Wolf Scheller

Tapfer wider den Fatalismus Zum 200. Geburtstag von Georg Büchner

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ür den marxistischen Philosophen Georg Lukács gehörte Georg Büchner zu den Romantikern vom Schlage Heines, die den revolutionären Anspruch der Verhältnisse mit dem Gefühl beantworteten. Arnold Zweig, von Lukács genüsslich zitiert, sprach den Bannfluch über den Dichter: »Und so begeht Büchner den dramatischen Fehler, die ungeheure Notwendigkeit und Lobenswürdigkeit der Revolution als solcher vorauszusetzen, wie er sie im Gefühl hat.« Da war er wieder – der böse Vorwurf der Gefühligkeit, des Mangels an der richtigen ideologischen Gesinnung. Der posthumen marxistischen Büchner-Kritik konnte nicht entgangen sein, dass Büchner den Terror der Jakobiner und die historische Notwendigkeit der Revolution von 1789 noch nicht a priori für »lobenswürdig« hielt. Diese Einschätzung trennte ihn – und trennt ihn noch heute – vom marxistischen Geschichtsverständnis, was die Außerparlamentarische Opposition von 1968 nicht daran hinderte, neben Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht auch das »Friede den Hütten, Krieg den Palästen« des Georg Büchner auf ihr Panier zu schreiben. Was aber Büchner in der Tat von Heine unterschied: Er war eben kein Romantiker. Seine Dichtung versuchte, die eigene Lebenserfahrung in den gegensätzlichen Polen zu äußern. Es sind die Prinzipien, die seine Dramen bestimmen. Danton und St.-Just, Woyzeck, Hauptmann und Arzt. Als junger Student noch, für den die erste Euphorie der Julirevolution bereits Geschichte ist, schreibt er an die Eltern: »Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt … Was nennt Ihr denn gesetzlichen Zustand? ... Dies Gesetz ist eine ewige rohe Gewalt, angetan dem Recht und der gesunden Vernunft.« Andererseits war Büchner aber auch Realist genug, um die deutschen Verhältnisse, auch Misere genannt, richtig einzuschätzen: »Wenn ich an dem, was geschieht, keinen Teil nehmen werde, so geschieht es …, weil ich im gegenwärtigen Zeitpunkt jede revolutionäre Bewegung als eine vergebliche Unternehmung betrachte und nicht die Verblendung derer teile, welche in den Deutschen ein zum Kampf für sein Recht bereites Volk sehen.« Hieraus lässt sich kaum eine materialistische Weltsicht ableiten. Eher zeigt sich der Skeptiker, der die Entwicklung realistisch zu sehen versucht. Büchner hat gelernt, »dass nur das notwendige Bedürfnis der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann, dass alles Bewegen und Schreien der einzelnen vergebliches Torenwerk ist«. Das deckt sich weitgehend mit seiner Kunstauffassung, für die – wie der Kölner Germanist Hans Mayer es formuliert hat – »einzig der Primat der Außenwelt« gilt. So heißt es in der Lenz-Novelle: »Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel; er hätte dergleichen versucht im ›Hofmeister‹ und in den ›Soldaten‹. Es sind die prosaischsten Menschen unter der Sonne; aber die Gefühlsader ist in fast allen Menschen gleich, nur ist die Hülle mehr oder weniger dicht, durch die sie brechen muß. Man muß nur Aug und Ohr dafür haben.«

