwierigkeit, meine ich, darin, dass das Werk einerseits so sehr ein Gesellschaftsgemälde ist, dass durch diese Eigenschaft der Titel bestimmt werden müsste und geradezu ‚Gesellschaft lauten könnte; auf der anderen Seite und vielleicht, wenn man genauer hinsieht, vor allem, handelt es sich auch wieder um eine innere, eine Ich-Geschichte, und so hat man auch wieder den Wunsch, den Titel danach zu bilden.“15

Zwar erschien Kracauers Roman erst postum,16 doch bescherte ihm die Beziehung fortan die Förderung durch Thomas Mann, der dann auch entscheidenden Anteil daran hatte, daß Kracauer zeitweilig in den Genuß eines Stipendiums kam, um sich einem „Buch über den Film und seine Beziehungen zur Gesellschaft“17 zu widmen – ein Projekt, aus dem am Ende zwei der Hauptwerke Kracauers hervorgingen: seine Geschichte des deutschen Stummfilms From Caligari to Hitler von 194718 sowie die erst 1960 erschienene Theory of film.19 All dies nicht buchenswert? Nicht einmal jene Hommage, die Kracauer Thomas Mann in seinem letzten bislang überlieferten Schreiben angedeihen läßt (und die als solche gewissermaßen ante quem bereits im Georg versteckt ist und post quem in der Theory of film)? Ihre „historische Grösse“, so heißt es in diesem Schreiben vom 4. Juni 1945, „scheint mir darin zu liegen, dass es Ihnen gelungen ist, jene unendlichen Hemmungen und Widerstände zu überwinden, die den Deutschen immer wieder daran verhinderten, der Realität ins Auge zu sehen, an die Gesellschaft zu denken, in der er lebt, und der Vernunft das zu geben, was ihr gehört, ohne darum an echter Tiefe zu verlieren. Viele Deutsche vor Ihnen, die gross heissen und wohl auch sind, folgten dem übermächtigen romantischen Zug und versanken in einer gleissnerischen Tiefe je älter sie wurden. Sie sind den umgekehrten Weg gegangen, den, der an die Oberfläche, ans nüchterne Tageslicht führt, und haben dabei unter schweren Mühen versucht, das von der Fracht zu retten, was wirk15

Thomas Mann an Siegfried Kracauer, Küsnacht, 8.12.1934. - Unveröffentlichtes Schreiben, Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar, Nachlaß S. Kracauer, Sign. 72.2681/1. 16 Im Rahmen der ersten Gesamtausgabe: Schriften / Siegfried Kracauer. Hrsg. von Karsten Witte. - Frankfurt am Main : Suhrkamp. - Bd. 7. Ginster. Georg. - 1. Aufl. - 1973. - 506 S. 17 Thomas Mann an Siegfried Kracauer, Jamestown, Rhode Islands, 27.5.1938. Unveröffentlichtes Schreiben, Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar, Nachlaß S. Kracauer, Sign. 72.1128/1. 18 From Caligari to Hitler : a psychological history of the German film / Siegfried Kracauer. - Princeton : Princeton University Press ; London : Dobson, 1947. - XII, 361 S. : Ill. 19 Theory of film : the redemption of physical reality / Siegfried Kracauer. - New York : Oxford University Press, 1960. - XX, 364 S. : Ill.

lich kostbar ist und nicht nur Ballast. Diese Entwicklung von innen nach aussen, von der schlechten Innerlichkeit zur guten Aeusserlichkeit, scheint mir mehr und mehr der paradigmatische Zug in Ihrer historischen Erscheinung -- ich meine jene Erscheinung, die aus den Werken entsteht, aber nicht aus ihnen allein besteht, sondern über sie hinauswächst, sich verselbständigt und in der Geschichte weiter wirkt. Sich nach Ihnen zu bilden, wird eine der wenigen Hoffnungen sein, die den Deutschen geblieben sind.“20

