S. Prokofjew : Romeo und Julia

S. Prokofjew : Romeo und Julia Zehn Klavierstücke op.75 Untersuchungen zu ausgewählten Aspekten Marc Chagall: Romeo und Julia Wissenschaftlicher Tei...
Author: Leopold Kaufer
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S. Prokofjew : Romeo und Julia Zehn Klavierstücke op.75 Untersuchungen zu ausgewählten Aspekten

Marc Chagall: Romeo und Julia

Wissenschaftlicher Teil der künstlerischen Masterarbeit Betreut von Prof. Richard Dünser

Zsuzsanna Csegzi Matrikelnummer: 0873334 Studienkennzahl: V 066 711 KUG, 2017

Inhaltsverzeichnis Kurzfassung Prokofjew Romeo und Julia ............................................................................................ 3 Einleitung............................................................................................................................................. 5 1.William Shakespeare: Romeo und Julia (The Tragedy of Romeo and Juliet) ................................... 7 1.1. Shakespeares Dramen .............................................................................................................. 8 1.2. Sprache und Stil in Romeo und Julia ........................................................................................ 8 1.3. Die Geschichte von Romeo und Julia ..................................................................................... 10 1.4. Mögliche Interpretationen ..................................................................................................... 13 1.5. Romeo und Julia in verschiedenen Kunstgattungen .............................................................. 15 2. Sergej Prokofjew: Leben und Werk ............................................................................................... 17 2.1. Die Musik Prokofjews ............................................................................................................. 18 2.1.1. Die vier Hauptlinien ......................................................................................................... 19 2.1.2. Die drei Schaffensperioden ............................................................................................. 20 2.2. Prokofjew als Sowjetkomponist ............................................................................................. 21 2.3. Prokofjew - der Mensch ......................................................................................................... 25 3. Sergej Prokofjew: Romeo und Julia ............................................................................................... 27 3.1. Einleitung - Prokofjews Themenwelt ..................................................................................... 27 3.2. Das Ballett Romeo und Julia ................................................................................................... 28 3.3. Romeo und Julia im Kontext sowjetischer Musik .................................................................. 30 3.4. Zehn Klavierstücke op.75: Analyse des Stückes Montagues und Capulets............................ 32 3.4.1. Harmonische Analyse ...................................................................................................... 32 3.4.2. Formanalyse .................................................................................................................... 33 Zusammenfassung............................................................................................................................. 36 Literaturliste ...................................................................................................................................... 37 Anhang

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Kurzfassung Prokofjew Romeo und Julia Diese künstlerische Masterarbeit beschäftigt sich mit dem Themenkreis von Shakespeares Romeo und Julia sowie Prokofjews Leben und Werk. Alle Aspekte dieser zwei Themen werden aus einer persönlichen Perspektive betrachtet und im künstlerischen, politischen und moralischen Kontext verarbeitet. Der erste Teil ist Shakespeares Drama Romeo und Julia gewidmet. Da werden die Entstehung und die Stellung des Dramas im Gesamtwerk Shakespeares, sowie Sprachstil und Personennamen thematisiert. Die Handlung selbe wird durch Anmerkungen des Autors Isaac Asimov ergänzt und mögliche Interpretationen sollen zum Nachdenken anregen. Im Kapitel Romeo und Julia in verschiedenen Kunstgattungen werden die Vertonungen des Dramas, die Bezugnahme in anderen literarischen Werken und berühmten Verfilmungen erwähnt. Ergänzt wird dieses Kapitel durch freie Assoziationen von Gemälden, mit einem persönlichen Kommentar. Dieses Kapitel dient als Überleitung zum nächsten Teil der Arbeit. Der zweite Teil Sergej Prokofjew widmet sich dem Leben und Werk des Komponisten. Es wird ausführlich thematisiert wie die äußeren Umstände sein Komponieren beeinflusst haben und wie er darauf reagierte. Zitate von Prokofjew selbst, Anmerkungen von Musikern und Kritikern über ihn lockern dieses Kapitel auf. Hier wird die Originalität seiner Musik und die Vielfältigkeit seines Schaffens beleuchtet, der Schwerpunkt liegt auf seiner Schaffensperiode als Sowjetkomponist. Politik und Kunst fließen ineinander: es wird ausführlich recherchiert welche Motivationen und Überzeugungen den Komponisten zur seinen Handlungen geführt haben. Das Ziel dieses Kapitels ist Prokofjew als ganzheitlichen Menschen darzustellen, überraschende Zitate über sein Verhältnis zur Religion und Aspekte seiner Weltsicht ergänzen diesen Abschnitt. Der dritte Teil ist als Synthese der ersten beide zu verstehen und beschäftigt sich dementsprechend mit Romeo und Julia in Sergej Prokofjews Schaffen. Prokofjews Themenwelt und ein Überblick über seine Werke leitet das Kapitel ein, wo Kategorien wie literarische Stoffe, Märchenwelt und politische Werke vorkommen. Das Ballett Romeo und Julia steht hier im Zentrum – beleuchtet werden die Entstehung, die Uraufführung, die Charaktere und die Bedeutung des Stückes im Kontext russischer Musik. An dieser Stelle werden moralische und politische Fragen gestellt und die Fäden von den zwei großen Schöpfern Shakespeare und Prokofjew zusammengezogen. Politischer Konformismus

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Prokofjews werden bezweifelt, Weltoffenheit und die ewigen menschlichen Werte werden im Kontext mit Romeo und Julia diskutiert. Ein wichtiger Teil der Arbeit ist die Musikanalyse des Stückes Montagues und Capulets aus Prokofjews Romeo und Julia - Zehn Stücke für Klavier. Im Anhang befindet sich ein Harmonischer Fahrplan des Stückes, sowie eine Auswahl an Gemälden aus verschiedenen Jahrhunderten, die mit dem Thema Romeo und Julia assoziiert werden können.

