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Gewaltsame Konflikte und emotionale Auseinandersetzungen in der spanischen Jugendliteratur. Isabella Leibrandt Universidad de Navarra/ Spanien

An gewaltsamen Konflikten fehlt es weder in der spanischen Vergangenheit noch der jüngsten Gegenwart. Jahrzehntelang hat die baskische und spanische Gesellschaft eine grausame und zunehmend zerstörerische Konfliktsituation erlebt, in der verschiedene Arten und Stufen an Gewalt angewandt wurden. Abgesehen vom Spanischen Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg liegen nur wenige Jahrhunderte auch andere kriegerische Auseinandersetzungen zurück, wie zum Beispiel die Karlistenkriege. An drei Beispielen der aktuellen spanischen KJL wird im Weiteren die Darstellung dieser Konflikte exemplarisch herausgearbeitet, wobei der Schwerpunkt der Analyse auf der emotionalen Verarbeitung liegen soll. Die hier vorgestellten Autoren nehmen einen realen historischen und aktuelle Konflikte als Ausgangspunkt um Gewalt in unterschiedlicher Ausprägung darzustellen. Man erkennt sogleich, dass mit politisch gestützter Gewalt idealistische Motivationen verbunden sind, die in früheren und genauso heutigen Konflikten den Ursprung für die persönliche Beteiligung bilden. Damit soll den folgenden Fragen nachgegangen werden: Wie vermitteln die Autoren Gewalt und welche Bedeutung hat sie für das Leben der Protagonisten? Verbunden mit der Gewalt, die die Protagonisten entweder erleiden oder auch vollführen, sind auch Emotionen, Gefühle und Stimmungen wie Hass, Idealismus, die Empfindung von Bewunderung für Führerpersönlichkeiten, und auch die spätere Enttäuschung. Eine spezielle Funktion spielen auch Angst und das persönliche Gewissen als Entscheidungs- und Handlungswegweiser, deren Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung der Hauptfiguren herauszustellen interessant ist. Kriege, und in jüngster Vergangenheit in unserer westlichen Welt terroristische Anschläge, haben für fundamentale Störungen der gesellschaftlichen Systemzustände gesorgt (Gansel 2011, 9). Sie können demnach als soziale ›Ausnahmezustände‹ betrachtet werden, die zur Denormalisierung des Alltagslebens, damit insbesondere des emotionalen Ausdrucks und Empfindens führen und gesellschaftlich verbindliche Werte, Normen sowie Toleranzgrenzen eines kollektiven Normalismus außer Kraft

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setzen. Beispielsweise sind darunter das Eindringen von Angst in das Alltagsleben, die gewaltsame Verletzung der privaten Sphäre, die Unsicherheit im öffentlichen Raum sowie die endlose Anwendung von Vorkehrungsmassnahmen zu verstehen (Asad 2008, ). Literatur als Form der ‚Selbstbeobachtung von Gesellschaften’ wiederum stellt ein Medium dar, in dem die durch Kriege und Terrorismus hervorgebrachten Störungszustände thematisiert werden können (Gansel 2011, 10). In Verbindung zur Emotionsforschung soll für unser Vorhaben das Ziel der Analyse der ausgewählten Werke vor allem die Relevanz von Emotionen für Bewertungszustände, der Begriff der Willensfreiheit und Gefühle wie Angst, Enttäuschung, Neid, Missgunst, Hass hervorgerufen durch Gewalt und kriegerische Auseinandersetzungen sein. Nicht zuletzt sind die gewählten Beispiele aus dem spanischen Raum deshalb attraktiv, da sie im Vergleich zueinander verdeutlichen, dass an die Stelle einer ‚binären’ Systemopposition, wie sie für das 20. Jahrhundert oder frühere Jahrhunderte in Gestalt eines Dualismus von Täter und Opfer, Beobachter und Kombattant, Militär und Zivilbevölkerung noch weithin bestimmend waren, die starren Dichotomien sich im aktuellen Kontext auflösen (Gansel 2011, 10). Hinsichtlich der persönlichen Mitwirkung der Protagonisten können wir jedoch überraschenderweise emotionale Konstanten erkennen, die ihre persönliche Entwicklung und Entscheidungsfähigkeit beeinflussen. Anders ausgedrückt, wollen wir eine Antwort auf die Frage geben, welche aktuellen Themen, Motive und Probleme in den gewählten Texten aufgegriffen und bearbeitet werden, so dass sie den Leser zur Reflexion und damit einer emotionalen und sozialen Kenntnis leiten. Bezüglich der Herausarbeitung von Emotionen fundieren wir unser Vorgehen auf die in den Bildungsstandards für den Primarbereich (2005, 6) und Mittleren Schulabschluss (2003, 6) festgehaltenen Kompetenzbeschreibungen, die Bezug nehmen auf den Zusammenhang von Sprache und emotionaler Kompetenz und warum beide so wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung sind: Sprache ist Träger von Sinn und Überlieferung, Schlüssel zum Welt- und Selbstverständnis und Mittel zwischenmenschlicher Verständigung. Sie hat grundlegende Bedeutung für die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung der Kinder. Die Heranwachsenden lernen, auf der Grundlage der mit den fachlichen Inhalten und Methoden vermittelten Werte- und Normvorstellungen gesellschaftlichen Anforderungen zu begegnen, Lebenssituationen sprachlich zu bewältigen, sich mitzuteilen – zu argumentieren, Gefühle und Vorstellungen sprachlich zu fassen –, Kritikfähigkeit zu entwickeln, Leseerfahrungen zu nutzen

3 und in kritischer Distanz zwischen Lebenswirklichkeit und den in Literatur und Medien dargestellten virtuellen Welten zu unterscheiden. Dies dient wesentlich der Persönlichkeitsentwicklung, das heißt der Stärkung von Selbstbewusstsein, Sozialkompetenz und Teamfähigkeit.

