Symptome posttraumatischer

Kurzbeiträge Nervenarzt DOI 10.1007/s00115-016-0171-4 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016 V. Stegmüller1 · J. Regler1 · M. Schauer2 · E. Meisenz...
Author: Kai Müller
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Kurzbeiträge Nervenarzt DOI 10.1007/s00115-016-0171-4 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

V. Stegmüller1 · J. Regler1 · M. Schauer2 · E. Meisenzahl1 1

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland 2 Kompetenzzentrum Psychotraumatologie, Universität Konstanz, Klinische Psychologie, Reichenau, Deutschland

Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung bei Münchhausen-Syndrom Kasuistik einer artifiziellen Störung

Artifizielle Störungen sind seltene und komplexe Erkrankungen, die für die Behandler eine große Herausforderung in Diagnostik und Therapie darstellen. Die Betroffenen haben meist einen jahrelangen Leidensweg hinter sich, wenn die richtige Diagnose gestellt wird und eine adäquate Behandlung erfolgt. Die nachfolgende Kasuistik stellt einen besonderen Fall des sog. Münchhausen-Syndroms vor, in dessen Kontext vorgetäuschte sowie erzeugte körperliche und psychiatrische Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung vorlagen.

Hintergrund Artifizielle Störungen sind komplexe psychiatrische Erkrankungen. Die Prävalenzzahlen sollten aufgrund der ungeklärten Dunkelziffer und der schwierigen Diagnosestellung mit Vorsicht betrachtet werden. In der Literatur wird die Einjahresprävalenz der artifiziellen Störung mit 1,3 % angegeben [6], der Anteil des Münchhausen-Syndroms daran wird auf etwa 10 % geschätzt [4]. Als spezifische Unterform der artifiziellen Störung bezeichnet das Münchhausen-Syndrom eine Erkrankung, bei der die Betroffenen körperliche und psychiatrische Krankheitssymptome vortäuschen oder

erzeugen und zwanghaftes Lügen aufweisen [3]. Ein häufiger Wechsel zwischen medizinischen Versorgungseinrichtungen kann aus der Krankheitsgeschichte in vielen Fällen nachvollzogen werden. Persönlichkeits- und Beziehungsstörungen sowie soziale Entwurzelung charakterisieren diese Erkrankung [3]. Die Motivation bleibt oft unklar, häufig ist das Ziel das Einnehmen einer Krankenrolle [2]. Die Wahrscheinlichkeit einer Chronifizierung ist hoch. Bei zwei Dritteln aller Fälle von diagnostizierten artifiziellen Störungen handelt es sich um weibliche Betroffene. Häufig sind dies Frauen, die medizinischen oder paramedizinischen Berufsgruppen angehören [8, 10]. Man geht davon aus, dass im Rahmen dieser Erkrankung psychiatrische Symptome seltener vorgetäuscht werden als körperliche [5]. In der Literatur werden diesbezüglich vor allem psychotische Symptome, depressive Verstimmungen und Suizidimpulse berichtet [5]. Vorgetäuschte Symptome posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS) wurden bisher seltener beschrieben [12]. Häufiger findet sich dagegen die Simulation von PTBS-Symptomen. Die differenzialdiagnostische Abgrenzung der Simulation zur artifiziellen Störung gründet sich auf die motivationalen Aspekte des Vortäuschens von Symptomen. Bei der Simulation ist die Symptomproduktion durch äußere Anreize, wie zum Beispiel

finanzielle Vorteile oder Vermeidung von Strafverfolgung, motiviert [7, 10, 11]. Im Gegensatz dazu wird der artifiziellen Störung eine innerpsychische Motivation zugeschrieben [2, 10]. Die nachfolgende Kasuistik zeigt eindrücklich, wie eine prominente psychiatrische Symptomatik auf der Grundlage einer artifiziellen Störung entsteht, ohne dass diese über viele Jahre erkannt wird.