Was die Fälle Sahl und Kracauer über alle hier beschriebenen Details hinaus noch schwerer wiegen läßt, ist die Tatsache, daß es sich um zwei Personen handelt, denen lange Zeit geradezu höchste öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wurde. Ungebrochen bis heute Kracauers Ruf als einer der brillantesten Journalisten der ehemaligen Frankfurter Zeitung, kaum je ernsthaft in Zweifel gezogen, daß er einer der Pioniere moderner Filmkritik, -geschichte und -theorie gewesen ist. Sahl hingegen heimste schon als junger Mann höchste Anerkennung als Journalist und Filmkritiker ein, feierte während seines Exils große Erfolge als Dramatiker (sein Jemand war eines, wenn nicht gar das erfolgreichste Stück der Exildramatik), veröffentlichte in den 50er Jahren einen weithin gelobten Roman über das Schicksal der in alle Weltwinde gewehten Verbannten des Hitlerregimes (Die Wenigen und die Vielen)21 und wurde gegen Ende seines Lebens vor allem als Dichter sowie Chronist und ‚Memoralist des Exils22 breit rezipiert – als ‚letzter Zeuge der dunkelsten Jahre des 20. Jahrhunderts.23 Das alles kann nicht schon vergessen sein, ist es selbstverständlich auch nicht, denn beider Werke werden nach wie vor neu aufgelegt: etwa Sahls zweibändige Memoiren, und von Kracauer steht gar eine neue, bereits die zweite, Gesamtausgabe seiner Schriften kurz vor dem Abschluß. So drängt sich einem denn der Verdacht auf, daß die Vorbereitung zu diesem Personenlexikon nicht immer auf solidester Archiv- und Bibliotheksrecherche basierte. Diesen Eindruck gewinnt man auch bei der Lektüre des eher Beiläufigen, etwa der Literatur-Hinweise am Ende etlicher Artikel. Ein Beispiel für viele: Im Eintrag ADORNO, Theodor W. findet sich nicht etwa der Hinweis auf die maßgebliche, weil äußerst detaillierte Adorno-Biogra-

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Siegfried Kracauer an Thomas Mann, New York, 4.6.1945. - Unveröffentlichtes Schreiben, Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar, Nachlaß S. Kracauer, Sign. 72.1599/8. 21 Die Wenigen und die Vielen : Roman einer Zeit / Hans Sahl. - Frankfurt am Main : S. Fischer, 1959. - 285 S. 22 Gesammelte Werke / Hans Sahl. Hrsg. von Klaus Schöffling. - Zürich : Ammann. - Memoiren eines Moralisten. Erinnerungen I. - 1. Aufl. - 1983. - 231 S. ISBN 3-250-10017-X. 23 Vgl. das Gedicht Die Letzten / Hans Sahl. // In: Wir sind die Letzten : Gedichte / Hans Sahl. Mit einem Nachwort von Fritz Martini und einer Hans-SahlBibliographie. - Heidelberg : Lambert Schneider, 1976. - (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt ; 50). - 87 S. - Hier S. 13.

phie von Stefan Müller-Doohm,24 sondern nur der auf die Darstellung des „letzte[n] Genie[s]“ von Detlev Claussen, die zwar u.a. eine großartige Gesamtwürdigung der Beziehung Adorno-Mann bietet,25 ansonsten aber kaum Details ihres Verhältnisses ausbreitet. Darüber hinaus sucht man in diesem Artikel einen Titel vergebens, der nun wirklich nicht hätte fehlen dürfen: den auf die bereits 2002 veröffentlichte Korrespondenz Thomas Manns mit Adorno!26 Zu dieser Art Beliebigkeit gesellt sich im übrigen eine völlige Uneinheitlichkeit und Unausgewogenheit der einzelnen Einträge. Mal werden alle möglichen Details des persönlichen, intellektuellen und politischen Werdeganges beigebracht (beispielsweise zu Leonhard Frank, S. 76 - 77), mal schweigen sich hingegen die Artikel über alles Wesentliche aus, wie etwa im Fall der Lavinia Mazzucchetti (die im übrigen nicht 1963, sondern 1965 verstorben ist). Über eine der bedeutendsten italienischen Germanistinnen und wichtige Mittlerin deutscher Kultur in Italien, Übersetzerin nicht nur Manns, sondern auch Goethes, Kellers, Stifters, Stefan Zweigs, Rilkes, Kästners (und vielen anderen), über diese engagierte Antifaschistin, die Mann seit 1918 kannte und der er immerhin seinen „letzte[n] Brief, vom Krankenbett aus“ (S. 192), sandte, steht in diesem Nachschlagewerk kaum mehr, als daß sie „geschwätzig“ und „klatschfroh“ gewesen sei (S. 192). Ein dritter Fall, der hier noch kurz angesprochen werden soll, betrifft Karl Kraus. Legte man strengste Maßstäbe an die Kriterien dieses Personenlexikons, dann hätte sich ein Eintrag zum Herausgeber der Fackel erübrigt. Denn lediglich einmal wurden er und Thomas Mann einander ansichtig: als letzter einem Münchner Vortrag des ersten – „im März 1913“ – beiwohnte, ohne daß es jedoch schon „bei dieser Gelegenheit“ oder auch nur zu einem späteren Zeitpunkt „zu einer persönlichen Beziehung“ gekommen wäre (S. 145). Allein die Bemerkung Manns über Kraus in einem Brief an seine Tochter Erika sowie ein Zitat aus seiner „einzige[n] öffentliche[n] Äußerung Über Karl Kraus“ (S. 146) begründet die besondere Aufmerksamkeit, die man dem Wiener angedeihen ließ. Oder sollte es einfach nur dessen Prominenz gewesen sein, die Armbrust und Heine – und mit ihnen möglicherweise auch den Verlag Vittorio Klostermann – glauben ließen, auf einen wie Kraus könne man nicht verzichten? Nun, der kleine Artikel hat durchaus seine Berechtigung. Zwar wird seine Aufnahme den aufgestellten Kriterien kaum gerecht. Aber hier hat man es doch mit einer langjährigen, (ge)wichtigen und in einem besonderen Sinne 24