Was den Zusammenhang von Emotionen und Literatur betrifft, liefert Patrick Hogan (2003, 1) wichtige Erkenntnisse. Es gibt, so der Autor, tiefe, umfassende und überraschende Universalien in der Literatur, die an Universalien in Emotionen gebunden sind. Die Geschichten, die Menschen in verschiedenen Kulturen bewundern, folgen einer begrenzten Anzahl von Mustern und diese Muster sind durch interkulturell konstante Vorstellungen von Emotionen bestimmt, so der Spezialist, der sich auf seine umfangreiche Lektüre der Weltliteratur, experimentelle Forschung über Emotionen und methodische Grundlagen der modernen Linguistik und der Philosophie stützt. Er kommt mit einer Diskussion über die Beziehungen zwischen Erzählung, Konzepten der Emotionen und den biologischen und sozialen Komponenten der Emotionen zum folgenden Schluss: When empirical researchers in the social sciences consider the nature of emotions and emotion concepts, they most often conduct anthropological interviews, send out surveys, analyze linguistic idioms, test stimulus response times, and so on. But, with only a few exceptions, they almost entirely ignore a vast body of existing data that bears directly on feelings and ideas about feelings – literature, especially literary narrative. Stories in every culture both depict and inspire emotion. Indeed, the fact that some stories are highly esteemed in any given culture suggests that those stories are particularly effective at both tasks – representing the causes and effects of emotion as understood or imagined in that society and giving rise to related emotions in readers. In these ways, the celebrated stories of any given society form an almost ideal body of data for research in emotion and emotion concepts. These universals are the direct result of extensive and detailed universals in ideas about emotions that are themselves closely related to universals of emotion per se. Both literary critics and readers from other disciplines tend to think of literature in terms of nations and periods, genres, schools, and movements. Put differently, literature – or, more properly, verbal art – is not produced by nations, periods, and so on. It is produced by people. And these people are incomparably more alike than not. They share ideas, perceptions, desires, aspirations, and – what is most important for our purposes – emotions. Despite the recent cognitive interest in literature, this is an area that has hardly been explored, leaving aside the work of one or two researchers, most importantly Keith Oatley – and even Oatley has not studied this nexus cross-culturally, in an attempt to isolate universal structures. One might refer to this project as an anthropology of world literature, in which it turns out that emotions are central – indeed, definitive, and formative.

Für das hier so dargestellte Unterfangen wollen wir die gewählten Kinder- und Jugendbücher hinsichtlich ihren Beitrags zum Verständnis von bzw. zum Nachdenken über Gewalt untersuchen, dabei auch aufzeigen, warum es z. B. Hass gibt und wie Hass entsteht, aber auch dass Menschen fähig sind zu bereuen und sich anders entscheiden können, wenn sie es wollen. Die Protagonisten, wie im wahren Leben, haben Illusionen, erleben Enttäuschungen, Angst, Gewalt, die als emotionale Erfahrungen schliesslich

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zum Nachdenken über sich selbst und die Welt führen, sie dadurch zur Selbstkenntnis und

Menschenkenntnis

führen.

Der

kindliche/jugendliche

Leser,

der

höchstwahrscheinlich Terrorismus oder Krieg nicht aus eigener Erfahrung kennt, kann diese Extremerfahrungen nachvollziehen und eventuell Antworten auf eigene Fragen bekommen. Unser weitgefasstes Ziel ist es, die Potenziale von Emotionen für das literarische Lernen auf zwei Ebenen zu diskutieren. Zum einen soll der Frage nachgegangen werden, wie Gefühle zum Thema literarischen Lernens werden können. Zum andern sollen die Erkenntnisse der Emotionsforschung für eine Literaturdidaktik fruchtbar gemacht werden und deshalb die Rolle der Emotionen im literarischen Lernund Erkenntnisprozess thematisiert werden. Aufgrund der Tatsache, dass literarisches Lernen eine besondere Form des Hineinversetzens benötigt, sei auch die Empathie als Schlüsselemotion und Kompetenz erwähnt. Nebenbei bemerkt, können Kinder und Jugendliche durch die Thematik von Krieg und Gewalt aus Gegenwart und Vergangenheit einen komplexen Zeit- und Geschichtsbegriff erlangen und Geschichte nicht als eine abgeschlossene, vergangene Epoche ohne Bezug zur Gegenwart sehen sondern über die Verschränkung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nachdenken. Doch zunächst sollen die Autoren selbst zu Wort kommen, denn gemeinsam ist allen drei Werken, dass Santiago García-Clairac, Santiago Herraiz und Bernardo Atxaga den Leser über ihre moralischen Intentionen oder Beweggründe aufklären, die zur Entstehung der Erzählungen geführt haben1: Dieses Buch habe ich lange durchdacht. Seit der Idee Ende März 2004 habe ich lange hin und her überlegt, ob ich es schreiben soll oder nicht. (...) Ich fand keinen Weg, diesen Vorgang zu stoppen: die Geschichte eines Jungen, der im Zug 17305 aus Alcalá de Henares kommend reiste, Zeuge der ersten Explosionen wude, ... Ich habe viel über Kinder beim Schreiben dieses Buches nachgedacht. Ich habe versucht, vorsichtig zu sein, ihre Gefühle nicht zu verletzen und zu harte Beschreibungen zu vermeiden ... Während des Schreibprozesses habe ich jedoch etwas über sie verstanden: wenn sie Protagonisten und Zeugen eines so brutalen Angriffs sein können, können sie auch Leser einer Geschichte sein, die letztendlich ihnen gehört. Der eigentliche Zweck dieser Arbeit ist, dass sie uns ein wenig heilt, uns hilft zu verstehen, was passiert ist und uns daran erinnern, dass es für jeden üblen Menschen zehn andere gibt, die mutig, sensibel und großzügig sind. (GarcíaClairac 2010, 140) Dieses Buch ist 4 Stunden nach einem Attentat auf den Madrider Flughafen Barajas fertig geschrieben worden, bei dem ETA fünfzig Kilo Titadyne Dynamit im Parkhaus des Terminals 2 1

Alle Übersetzungen aus dem Spanischen wurden von der Autorin erstellt.