Anamnese Eine 38-jährige Krankenschwester stellte sich in unserer Ambulanz der Psychiatrischen Universitätsklink vor und wurde bei Verdacht auf PTBS zur freiwilligen stationären Krisenintervention aufgenommen. Eigenanamnestisch berichtete die Patientin, unter dissoziativen Zuständen, Intrusionen, emotionaler Taubheit sowie motorischer Übererregung zu leiden. Sie sei 2014 von mehreren Männern über Stunden hinweg brutal sexuell missbraucht worden. Die Behandlung erfolgte zunächst auf unserer geschützten Station. Im Vordergrund standen die Stabilisierung der Patientin sowie die Behandlung der schweren PTBS mit Flashback-Erleben, Intrusionen, Albträumen und wiederholten Dissoziationen. Die Patientin verweigerte zeitweilig die Nahrungsaufnahme und wurde wiederholt am Boden liegend in dissoziiertem Zustand aufgefunden. Bei langsamer StabiDer Nervenarzt

Kurzbeiträge Tab. 1 Jahr

Psychiatrische Diagnosen 2004–2015 Diagnose Bezeichnung

2004

F60.31

Emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ

F20.0

Paranoide Schizophrenie

F43.1

Posttraumatische Belastungsstörung

F33.3

Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Symptomen

2005

F60.31

Emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ

2010

F43.0

Akute Belastungsreaktion

2012

F33.1

Rezidivierende depressive Störung, mittelgradige Episode

2012–2013

F33.1

Rezidivierende depressive Störung, mittelgradige Episode

2014 2015

F43.1

Posttraumatische Belastungsstörung

F43.1

Posttraumatische Belastungsstörung

F33.2

Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome

F60.31

Emotional instabile Persönlichkeit

F68.1

Artifizielle Störung

lisierung wurde die Patientin im Verlauf auf eigenen Wunsch tagklinisch betreut. Im Rahmen einer massiven Verschlechterung der PTBS-Symptomatik sowie eines Stimmungseinbruchs wurde die Patientin schließlich erneut stationär aufgenommen und im weiteren Verlauf auf eine offen geführte Station verlegt. Es erfolgte eine Traumatherapie im Rahmen von Einzelsitzungen. Eine ambulante Traumabehandlung wurde eingeleitet. Drei Monate nach Entlassung kam es bei erneuter Destabilisierung mit angegebenen Suizidgedanken, Intrusionen und schwerer vegetativer Symptomatik zur Wiedervorstellung und erneuten stationären Aufnahme in unserem Haus mit Diagnose einer PTBS. Die Patientin war kaum in der Lage, Kontakt aufzunehmen. Sie wirkte stark verängstigt bei dauerhaftem Zittern. Im Rahmen intensiver einzeltherapeutischer Sitzungen imponierten multiple Persönlichkeitsbereiche: Die Patientin flüsterte und berichtete von inneren Stimmen in Form von akustischen Halluzinationen. Auf der Station berichtete die Patientin, dass sie durch die Wände höre, wie Stimmen sagten, sie lüge. Dieser bemerkenswerte Verlauf der Patienteninteraktion führte die Therapeutin schließlich zu der Entscheidung, die Patientin um Einsicht in die Krankenkassenunterlagen zu bitten. Vorhergehende psychiatrische Aufenthalte hatte die Patientin verneint. Nach Einverständnis der Patientin zeigDer Nervenarzt

ten die kassenärztlichen Auszüge eine chronifizierte Krankheitsgeschichte: Es lagen multiple Diagnosen und Therapien sowohl in psychiatrischen als auch internistischen Kliniken innerhalb der letzten 10 Jahre vor. Im Gespräch über die Krankheitsgeschichte distanzierte sich die Patientin von den Angaben einer sexuellen Traumatisierung und räumte ein, die Symptome einer PTBS bewusst vorgetäuscht und die Vergewaltigung fälschlicherweise vorgegeben zu haben. Sie gab an, seit mehr als 15 Jahren psychiatrische und körperliche Symptome vorzutäuschen. Dabei habe sie sich durch Schläge auf die Hand oder Verstümmelung des Intimbereichs selbst verletzt. Sie habe sich schon als Kind verletzt, um Kontakt zu Ärzten zu erhalten. Symptome zwanghaften Lügens, der sog. Pseudologia phantastica, sowie wiederholte Beziehungsabbrüche und soziale Entwurzelung wurden aus der anamnestischen Exploration ersichtlich. Die Patientin berichtete von insgesamt sieben Umzügen in den letzten zehn Jahren im In- und Ausland. Nach jedem Umzug habe sie alle sozialen Kontakte abgebrochen. Sie habe sich vielfach ärztlich vorgestellt und sich immer wieder in ein „Lügengerüst verstrickt“. Auch im privaten und beruflichen Umfeld habe sie häufig gelogen. Zwanghaftes Lügen wurde im Laufe der Behandlung nicht nur bezüglich der sexuellen Traumatisierung, sondern auch im Hinblick

