Schmerz und Schmerztherapie nach schweren Traumatisierungen

Harald C. Traue, Lucia Jerg-Bretzke, Vladimir Hrabal Schmerz und Schmerztherapie nach schweren Traumatisierungen Einleitung Extreme psychische und kö...
Author: Andreas Dieter
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Harald C. Traue, Lucia Jerg-Bretzke, Vladimir Hrabal

Schmerz und Schmerztherapie nach schweren Traumatisierungen Einleitung Extreme psychische und körperliche Traumata bewirken dramatische Symptommuster, die mit den Kriterien der traumatischen Belastungsstörungen nur unzureichend beschrieben werden. Zusätzlich leiden die Patienten häufig nach der körperlichen Heilung anhaltend unter Schmerzen aufgrund der neurobiologischen Nähe und Ähnlichkeit der Verarbeitung körperlicher und psychischer Schmerzstimulation und extrem negativen Emotionen. Epidemiologische Studien bestätigen das gemeinsame Auftreten von Schmerz und posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS). Die enge Beziehung und die Ähnlichkeit in ätiologischer und behavioraler Hinsicht der beiden Störungen haben zu der Annahme gemeinsamer Vulnerabilität und gegenseitiger Aufrechterhaltung geführt. Die besondere Belastung von Patienten mit PTBS durch chronische Schmerzen machen schmerztherapeutische Interventionen notwendig und bei chronischen Schmerzpatienten sollte die ursächliche Bedeutung von Traumata bedacht werden. Schmerzsymptome nach extremer Traumatisierung Als Folge traumatischer Erlebnisse leiden viele Opfer an lang anhaltenden komplexen Störungen ihrer körperlichen und seelischen Funktionen, die unter dem Begriff der 157

posttraumatischen Belastungsstörung zusammengefasst werden. Diese Störungen sind offensichtlich schwerer und anhaltender bei Traumata von Menschenhand (man-made desaster). Das besondere Merkmal dieser Traumatisierung ist die absichtliche Zufügung seelischer Extremzustände und körperlicher Schäden, die oft mit starken Schmerzen einhergehen. In welchem Ausmaß (nach Intensität und Qualität) Schmerzen und körperliche Schäden hervorgerufen werden, hängt von der Art der Traumatisierung ab. Während die psychische Traumatisierung eine allgemeine Vulnerabilität für Schmerzen bewirkt, führen körperliche Traumatisierungen zu somatischen Störungen und spezifischen Schmerzzuständen. Da die körperliche Traumatisierung gleichzeitig eine psychische Extrembelastung darstellt, kommt es meist zu einem komplexen Symptommuster. Schmerzen durch traumatische Einwirkung auf den Körper sind zunächst akut und können lang anhaltend bleiben, ebenso wie Narben, Veränderungen des Bindegewebes, der Muskeln und sogar des Skelettapparates. Das Schlagen auf die Fußsohlen zerstört beispielsweise das Bindegewebe derart, dass Gehen und Laufen nur mehr unter Schmerzen möglich ist und eine umfassende orthopädische Versorgung nötig wird. Das Hochreißen der Arme oder der „banana tie“ überdehnt Gelenke, Bindegewebe und die Muskulatur mit langfristigen Folgen.

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Kopfschmerzen Herzbeschwerden Muskelschmerzen Rückenschmerzen Bauchschmerzen Schmerz in Ruhe Schmerzen im Brustbereich Ohrenschmerzen Neuralgische Schmerzen Schmerzen an d. Fußsohlen 0 10 20 30 40 50 60 70 weiblich

männlich

Abbildung 1: Körperliche Symptome (in Prozent) bei N=406 Patienten mit Foltertrauma1

Abbildung 1 zeigt die enorme Schmerzbelastung traumatisierter Patienten aus dem Ulmer Behandlungszentrum für Folteropfer (BFU)1. Es ist aber irreführend, wenn in der üblichen Diagnostik der posttraumatischen Belastungsstörung die körperlichen Symptome ausschließlich als Somatisierung verstanden werden, also um ein mentales Phänomen des Ausdrucks der seelischen Schädigung im Somatischen. Im ungünstigen Fall kann das dazu führen, dass notwendige 1 Adaptiert aus Nicole Leißner/Gerlinde Dötsch/Harald C. Traue,