Vgl. Adorno : eine Biographie / Stefan Müller-Doohm. - 1. Aufl. - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2003. - 1032 S. : Ill. ; 22 cm. - ISBN 3-518-58378-6 : EUR 36.90, EUR 29.90 (Subskr.-Pr. bis 31.12.03) [7580]. - Rez.: IFB 04-1-080. 25 Theodor W. Adorno : ein letztes Genie / Detlev Claussen. - Frankfurt am Main : S. Fischer, 2003. - 478 S. : Ill. - ISBN 3-10-010813-2. Hier S. 143ff. 26 Vgl. Briefwechsel 1943 - 1955 / Theodor W. Adorno ; Thomas Mann. Hrsg. von Christoph Gödde und Thomas Sprecher. - 1. Aufl. - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2002. - 179 S. ; 21 cm. - (Briefe und Briefwechsel / Theodor W. Adorno ; 3). - ISBN 3-518-58316-6 : EUR 24.90 [7583]. - Rez.: IFB 04-1-084.

„buchenswerten“ Beziehung zu tun. Blättert man nämlich schon Manns Hinterlassenschaft durch, wird rasch deutlich, daß er an den Schriften dieses Mannes alles andere als gleichgültig vorüberging. War ihm schon der Münchner Vortrag Kraus’ im Jahr 1913 „eine dankenswerte, anregende, durchaus merkwürdige Veranstaltung“,27 so wußte er noch in späten Jahren vor allem die „tiefschürfende“, weil von einem „äußerst konzisen, ja überschärften […] Stil“ getragene Kritik28 dieses „Antijournalisten“ (S. 146) zu schätzen. Kraus ging weniger generös mit seinem Antipoden um. Zwar schenkte er ihm öffentlich größere Aufmerksamkeit, aber es überwiegen in seinen Fackel-Beiträgen doch die ironischen, bisweilen geradezu spöttischen Herabwürdigungen Thomas Manns,29 den er als Publizisten als allzu „abgeklärt“ empfand,30 während er sich über den Erzähler offenbar nirgends geäußert hat –, was ja eine tieferschürfende Interpretation durchaus verdiente. Da in fast allen Artikeln vornehmlich Mann zitiert wird, sein jeweiliger Gegenüber hingegen kaum einmal wirklich zu Worte kommt, verpaßt dieses Personenlexikon (s)eine große Chance: die, den Leser zum Nachdenken und Weiterforschen über häufige Inkommensurabilitäten, Widersprüche u.ä.m. der beiden Parteien weniger einzuladen, als nachgerade zu drängen. Da diese Absicht nirgends erkennbar wird, ist es nicht weiter verwunderlich, daß beispielsweise ein Eintrag zu Walter Benjamin völlig fehlt. Gemessen an den formalen Kriterien völlig zu recht, sind sich Mann und Benjamin doch ebensowenig persönlich begegnet, wie sie Briefe untereinander gewechselt hätten. Doch gibt es eine gewissermaßen virtuelle Begegnung: die in beider Schriften. Benjamin hat Mann anfangs geradezu gehaßt: ‚Niedrig nannte er schon 1916 Manns Gedanken im Kriege,31 später rechnete er ihn abschätzig zu