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Über die innere Spannung, der die Arbeiten Büchners ihre Entstehung verdanken, sagen die Lebensdaten wenig aus. Als er – nur 23-jährig – in Zürich stirbt, hinterlässt er ein literarisch-politisches Werk, das ein explosives Gemisch aus Sozialkritik und revolutionärer Verklärung darstellt. »Die Welt ist ein Chaos. Das Nichts ist der zu gebärende Weltgeist.« Das ist aber nur die eine Seite der Medaille: Am Ende erliegen Büchners Revolutionshelden dem »grässlichen Fatalismus der Geschichte«. Doch wie sehen die Umstände aus, unter denen der Einzelne zum Spielball der Geschichte wird? Das Lustspiel »Leonce und Lena«, der »Woyzeck« und auch die Lenz-Novelle widmen sich dieser Frage. »Leonce und Lena« ist die Karikatur einer überlebten Adelswelt, ein Lustspiel, das zwar mit romantischen Requisiten jongliert, in der Substanz aber durchaus objektiv, real-satirisch zu verstehen ist. Gleichwohl hat man das Stück lange Zeit etwas missmutig als Nebenwerk abgetan. Polemik und Parodie, beide Spielelemente waren die Stärken Büchners, die er auch gegen die zeitgenössische Philosophie von Kant und Hegel in Stellung brachte. Doch die große Gemeinschaft zwischen Danton, Leonce und Woyzeck liegt auf einem anderen Feld. Das ist die immer wieder von Neuem zu verlierende Schlacht gegen den vernichtenden Fatalismus, die Klage über menschliche Selbstentfremdung durch geschichtliche Setzungen. Dagegen predigt Büchner das Gebot der Tapferkeit, mit der sich die Fatalität der Geschichte am ehesten bekämpfen lasse. »Da wollte man idealistische Gestalten«, sagt Lenz in Büchners gleichnamiger Novelle, »aber alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen. Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Literatur.« Kein Wunder, dass Büchners Stücke bei solchen Attacken auf den Bühnen der dreißiger Jahre im vorigen Jahrhundert wenig Chancen hatten. Der Hohn, mit dem er das idealistisch gestimmte Bürgertum seiner Zeit eindeckte, machte es seinen Kritikern später leicht, ihn in den Hintergrund zu drängen. Heute gehört Büchners dramatisches Werk zum festen Bestand der deutschen Bühnen. Und auch, wenn der jüngste Büchner-Preis-Träger – Friedrich Christian Delius – etwas flapsig meint, er habe mit Büchner nichts anfangen können, so bleibt doch festzuhalten, dass die Aktualität dieses Revolutionärs, Dichters und Wissenschaftlers bis heute andauert. Aber wie wurde Büchner zu dem, der er war? In seiner Novelle »Lenz« legt der 22-Jährige dem Sturm- und Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz Sätze in den Mund, die eine Art Selbstdefinition darstellen: »Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung davon; doch seien sie immer noch erträglicher als die, welche die Wirklichkeit verklären wollten … Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht, wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen; unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen. Ich verlange in allem – Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist.« Aus solchen Sätzen, mit denen Büchner die idealistische Philosophie eines Fichte parodierte, spricht seine ganze Verachtung einer idealisierenden Geisteshaltung, die der menschlichen Natur, überhaupt der Wirklichkeit widerspricht. Man möchte an Büchners späten »Verwandten« Bert Brecht denken, dessen Forderung »Glotzt nicht so romantisch!« als ungeschriebenes Motto über seinen Stücken steht. Büchners Geburtstag – der 17. Oktober 1813 in Goddelau bei Darmstadt – war der zweite Tag der Völkerschlacht bei Leipzig, bei der die Große Armee Napoleons der Koalition von Österreichern, Preußen und Russen unterlag. Drei Jahre nach Georg Büchners Geburt zog seine Familie nach Darmstadt, wo der Vater als Bezirksarzt amtierte. Er war ein energischer Verfechter der Legitimität. Mit liberalen Ideen oder gar demokratischen Reformen hatte er