auf biografische Aspekte deutlich. Zu Beginn der Behandlung gab die Patientin an, dass beide Elternteile verstorben seien, der Vater sich suizidiert habe. Dies revidierte die Patientin im Verlauf. Zu den Eltern habe sie den Kontakt vor mehreren Jahren abgebrochen. Eine Partnerschaft oder sexuelle Beziehung habe sie nie gehabt. In der frühen Kindheit vermutete die Patientin eine sexuelle Traumatisierung durch einen Nachbarn, konnte sich jedoch nicht bewusst an Vorkommnisse erinnern. Psychiatrische Anamnese. Bei Durchsicht der kassenärztlichen Auszüge konnten in den letzten zehn Jahren insgesamt sieben stationär-psychiatrische Aufenthalte bei unterschiedlichen Diagnosen nachvollzogen werden (siehe . Tab. 1). Die Diagnose F43.1 (PTBS) lässt sich erstmalig im Jahr 2004 feststellen. Insgesamt erfolgte die Diagnosestellung F43 bei vorgetäuschten Symptomen viermal, davon zweimal in unserem Haus. Selbstschädigendes Verhalten sei in der Kindheit und Jugend ab dem 10. Lebensjahr in unterschiedlicher Form erfolgt: den Kopf gegen die Wand und auf die Straße schlagen, die Finger umbiegen, mit einem Hammer auf die Kniescheiben schlagen, die Knöchel umknicken, Sprünge aus der Höhe mit dem Ziel, die Extremitäten zu brechen. Selbstschädigende Verhaltensweisen im Erwachsenenalter seien nach Angaben der Patientin in folgender Form erfolgt: Schneiden an den Unterarmen, Verletzungen im Intimbereich, Schläge ins Gesicht und auf die Hände. Vor etwa 15 Jahren habe sie zusätzlich begonnen, eine sexuelle Traumatisierung und psychiatrische Symptome vorzutäuschen. Damals habe sie behauptet, während eines Auslandsaufenthaltes vergewaltigtwordenzu sein. Die Patientinhabe vier Suizidversuche mittels Tablettenintoxikation unternommen. Die Diagnose der artifiziellen Störung konnte erst bei wiederholter Vorstellung der Patientin in unserem Haus und nach etwa 15-jähriger Krankheitsgeschichte gestellt werden. Familienanamnese. Die Mutter der Patientin sei an Depressionen erkrankt, der Vater und die Großmutter mütterlicherseits hätten übermäßig Alkohol konsu-

Tab. 2 Jahr

Therapie und Verlauf

Somatische Diagnosen 2009–2015 Diagnose Bezeichnung

2009

A09

Sonstige nicht näher bezeichnete Gastroenteritis und Kolitis infektiösen und nicht näher bezeichneten Ursprungs

2012

N10

Akute tubulointerstitielle Nephritis

D25.9

Leiomyom des Uterus, nicht näher bezeichnet

N90.6

Sonstige nichtentzündliche Krankheiten der Vulva und des Perineums, Hypertrophie der Vulva

D27

Gutartige Neubildung des Ovars

Z90.7

Verlust von Organen, Verlust eines oder mehrerer Genitalorgane

T14.3

Verletzung an einer nicht näher bezeichneten Körperregion: Luxation, Verstauchung und Zerrung