5 explodierten ließ, und bei dem glücklicherweise keine Todesfälle zu bedauern waren. Der Inhalt, die Angaben und manche Orte sind frei erfunden. Ein kleiner Teil der Geschichte ist wirklich passiert. Und der Rest, hoffe ich, wird nie vorkommen. Ich habe es in der Hoffnung geschrieben, den Leser angesichts des Wahnsinns an Hass und Blutvergießens zu sensibilisieren, dass im Schutze von Idealen Terrorismus auslöst wird. (Herraíz 2003, 46) Manchmal ist es schön, eine Geschichte für ein junges Publikum nach den Regeln des Genres zu schreiben. Man hat den Eindruck, dass beide Bedingungen die Arbeit erleichtern, die Schwere wegnehmen und sie in ein Spiel verwandeln, das, über alle anderen Aspekte hinaus, vor allem Vergnügen bereiten soll. Unter Anwendung einer Definition könnte man sagen, dass ein Text dieser Charakteristik den Zweck erfüllt, wenn der Leser die Lektüre genauso viel geniesst wie der Autor es während des Schreibens tat. (Atxaga 1996, 1)

“En un lugar de Atocha…” (für 9-10 Jährige) ist der Beitrag von Santiago GarcíaClairac zu einem der blutrünstigsten Ereignisse in der Terrorismusgeschichte, das in Madrid am 11. März 2004 stattfand, 191 Menschen das Leben kostete und bei über tausend Verletzungen in unterschiedlichem Ausmaß verursachte, die spanische Bevölkerung in Schrecken versetzte und eine Hommage an alle Kinder, die direkten oder indirekten Opfer jener Barbarei sein soll. Denn "Literatur kann nicht ausserhalb der Realität stehen", so der erzieherische Aspekt dieses Buches, mit dem Eltern und Erzieher ein Werkzeug zur Hand bekommen sollen, um mit den kleinen Lesern so sensible Themen wie das Attentat am 11. März anzusprechen, ein Thema, das für die damaligen Kinder und Jugendlichen zum Alltag gehörte und die auf fiktionale Weise Hilfe beim Verstehen und dem Assimilieren des Grauens bekommen sollen. Der Inhalt ist kurz erzählt, denn Quique reist mit seiner Mutter mit dem Zug von Alcalá de Henares nach Madrid. Sie wollen sich mit dem getrennt lebenden Vater treffen, bei dem das Kind das Wochenende verbringen möchte. Es ist kalt, es ist früh, und leider ist es der 11. März 2004. Quique trifft im Zug auch seinen Freund Ruben und gemeinsam reden sie über Banales und Alltägliches. Doch plötzlich gibt es einen großen Lärm, gefolgt von anderen Explosionen, die den Wagon in sich fallen lassen. Quique hat eine Handverletzung und kann seine Mutter nicht finden; Ruben ist verletzt ... Von da ab beschreibt der Autor das Chaos bis mit Hilfe von vielen Menschen, Nachbarn, Polizisten, der Feuerwehr, Psychologen Quique sich endlich mit seinem Vater wieder vereint. Weder seine Mutter noch Ruben überleben. Die Struktur des Buches folgt dem zeitlichen Ablauf der Reise anhand der Stationen bis Madrid: 1 Alcalá de Henares – 11 März – 6:15 2 Plaza de Cervantes – 6:35 3 Bahnhof von Alcalá – 6:50 4 Auf dem Gleis – 7:01 5 Im Wagon 4 – 7:05

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6 Corredor del Henares – 7:18 7 Bis Santa Eugenia – 7:20 8 Bei der Ankunft im Bahnhof von Atocha – 7:38 9 der Zug 17305 – 7:39 10 der Wagon 4 – 7:41 11 der zerstörte Wagon – 7:45 12 der zerstörte Wagon – 7:49 13 die ersten Helfer kommen – 7:51 14 Auf dem Gleis neben dem zerstörten Wagon – 7:55 15 Auf dem Gleis – 8:10 16 Auf dem Boden neben dem Zug – 8:25 17 In der Sporthalle Daoiz y Velarde – 8:40 18 In der Sporthalle – 10:30 19 Auf dem Bahnhofsplatz in Alcalá, März 2005 Was fühlt ein Kind, das an einem gewöhnlichen Tag in ein Attentat verwickelt wird, die Mutter, den Freund und eine Hand verliert, sich im Nachhinein Fragen über Fragen stellt, auf die es keine Antwort gibt: Warum stirbt mein Freund und nicht ich? Wie kann jemand so etwas tun? Wenn wir den emotionalen Verlauf der Geschichte untersuchen, können wir folgende Emotionen herausarbeiten. Zunächst handelt es sich um eine Reise mit dem Ziel eines lang ersehnten Wiedersehens. Die Hoffnung auf ein erneutes Zusammenleben als Familie lässt das Kind die Unannehmlichkeiten am frühen Morgen vergessen. Die Erwartung, Hoffnung, Aufregung, Ungeduld und das Verlangen bestimmen die Gefühlswelt des kindlichen Erzählers: Was für ein großer Tag für mich. Es wird ein toller Tag werden und nichts soll ihn verderben. Ich bin so glücklich und zum ersten Mal seit vielen Monaten habe ich gut geschlafen. Heute fahre ich mit meiner Mutter nach Madrid, um mit meinem Vater, den ich seit Wochen nicht gesehen habe, zusammen zu sein! Ich bin wie verrückt, weil wir wieder zusammen kommen. Was ich am meisten auf der Welt will, ist dass sie ihre Probleme lösen und Papa ein für allemal nach Hause kommt.

Kurz nach der Abfahrt stellt sich jedoch eine gewisse Verwunderung ein: Ich sehe einen Mann mit einem Rucksack, der aus unserem Wagon aussteigt und in den nächsten wieder einsteigt … Dann kommt der Mann wieder zurück, ... aber ohne den Rucksack. Ich verstehe nichts. Warum lässt der Mann den Rucksack zurück und steigt ohne ihn aus? Wie seltsam.

Ein wachsendes Interesse bestimmt jetzt die Aufmerksamkeit des Kindes: Ich sehe etwas, das meine Aufmerksamkeit auf sich zieht: auf dem Boden, neben dem Sitz meiner Mutter steht ein dunkelblauer Rucksack, der scheinbar niemand gehört. Also ich weiß nicht warum, aber ich verbinde den Rucksack in unserem Wagon mit den Männern von Alcalá de Henares. Ich erinnere mich, dass einer mit meiner Mutter zusammen gestossen war, und ein anderer in unseren Wagon gestiegen war und später den Rucksack im anderen Wagon gelassen hat. Ich kann mir vorstellen, dass der zweite Mann sein Besitzer sein könnte und langsam mache

7 ich mir Sorgen. Etwas passt in meinem Kopf nicht zusammen. Es ist alles sehr seltsam ... Männer lassen Rucksäcke im Zug und gehen wieder wag. Es ist sehr seltsam und ich verstehe es nicht. Was machen sie?