Psychische und körperliche Symptome in Abhängigkeit von Extremtraumatisierung, kultureller Erfahrung und Gender, in: Der Schmerz, 21 (2007), Supplement, S. 40

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(somatische) Behandlungen unterbleiben. Allerdings sind die allgemeinen Wechselwirkungen zwischen Trauma und Schmerz (Vulnerabilität) und die speziellen Auswirkungen von körperlichen Traumata im Einzelfall nur schwer zu differenzieren. Zählt man für eine Schätzung des Ausmaßes der Traumatisierung die Angaben in den diagnostischen Interviews jeweils individuell zusammen und korreliert sie mit den angegebenen Symptomen, dann ergibt sich ein Zusammenhang zwischen Traumaintensität und Symptomatik zwischen r = .29 und r = .52. Je größer das Ausmaß nach Häufigkeit und damit auch der Dauer, umso mehr Schmerzsymptome treten später auf. Sexuell assoziierte Traumata wie Demütigungen, Vergewaltigung, obszöne Beschimpfungen oder die entsprechenden Androhungen führen bei Frauen und Männern zu einer besonderen Beschwerdehäufung durch Schmerzen im Unterleib und Kopfschmerzen (siehe Tabelle 1). Vergewaltigung und sexuelle Misshandlung2

Sonstige Traumata3

χ2

Bauchschmerzen

24 (21 %)

7 (8 %)

6,2**

Kopfschmerzen

78 (68 %)

46 (52 %)

5,9*

Schmerzhafte Miktion

6 (5 %)

0 (0 %)

4,8(*)

Nierenschmerzen

9 (8 %)

1 (1 %)

4,9(*)

Tabelle 1: Vergleich sexueller und anderer Traumata im Hinblick auf Schmerzfolgen (statistische Signifikanz: ** = 1 %, *= 5 %, (*) = 10 %)

2 N=114 zwischen 17 und 55 Jahre 3 N=92

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Kognitiv-behaviorale Wechselwirkungen zwischen Trauma und Schmerz Obwohl traumatische Erfahrungen weder kognitiv noch behavioral wie Alltagsstress adaptiv verarbeitet werden können, versucht das Gehirn durch höchste zentralnervöse und psychophysiologische Aktivierung den akuten Extremstress zu vermeiden. Die Gedächtnisspur dieses emotionalen Ereignisses bleibt jedoch abrufbar. Da im Schlaf unter anderem Gedächtniskonsolidierung stattfindet, werden auf unvorhersehbare Weise Gedächtnisinhalte aktiviert, die Alpträume auslösen. Es ist wichtig zu wissen, dass die Beeinträchtigungen des Gedächtnisses und der kognitiven Funktion therapeutische Interventionen beeinträchtigt, die sich auf soziale Lernprozesse stützen.4 Als eine der psychischen Überlebensreaktionen während extremer Traumatisierung spalten die Opfer die unerträglich intensiven Angst- und Panikgefühle von ihrem aktuellen Bewusstsein ab (Dissoziation). Dabei wird das emotionale Erleben der Angst und der körperlichen Schmerzen nur aus dem aktuellen bewussten Erleben durch einen seelischen Kraftakt ferngehalten. Später ist der Überlebende ständig bemüht, weiterhin die Erlebnisse in seinem Inneren in Schach zu halten, eine psychophysische Anstrengung, die zu Erschöpfung führt und in Schmerzen mündet. Da das Trauma akut nicht bewältigt werden kann, wirkt die starke emotionale Erregung ins Innere der Betroffenen und kann nicht in bewältigendes Handeln umgesetzt 4 Vgl. Paul Nilges/Harald C. Traue, Psychologische Aspekte des