M94.26

Sonstige Knorpelkrankheiten, Unterschenkel

2013

R10.0

Akutes Abdomen, Obstruktion ohne Hernie

2014

K56.6

Paralytischer Ileus

2014

R10.0

Akutes Abdomen

2014

K66

Peritoneale Adhäsion

2014

R10.3

Bauch- und Beckenschmerzen

miert. Bei einer Cousine sei eine Borderline-Persönlichkeitsstörung bekannt. Somatische Anamnese. Trommelfellruptur rechts bei Zustand nach Schlag auf rechte Gesichtshälfte. Mitralklappenprolaps, Zustand nach Appendektomie, Zustand nach Hysterektomie bei Zustand nach Uterusmyom 2012. (Verlauf somatischer Diagnosen siehe . Tab. 2).

Befund Psychopathologischer Befund bei Aufnahme. Es stellt sich eine 38-jährige Patientin in gepflegtem Erscheinungsbild vor. Im Kontakt ist die Patientin misstrauisch und verschlossen, insgesamt jedoch kooperativ. Sie ist zu allen Qualitäten orientiert. Die Aufmerksamkeit ist deutlich reduziert, es bestehen starke Konzentrationsstörungen. Die Merkfähigkeit ist ebenfalls reduziert. Der formale Gedankengang ist stark verlangsamt. Ich-Störungen in Form von Derealisationserleben werden berichtet. Keine Sinnestäuschungen bei Aufnahme. Die Stimmung ist stark gedrückt, der Antrieb deutlich reduziert. Psychomotorisch ist die Patientin stark angespannt, dabei wechselnd verlangsamt und agitiert. Psychovegetativ sind Ein- und Durchschlafstörungen zu eruieren sowie stark verminderter Appetit bei Gewichtsabnahme. Es besteht eine

Grübelneigung sowie Gedankenkreisen. Die Patientin berichtet eine ausgeprägte Flashback-Symptomatik mit vegetativen Symptomen (Tachykardie, Tachypnoe). Es bestehen passive Todeswünsche. Von Suizidalität ist die Patientin nicht distanziert, im stationären Setting jedoch absprache- und bündnisfähig. ICD-10-Diagnosen im Verlauf des stationären Aufenthalts. F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung; F33.2 rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome; F60.3 emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ; F 68.1 artifizielle Störung. Testpsychologische Befunde bei Aufnahme. Beck-Depressions-Inventar(BDI): 36 Punkte. Die Symptomcheckliste (SCL90-R) zeigt eine deutlich messbare psychische Belastung in den Unterskalen „Somatisierung“ (T = 65), „Zwanghaftigkeit“ (T = 71), „Unsicherheit im Sozialkontakt“ (T = 75), „Depressivität“ (T = 72), „Ängstlichkeit“ (T = 71), „Aggressivität/Feindseligkeit“ (T = 65), „Phobische Angst“ (T = 71), „Paranoides Denken“ (T = 70), „Psychotizismus“ (T = 71).

Pharmakotherapie. Keine Medikation bei Aufnahme 2014. Medikation bei Entlassung 2015: Sertralin 100 mg 0-0-0, Quetiapin 75 mg-50 mg-100 mg-175 mg, Doxepin 0-0-0-50 mg. Psychotherapie. Bei Etablierung einer vertrauensvollen und kooperativen Beziehung konnte sich die Patientin auf psychotherapeutische Unterstützung einlassen und mithilfe von Verhaltensanalysen die Funktionalität der selbstschädigenden Handlungen reflektieren. Im Rahmen der Psychotherapie entwickelte sie Krankheitseinsicht und Veränderungsmotivation. Mittels Interventionen der kognitiven Verhaltenstherapie konnte die Stimmung der Patientin stabilisiert werden. Elemente der dialektisch-behavioralen Therapie, insbesondere Skills-Training und achtsamkeitsbasierte Übungen, führten zu einer Reduktion des selbstschädigenden Verhaltens und einer verbesserten Emotionsregulationsfähigkeit. Weiterer Verlauf. Ein langfristiges Behandlungskonzept mit stationären und ambulanten Elementen wurde gemeinsam mit der Patientin geplant und umgesetzt. Die Patientin wurde nach 14wöchigem Aufenthalt in der Psychiatrischen Universitätsklinik bei stabilisiertem Affekt und optimierter medikamentöser Einstellung zur spezialisierten dialektisch-behavioralen Therapie in eine psychosomatische Klinik verlegt. Nach Absprache wurde die Patientin nach Beendigung des 12-wöchigen stationär-psychosomatischen Behandlungsprogramms wieder in unserem Haus vorstellig und zur ambulanten Weiterbehandlung ärztlich und psychotherapeutisch angebunden. Eine gesetzliche Betreuung wurde eingeleitet, eine berufliche Umschulung in Form einer Rehabilitationsmaßnahme beantragt.