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Werke, Briefe, Tagebücher / Thomas Mann. Hrsg. von Heinrich Detering … in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH, Zürich. - Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. - Frankfurt am Main : S. Fischer. - Bd. 14. Essays. 1. 1893 - 1914 / hrsg. von Heinrich Detering unter Mitarb. von Stephan Stachorski. - 2. Aufl. - 2002. - 417 S. - ISBN 3-10-048349-9. - Hier S. 383 ([Über Karl Kraus]). 28 Gesammelte Werke in Einzelbänden / Thomas Mann. Hrsg. von Peter de Mendelssohn. - Frankfurter Ausg. - Frankfurt am Main : S. Fischer. - Rede und Antwort : über eigene Werke, Huldigungen u. Kränze: über Freunde, Weggefährten u. Zeitgenossen / Nachw. von Helmut Koopmann. - 1. Aufl. - 1984. - 737 S. ISBN 3-10-048237-9. - Hier S. 159 (Die Entstehung des Doktor Faustus). 29 Vgl. etwa Grillparzer-Feier. // In: Die Fackel. - 23, Nr. 588/594, März 1922, S. 12 - 21, insbes. S. 14 - 15 und Weltspiegel. // In: Die Fackel. - 31, Nr. 827/833, Anfang Februar 1930, S. 93 - 94. 30 Thomas Mann über „geistige Österreicher“. // In: Die Fackel. - 23, Nr. 577/582, November 1921, S. 29 - 30; zit. S. 30. 31 Gesammelte Briefe / Walter Benjamin. Hrsg. vom Theodor W. Adorno Archiv. Frankfurt am Main : Suhrkamp. - Bd. 1. 1910 - 1918. - 1. Aufl. - 1995. - 545 S. ISBN 3-518-58217-8. - Vgl. S. 348 (an Herbert Blumenthal, ca. Ende 1916).

den „Leisetretern“ unter den Intellektuellen32 – um dann mit Erscheinen des Zauberbergs seine Meinung nicht nur über den Erzähler Thomas Mann grundlegend zu ändern: „Incredibile dictu: das neue Buch von Thomas Mann: Der Zauberberg fesselt mich durch schlechtweg souveräne Mache.“,33 heißt es anfangs zwar noch reserviert, aber doch schon unendlich fasziniert. Eineinhalb Monate später liest man dann: „Thomas Mann publiziert im letzten Heft der ‚Neuen Rundschau einen kleinen Essay über ‚Goethes Wahlverwandtschaften . Ich habe ihn noch nicht gelesen. Aber er ist mir auffallend durch eine sich in letzter Zeit oft und oft erneuernde Begegnung mit diesem Autor. Ich weiß kaum, wie ich es anstellen soll, Dir mitzuteilen, daß dieser Mann, den ich gehaßt habe wie wenige Publizisten mit seinem letzten großen Buch, dem ‚Zauberberg , das mir in die Hände fiel, mir geradezu nahe gekommen ist; mit einem Buche, in dem [mich] untrüglich Eigenstes, was mich bewegt und immer bewegte, auf eine Art, die ich streng kontrollieren kann und gelten lassen, ja in vielem sehr bewundern muß, angesprochen hat. Es ist, so wenig anmutend dergleichen Konstruktionen sind, mir dennoch nicht anders denkbar, ja schlechtweg sicher, daß über dem Schreiben eine innere Wandlung mit dem Verfasser sich vollzogen haben muß. Ob er meine Arbeit über die ‚Wahlverwandtschaften kennt, weiß ich noch nicht. Immerhin vermag ich in seiner gegenwärtigen Äußerung über das Buch nicht mehr etwas schlechthin Zufälliges zu sehen. Sonst muß ich dieses Thema fallen [lassen]: es ist einer brieflichen Mitteilung nicht angemessen.34

Thomas Mann hingegen ist Benjamin überhaupt erst postum in dessen Werk ‚begegnet , vier Jahre nach dessen Selbstmord an der spanischfranzösischen Grenze: „Gelesen in deutschen Briefen, herausgegeben von W. Benjamin.“, heißt es in seinem Tagebuch unter dem Datum des 11. Mai 1944.35 1946 dann, von Adorno damit beschenkt, las er Benjamins Ursprung es deutschen Trauerspiels. Seinen ersten Eindruck, den er dazu zu Papier brachte, kennzeichnet noch deutlich spöttelnde Ironie über die 32