Schmerzes, in: Verhaltenstherapie & Verhaltensmedizin, 28 (2007) 3, S. 302-322

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werden. Der Organismus wird zwar extrem aktiviert, bleibt aber im Wesentlichen ohne Effekt auf die traumatische Situation. Die emotionale Erregung explodiert nach innen, sie wird zu einer emotionalen Implosion.5 Die Auswirkungen dieser besonderen Form der Hemmung des Emotionalen zeigt sich in der genannten zentralnervösen und psychophysiologischen Hyperaktivität, der emotionalen Abstumpfung, die mit Rückzug von der sozialen Umwelt einhergeht und Intrusionen mit Episoden des Nacherlebens und dem Versuch der Unterdrückung, emotional sprachlicher Verarmung und Aktivierung von kognitiven Angstnetzwerken. Wesentlich trägt dazu die situative Unausweichlichkeit des Traumas bei. Das Opfer kann wenig tun, um das Trauma und die damit verbundenen Schmerzen zu vermeiden. Selbst Kooperation und Unterordnung machen das Trauma nicht erträglich. Schlimmer noch: Gewalttäter und Folterexperten spielen oft mit dieser Unterordnung, um nach einer Weile dem Opfer umso intensiver Qualen zufügen. Solche Bedingungen erzeugen aufgrund der großen Intensität des Erlebens sehr schnell gelernte Hilflosigkeit und damit Schuldgefühle und Depressivität, die wiederum Schmerzprozesse auf vielfältige Weise nach sich zieht.6 Menschen haben ein primäres Bedürfnis nach Nähe zu anderen Personen, das interindividuell unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Belastungen und Gefahren verstärken das Bedürfnis nach Nähe und sozialer Unterstützung.7 Das kann 5 Vgl. Harald C. Traue/Russel M. Deighton, Emotional Inhibition, in:

George Fink (Hg.), Encyclopedia of stress, 3. Auflage, Oxford (i. E.)

6 Vgl. Traue/Schwarz-Langer/Gurris, Extremtraumatisierung, a. a. O. 7 Vgl. Stanley Schachter/Jerome Singer, Cognitive, social and

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sich unmittelbar im Verhalten auswirken oder auch durch ein inneres Abbild von gemeinsamen Werten oder Vorstellungen kognitiv vermittelt sein. Dieses Gefühl der gleichen Wellenlänge zwischen Personen ist ein wichtiger Schutzmechanismus gegen Belastungen. Vor allem Traumata von Menschenhand wie kriminelle Gewalt, Vergewaltigung und Folter gehen mit einer massiven Unterbrechung des Gefühls von Zugehörigkeit einher. Das Opfer wird körperlich und psychisch abrupt aus seinen sozialen Bindungen herausgerissen. Da das emotionale Erleben während des extremen Traumas ganz stark von Angst, Panik und Verlassensein geprägt ist, untergräbt es nachhaltig das Vertrauen in zwischenmenschliche Beziehungen.8 Auch unter sicheren Bedingungen können emotionale Empfindungen und Erlebnisse nur zögernd wieder zugelassen werden, so dass eine oftmals generalisierte emotionale Stumpfheit eine der tragischen Folgen des Traumas sein kann. Das Modell der gemeinsamen Vulnerabiltät für PTBS und Schmerz betont den ätiologischen Aspekt der Sensitivität für Angsterleben im erlebten Trauma und für physiologische Reaktivität und betont deren genetische Basis. Das Modell der gegenseitigen Aufrechterhaltung (mutual maintenance) postuliert multiple gegenseitige Beeinflussungen über Aufmerksamkeitsbias, Angstsensitivität, Traumagedächtnis, Depression mit reduziertem Aktivitätslevel, veränderte Körperwahrnehmung und kognitive physiological determinants of emotional state, in: Psychological Review, 69 (1962) 5, S. 379-407 8 Vgl. Ronnie Janoff-Bulman, Shattered assumptions. Towards a new psychology of trauma, New York 1992

