SCHNAPS AUF REZEPT ALKOHOL IN DER PHARMAZIE

SCHNAPS AUF REZEPT – ALKOHOL IN DER PHARMAZIE Prof. Dr. Marcus Plehn Vortrag anlässlich der Eröffnung des Museums Arzney-Küche in Bönnigheim am Sonnta...
Author: Nicolas Fromm
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SCHNAPS AUF REZEPT – ALKOHOL IN DER PHARMAZIE Prof. Dr. Marcus Plehn Vortrag anlässlich der Eröffnung des Museums Arzney-Küche in Bönnigheim am Sonntag, den 13.10.2002

Wenn Sie gefragt würden, welchen Einfluss Alkohol auf die Gesundheit hat, dann kämen Ihnen sicherlich negative Assoziationen in den Sinn. Alkohol ist bekanntlich ein Risikofaktor bei verschiedenen Krankheiten, etwa Bluthochdruck oder Diabetes. Zudem kennt wohl jeder die Folgen einer durchzechten Nacht, als „Kater“ hinreichend bekannt. Schließlich führt ein Übermaß an Bier, Wein und Schnaps zum Alkoholismus, der verbreitetsten Suchtkrankheit schlechthin, deren menschliche und volkswirtschaftliche Folgen dramatische Ausmaße hat. Was also hat Schnaps auf ärztlichem Rezept und Branntwein in der Apotheke zu suchen? Gehört Alkohol wie Aspirin gar zu den Heilmitteln? Hochprozentiges also als hochwirksame Arznei? Fest steht: Der Alkohol spielt in Medizin und Pharmazie seit Jahrhunderten eine wichtige Rolle und entfaltete dabei eine segensreiche Wirkung. Noch heute ist er aus keiner Apotheke wegzudenken. Diese Behauptung will ich im Folgenden belegen und illustrieren. Schauen wir zunächst auf die naturwissenschaftlichen Fakten. Medizinisch lassen sich mehrere direkte Wirkungen alkoholischer Lösungen ausmachen. Da wäre zunächst die desinfizierende, also die keimabtötende Eigenschaft des Alkohols, die wir bei der Behandlung offener Wunden nutzen. Ebenso erwünscht ist der kühlende Effekt von alkoholgetränkten Umschlägen, etwa bei einem geschwollenen Arm. Zwei weitere Indikationen erfahren wir aus dem Buch der Bücher: Dort lesen wir im Buch der Sprüche Kapitel 23, Vers 31-35: „Sieh den Wein nicht an, wie er so rot ist und im Glase so schön steht: Er geht glatt ein, aber danach beißt er wie eine Schlange und sticht wie eine Otter. Da werden deine Augen seltsame Dinge sehen, und dein Herz wird Verkehrtes reden, und du wirst sein wie einer, der auf hoher See sich schlafen legt, und wie einer, der oben im Mastkorb liegt. Sie schlugen mich, aber es tat mir nicht weh; sie prügelten mich, aber ich fühlte es nicht.“ Die Bibel weiß also sowohl um die schlaffördernde als auch um die anästhesierende Eigenschaft alkoholischer Getränke. Ihre sedierende und empfindungsausschaltende Wirkung machten sich die Operateure vor Einführung von Ether, Lachgas und Chloroform zunutze. Alkohol war nahezu das einzige Mittel, um die schmerzhaften Eingriffe für den Patienten einigermaßen erträglich zu gestalten. Wenn heute bei einer Operation Inhalationsgase strömen, so floss damals Rum und Branntwein in Strömen. Eine fünfte medizinische Anwendung fordert das letzte Kapitel des Buchs der Sprüche (Kap. 31, Vers 6-7): „Gebt starkes Getränk denen, die am Umkommen sind, und Wein den betrübten Seelen, dass sie trinken und ihres Elends vergessen und ihres Unglücks nicht mehr gedenken.“ Diese stimmungsaufhellende, ja euphorisierende Komponente des Alkohols ist jedem bekannt. Deshalb nannte man Hochprozentiges auch „Lebenswasser“, lat. aqua vitae (daher auch Aquavit). Wilhelm Busch sagte es so: „Wer Sorgen hat, hat auch Likör.“ Doch wann werden die Sorgen durch Likör vertrieben und wann werden sie in Likör ertränkt? Oder kurz: Was macht den Schnaps zur Arznei oder zu Gift? Die Antwort gibt uns der vielleicht berühmteste Pharmazeut aller Zeiten, Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus. Mit seinem Dictum „Dosis facit venenum“ löst der Ahnherr der modernen Pharmazie diesen scheinbaren Widerspruch. Die Dosis also macht es, ob eine Substanz Heil oder Verderben bringt. Paracelsus sah im Weingeist („alcohol 1