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nichts im Sinn. Dennoch muss es innerhalb seiner Familie einigermaßen vernünftig zugegangen sein. Jedenfalls wurde Georgs Schwester Louise zu einer einflussreichen Frauenrechtlerin, ein Bruder Reichstagsabgeordneter, ein zweiter – Ludwig – Arzt, der die »Nachgelassenen Schriften« seines so früh verstorbenen Bruders herausgab – und schließlich ein dritter Bruder – Alexander – »ein schreckenerregender Demokrätzer«, der als Literaturprofessor in Caen lehrte und dessen Schüler Auguste Dietrich als erster die Werke Büchners ins Französische übersetzte. Die Lebensverhältnisse in der Residenzstadt des Großherzogtums Hessen-Darmstadt waren aus der Sicht des jungen Büchner »arm und unfrei zugleich«. Der 17-Jährige hält auf dem Darmstädter Gymnasium eine revolutionäre Rede, in der er den Freitod des Cato von Utika verteidigt, der lieber sterben wollte als den Untergang der römischen Republik zu erleben. Die Armut, das Elend der Bauern im Großherzogtum, gibt Büchner immer wieder Anlass zu scharfzüngiger Kommentierung der Verhältnisse. Die Justiz bezeichnet er als »Hure der deutschen Fürsten«. Er spricht von den »vielen tausend Familien«, die nicht imstande seien, »ihre Kartoffeln zu schmälzen«, von der Notlage Zehntausender, deren »Ernährungs-, Wohn- und Gesundheitsverhältnisse … alle Züge des vorindustriellen Pauperismus« tragen. »Unser Leben ist der Mord durch Arbeit, wir hängen sechzig Jahre am Strick und zappeln, aber wir werden uns losschneiden.« Klassenkameraden beschreiben Büchner als »Mann der quälenden Reflexion«, der »lebenslang aus wirklichem Durst nach Wahrheit gesucht … und deshalb nie mit sich abgeschlossen« habe. Ein »kühner Skeptiker« sei er gewesen, aber kein »Atheist«. So habe er – wie es in seinem Abgangszeugnis heißt – »manch treffliche Beweise von selbständigem Nachdenken« gegeben. Mit dem Segen des Vaters studiert Büchner in Straßburg und in Gießen Medizin. Hier lernt der 20-Jährige den Rektor Ludwig Weidig kennen, den Führer einer hessischen revolutionären Verschwörung. Und hier entsteht aus seiner Feder die auch heute noch von vielen in der Linken verehrte Flugschrift »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!«: »Das Leben der Reichen ist ein langer Sonntag: sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker.« Von Weidig wurde die Flugschrift »Der Hessische Landbote« genannt und mit Bibelzitaten gespickt. Büchner gründete 1834 die Darmstädter Sektion der »Gesellschaft für Menschenrechte«. Als die Polizei seinen Freund Karl Minnigerode mit mehreren hundert Exemplaren des »Landboten« verhaftet, wird auch Büchner mehrfach verhört. Seit Beginn des Jahres 1835 war er darauf gefasst, jederzeit verhaftet zu werden. Im Darmstädter Haus seiner Eltern beginnt er mit der Niederschrift von »Dantons Tod«. Mit dem Erlös aus dem Verkauf des Stückes will er seine Flucht finanzieren. Anfang März geht er über die französische Grenze, drei Monate später wird ein Steckbrief gegen ihn erlassen, mit dem die Behörden aufgefordert werden, ihn »festzunehmen und wohlverwahrt« abzuliefern. In Straßburg ist er jedenfalls nicht mehr sicher. Im Frühjahr 1836 schreibt er sein melancholisches Lustspiel »Leonce und Lena«. Und im September wird der Emigrant in der Schweiz mit seiner Arbeit »Über das Nervensystem der Fische« zum Dr. phil. der Universität Zürich promoviert. Einen Monat später siedelt er nach Zürich über und beginnt mit der Arbeit an »Woyzeck«. Am 19. Februar des folgenden Jahres stirbt Georg Büchner an Typhus (damals noch »Faulfieber« genannt) in der Züricher Spiegelgasse 12. Im Nachbarhaus wohnt achtzig Jahre später ein anderer Revolutionär – Lenin. Und in der Spiegelgasse treffen sich Jahrzehnte später auch die ersten Dadaisten. Wilhelmine (Minna) Jaeglé, Büchners Verlobte aus Straßburg, ist in den letzten Stunden am Bett des sterbenden »Jüngling-Dichters« (Alfred Polgar).