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Beanspruchung. In diesem Modell werden nahezu alle Aspekte genannt, allerdings bestätigen die empirischen Studien insbesondere den Aspekt der gemeinsamen Wirkung von Stress, veränderter Aufmerksamkeit, Angstsensitivität und Depressivität. Liedl und Knaevelsrud9 greifen die Idee von gemeinsamen ätiologischen und aufrechterhaltenden Faktoren auf, sehen aber das Vermeidungsverhalten gegenüber der Traumaerinnerung bei PTBS und von schmerzrelevanten Bewegungen bei Schmerzpatienten als Kern beider Störungen. Wie im „fear avoidance model“ 10 formuliert, ist die mit katastrophisierenden Gedanken angereicherte Angst dann ursächlich für die Vermeidung von Aktivitäten mit schmerzhaften Folgen. Psychische Energie erhält diese Wechselwirkung durch die beiden Störungen gemeinsame physiologische Übererregung. Ganz ähnlich wird die Ätiologie der PTBS formuliert: Die Betroffenen reagieren zunächst auf den aktuellen extremen Stress und später auf ihre Erinnerung daran mit starker psychophysiologischer Erregung. Da diese Zustände wegen ihrer Aversivität vermieden werden, kommt es zu psychischer und physischer Anspannung durch die emotionale Hemmung und den stresshaften Erinnerungen gleichermaßen.11 Die Kreisläufe aus Angst und Vermeidung durch das (Nach-)Erleben des Traumas und Schmerzen greifen kaum unterscheidbar ineinander. 9 Vgl. Alexandra Liedl/Christine Knaevelsrud, PTBS und chronische

Schmerzen: Entstehung, Aufrechterhaltung und Zusammenhang. Ein Überblick, in: Der Schmerz 22 (2008) 6, S. 644-651 10 Vgl. Peter J. Norton/Gordon J. G. Asmundson, Amending the fearavoidance model of chronic pain: What is the role of physiological arousal?, in: Behavior Therapy, 34 (2003) 1, S. 17-30 11 Vgl. Traue/Deighton, Emotional Inhibition, a. a. O.

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Psychobiologie der Wechselwirkungen von Trauma und Schmerz Eine Dysregulation des Noradrenalinsystems (NA-Systems) ist für die Wechselwirkung von Trauma und Schmerz wesentlich: NA ist kontinuierlich erhöht, gleichzeitig ist die Rezeptoranzahl durch Chronizität um bis zu 50 Prozent reduziert. Damit korreliert führen traumarelevante Reize zu kardiovaskulären Reaktionen. Wird der NA-Spiegel bei Traumatisierten pharmakologisch gesenkt, kommt es zu panischen Angstattacken und episodenhaftem Wiedererleben des Traumas.12 Konfrontiert man Traumatisierte mit ihren Erlebnissen - es reichen manchmal nur isolierte Aspekte - kommt es zu einer erhöhten Aktivität von hirneigenen Opiaten, die sich bei Überstimulation aber erschöpfen. Die dauerhafte Belastung durch ein nicht verarbeitetes Trauma führt so zu einer Dysregulation des endogenen Opiatsystems mit der Folge Schmerzüber- oder Schmerzunterempfindlichkeit oder zu Schwankungen zwischen diesen Polen. Manche Patienten mit PTBS reagieren, wenn sie traumabezogenen Reizen ausgesetzt werden, mit einem Anstieg von endogenen Opiaten, der einer Gabe von 8 Milligramm Morphium entspräche. Saporta & van der Kolk interpretieren diese Opiatreaktionen als gemeinsame Ursache für emotionale Abstumpfung und Schmerzen.13 12 Vgl. Steven M. Southwick/John H. Krystal/Andrew Morgan/David

Johnson/Linda M. Nagy/Andreas Nicolaou/George R. Heninger/Dennis S. Charney, Abnormal noradrenergic function in post-traumatic stress disorder, in: Archives in General Psychiatry, 50 (1993) 4, S. 266-274 13 Vgl. José A. Saporta/Bessel A. van der Kolk, Psychobiological consequences of severe trauma, in: Metin Basoglu (Hg.), Torture and its consequences, Cambridge 1992, S. 151-181