Diskussion Aufgrund derSchwierigkeiteninderDiagnosestellung werden artifizielle Störungen häufig übersehen. In vielen Fällen brechen die Patienten die Behandlung ab und werden in anderen EinrichtunDer Nervenarzt

Kurzbeiträge gen wieder vorstellig. Es gibt hier bislang kein standardisiertes und ethisch befürwortbares Vorgehen, das den Austausch zwischen Behandlern, Krankenkasse und dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MdK) ermöglicht, um artifizielle Störungen schneller zu identifizieren. Die Anforderung der kassenärztlichen Auszüge und deren Sichtung durch den Behandler bieten die einzige Möglichkeit zur adäquaten diagnostischen Beurteilung, was in der Regel nur auf konkreten Verdacht einer artifiziellen Störung hin erfolgt. Zu diskutieren bleibt die Aussagekraft der erhobenen psychometrischen Daten, da Aggravation und zwanghaftes Lügen zentrale Symptome der Störung sind. Die Vielzahl der im Verlauf gestellten psychiatrischen Diagnosen unterschiedlicher Spektren wirft die Frage nach der Reliabilität der erhobenen psychometrischen Daten auf. Zwanghaftes Lügenund Aggravationwerdeninderklinischen Praxis in der Regel kaum berücksichtigt, häufig werden eigenanamnestische Angaben nicht infrage gestellt und Simulation oder Täuschung nicht in Betracht gezogen [1]. Daraus leiten sich gegebenenfalls fehlerhafte Diagnosen und Therapieansätze ab. Im vorliegenden Fall gelang die Diagnosestellung erst nach mehrwöchiger Behandlung im Rahmen des dritten stationären Aufenthalts der Patientin in unserem Haus. Auffallend waren Widersprüche in ihren Schilderungen und das Berichten wahnhafter Inhalte. Diese Inkonsistenzen konnten durch die Anforderungen der kassenärztlichen Auszüge untermauert werden. Die Symptomproduktion gab dabei entscheidende und richtungsweisende Informationen. Eine anschließend ausführliche Anamnese und die Berücksichtigung der medizinischen Vorbefunde waren zentrale Faktoren der Diagnosestellung und damit auch der adäquaten Therapieplanung. Auch die Abgrenzung zur Simulation war in diesem Zusammenhang ein wesentlicher zu berücksichtigender Faktor, der im dargestellten Fall durch wiederholte Prüfung der Motivation des gezeigten Verhaltens differenzialdiagnostisch abgeklärt wurde. Es konnte keine offensichtliche externe Motivation festgestellt werden. Durch ein sensibles und empathisches Vorgehen bei der KonfronDer Nervenarzt