Als in kurzen Abständen mehrere Explosionen den Zug zerstören, machen sich natürlich Angst, Panik und Schmerz breit. Ich habe solche Angst, dass ich sofort Mama suche. Ich sehe sie halb versteckt unter den Menschen ... jetzt sehe ich sie nicht mehr, weil sich diese Kinder mit ihren Käppis vor mich gestellt haben ... Was ist passiert? ... Ich verstehe nicht ... Ein großer Feuerball hat sich im Wagon gebildet. Ich sehe die Fenster zerspringen, angsterfüllte Gesichter, Gegenstände fliegen, Eisen verbiegt sich... Ich höre Schreie der Angst und des Schmerzes. ... Es scheint, dass es Tag und Nacht zugleich ist. Ich habe den Eindruck, die Zeit vergeht nicht, aber auch, dass sie sehr schnell davon läuft… Ich weiß, dass etwas in unserem Wagon passiert ist, aber ich kann mich nicht bewegen oder schreien, ich kann gar nichts tun. Es ist eine schreckliche Sache, die mir nie passiert ist. Ich habe den Eindruck, dass ich das Bewusstsein verlieren oder verrückt werde, ich weiß nicht. Das verstehe ich nicht ... Ich habe meine Augen geschlossen und ich bin mir nicht sicher, dass meine Ohren gut funktionieren. Es ist wie in einer Waschmaschine, die sich mit hoher Geschwindigkeit dreht. Ich versuche zu verstehen, wo ich bin, aber ich kann nichts tun, es ist unmöglich zu denken. Ich bin sehr verwirrt und noch nie in meinem Leben habe ich eine Situation wie diese erlebt. Ich verstehe nichts. Was ist passiert? Was passiert jetzt? Wer will mir weh tun? Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich allein. Ich bin sicher, dass Mama so bald sie es konnte, ausgestiegen ist. Vielleicht sucht sie mich und macht sich Sorgen, deshalb muss ich sie finden, sie beruhigen und ihr sagen, dass ich okay bin.

In der Sporthalle, in der die Verletzten versorgt werden, kommt es schliesslich zum ersehnten Wiedersehen mit dem Vater: Ruhe und Gelöstheit, Glück und Liebe, auch wenn nicht ohne Zweifel und Schuldgefühle prägen eventuell diese Momente. Mein Vater ist da, als er an meine Seite kommt, kniet er sich neben mich, aber wir sagen nichts. Wir sehen uns sekundenlang an, umarmen uns, als hätten wir es nie getan und ich fühle mich in seinen starken Arme getröstet,.. Mama ist für immer davon gegangen… Es ist meine Schuld! - Wenn ich nicht darauf bestanden hätte zu kommen ... wenn wir an einem anderen Tag gekommen wären...

Nach überstandenem Leid und teilweise geheilten Wunden endet dieser emotionale Ablauf mit Reflexionen über die überlebte Erfahrung, die Gewalt, das Warum. Hinsichtlich der Bedeutung dieser emotionalen Phase schreibt der schweizer Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Luc Ciompi (2005, 113): Erkenntnis setzt immer eine vorauslaufende und bewusst empfundenen Unlustspannung voraus, irgendeine Art von Leiden. Der Motor oder Stachel allen geistigen Fortschritts ist immer ein spannungserzeigender Konflikt, eine unangenehme Widersprüchlichkeit und Unstimmigkeit. Solange alles in Ordnung ist, besteht keinerlei Grund, etwas zu ändern. Erst die Störung der

8 Harmonie zwingt das System in neue Funktionsweisen hinein. Solche Störungen liegen jedem neuen Erkenntnisschritt in der geistigen Entwicklung des Kindes zugrunde.

Entsprechend diesen Erkenntnissen ist es fast ‚logisch’, dass der Autor die Erzählung des Dramas mit diesen abschliessenden Reflexionen endet: Jeder bleibt in seine Gedanken verfangen, stellt sich Fragen, versucht die Motive zu verstehen, die dazu führen, dass sich eine Person so aggressiv verhalten kann, aber ich finde keine Antwort und ich denke, niemand kann mir erklären, wie es funktioniert. Ich habe einmal in einem Buch gelesen, dass die Gewalt wie ein wildes Tier ist, das angreift wann und wen es kann ... In diesem Jahr habe ich nicht aufgehört über alles nachzudenken, was an diesem schrecklichem Morgen des 11. März passierte. Jeden Tag erinnere ich mich an ein neues Detail, und ich merke, dass ich etwas erlebt habe, das mein Leben verändern wird... Der einzige Weg, es zu überwinden, ist darüber zu sprechen. In vielen Häusern gibt es Familien in Alcalá, die jemand bei dem Attentat verloren haben, sie zünden immer noch Kerzen in der Nacht an und stellen sie in die Fenster, damit die Vermissten wissen, dass man sich an sie erinnert. Es ist eine Art zu sagen, dass sie immer noch geliebt werden. An diesem verdammten Donnerstag erlebte ich etwas, das niemand erleben sollte, sah Dinge, die niemand sehen sollte und hörte, was niemand hören sollte. Und wenn ich es schliesslich erzähle, dann ist es, weil ich bemerkt habe, dass sich fast niemand daran erinnert, dass am 11. März wir Kinder ebenfalls gelitten haben, und weil jemand es erzählen musste. Und das bin ich.

In der Erzählung Amordazados von Santiago Herraiz, die auf das Attentat im Jahre 2004 des terroristischen Kommandos ETA auf den Flughafen von Barajas zurück greift, geht es ebenfalls um rücksichtlose Gewalt als willkürlichen Einbruch in das Leben des Individuums. Ebenso hier, auch wenn nicht so differenziert ausgearbeitet, vermittelt der Autor dem Leser vor allem Emotionen wie die eigene Angst und die Angst um eine andere Person, die Enttäuschung und das Bereuen, die Kaltblütigkeit und Gewissenlosigkeit und Gefühlsregungen, die schliesslich ebenfalls zur Reflexion führen und einen Weg aus der scheinbaren Ausweglosigkeit zeigen. Im Vordergrund der Erzählung steht jedoch vor allem das Vorgehen der Anhänger von ETA beim Ausüben von Attentaten auf Einzelpersonen, die später zum Massenanschlag übergehen. Deutlich wird, dass Ideale, die Bewunderung für gewisse Führerrollen und patriotistisches Denken das Handeln motivieren. Terroristische Gewalt in Form von Massenattentaten wie sie für das moderne Zeitalter charakteristisch wird, tritt somit unberechenbar und willkürlich in das Leben der Zivilpersonen. Jeder kann ungewollt Zeuge oder Opfer werden. Der Autor stellt, sich auf Tatsachen stützend, fiktional das Planen und Durchführen von Attentaten auf Einzelpersonen und