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Schmerz und negative Emotionen werden in derselben neuronalen Matrix aus primärem sensorischen Kortex, der Insel, des Gyrus Cinguli, des periaquäduktalen Grau und frontalkortikalen Arealen verarbeitet und erstrecken sich über beide Hirnhemisphären, wobei mehrere Areale eine stärkere Aktivierung in der rechten Hemisphäre aufweisen. Dies entspricht der Vorstellung einer rechts dominant lateralisierten Lokalisierung der Aufmerksamkeitssteuerung durch Schmerzstimuli, einer negativen Emotionalität14 und vegetativer Erregung15. Bahnbrechend für den Zusammenhang zwischen sozialer Isolation und Schmerzvulnerabilität sind fMRT-Studien zu Gefühlen der sozialen Isolierung. Die dabei beobachtbaren neuronalen Erregungsmuster im anterioren cingulären Cortex (ACC) korrespondieren mit sensorischer Schmerzstimulation: Die (seelisch) schmerzliche Erfahrung der sozialen Ausgrenzung wird ähnlich verarbeitet wie eine schmerzhafte akute Stimulation.16 Dabei ist es bemerkenswert, wie klar dieser Effekt selbst in einer existentiell wenig wichtigen Spielsituation nachweisbar ist. Neuere volumetrische Untersuchungen von PTBS-Patienten17 belegen 14 Vgl. James A. Coan/John J. B. Allen, Frontal EEG asymmetry as a

moderator and mediator of emotion, in: Biological Psychology, 67 (2004) 1-2, S. 7-50 15 Vgl. Harald C. Traue, Emotion und Gesundheit: Die psychobiologische Regulation durch Hemmungen, Heidelberg 1998 16 Vgl. Naomi I. Eisenberger/Matthew D. Liebermann/Kipling D. Williams, Does rejection hurt? An fMRI study of social exclusion, in: Science, 302 (2003) 5643, 290-292 17 Vgl. Elbert Geuze/Herman G. M. Westenberg/Anja Jochims/Carien S. de Kloet/Martin Bohus/Eric Vermetten/Christian Schmahl, Altered pain processing in veterans with posttraumatic stress disorder, in: Archives Of General Psychiatry, 64 (2007) 1, S. 76-85; Kiyoto

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verminderte ACC-Volumina (was mit Alkoholabusus zu tun haben könnte), aber auch reduzierte neuronale Funktionalität des ACC18, was im Widerspruch zu Befunden der erhöhten Aktivierung des ACC bei sozialer Ausgrenzung stehen könnte. Die Alterierung des ACC ist jedoch die Ursache für Löschungsresistenz gegenüber stresshaften Stimuli (negative Emotionen, Schmerzen, Gedächtnisinhalte) und damit auch für die vegetative Hyperreagibilität gegenüber traumarelevanten Stimuli. Therapeutische Interventionen mit Konfrontation könnten weniger effizient bei PTBS verlaufen, weil die reduzierte neuronale Funktionsfähigkeit des ACC sich weniger hemmend auf die amygdalabasierte Angstreaktion auswirkt.19 Eine Folge häufiger Schmerzen bei PTBS 20 ist die Erwartung neuer Schmerzen. Diese Kognition kann Auslöser von neuronalen Erregungsmustern auch bei schmerzloser Stimulation sein, wie eine Schmerzreizung selber.21 Umge-

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19 20

21

Kasai / Hidenori Yamasuea/Mark W. Gilbertson/ Martha E. Shenton / Scott L. Rauch/Roger K. Pitman, Evidence for Acquired Pregenual Anterior Cingulate Gray Matter Loss from a Twin Study of Combat-Related Posttraumatic Stress Disorder, in: Biological Psychiatry, 63 (2008) 6, S. 550-556 Vgl. Norbert Schuff / Thomas C. Neylan/Sabrina Fox-Bosettia / Maryanne Lenoci / Kristin W. Samuelson / Colin Studholme / John Kornak / Charles R. Marmar / Michael W. Weiner, Abnormal Nacetylaspartate in hippocampus and anterior cingulate in posttraumatic stress disorder, in: Psychiatry Research, 162 (2008) 2, S. 147-157 Ebd. Vgl. John D. Otis/Terence M. Keane/Robert D. Kerns, An examination of the relationship between chronic pain and posttraumatic stress disorder, in: Journal of Rehabilitation Research and Development, 40 (2003) 5, S. 397-406 Vgl. Nobukatsu Sawamoto/Manabu Honda/Tomohisa Okada/ Takashi Hanakawa/Masutaro Kanda/Hidenao Fukuyama/Junji Konishi/Hiroshi Shibasaki, Expectation of Pain Enhances Responses