tation mit der Verdachtsdiagnose wurde ein vorzeitiger Therapieabbruch vermieden. Die Behandlung im interdisziplinären Team gewährleistete, dass sich die Patientin auch bei Konfrontation mit der Diagnose durch einen Behandler aus dem Team der Hilfe und Unterstützung der anderen Behandler sicher war. Diese Vorgehensweise ist mit einer eindeutigen Rollen- und Funktionszuweisung der Beteiligten allgemeiner Konsens in der Praxis der Therapie artifizieller Störungen [3]. Die multipersonale Versorgung unter Einbeziehung ärztlichen, psychologischen und pflegerischen Personals sowie sozialpsychiatrischer Dienste führte zu einer deutlichen Erhöhung von Krankheitseinsicht und Behandlungsbereitschaft der Patientin. Eine individualisierte Therapieplanung bestehend aus stationären und ambulanten Elementen trug im vorliegenden Fall maßgeblich zum Behandlungserfolg bei. Eine Kombination aus Psychotherapie und antidepressiver sowie antipsychotischer Medikation erzielte gute Behandlungsergebnisse. Patienten mit der Diagnose einer artifiziellen Störung bedürfen einer langfristigen und interdisziplinären Betreuung, um die Wahrscheinlichkeit der Chronifizierung zu senken. Die beschriebene und vermutete Traumatisierung der Patientin in der frühen Kindheit schließt die klinische Diagnose einer artifiziellen Störung nicht aus, da sie sich auf der Matrix einer spezifischen Traumafolgestörung entwickeln kann. Danach sind bei Formen der schweren artifiziellen Störung häufig Menschen mit wiederholten, schweren sexuellen und/oder körperlichen Misshandlungen betroffen [3]. So zeigen auch die empirischen Daten von Kapfhammer und Kollegen [10] eine Häufung traumatischer Erlebnisse in der frühen Biografie bei Patienten mit der Diagnose einer artifiziellen Störung. Das Bemühen um eine systematische, retrospektive Erfassung und therapeutische Bearbeitung von interpersonalen, traumatischen Belastungen, welche im Verlauf der ersten 18 Lebensjahre stattgefunden haben, ist demnach für die Absicherung eines stabilen Therapieerfolges von Bedeutung [9]. Im Falle unserer Patientin könnte davon ausgegangen werden, dass eine ursprüngliche Traumati-

sierung zur Ätiopathogenese der artifiziellen Störung beigetragen hat, stark verdrängt oder dissoziativ abgespalten und in Form vorgetäuschter und erzeugter Symptome reinszeniert wurde. Dies kann im Sinne einer Kompensation des erlebten Kontrollverlustes verstanden werden. Auffallend erscheint der Hinweis der Patientin auf Eigenfabrikation mittels der Inszenierung wahnhafter Symptome (sie höre Stimmen, die sagen, sie lüge). Dies lässt auf einen erhöhten Leidensdruck bezüglich des zwanghaften Lügens schließen. Insgesamt bleibt die Frage nach der Aufrichtigkeit der Schilderungen der Patienten eine große Herausforderung in der Behandlung der artifiziellen Störung. Dies führt häufig zu Unsicherheit und Ärger bei den Behandlern und beeinträchtigt die Beziehungsgestaltung. Die Funktionalität des Lügens sollte thematisiert und die Inhalte der Einzeltherapie stets im Team reflektiert und supervidiert werden.

Fazit für die Praxis 4 Als spezifische Unterform der artifizi-

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ellen Störung bezeichnet das Münchhausen-Syndrom eine Erkrankung, bei der die Betroffenen körperliche und psychiatrische Krankheitssymptome vortäuschen oder erzeugen und zwanghaft lügen. Die richtige Diagnose wird meist erst nach jahrelangem Leidensweg gestellt. Die Anforderung und Sichtung kassenärtzlicher Auszüge ist zur diagnostischen Beurteilung essentiell. Eine ausführliche Anamnese und die Berücksichtigung der medizinischen Vorbefunde sind zentrale Faktoren der Diagnosestellung und damit auch der adäquaten Therapieplanung. Patienten mit artifizieller Störung bedürfen einer langfristigen und interdisziplinären Betreuung. So lässt sich auch das Risiko der Chronifizierung senken. Die Unsicherheit bezüglich der Aufrichtigkeit der Patienten stellt eine große Herausforderung dar. Sie beeinflusst die Beziehungsgestaltung und die Behandlung der artifiziellen Störung.

Korrespondenzadresse V. Stegmüller Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7, 80336 München, Deutschland [email protected] Prof. Dr. E. Meisenzahl Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7, 80336 München, Deutschland [email protected] Interessenkonflikt. V. Stegmüller, J. Regler, M. Schauer und E. Meisenzahl geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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