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schließlich den sich tatsächlich zugetragenen Bombenanschlag auf den Madrider Flughafen nach. Gewalt gebunden an Anschläge in bewohnten Gebieten, die Massen an Opfern unter der Bevölkerung zur Folge haben können, führt, wie beschrieben, zu Angst und Einschüchterung als wichtigstem psychologischen Aspekt des Terrorismus. So manifestiert sich Terrorismus in der Erzählung anhand des Gebrauchs von Gewalt durch Einzeltäter oder Gruppen mit ihren bestimmten politischen Zielen zum Zwecke der Einschüchterung oder Bedrohung der zivilen Gesellschaft. Auch ein wesentlicher Exhibitionismus-Aspekt Gruppierungen

kurz

ist vorher

durchaus zu

vorhanden,

ihren

wenn

Anschlägen

sich bekennen

terroristische und

die

Kommunikationsmedien benutzen, um Angst zu verbreiten. Damit können wir eine gesuchte Machtdarstellung als wesentliche Komponente der Gewaltausübung nachvollziehen, mit dem Ziel sie öffentlich darzustellen und in politische Propaganda zu verwandeln. Die zufällige Gebundenheit der Protagonisten in der Erzählung in das gewaltsame Geschehen, wie es auch im realen Leben der Fall war, kommt in der Handlung um den baskisch-spanischen Konflikt ebenso zum Vorschein. Für Hass und Gewalt wird vor allem die Herkunft der Täter, die ihr nationalistisches Denken prägt, verantwortlich gemacht. Beispielgebend werden die baskische Herkunft und das gewaltsame Milieu als hauptsächliche Ursachen für die terroristische Beteiligung der Protagonisten auf der Seite der Terroristen vom Autor festgemacht. Geleitet wird das Kommando von Gorka, einem skrupel- und gewissenlosen Anführer, der sehr jung bei ETA begonnen hatte aktiv zu werden. Mit zwanzig nimmt er an der Installation von einem Sprengsatz auf dem Flughafen teil, mit dem festen Vorsatz, sein eigener Chef zu werden. Er versteht sich nicht mit den Veteranen, bevorzugt neues Blut, holt sich junge Leute von der Straße, die sich bei Gewaltakten am meisten hervor tun. Er sichert sich ihre Treue zu, in dem er sie einige einfache Attentate mit geringem Risiko in jenen Städten ausüben lässt, wo der letzte Schlag begangen werden soll. Erst danach nimmt er mit ihnen Kontakt auf. Er ist die Nummer eins und jeder weiß es. Gorka begeht keine Fehler, deshalb

hat das Kommando vor seinem Chef Ehrfurcht und Angst, eine

ehrfürchtige Angst. Die junge Terroristin Charo verbildlicht das Leben einer nationalistisch eingestellten Baskin, die sich aus Idealismus dem Kampf für die Befreiung des Baskenlandes verschrieben hat. ETA ist ihre Welt, auch wenn ihre Familie nicht hinter ihr steht und auch nicht ihre Zugehörigkeit zu ETA billigt und somit hilflos dem Zerfall der Familie zusehen muss. Von klein auf hegt sie einen tiefen Hass gegen das Militär, nach ihrem ersten Anschlag auf einen Polizisten, gewinnt sie

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das Vertrauen der Organisation. Sie hasst alle, die nicht Baskisch sind, vor allem die anonyme Menge der spanischen Bevölkerung, die sie als ihre Feinde betrachtet. Anhand der weiblichen Figur der Terroristin vermittelt uns Herraiz das Bild einer durch Erkenntnis erzeugten reuevollen Wandlung. Ein zwiespältiges Empfinden und Handeln wird vorgeführt: Charo nimmt am gezielten Attentat gegen eine Einzelperson teil, kann aber einen kaltblütigen Terrorakt gegen die Masse nicht unterstützen. Ihre sympathisierenden Gefühle für den unschuldigen Jungen von nebenan, den sie beschützt, kann sie ebenso wenig verbergen. Trotz ihrer früheren Gewaltakte gegen Einzelpersonen wehrt sich ihr Gewissen beim Attentat auf den Flughafen mitzumachen („das ist Wahnsinn, wir wollten vier Minister töten, es hat keinen Sinn hier ein Massensterben zu provozieren, wir haben niemals so gearbeitet. Ich kann dir nicht helfen, ich hau ab“) und ihr Versuch, sich im letzten Moment von dem bevorstehenden Gewaltakt abzuwenden, da sie ein Massenverbrechen nicht akzeptieren will, wird mit dem Tod bestraft. In die Handlung ist auch Antxo verwickelt, der auf der Seite der antiterroristischen Polizei kämpft und somit mit Gewalt seines Berufs wegen konfrontiert wird, nicht nur weil er den Terroristen auf der Spur und ständig der Gefahr ausgesetzt ist, entdeckt zu werden, sondern selbst durch gestellte Erschießungen auf Probe gestellt wird, um seine Reaktion zu testen. Gegen den Terrorismus zu kämpfen, bedeutet für sein alltägliches Leben unerkannt und unter einer falschen Identität zu leben, sich unter Terroristen zu mischen, sie auszuspionieren und vor allem sein Leben der ständigen Bedrohung auszusetzen und mit Gewalt als psychologischen Druck permanent zu leben. Durch seine Figur bekommt der Leser Einblick in die äußerst gefährliche Arbeit einer Spezialeinheit, ihre Taktiken, auch die eigenen Mitglieder psychologischen Proben zu unterziehen. Trotz seines Enthusiasmus für seine Arbeit, die sein Traum gewesen war, stellt Antxo oft ein persönliches Unwohlsein fest. Unbeteiligte Personen werden zu zufälligen Opfern. In die Machenschaften der Terroristen und der Geheimpolizei, die mit Hilfe von Geheimagenten versucht, den Tätern auf die Spur zu kommen, werden Guzmán und seine Familie rein zufällig verwickelt. Guzmán ist der jugendliche Protagonist, der als Nachbar der Studenten, die nebenan einziehen und seinen Verdacht wecken, mit terroristischer Gewalt in Berührung kommt. Das fragwürdige Verhalten seiner Nachbarn verbindet er mit einem angekündigten Attentat in den Nachrichten. Sein Tatendrang führt ihn dazu in der