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kehrt konnten andere Arbeitsgruppen22 zeigen, dass das Erregungsmuster bei einer experimentell induzierten positiven Erwartung dem subjektiven und nicht dem objektiven Schmerzreiz entspricht. Die Größenordnung dieses Effektes ist mit der Wirkung von Morphinen vergleichbar. Traumatisierte Menschen neigen nicht selten zu Verhaltensweisen mit Selbstschädigung. Starke Erregungszustände mit emotionalen Erlebnisinhalten können gesellschaftlich mehr oder minder auffällig durch Selbstverletzungen oder Suchtverhalten mit Drogen, Alkohol und Medikamenten reguliert werden. Kosten und Krystal23 machen in diesem Zusammenhang auf die erregungsdämpfende Wirkung von hirneigenen Opiaten aufmerksam und stellen zur Diskussion, ob nicht die schmerzhafte Selbstschädigung das hirneigene Opiatsystem stimulieren könnte und über den Lernmechanismus der negativen Verstärkung das selbstschädigende Verhalten aufrecht gehalten wird. Hier besteht auch das Risiko der Überstimulation und Erschöpfung der Schmerzhemmung.

to Nonpainful Somatosensory Stimulation in the Anterior Cingulate Cortex and Parietal Operculum/Posterior Insula: an Event-Related Functional Magnetic Resonance Imaging Study, in: Journal of Neuroscience, 20 (2000) 19, S. 7438-7445 22 Vgl. Tetsuo Koyama/John G. McHaffie/Paul J. Laurienti/Robert C. Coghill, The subjective experience of pain: Where expectations become reality, in: Proceedings of the National Academy of Science, 102 (2005) 36, S. 12950-12955 23 Vgl. Thomas R. Kosten/John Krystal, Biological mechanisms in posttraumatic stress disorder, relevance to substance abuse, in: Marc Galanter (Hg.), Recent development in Alcoholism, New York 1988, S. 49-68

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Behandlungskonzept Im Vordergrund der Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung stehen spezifische Behandlungskonzepte in deren Kern oft die Konfrontation mit dem Trauma steht. Allerdings teilen weder alle Traumatherapeuten das Primat dieses Ansatzes, noch entspricht es der Behandlungsrealität.24 Es gibt demnach kein geschlossenes Behandlungskonzept, sondern Behandlungselemente, die abstrakt betrachtet einem phasenhaften Ablauf der Therapie gleichen, den man sich allerdings nicht linear, sondern als einen spiralförmigen Prozess vorstellen sollte. Am Anfang wird Sicherheit und Vertrauen vermittelt. Danach sollte die Behandlung von psychosomatischen Problemen im Vordergrund stehen. Hierhin gehören auch die schmerztherapeutischen Interventionen, die Rückgewinnung eines positiven Bezugs zum eigenen Körper, das Kümmern um den Schlaf und die manchmal notwendigen somatischen Behandlungen. Günstig sind hier interdisziplinäre Behandlungsformen in denen die Patienten Entspannung lernen, angenehme Körpersensationen neu erwerben und auch physiotherapeutisch versorgt werden. In der schwierigsten Therapiephase geht es um die therapeutisch geleitete Konfrontation mit den erlebten Traumata. Danach kann man therapeutisch an der Reinterpretation des Erfahrenen arbeiten (Normalisierung des

24 Vgl. Russel M. Deighton/Norbert F. Gurris/Harald C. Traue, Factors

affecting burnout and compassion fatigue in psychotherapists treating torture survivors: Is the therapist's attitude to working through trauma relevant?, in: Journal of Traumatic Stress, 20 (2007) 1, S. 63-75