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Büchner hing an seiner Familie. Im Sommer 1832 verbringt er die dreimonatigen Semesterferien zu Hause. Er freut sich nach so langer Abwesenheit, die Eltern und Geschwister wiederzusehen. Trotzdem fühlt er sich in der Darmstädter Gesellschaft (»Bedienten-Colonie«) nicht wohl: »Ich kann einmal diese Luft nicht vertragen. Sie ist mir eben so zuwider, als zur Zeit da ich fortging.« Nach dem Hambacher Fest, bei dem am 27. Mai 1832 vor der Ruine des Hambacher Schlosses bei Neustadt an der Weinstraße Zehntausende gegen das feudal-restaurative System in Deutschland protestiert hatten, kam es besonders im Südwesten Deutschlands zu etlichen lokalen Aufständen, die von Polizei und Militär brutal niedergeschlagen wurden. Besonders heftig waren die Auseinandersetzungen am ersten Jahrestag des Hambacher Festes Ende Mai 1833 in Neustadt an der Weinstraße. In Straßburg erreicht die Nachricht von den blutigen Unruhen auch Büchner. Er schreibt an die Familie: »So eben erhalten wir die Nachricht, dass in Neustadt die Soldateska über eine friedliche und unbewaffnete Versammlung hergefallen sei und ohne Unterschiede mehrere Personen niedergemacht habe. Ähnliche Dinge sollen sich im übrigen Rheinbayern zugetragen haben. Die liberale Partei kann sich darüber grade nicht beklagen. Man vergilt Gleiches mit Gleichem, Gewalt mit Gewalt. Es wird sich finden, wer der Stärkere ist.« Die Berechtigung zu »terroristischer« Gegengewalt wird von Büchner in diesen Jahren einer revolutionären Aufbruchsstimmung durchaus bejaht. Rigorose Sittlichkeit, die Liebe zur Freiheit, die Bereitschaft auch zum persönlichen Opfer zum »Vortheile seines Vaterlandes« – für Büchner war die Französische Revolution das große Vorbild, durch die »die Menschheit in ihrer Entwicklung um mehr denn ein Jahrhundert in gewaltigem Schwunge« vorwärts gebracht worden sei. Es kann allerdings nicht verschwiegen werden, dass es auch Zeitgenossen gab, die Büchners oft spröde Haltung nicht zu seinen Gunsten auslegten. Dazu gehörte sein Kommilitone Carl Vogt aus der Gießener Verbindung »Germania«, die sich nach ihrer Selbstauflösung als »Corps Palatia« neu formierte und für den revolutionären Flügel der Burschenschaften stand. Besagter Carl Vogt, nach dessen Bericht diesem Corps »einige der ausgezeichnetsten Schläger Gießens« angehörten, liefert ein eher spöttisches Bild Büchners: »Offen gestanden, dieser Georg Büchner war uns nicht sympathisch. Er trug einen hohen Cylinderhut, der ihm immer tief unten im Nacken saß, machte beständig ein Gesicht wie eine Katze, wenn´s donnert, hielt sich gänzlich abseits, verkehrte nur mit einem etwas verlotterten und verlumpten Genie, August Becker, gewöhnlich nur der ›rote August‹ genannt. Seine Zurückgezogenheit wurde für Hochmut ausgelegt, und da er offenbar mit politischen Umtrieben zu thun hatte, ein- oder zweimal auch revolutionäre Äußerungen hatte fallen lassen, so geschah es nicht selten, dass man abends, von der Kneipe kommend, vor seiner Wohnung still hielt und ihm ein ironisches Vivat brachte: ›Der Erhalter des europäischen Gleichgewichtes, der Abschaffer des Sklavenhandels, Georg Büchner, er lebe hoch!‹ – Er that, als höre er das Gejohle nicht, obgleich seine Lampe brannte und zeigte, dass er zu Hause sei.« Den Vorwurf des Hochmuts wusste Büchner freilich zu parieren: »Ich verachte Niemanden, am wenigsten wegen seines Verstandes oder seiner Bildung, weil es in Niemands Gewalt liegt kein Dummkopf oder kein Verbrecher zu werden … Man nennt mich einen Spötter. Es ist wahr, ich lache oft, aber ich lache nicht darüber, wie Jemand ein Mensch, sondern nur darüber, dass er ein Mensch ist, wofür er ohnehin nichts kann, und ich lache dabei über mich selbst, der ich sein Schicksal theile.« Ende November 1833 erleidet Büchner einen »Anfall von Hirnhautentzündung«, der ihn dazu zwingt, sich im Darmstädter Elternhaus zu erholen. Ein Jugendfreund berichtet, er habe bei Büchner in dieser Zeit eine »leidenschaftliche Unruhe« bemerkt. In der Tat stand