vini“) das Feinste und Subtilste des Weins oder - wie er es nannte - die „quinta essentia (Quintessenz). Eingeführt in die Medizin hat den Spiritus vini jedoch ein anderer Gelehrter. In Persien lebte um 900 n.Chr. ein arzneikundiger Wissenschaftler namens Abu Bakr Muhammad ibn Zakariya ar-Razi, genannt Rhazes. Der arabische Arzt und Alchemist versuchte unedle Metalle in edle wie Gold umzuwandeln. Ihm bleibt das Verdienst, bei seinen Transmutationsversuchen den Alkohol für die Medizin entdeckt zu haben. Den mittelalterlichen Ärzten war die Alkoholherstellung freilich zu umständlich. Erhitzen, Kochen, Destillieren, Abkühlen - alles langwierige und zeitaufwändige Prozesse. Allmählich kristallisierte sich ein eigener Beruf heraus, nämlich der des professionellen Arzneizubereiters, also des Apothekers. Deshalb verwundert es nicht weiter, dass der mächtige Kalif Almanson von Bagdad insbesondere auf zwei Dinge stolz war: den größten Harem weit und breit sowie sein mustergültiges Hospital mit eigener Apotheke. Viele Fachbegriffe geben von den orientalischen Wurzeln der Pharmazie Zeugnis, lassen sie doch den arabischen Artikel Al bzw. El erkennen. Neben Al-kohol wären Termini wie Al-kali, Alchemie oder El-ixier zu nennen. Im Abendland entwickelte sich die Kunst der Weinbrennerei im 11. Jahrhundert in Italien, insbesondere in den Klöstern. Den Dominikanern in Rimini musste allerdings 1280 der Besitz von Destillationsanlagen verboten werden, weil es zu Ausschweifungen gekommen war. Die Kölner Nonnen waren wahrscheinlich züchtiger, denn ihr hochprozentiger „Klosterfrau Melissengeist“ wird bis zum heutigen Tag produziert und erfreut sich als Hausmittel für alle Fälle größter Beliebtheit. Im 14. Jahrhundert gelangte der Branntwein schließlich nach Deutschland. Die Apotheker schätzten insbesondere zwei weitere Vorzüge des Alkohols. Einerseits wussten sie um die ausgezeichneten Lösungseigenschaften, die die Heilkraft aus den Arzneipflanzen erschloss. Ein Beispiel: Man kann geschnittene Baldrianwurzel mit kochendem Wasser zu einem Schlaftee aufbrühen. Zur relativ schwachen Wirkung gesellt sich der wenig angenehme typische Baldriangeruch. (Vielleicht schläft man lieber freiwillig ein, als diesen Tee zu trinken). Setzt man die Baldrianwurzeln hingegen mit Ethanol an, werden die Wirkstoffe viel besser herausgelöst. Die Baldriantinktur ist konzentrierter und wirksamer. 40 Tropfen wirken so kräftig wie ungefähr 2 Tassen Tee. Zum andern hatten die Apotheker lange Zeit kaum ein besseres Konservierungsmittel als Weingeist. Um Arzneien vor dem Verderb zu schützen gab es vor allem Honig und später Zucker. Allein Zucker war ziemlich teuer. Ein Magenbitter mit einem gewissen Alkoholgehalt war per se nahezu unbegrenzt haltbar. Viele Apothekerschnäpse lassen sich auf diese Tradition zurückführen. Dasselbe gilt ebenso für die meisten Essenzen und Tinkturen, etwa den Franzbranntwein oder die Baldriantinktur. Der Geist des Weines wehte in der Frühen Neuzeit mit aller Macht in die Apotheken nördlich der Alpen. Gelehrte wie Arnold von Villanova (1238-1311) priesen das Lebenswasser, das Gott der Menschheit geschenkt habe, damit sie wieder jung werde. Der Schultheiß von Frickenhausen empfahl 1320 den „Brannt“ innerlich und äußerlich gegen die Pest. Im Gegensatz dazu verboten die Behörden in Rostock 1832 während einer Cholera-Epidemie den Genuss von Branntwein und Bier. Doch musste das Medizinal-Collegium schließlich feststellen, dass gerade notorische Trinker die Seuche überlebt hatten. Vielleicht stammt ja aus dieser Zeit die volkstümliche Liedzeile „Schnaps ist gut für Cholera“. 2