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Abnormen sensu Herman25) und es wird die soziale Integration angestrebt26. Wiedererlangen der Kontrolle über Körper, Gefühle, Gedanken Gezielte therapeutische Strategien müssen den Sicherheitsbedürfnissen der Patienten in allen diesen Bereichen Rechnung tragen. Es ist am Beginn der Therapie notwendig, den Patienten die verschiedenen Wechselwirkungen zwischen Traumaerleben, PTBS und Schmerz so zu erklären, dass sie ihre eigenen Reaktionen nicht als fremd von sich und pathologisch erleben, sondern als eine normale Reaktion in einer nicht normalen Stresssituation. Physiotherapie, Medikamente, Entspannungsübungen und Interventionen zur Lenkung der Aufmerksamkeit, und die Interpretation von Symptomen im komplexen Krankheitsmodell und der Aufbau einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung sind wichtige Elemente am Anfang der Therapie. Entspannung sollte mit der Förderung körperlicher Aktivität verbunden werden. Dieser therapeutische Schritt sollte durch Kontakte zu Selbsthilfegruppen, Mobilisierung des Umfeldes und Schaffung einer sicheren Umgebung abgesichert werden. Hilfreich sind hierbei das Anknüpfen an Ressourcen aus der Zeit vor dem Trauma und die soziale Aktivierung. 25 Vgl. Judith Herman, Die Narben der Gewalt. Traumatische

Erfahrungen verstehen und überwinden, München 1994

26 Vgl. Andreas Maercker, Besonderheiten der Behandlung der

posttraumatischen Belastungsstörung, in: ders. (Hg.), Therapie der posttraumatischen Belastungsstörungen, Berlin 2007; Traue/SchwarzLanger/Gurris, Extremtraumatisierung, a. a. O.

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In der nächsten Behandlungsphase fokussieren die therapeutischen Anstrengungen auf eine Verbesserung des negativen Körpererlebens, auf Schmerzbewältigung und auf Senkung des hyperaktiven Erregungsniveaus. Je nach individueller Symptomatik und Wirksamkeit sind Entspannungsverfahren ebenso nützlich wie körperliche Aktivierung. Sofern muskuläre Verspannungen oder reduzierte periphere Durchblutung (meist im Zusammenhang mit Stress) am Schmerzgeschehen beteiligt sind, kann eine Behandlung mit Biofeedback sinnvoll sein. Da Biofeedback auch die Körperwahrnehmung verbessert, wirkt das Verfahren an mehreren Mechanismen der Aufrechterhaltung von Schmerz. Ein Vorteil wäre auch die körpernahe Behandlung, da viele der Patienten ein somatisches Krankheitskonzept haben. Alle diese Interventionen müssen die Ressourcen und kulturellen Besonderheiten und die Art der Traumatisierung beachten. Eine Sensibilität für kulturelle Unterschiede und Geschlechtsdifferenzen ist hierbei von großer Wichtigkeit. Darüber hinaus lässt sich das hohe Erregungsniveau der Patienten reduzieren und in Kombination mit der Physiotherapie beginnen die Patienten erstmals wieder, ihren Körper positiv zu erleben. Die Einführung von Entspannungstechniken bietet auch die Möglichkeit, gemeinsam mit den Betroffenen ein Modell der Wechselwirkung zwischen psychischen Stressoren und körperlichen Reaktionen zu entwickeln. Letztlich sind diese therapeutischen Erfahrungen für den Patienten wichtig, da er lernt, aktiv mit sich umzugehen, die selbstreflektive Beziehung zum eigenen Körper zu verbessern. Aus der passiven Haltung als Opfer kann sich Selbstkontrolle, Eigenaktivität und Vertrauen entwickeln. 171