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Wohnung seiner Nachbarn zu spionieren und wichtiges Beweismaterial zu entdecken, das er heimlich der Polizei zukommen lässt. Tatsächlich explodiert gegenüber seinem Wohnhaus eine Bombe, und durch die Nähe des Gewaltaktes und seine Rolle als Vermittler fühlt sich Guzmán von da ab völlig eingeschüchtert. Er geht kaum mehr auf die Straße, sein Gewissen und die Angst um seine Familie lassen ihm keine Ruhe mehr und er fühlt sich von da ab von beiden Seiten (der Polizei und den Terroristen) verfolgt. Guzman hatte seit dem Ereignis einen tief greifenden Wandel erfahren. Er sprach wenig und verbrachte Stunden in seinem Zimmer, allein. Er musste eine Entscheidung treffen, und es fehlte ihm an Kraft. Im Fernsehen wiederholten sie Fernsehbilder von früheren Demonstrationen mit weißen Händen ... er sah ihre Gesichter, jung, traurig, machtlos. Junge Leute wie er, verlangten das Ende dieser Zeit der Wahnsinnigen und riefen "Freiheit und Frieden" ...

Der Junge fühlt sich in einer emotionalen Zwickmühle gefangen, überlegt, ob er sich der Polizei stellen soll, aber die Angst vor langen Verhören oder sogar Schlägen versetzt ihn in eine ständige Unruhe. Das schlechte Gewissen vermischt sich mit der Sympathie für die junge Studentin (die Terroristin Charo) von nebenan, und obwohl er Terroristen hasst, die kaltblütig einen Anschlag verüben, ist er unfähig das junge Mädchen zu hassen. Guzman verbrachte eine weitere schlechte Nacht. Der Tod des Oberst quälte sein Gewissen, ein tiefes Unbehagen in ihm hervorrufend. .. immer wieder überlegte er, was er tun sollte. Sich stellen? Sie konnten ihn wegen Verschleierung beschuldigen. Er begann sich von beiden Seiten verfolgt zu fühlen, und stellte sich vor, in einem grauen Raum festgehalten zu sein, bedrängt mit Fragen und Warnungen. Oder geschlagen zu werden. Er war verwirrt, er wusste, dass sie nicht zum persönlichen Vorteil handelte. Noch nie hatte er jemanden so sehr gehasst, wie jene, die diese Gräueltat durchgeführt hatten. Aber Charo konnte er nicht hassen, sie hatte ihm das Leben gerettet. Charo hatte getötet. Allerdings hatte sie ihn vor ihren Mittätern geschützt, und sich dadurch der Gefahr ausgesetzt, aus der terroristischen Gruppe entfernt zu werden. Sie war anders als Andere. Sie hatte etwas ...

Abgesehen von der Darstellung des emotionalen Befindens des Protagonisten, geht es dem Autor nicht zuletzt darum, eine mögliche Freundschaftsgeschichte herbei zu beschwören und dadurch einen Hoffnungsschimmer in Aussicht zu stellen, dass ein Verständnis in der Zukunft durchaus möglich ist. So kommen sich am Rande des terroristischen Handelns und Planens die Akteure trotz ihrer gegensätzlichen ideologischen Überzeugungen näher und versuchen, die zunächst vorhandenen Vorurteile gegen den Anderen zu überwinden. Wie bereits Glasenapp (2010, 28) festgestellt hat, fallen beim persönlichen Kontakt diese Vorurteile, das Misstrauen und die Abneigung in sich zusammen, da am Ende sich die Erkenntnis einstellt, dass ‚man so verschieden wie angenommen gar nicht ist’.

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In seinem Buch Un espía llamado Sara zeichnet einer der bekanntesten baskischen Autoren, Bernardo Atxaga, eine der brutalsten kriegerischen Auseinandersetzung in der spanischen Vergangenheit, die sogenannten Karlistenkriege. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen entscheidende Moment im Leben zweier Spione, die im Karlistenlager aufeinandertreffen und den Gegenspieler zu enttarnen versuchen. Dem Autor geht es dabei, ihr emotionales Innenleben vorzuführen, auf diese Weise den Sinn und Unsinn, die Motive und Ideale, die Enttäuschung, Angst, aber auch das Mitleid und die Gewissensregungen literarisch in Szene zu setzen, die schließlich den Protagonisten dazu führen, seinen persönlichen Weg zu wählen. Atxaga nutzt die Erzählung um den jungen Leser zunächst in die historischen Umstände einzuführen. Es geht um den Karlistenkrieg, der um das Nachfolgerecht unter den damals Herrschenden entstand. Dieser Konflikt tritt in das Leben des Protagonisten, der auf Seiten der sogenannten Karlisten absolutistisch-katholischer Gesinnung gegen die Liberalen kämpft und als freiwilliger Spion seinem General eine wichtige Botschaft durch das feindliche Gebiet zustellen muss. Der Autor macht von Anfang an die Zufälligkeit der äußeren Umstände im Leben eines Menschen für das Mitwirken an der Auseinandersetzung verantwortlich. Als Außenstehender und sich von den historischen Umständen sowohl zeitlich, emotional und ideologisch distanzierend, konstatiert er vor allem das Gefangensein der Menschen in die Geschehnisse: Wenn sie angehalten hätten um darüber nachzudenken, was sie hier machten, wenn sie einen Moment an Verstandesschärfe gehabt hätten, um zu verstehen, dass sie Don Carlos und María Cristina nichts schuldig waren, dass sie auch gar nichts ihrem General oder ihren Heerführern schuldeten, dass sie nur sich selbst und ihrem eigenen Leben verpflichtet waren, hätten sie sofort aufgehört zu kämpfen, aber leider hatten weder Martín noch der Wachposten der Karlisten die Möglichkeit eine wahre Sicht ihrer Situation zu erlangen; sie befanden sich zu sehr in sich selbst gefangen, zu sehr an die Umstände gebunden, zu sehr darauf versessen sich zu verteidigen und anzugreifen.