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Büchner in diesem Herbst vor der Entscheidung, seine Verlobung mit Wilhelmine Jaeglé weiter zu verheimlichen oder öffentlich zu machen. Außerdem ging es für ihn um die Frage, ob er an dem elterlichen Studienplan festhalten und er sich nicht mehr in die politische Arbeit einmischen solle. Gegenüber dem medizinischen »Brotstudium« hegte er tiefen Widerwillen, wie aus einem Brief an einen Freund hervorgeht: »Ich komme eben aus dem Leichendunst und von der Schädelstätte, wo ich mich täglich wieder einige Stunden selbst kreuzige, und nach den kalten Brüsten und den toten Herzen, die ich da berührte, erquickte mich wieder das lebendige, warme an das Du mich drücktest über die paar Meilen hinaus, die unsere Kadaver trennen.« Und sein Klassenkamerad Georg Zimmermann berichtet: »Zunächst litt er an der Qual eines durch die Verhältnisse ihm aufgedrungenen Berufes. Nach dem Willen seines Vaters und nach den Versprechungen, die er ihm gegeben, konnte er seine Liebe zur Naturwissenschaft nicht anders befriedigen, als bei der nebenher gehenden Vorbereitung auf den ärztlichen Beruf, der ihm durchaus nicht zusagte.« Vieles kam hier zusammen, das den Leidensdruck verstärkte. Der Vater verlangte Gehorsam ohne Wenn und Aber. Außerdem die Trennung von Wilhelmine Jaeglé. Georg Büchners Bruder Ludwig urteilte Jahre später: »Die ihm beinahe unerträglich scheinende Trennung von seiner Braut erzeugte in ihm während der ganzen Dauer seines Giessener Aufenthalts eine trübe und zerrissene Gemüthsstimmung, die sich in seinen Briefen häufig ausspricht und den sonst lebensfrohen jungen Mann sagen lässt: ›Ich habe Anlagen zur Schwermuth.‹« Im sogenannten »Fatalismusbrief« vom Januar 1834 schreibt der Kranke an die Verlobte: »Du frägst mich: sehnst du dich nach mir? Nennst du´s Sehnen, wenn man nur in einem Punkt leben kann und wenn man davon gerissen ist, und dann nur noch das Gefühl seines Elends hat? Gib mir doch Antwort. Sind meine Lippen so kalt?« Büchner bezeichnet diese Zeilen als »Charivari«, als Katzenmusik. Aber sein eigentliches »Fatalismuserlebnis« resultiert aus der Beschäftigung mit der Geschichte der Französischen Revolution: »Ich studirte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem grässlichen Fatalismus der Geschichte.« Wenn sein Drama »Dantons Tod« beginnt, liegt die Revolution schon im Sterben. Robespierre wird Danton durch die Guillotine hinrichten lassen. Der Revolution folgt die Diktatur des Terrors. Nichts kann diese Entwicklung aufhalten. Und Danton, der Held der Revolution, ist müde geworden – gepackt vom Ekel, gefesselt von der Einsicht ins Nichts. Es ist der Ekel vor dem »grässlichen Fatalismus der Geschichte«, von dem Büchner seiner Wilhelmine schrieb: »Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!« Büchners Danton leidet als Handelnder unter dem »Fluch des Muß«: »Der Mann am Kreuz hat sich´s bequem gemacht: es muß ja Ärgernis kommen, doch wehe dem, durch welchen Ärgernis kommt!« Und: »Das Nichts hat sich ermordet, die Schöpfung ist seine Wunde, wir sind seine Blutstropfen, die Welt ist das Grab, worin es fault.« »Dantons Tod« entzieht sich jeder linearen Interpretation. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Doch es dauerte 67 Jahre, bis Büchners Revolutionsdrama am 5. Januar 1902 durch den Verein freie Volksbühne im Berliner Belle-Alliance-Theater uraufgeführt wurde. Der 21-jährige Autor hatte das Stück heimlich in Darmstadt, im Haus seiner Eltern, geschrieben, während er sein Examen vorbereitete und dem Vater bei naturwissenschaftlichen Arbeiten zur Hand ging. Wie es um ihn damals stand, hat sein jüngerer Bruder Ludwig überliefert: »Die fortwährende Angst vor Verhaftung, verbunden mit der angestrengtesten Arbeit an ›Danton‹ versetzten ihn in der letzten Zeit seines Darmstädter Aufenthalts in eine unbeschreibliche geistige Aufregung …; er sprach selten, aß wenig und zeigt immer eine verstörte und stiere Miene.« Im Herbst 1834 flieht Büchner über Straßburg in die Schweiz.