Gesammelte Schriften / Walter Benjamin. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. - Frankfurt am Main : Suhrkamp. - Bd. 4. Hrsg. von Tillman Rexroth. 1. Aufl. - 1972. - 1107 S. - Bd. 1 - 2. - Hier Bd. 4,2, S. 791 ([Zuschrift an Florens Christian Rang]). 33 Gesammelte Briefe / Walter Benjamin. Hrsg. vom Theodor W. Adorno Archiv. Frankfurt am Main : Suhrkamp. - Bd. 3. 1925 - 1930. - 1. Aufl. - 1997. - 594 S. ISBN 3-518-58257-7. - Hier S. 17 (an Gershom Scholem, 19.2.1925). 34 Gesammelte Briefe (wie Anm. 33), Bd. 3, S. 27 - 28 (an Gershom Scholem, 6.4.1925). 35 Tagebücher / Thomas Mann. Hrsg. von Inge Jens. - 2. Aufl. - Frankfurt am Main : S. Fischer. - 1944 - 1.4.1946. - 1986. - XIV, 911 S. - ISBN 3-10-048198-4. Hier S. 54. - In Rede steht hier die Anthologie kommentierter Briefe, Deutsche Menschen, die Benjamin 1936 unter dem Pseudonym Detlef Holz im Luzerner Vita Nova Verlag veröffentlichte. - Jetzt als Bd. 10 innerhalb der neuen kritische Gesamtausgabe: Deutsche Menschen / Walter Benjamin. Hrsg. von Momme Brodersen. - 1. Aufl. - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2008. - 542 S. ; 23 cm. (Werke und Nachlaß : kritische Gesamtausgabe / Walter Benjamin ; 10). - ISBN 978-3-518-58510-8 : EUR 36.80 [#0077]. - Vgl. die vorstehende Rezension in IFB 08-1/2-173.

Gelehrtheit des Werkes: „Las in dem Buch von Benjamin über das deutsche Trauerspiel. ‚Keine Abhandlung, die so bald zu gelehrt für mich wäre. “36 Sein zweites Urteil, nach offenbar intensiver Lektüre, fällt dann weit differenzierter aus und weist eine erstaunliche Übereinstimmung mit Benjamins Haltung ihm (Mann) gegenüber auf: „[…] Benjamins [...] Buch über das deutsche Trauerspiel, zu dessen nicht gerade bequemem Studium ich an einen höchst treuherzigen Brief Beethovens denken mußte, worin er seine außermusikalische Bildungsbemühtheit allen Künstlern als Beispiel hinstellt und erklärt: ‚Nicht leicht ist eine Abhandlung zu gelehrt für mich. Ich mußte auch denken an den jungen Engländer, den ich beim Verlassen der Uffizien zu seinem Begleiter sagen hörte: ‚That was the hardest gallery I ever did! Aber die Beschäftigung mit dem Über-Schwierigen und Widerspenstigen wird sehr erleichtert und befeuert durch die ausgebildete Fähigkeit, überall Beziehungen zum eigenen, nie aus den Augen gelassenen Betreiben zu finden.“37

Zauberberg und Ursprung des deutschen Trauerspiels betrafen also Ureigenstes des jeweils anderen, ja selbst noch „während der Arbeit am Faustus“ las Mann in Benjamins Werk: „unter Blitzen von Verständnis dann und wann.“38 Eine gewiß doch wenigstens „mitteilenswerte Episode“, die vor allem die Problematik – nicht Legitimität! – der Selbstbeschränkung illustriert, die sich die Autoren dieses Personenlexikons auferlegt haben.39 36