Gewalt ist in historischen Konflikten in erster Linie an Schauplätze gebunden, an denen Soldaten aufeinandertrafen. Zum einen leisten sie bewaffneten Dienst in der Armee, damit kommt Gewalt in gezielten Kampfsituationen zum Einsatz, zum anderen wird Gewalt auch als Disziplinarmaßnahme angewandt. Beispielhaft steht dafür eine Hinrichtung zur Einschüchterung der Soldaten. Begriffe wie Krieg, Tod, Feind und Gewalt in diesem Kontext sind vor allem mit dem Leben der Soldaten verbunden, die

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unter sich waren und mit der Zivilbevölkerung kaum in Berührung kommen. Als zentraler Ort der Gewalt wird eine Schlacht beschrieben, bei der dem feindlichen Heer eine Falle gestellt wird. Diese, so der Autor, wird von den Chronisten als das größte Blutbad seiner Zeit beschrieben, als ca. 300 Männer sterben ohne kaum Widerstand leisten zu können. Aus der Perspektive eines Adlers beschreibt der Autor die Szene folgendermaßen. Der Kampf, der kein Kampf war, sondern ein Überfall der roten Kappen auf die schwarzen, begann als die Sonne hoch am Himmel stand, es gab hunderte von blutbefleckten Burschen mit weitgeöffneten Augen. Ich hielt mich in der Schlucht auf bis die Sonne anfing unterzugehen. Ich flog davon, weil ich satt gefressen war und weil ich mich nicht gern unter die Geier mische und nicht weil sich meine Nahrung erschöpft hätte.

Am Beispiel des Spions Martin, von Beruf Seemann, der sich vor allem wegen seiner Bewunderung für den Anführer und General in den Dienst gestellt hat, führt uns der Autor einen möglichen Motivationsgrund für die freiwillige Mitwirkung der kämpfenden Soldaten vor Augen: Denn sowie Martin bilden ausschließlich sogenannte Freiwillige das gesamte Karlistenheer, junge Männer, die vorher Bauern oder Handwerker gewesen waren: „mutige Leute, die mehr als bereit waren für ihr Ideal zu sterben und zu töten, die aber auch undiszipliniert, naiv und geschwätzig waren“. Was dem Autor gelingt darzustellen, ist die Verführung durch einen Idealismus, geschmiedet zunächst in Martins Familie und unter seinen Freunden, die er für besser hielt als alle restlichen Menschen, als auch die Bereitschaft zur Gewaltanwendung meist junger Leute im Kampf um Ideale oder Bewunderung. Das erste reale Zusammentreffen mit dem Karlistenheer und den sogenannten Freiwilligen, die mit dem Gewehr und Bajonett für die Sache kämpften, wird allerdings zu einer Enttäuschung. Martin erkennt, dass sich die von ihm bewunderten Freiwilligen keinesfalls so freiwillig gemeldet haben, sondern in einem Versteck entdeckt worden waren oder sich in betrunkenem Zustand gemeldet hatten. Denn in Wirklichkeit gab es keine Freiwilligen, „alle waren von denjenigen gezwungen oder betrogen worden, die niemals ein Schlachtfeld betreten hatten oder die schon am Krieg verzweifelten und in ihrem Unglück Gesellschaft haben wollten“. Auch sein erstes Zusammentreffen mit dem so bewunderten General wird zu einer Enttäuschung, so dass Martin an seinem Ideal zu zweifeln und nach dem wahren Bild dieser Figur zu fragen beginnt. Er erkennt, dass eine falsche Darstellung von

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Propagandisten Schuld an seiner idealistischen Vorstellung gewesen war. Seine allmählichen Reflexionen und Erkenntnisse führen nach und nach zu einer realistischen Einschätzung der Gegebenheiten und Martin revidiert langsam seine früheren Ideen, Motive und Einstellungen. Sein Gewissen beginnt ihn zu plagen und schließlich stellt er den Sinn des Krieges in Frage: Welchen Sinn hat es bei so einem Blutbad mitzumachen? Wofür kämpfst du? Damit ehrgeizige und skrupellose Leute im Heer und in der Gesellschaft vorwärts kommen? Was hast du mit dem General oder Typen wie dem Hauptmann zu tun? Oder den Fanatikern?

Welche Konstanten können wir erkennen, wenn es um die persönliche Mitwirkung bei gewaltsamen Auseinandersetzungen geht? Wie beeinflussen Emotionen die persönliche Entwicklung und Entscheidungsfähigkeit? In den Büchern von Herraiz und Atxaga ist Gewalt mit emotionalen Empfindungen wie Hass, Neid, Angst und Enttäuschung verbunden. Das persönliche Empfinden von Gewalt führt aber letztendlich zu Reflexion und Einsicht. Reflexionen beruhen zunächst auf der Wahrnehmung von Gefühlen, sie zu analysieren, identifizieren, zu benennen, zu denken, den Verstand zu gebrauchen, zu beurteilen, Dinge von allen Seiten zu

betrachten, zu urteilen, sich Gedanken zu

machen, abzuwägen und schließlich seine Schlüsse zu ziehen. Anhand Martins Weg aus seiner Geburtsstadt und den anfänglichen idealistischen Vorstellungen über die kämpfenden Freiwilligen und ihre Ziele bis zum Aufenthalt im Heereslager und der Erkenntnis der falschen Ideale gelingt es dem Autor einen Reifungsprozess und die Fähigkeit des Menschen zur Selbstbewertung der eigenen Handlungen und zu der sich daraus ergebenden Selbststeuerung aufzuzeigen. Martin ist es zunächst nicht gewohnt, sich auf wackeligem Boden zu bewegen, wo sich das Gute und Böse mischen, wünscht sich, dass die Ideen und Taten Klarheit, Form und Solidität hätten. Er fühlt sich verstört, weiß nicht, was er denken und fühlen soll. Er war mit einem Hass auf seine Gegner und Feinde in den Krieg gezogen. Angesichts der Tatsachen und Ereignisse, die er vorfindet, wandeln sich jedoch seine Gefühle. Der Hass löst sich in seinem Innern auf und verwandelt sich in etwas, was er noch nie gefühlt hatte und es deshalb nicht genau benennen kann: Für ihn ist es weder Ruhelosigkeit, noch Mitleid, auch nicht Traurigkeit, wie er es früher schon mal nach einem Besäufnis gefühlt hatte. Er empfindet nur ein unangenehmes Gefühl. Was er hinter seiner Furcht und Angst als einzigen Wunsch herauskristallisiert, ist aus dem Lager zu fliehen und nach Hause zurückzukehren.