Erinnern und Trauern: Auch hier gilt das Grundprinzip der Persönlichkeitsstärkung und besonderes Achten auf Sicherheitsbedürfnisse. Erforschung der Lebenssituation vor dem Trauma und Umstände, die das Trauma auslösten (Fluss der Zeit). Dann Rekonstruktion des Traumas und aller beteiligten Sinneseindrücke, oft auch mit Hilfe nonverbaler Verfahren. Das Trauma verwandelt sich während der belastenden Rekonstruktionsarbeit nicht, es wird nur gegenwärtiger und realer. Die Transformation mit den hoch entwickelten verhaltenstherapeutischen Techniken der Reizkonfrontation oder der Erstellung von Zeugenberichten versucht den Ereignissen ihre Schrecken zu nehmen, durch wiederholtes, kontrolliertes Durchleben einer Erinnerung nach der anderen. Der Trauerprozess geht mit der Bearbeitung von Rachephantasien und Wiedergutmachungswünschen, tiefen Schuld- und Schamgefühlen einher, aber auch dem Aufspüren positiver Erfahrungen und der Stärkung der Bindungs- und Beziehungsfähigkeit. Diese Phase wird als zeitlos beschrieben und dauert meist länger als dem Patienten lieb ist. Die Rekonstruktion des Traumas kann in der Therapie nicht endgültig beendet werden. Jeder neue Lebensabschnitt bringt neue Konflikte und Herausforderungen mit sich, die das Trauma zwangsläufig wieder zum Leben erwecken und einen neuen Aspekt der traumatischen Erfahrung ans Licht befördert. Die Hauptarbeit ist dann vollbracht, wenn das Trauma in einem Zeitkontinuum als vergangen betrachtet werden kann und der Patient mit neuer Hoffnung und Kraft wieder am Leben teilnimmt.

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Wiederanknüpfung: Aufbau einer Zukunft, Entwicklung eines neuen „Selbst“, neue Beziehungen knüpfen, Sinn und Aufgaben suchen, Anpassung an eine neue Situation. In dieser Phase werden oft Probleme der ersten Phase erneut in Angriff genommen, nicht defensiv sondern jetzt aktiv. Der Patient sollte darauf vorbereitet werden, dass in neuen Lebensphasen, Lebensabschnitten und in Zeiten größerer Belastungen sich unter Umständen erneut posttraumatische Symptome einstellen können. Adjuvante medikamentöse Behandlung: Patienten mit chronischen Schmerzen werden in der Regel auch analgetisch behandelt, entweder durch verschriebene oder selbst beschaffte Medikamente. Dies gilt für Traumatisierte mit Migrationshintergrund, insbesondere wenn sie sich in einer auf akute Leiden beschränkten medizinischen Versorgungssituation befinden. Solche Patienten stellen häufig aufgrund ihres kulturellen Hintergrundes oder ihrer einfachen allgemeinmedizinischen Versorgung die Schmerzzustände in den Vordergrund und erhalten entsprechend Analgetika. Hier ist es zunächst wichtig auf die richtigen Medikamente und Einnahmeschemata zu achten, damit es zu keinen Schmerzen aufgrund von Übergebrauch kommt. Im Verlauf einer (schmerz-)psychotherapeutischen Behandlung kann auf die Reduktion der Analgetika hingearbeitet werden. Es ist manchmal sinnvoll die (schmerz-)psychotherapeutische Behandlung medikamentös mit Antidepressiva oder in einer Kombination mit einem atypischen Neuroleptikum27 zu ergänzen oder mit der medikamentösen 27 Vgl. Gertrud Schwarz-Langer/Russell R. Deighton/Lucia Jerg-

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Behandlung die Voraussetzung für psychotherapeutische Interventionen zu schaffen. Ausführliche Informationen über die Notwendigkeit einer medikamentösen Behandlung, über Art und Wirkungsspektrum der einzelnen Präparate ermöglichten eine gute Compliance in der psychologischen Intervention. Den anfänglich ausgeprägten, teilweise auch kulturell mitbedingten, Vorbehalten gegenüber einer „psychiatrischen“ Therapie kann hierdurch erfolgreich begegnet werden.

Bretzke/Ingo Weisker/Harald C. Traue, Psychiatric treatment for extremely traumatized civil war refugees from former Yugoslavia. Possibilities and limitations of integrating psychotherapy and medication, in: Torture 16 (2006) 2, S. 69-80

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