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»Den 20. ging Lenz durchs Gebirg.« Den Eingangssatz kennt jeder Schüler, der sich jemals mit der Künstler-Novelle Büchners beschäftigt hat. Arnold Zweig meinte, mit diesem ersten Satz beginne »die moderne europäische Prosa«. Büchner hatte sich schon bei seinem ersten Aufenthalt in Straßburg mit der Lebensgeschichte des unglücklichen Sturm- und Drang-Dichters Lenz (Lenz starb 1792) auseinandergesetzt. Seit 1833/34 scheint er sich zunehmend mit dessen seelischem Erleben und seiner dichterischen Gestalt identifiziert zu haben. Der Bruder Ludwig Büchner berichtet: »In Lenzen´s Leben und Sein fühlte er verwandte Seelenzustände und das Fragment ist halb und halb des Dichters eigenes Porträt.« Am 2. September 1836 schrieb Büchner seinen Eltern, er sei »gerade daran, sich einige Menschen auf dem Papier todtschlagen oder verheirathen zu lassen, und bitte den lieben Gott um einen einfältigen Buchhändler und ein großes Publikum mit so wenig Geschmack als möglich«. Offenbar war Büchner in einer Art Parallelaktion mit der Fertigstellung seines »Woyzeck« und des Lustspiels »Leonce und Lena« beschäftigt: »Ich habe meine zwei Dramen noch nicht aus den Händen gegeben, ich bin noch mit Manchem unzufrieden und will nicht, dass es mir geht, wie das erste Mal. Das sind Arbeiten, mit denen man nicht zu einer bestimmten Zeit fertig werden kann, wie der Schneider mit seinem Kleid.« »Leonce und Lena« wurde Ende Mai 1885 in einem Münchner Park durch die Liebhabertruppe »Intimes Theater« mit Max Halbe als Leonce uraufgeführt, fast 50 Jahre nach der Niederschrift. Trotz der auf den ersten Blick konventionellen Handlung sind auch Leonce und Lena dem Zwang der Fatalität ausgeliefert. Prinz Leonce vom Reich Pop und Prinzessin Lena vom Reich Pipi sind zwar als Paar füreinander bestimmt, fliehen aber voreinander, um sich nicht heiraten zu müssen. Auf ihrer Flucht verlieben sich die beiden, ohne sich zu erkennen. Der Vater des Prinzen, König Peter, verheiratet das maskierte Pärchen miteinander. Und Leonce und Lena müssen nach der Hochzeit erkennen, dass genau das eingetreten ist, was sie vermeiden wollten. Am Ende bleibt in dieser »Komödie aus Hass« (Jan-Christoph Hauschild) ein unbestimmtes Gefühl der Melancholie angesichts der Todesnähe des Stücks, die auch durch die Prinzenhochzeit nicht aufgehoben, sondern nur in die Vorstellung einer ironisierten Idylle überspielt wird: »Wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüte und Frucht. Und dann umstellen wir das Ländchen mit Brennspiegeln, dass es keinen Winter mehr gibt und wir uns im Sommer bis Ischia und Capri hinaufdestillieren, und das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Lorbeer stecken.« Flucht in ein märchenhaftes Utopia, das kein fröhliches Lachen mehr zulässt. Der Tod hat in diesem Lustspiel eine beherrschende Rolle, und man wird an nordkoreanische Verhältnisse erinnert, wenn »alle Untertanen« aufgefordert werden, »die Gefühle ihrer Majestät zu teilen«, während König Peter sich einen Knoten in sein Schnupftuch machen muss, damit er sich, falls es ihm einfällt, was der Knoten bedeutet, gelegentlich an sein Volk erinnert. Die romantischen Ingredienzien und märchenhaft-idyllischen Handlungsabläufe können die selbstironische Gesellschaftskritik Büchners, seine Abscheu gegenüber dem reaktionären MetternichDeutschland, nicht verbergen. Im Stück lässt Büchner Leonce einmal sagen: »Weißt du auch, Valerio, dass selbst der Geringste unter den Menschen so groß ist, dass das Leben noch viel zu kurz ist, um ihn lieben zu können?