Tagebücher / Thomas Mann. Hrsg. von Inge Jens. - Frankfurt am Main : S. Fischer. - 28.5.1946 - 31.12.1948. - 1980. - XIII, 1041 S. - ISBN 3-10-048199-2. Hier S. 29 (Eintrag vom 11.8.1946). 37 Rede und Antwort (wie Anm. 28), S. 413. Diese Bemerkungen sollten ursprünglich in Die Entstehung des Doktor Faustus eingearbeitet werden, wurden dann aber von Mann gestrichen. 38 Briefe 1937 - 1947 / Thomas Mann. Hrsg. von Erika Mann. - Ungekürzte Ausgab., 11. - 12. Tsd. - Frankfurt am Main : Fischer-Taschenbuch-Verlag, 1992. 765 S. - ISBN 3-596-22137-4. - Hier S. 579 (an Max Rychner, 24.12.1947). 39 Einen weiteren Beleg für die Lückenhaftigkeit des Lexikons kann auch der Herausgeber von IFB beisteuern. So suchte er vergeblich einen Artikel über den ungarischen jüdischen Arzt Robert Klopstock (1899 - 1972), der nach Ausweis des Verzeichnisses seines Nachlasses häufige und enge Beziehungen zu Thomas und Klaus Mann hatte: Kafkas letzter Freund : der Nachlaß Robert Klopstock (1899 - 1972). Mit kommentierter Erstveröffentlichung von 38 teils ungedruckten Briefen Franz Kafkas / bearb. von Christopher Frey und Martin Peche. Hrsg. von Hugo Wetscherek. Mit Beiträgen von Leonhard M. Fiedler und Leo A. Lensing. Wien : Inlibris, 2003. - 312 S. : Ill. ; 25 cm + Beil. - (Katalog / Antiquariat Inlibris ; 13). - ISBN 3-9500813-9-9 : EUR 65.00, $ 70.00. - (Antiquariat Inlibris, Rathausstraße 19, A-1010 Wien, FAX 0043 1 409 61 90-9, E-Mail: [email protected]) [7317]. - Nur ein Beispiel: „Thomas Mann (sah) offenbar einen Zusammenhang zwischen Robert Klopstock und dem Freitod des Sohnes Klaus am 21. Mai 1949 in Cannes“, wie man aus der Tagebucheintragung vom 25. Mai 1949 entnehmen kann „’Das Gift, Entwöhnungsmittel zugleich, hat er von dem idiotischen Klopstock erhalten’“ (hier S. 263; das Register, S. 307, enthält zahlreiche Einträge zu Klaus und Thomas). - Zu Klopstock und seiner Beziehung zu Franz Kafka: Kafkas Welt : eine Lebenschronik in Bildern / Hartmut Binder. - 1. Aufl. - Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 2008. - 687 S. : zahlr. Ill., Kt. ; 31 cm. - ISBN 978-3-498-00643-3 : EUR

Wollte man sein Gesamturteil zu diesem Werk überpointieren, dürfte man wohl behaupten, es zeige bei aller anerkennenswerten Mühe, die dafür aufgewandt wurde, doch anschaulich, in welcher Weise bzw. mit welchen Absichten man derlei Arbeiten nicht in Angriff nehmen sollte. Hier werden im Grunde genommen nur Namen, Daten sowie die Haltung und die Meinungen vornehmlich Thomas Manns inventarisiert – zugegeben: durchaus ‚buchenswerte bzw. wissenswerte Dinge. Doch würde es den Wert und die Nützlichkeit solcher Werke erheblich steigern, wenn sie ebenso Anstöße gäben, den Kulturbeflissenen wie den Forscher stimulierten und animierten. Das setzt jedoch voraus, daß man das sichere Terrain des einzig ‚Thomas Mannschen Wortes verläßt, die Grenzen seines Gegenstandes überschreitet und aufbricht, ja ausschwärmt zu neuen, unerwarteten, unvorstellbaren, überraschenden Ufern. Das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm bietet für das Wort ‚buchen unterschiedliche Bedeutungen und Herleitungen an. Neben der herkömmlichen, uns aus der Buchhaltung so vertrauten, diese, für deren Korrektheit sich Jacob und Wilhelm Grimm nicht verbürgen wollten, sie aber eben doch für ‚buchenswert erachteten: BUCHEN […], spicare, ähren, frucht treiben: buochen oder spillen, so der samen in die ähere gat. MAALER 82a, ein sonst nirgend verzeichnetes, merkwürdiges wort, das mit der grundbedeutung von buche, fagus zusammen hängen musz. angenommen, dasz es so viel als fruchten aussagt, liegt darin ein beweis für die deutung buoche = cibus, fructus. vgl. büchel, spica.40

Vielleicht sollte man in diesem Sinne den Begriff des „Buchenswerten“ einfach häufiger mißverstehen bzw. erweitern. Momme Brodersen QUELLE Informationsmittel (IFB) : digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft http://ifb.bsz-bw.de/

68.00 [9668]. - Vgl. die vorstehende Rezension in IFB 08-1/2-179. - Hier Anm. 5. [sh] 40 Deutsches Wörterbuch / von Jacob u. Wilhelm Grimm. - Nachdr. - München : Deutscher Taschenbuch-Verlag. - (dtv ; 5945). - Bd. 2. Biermörder - Dwatsch. Fotomechan. Nachdr. d. Erstausg. 1860. - 1984. - XVIII, 1776 Sp. - Hier Sp. 471.