Im 17. Jahrhundert wurde das Arzneimittel Branntwein immer mehr zum Genussmittel, das außerhalb der Apotheken von gewerblichen Weinbrennern und Privatleuten hergestellt wurde. Das hatte zwei Nachteile: Die Apotheken erlitten massive finanzielle Einbußen und schlimmer: die Volksgesundheit war gefährdet. Die Behörden versuchten den „Branntweinteufel“ in den Griff zu bekommen und erlaubten nur den Apotheken die Herstellung und den Ausschank hochprozentiger Heilmittel. Medizinische Spirituosen waren auch von der Branntweinsteuer befreit. So erhielt 1660 der Apotheker Apel in Bunzlau Steuerfreiheit, wenn er seine Kunden den Aquavit in der Offizin trinken ließ. Wollten seine Patienten ihren Schnaps jedoch im Hinterzimmer trinken, musste er wie die Branntweinschenken eine vierteljährliche Steuer entrichten. Bis zum heutigen Tage ist der arzneilich verwendete Trinkalkohol steuerbefreit. In mancher Apotheke muss es ziemlich toll zugegangen sein, besonders an Sonntagen. Der Stadtrat von Kassel schränkte 1672 den Ausschank von Branntwein ein und ordnete an, „dass in den Apotheken sonntags, besonders unter der Predigt, kein Gesäufe gestattet werden“ solle. Besonders in Norddeutschland waren bis in unsere Zeit Apothekerschnäpse beliebt und weit verbreitet. Wilhelm Busch setzte einem solchen Stärkungstrank ein literarisches Denkmal. Apotheker Pille schickt dabei seinen Boten mit 20 Flaschen seines „Busenfreund“ genannten Kräuterlikörs zur Post. Der Bote kann unterwegs nicht widerstehen und widmet sich (zu) ausgiebig dem Busenfreund. Dabei fallen die Flaschen auf den Boden und eine Gänseschar labt sich an der süßen Köstlichkeit. Nun wird es lustig allerseits Die Gänse wackeln schon bereits. Dem Hirt sein Bock fängt an zu springen, Die Schweine wälzen sich und singen. Viel Kurzweil treibt man anderweitig Sowohl allein wie gegenseitig. Jetzt eilt die Bauernschaft herbei Und wundert sich, was dieses sei. Bald ist auch Pille reisefertig Bei diesem Schauspiel gegenwärtig. Zuerst erfasst zu aller Schreck Der Ziegenbock den Meister Böck. Auf seinem zackigen Gehörne Trägt er denselben in die Ferne. Der Bürgermeister, ängstlich blau, Bewegt sich fort auf Kanters Sau. Jetzt kommen, Pille in der Mitten, Zwei alte Weiber angeritten. Herr Pille aber wird zuletzt Vor einer Stalltür abgesetzt. Dabei verlieret seinen Glanz Der schöne Sonntagsschwalbenschwanz...