« Dieser »geringste Mensch« begegnet uns in der Gestalt des Woyzeck, der als Soldat und Barbier seinen bornierten Hauptmann rasiert und von einem dem KZ-Arzt Mengele ähnlichen Doktor für Experimente missbraucht wird. Franz Woyzeck ist kein Revolutionär, weder ein Künstler noch verfügt er über Charisma. Das Geld, das ihm der Doktor für seine Mitwirkung an den Experimenten zahlt, bringt er Marie, die ein Kind von ihm hat. Er selbst er-

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nährt sich nur von Erbsen. Marie betrügt ihn mit einem stattlichen Tambourmajor. Woyzeck ersticht sie, wirft das Messer in den Teich und geht selbst ins Wasser. Der Mörder Woyzeck erleidet seine Tat. Marie war das Kostbarste, was er hatte: »Sie war doch ein einzig Mädel … Und doch möchte ich den Himmel geben, sie noch einmal zu küssen.« Sein Widerpart, der Doktor, hat überhaupt keine Moral: »Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit.« Büchner kannte sich aus mit dem Leben der Geringsten. Das Schicksal des Einzelnen bleibt sozial bestimmt. Es sei keine Kunst, ein ehrlicher Mann zu sein, wenn man täglich Suppe, Gemüse und Fleisch zu essen habe. »Was ist es, das in uns lügt, mordet, stiehlt?« Diese Frage aus dem »Fatalismusbrief« beantwortet Büchner im »Woyzeck« mit dem Verweis auf Umstände, Verhältnisse und soziale Zwangslage. Woyzeck wird von Stimmen, von unheimlichen Gesichten, verfolgt. Er stammelt von »Freimaurern« und »Schwämmen«. Das sind die dunklen Mächte, denen er sich ausgeliefert sieht. Aber es sind in Wahrheit die Menschen um ihn, die ihn zugrunde richten. Dem Verbrechen der Tat geht ein soziales Verbrechen am Täter voraus. Das ist Büchners Botschaft, wobei sich das Verbrechen des Täters gegen den einzigen Menschen richtet, der ihn liebt.

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ach Redaktionsschluss erreichte uns die Nachricht, dass Arno Lustiger im Alter von 88 Jahren verstorben ist. Lustiger, geboren am 7. Mai 1924 im polnischen B¸edzin, hat den nationalsozialistischen Terror in Konzentrationslagern und auf Todesmärschen überlebt, in Frankfurt am Main ein erfolgreiches Textilunternehmen gegründet und die dortige jüdische Gemeinde mit aufgebaut. Bekannt geworden ist er vor allem mit seinen historischen Forschungen: Seit den 1980er Jahren veröffentlichte er, der keine akademische Ausbildung, nicht einmal ein Abitur vorweisen konnte, eine Reihe von genau recherchierten, materialreichen Werken, die sich mit dem jüdischen Widerstand beschäftigen. Sein Buch »Zum Kampf auf Leben und Tod«, eine Gesamtdarstellung jüdischen Widerstands 1933 bis 1945, gilt als Standardwerk. In seiner jüngsten Publikation nahm er sich der »Judenretter in Europa«, wie es im Untertitel des Bands »Rettungswiderstand« steht, an − und hob sich dabei allein schon durch seine breite Perspektive ab: Keine Unterscheidung zwischen geglückten und misslungenen Hilfsversuchen, keine Hierarchisierung von Rettern und Rettungstaten. Für sein Engagement erhielt Lustiger viele Auszeichnungen, unter anderem die Moses-Mendelssohn-Medaille, die Goetheplakette der Stadt Frankfurt und zuletzt das Große Bundesverdienstkreuz. Auch zu akademischen Würden kam der wissenschaftliche Quereinsteiger: Die Universität Potsdam verlieht ihm die Ehrendoktorwürde, das Land Hessen ernannte ihn zum Professor. Arno Lustiger starb am 15. Mai 2012 in Frankfurt am Main.