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Damit können wir, wie wir glaubwürdig machen wollen, bestimmte emotionale Konstanten und Gefühle als eine Art Wahrnehmung in der literarischen Darstellung erkennen, die beim Leser seinerseits den Reflexionsvorgang auslösen. Ganz allgemein möchten wir festhalten, dass die Werke trotz unterschiedlicher Situationen und der emotionalen Verarbeitung des Geschehens durch die Protagonisten als auch durch den Leser, einen

Platz für die persönliche Entscheidungsfreiheit anbieten wollen, das

tatsächliche Anderskönnen, wenn man nur anders will, herausstellen. Es geht, wie die Autoren zeigen, um die Frage der Verantwortlichkeit des Menschen für sein Tun und die Möglichkeit eines vernünftigen Abwägens der Konsequenzen seines Tuns. Eine wichtige Funktion des Ich besteht in der Interpretation und Legimitation der eigenen Handlungen; die Konstruktion eines handlungsplanenden- und steuernden Ich und seines Willens ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Organisation unserer Gesellschaft, so Gerhard Roth (2003, 296). Unsere soziale Interaktion und Kommunikation beruhen auf der intentionalen Deutung menschlichen Handelns: den Wünschen, Absichten, Plänen, Zielen und des Willens. Im Zusammenhang damit steht für den Autor (2003, 546) auch die Vermittlung von Autonomie, verstanden als eine Fähigkeit zur Selbstbewertung der eigenen Handlungen und zu der sich daraus ergebenden erfahrungsgeleiteten Selbststeuerung. Wie die literarischen Figuren dem Leser vorführen, besteht eine besonders hervorstechende Funktion des Bewusstseins in der Verarbeitung neuer und komplexer Situationen. Das Individuum verfügt über bestimmte Bewusstseinsformen wie das Nachdenken über sich selbst und den Sinn des Lebens. Dies trifft vor allem das Ich-Bewusstsein und das Einbeziehen dessen, was Andere denken und fühlen könnten, in die eigenen Vorstellungen. Es stellt sich schließlich die Frage, wie gehen wir mit Gewalt um? Ganz allgemein stößt der Gebrauch von Gewalt auf Ablehnung, für manche jedoch dient es als Mittel um einen Zweck zu erreichen und wird unter Umständen sogar legitimiert. Ganz eindeutig hat Gewalt eine emotionale Komponente. Der Emotionsforscher Gerhard Roth (2003, 296) stellt die Funktion von Emotionen als Bewertungszustände heraus. Gleichgültig ob bewusst oder unbewusst ist Emotionen gemeinsam das Erfassen der Bedeutung einer Situation. So beeinflussen Emotionen wesentlich unsere Befindlichkeit und unser Verhalten. Roth spricht vom bewussten Ich, das die Aufgabe hat Handlungen vor sich selbst zu rechtfertigen. In „Amordazados“ und „Un espía llamado Sara“ gelingt es den

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Autoren das Gewissen als zentrale Instanz vorzuführen, die im letzten Moment den Täter vor einem Gewaltakt zurückhält. In Atxagas Buch gesteht schließlich ein Gegenspion, der Martin als dieser nach einer Schussverletzung bettlägerig war, versucht hat zu vergiften, dass er nicht fähig gewesen war, dieses Vorhaben durchzusetzen, weil er es als widerlich empfand einen wehrlosen Mann langsam umzubringen. Auch die Terroristin Charo kann trotz all ihres Hasses ihr Gewissen nicht unterdrücken, das sie dazu zwingt, ihren Komplizen davon abzuhalten, den jungen Nachbarn umzubringen und warnt Guzmán nicht aus der Wohnung zu gehen. Letztendlich zeigen die literarischen Figuren Martins und Charos das tatsächliche Anderskönnen, wenn man nur anders will und die Verantwortlichkeit des Menschen für sein Tun und damit auch seine Schuldfähigkeit im Sinne der Willensfreiheit (Roth 2003, 296). Im Gegensatz zu dem anfänglichen Gefangensein in die äußeren Umstände und dem Fehlen an Distanz zur Situation und dem eigenen Befinden, dass die Handelnden in die gewaltsame Aktion mitreißt, zeigen die Autoren, dass bewusste Argumente, Absichten und Gefühle Teil der Selbstbewegung werden, wenn sie aus eigener Einsicht erfolgen. Die Autoren zeigen treffend, dass das Nachdenken über sich selbst und das Einbeziehen dessen, was andere denken und fühlen könnten und die daraus hervor gehende Bewertung ihnen sagt, was gut oder schlecht ist. In Bezug auf die emotionalen Universalien, die zu Anfang erwähnt wurden, kommen wir interessanterweise bezüglich der emotionalen Verwicklung und trotz unterschiedlicher zeitlicher Inszenierung der hier dargestellten Werke, zu den gleichen Rückschlüssen über die Motive, Illusionen und emotionalen Beweggründe, die vor allem junge Leute zum Krieg und Kampf um bestimmte Ziele verleiten, die aber schließlich aufgrund von brutalen, gnadenlosen, gewissenlosen und unmenschlichen Methoden zur Reflexion über den Sinn des Ganzen leiten.

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http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_10_15Bildungsstandards-Deutsch-Primar.pdf (Abgerufen: 16.12.2011) Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss, Herausgegeben vom Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. München: Wolters Kluwer 2004. http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2003/2003_12_04-BSDeutsch-MS.pdf (Abgerufen: 16.12.2011) Ciompi, Luc: Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Göttingen: Vadenboeck 2005. Gansel Carsten, Kaulen Heinrich (Hg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien von 1989 bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Göttingen: V&R unipress 2011. http://www.v-r.de/data/files/389971811/Einleitung.pdf (Abgerufen: 16.12.2011) García-Clairac Santiago: En un lugar de Atocha. Madrid: SM 2010. Glasenapp, Gabriele: “…und kein Wort vom Krieg”, in kjl&m So leben wir jetzt – Krieg in Kinder- und Jugendliteratur. München: kopaed verlagsgmbh 2010. Hogan Patrick: The Mind and Its Stories: Narrative Universals and Human Emotion. Cambridge: Cambridge UP 2003. http://assets.cambridge.org/97805218/25276/excerpt/9780521825276_excerpt.pdf (Abgerufen: 16.12.2011) Herraíz Santiago: Amordazados. Madrid: Grupo Editorial Bruño 2003. Roth Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003.