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„Busenfreund“ hieß der Likör von Apotheker Pille. Andere Apotheker nannten ihre hochprozentige Kreation „Leib- und Magenstärker“ oder „Seelentröster“. Die Rezepturen enthielten meist Bitterstoffpflanzen und aromatische Bestandteile. Bitter schmeckende Pflanzen wie Enzian und Wermut regen die Verdauungssäfte an. Rhabarber, Kalmus- und Tormentillwurzel wirken stärkend auf den Magen–Darmbereich. Tormentilltinktur ist Ihnen wahrscheinlich besser unter dem Namen Blutwurzschnaps bekannt. Hochgeistiges in der Apotheke gab es aber keineswegs nur in deutschen Landen, wie wir von Erwin Rosen wissen, einem heute vergessenen deutschen Schriftsteller. Er berichtet von seiner Zeit als Apothekenlehrling in einem texanischen Drug-Store, der amerikanischen Form von Apotheke. In seinen Memoiren erzählt er vom pharmazeutischen Alltag um 1890. „Der Herrenwelt brachte die Apotheke liebevolles Verständnis durch ein halbes Dutzend dickbauchiger Whiskyfässer entgegen, denn wer hier Wert auf guten Whisky legte, kaufte seinen Bourbon ... in der Apotheke.“ Gänzlich unbekannt war dem Deutschen endlich die amerikanische Sitte, dass alle Ärzte ihre Rezepte „hübsch deutlich und leserlich“ schrieben. Auch heute stellen noch einige wenige Apotheken eigene hochprozentige Apothekerschnäpse her. Sie stärken Leib und Geist und helfen bei Alltagsbeschwerden aller Art. Dagegen gehören Tinkturen aus Thymian, Salbei, Ringelblume, Myrrhe u.s.w. nach wie vor zum Standardsortiment. Sie werden vielfältig eingesetzt. Thymian bei Husten, Salbei fürs Halsweh, Calendulaessenz hilft bei Hautausschlägen, Myrrhetinktur bei Entzündungen im Mundbereich. Von den Medizinalweinen hat lediglich der Pepsinwein zur Verdauungsförderung Bedeutung. Gehalten hat sich auch der Franzbranntwein, der äußerlich als Einreibung bei Muskelkater gute Dienste leistet. Ob es all diese bewährten Mittel je wieder auf Rezept geben wird? Mit Blick auf das verdunstende Vermögen der Krankenkassen ist dies in absehbarer Zeit leider nicht zu erwarten. Die Beweiskette für meine eingangs aufgestellte Behauptung umfasst bei nüchterner Zählung (mehr oder weniger) elf Glieder, womit wir beim Thema Schnapszahlen wären. Das Schnaps(be)zahlen bedeutete nicht mehr als die gerechte Entlohnung für ein vortreffliches Produkt traditioneller Apothekerkunst. Und damit keiner nach diesem Vortrag sagen oder singen kann „Schnaps, das war sein letztes Wort ...“, ende ich mit einem Dankwort an Sie alle und für Ihre Aufmerksamkeit. Herzlichen Dank!

Literatur: Schwarz, Holm-Dietmar: „Der Apothekenschnaps“, in: Veröffentlichungen der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie e.V. Neue Folge. Herausgegeben von Wolfgang-Hagen Hein, Band 57, Die Schelenz-Stiftung, III 1973 bis 1988, Stuttgart 1989, S.123-138.

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Müller-Grzenda, Astrid: „Pflanzenwässer und gebrannter Wein als Arzneimittel zu Beginn der Neuzeit.“ Braunschweiger Veröffentlichungen zur Geschichte der Pharmazie und der Naturwissenschaften, Band 38, Stuttgart 1996. Friedrich, Christoph: Erwin Rosen (1876-1923) in: „Apotheke von innen gesehen“, Eschborn 1995, S.125-131.

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