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Einleitung „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“ Mit diesem Satz beginnt Leo Tolstoi seinen berühmten Roman Anna Karenina. Der Schöpfer kennt sein Werk bevor es fertig ist, doch erst im Nachhinein kann er es benennen. So geht es auch mit den Einleitungen. Ob Tolstoi diesen Satz erst später hinzugefügt hat oder gleich damit angefangen hat, wissen wir nicht. Eines ist aber gewiss: Er hat nachgedacht, seine Geschichte mit anderen verglichen und daraus einen allgemein gültigen Gedanke destilliert. Aus diesem Zitat lässt sich ableiten, dass bei einer glücklichen Familie viele Faktoren stimmen müssen, bei einer unglücklichen Familie reicht jedoch aus, wenn nur ein Faktor nicht stimmt. Unter dem Begriff Anna Karenina – Prinzip findet dieser Gedanke in der Familienpsychologie, Evolution und sogar im Wirtschaftsleben Anwendung. Wie wir diesen Gedanken auf bestimmte Themen übertragen, sei es Romeo und Julia von W. Shakespeare, Eugen Onegin von Puschkin, der Film Der Englische Patient von Anthony Minghella, Verhängnis von Louis Malle oder sogar auf das eigene Leben, sei jedem selbst überlassen. In dieser Masterarbeit habe ich das Thema Prokofjew: Romeo und Julia aus einer persönlichen Perspektive bearbeitet mit Einbeziehung von Autoren wie Isaac Asimov, Mikhail Tarakanow, Erwin Ratz, Frank Günther und viele andere. Diese Autoren waren mir wunderbare Begleiter, haben mich auf viel Schönheit und auf verborgene Schätze aufmerksam gemacht. Was ich auf dieser Entdeckungsreise gefunden und gesammelt habe, binde ich zu einem Strauß und reiche es dem der es lesen mag. Es fiel mir sehr schwer etwas wegzulassen von dem was mich angesprochen hat, so ist es passiert, dass der Strauß immer größer geworden ist. Ich hoffe es wird mir verziehen (eine künstlerische Masterarbeit erlaubt vielleicht mehr Flexibilität), wenn ich an einigen Stationen dieser Arbeit länger verweile, denn an manchen Stellen waren die Ausflüge dermaßen verlockend, dass ich nicht widerstehen konnte. Das betrifft besonders die Kapitel Mögliche Interpretationen von Romeo und Julia, Prokofjew als Sowjetkomponist, Prokofjew - der Mensch, Romeo und Julia im Kontext sowjetischer Musik. Hier wird auf Themen wie Schicksal, Charakter, Glauben, Moral, Kunst und Politik eingegangen. Ohne dass ich viel Persönliches hinzugefügt habe, verrät meine Wahl an Zitaten, Texten und überhaupt die Schwerpunkte dieser Arbeit wo meine Interessen liegen.

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Ich habe versucht das Gehörte, Gesehene und Gelesene aufzunehmen und durch den eigenen Filter wiederzugeben. An dieser Stelle möchte ich meine Bewunderung für Isaac Asimov aussprechen, der „nach Shakespeare und Gott am meisten geschaffen hat“, wie es in der Einleitung seines Buches Shakespeares Welt beschrieben ist. In den 400 Büchern, die er im Laufe von fünfzig Jahren veröffentlicht hat, schreibt er über Roboter und Science Fiction, über Bibel und griechische Mythologie bis hin zu Shakespeare. Die Neugierde, der diesen Menschen treibt, macht seine Shakespeare Interpretation enorm erfrischend und lebendig - das hat mich sehr fasziniert und inspiriert. Die Shakespeare Zitate stammen, mit einer Ausnahme, aus der deutschen Übersetzung von Frank Günther, die heutzutage die aktuellste und am meisten verwendete Übersetzung ist. Die Schlegel Übersetzung von 1789 klingt für mich zeitlich etwas entfernt - für die Shakespeare Dramen, die ihre Aktualität in jede Epoche wieder finden, sind doch neuere Brücken notwendig. Diese Arbeit besteht aus drei Hauptteilen und folgt dem Prinzip der Synthese. Im ersten Teil wird Shakespeares Drama Romeo und Julia unter verschiedenen Aspekten betrachtet: Die Stellung des Dramas in Shakespeares Gesamtwerk, der Sprachstil der einzelnen Personen, die Handlung selbst und die Interpretation des Werkes. Als Überbrückung zum nächsten Hauptteil dient das Kapitel Romeo und Julia in verschiedenen Kunstgattungen, in dem literarische Werke, Vertonungen, Verfilmungen und Werke der bildenden Kunst mit derselben Thematik erwähnt und kommentiert werden. Im Anhang befindet sich ausführliches Anschauungsmaterial mit Gemälden, die ich sorgfältig ausgesucht habe. Der zweite Hauptteil ist Sergej Prokofjew, seinem Leben und Werk mit Schwerpunkt auf die sowjetische Schaffensphase gewidmet. Hier befinden sich auch interessante Zitate von und über Prokofjew. Der dritte Hauptteil ist als Synthese der ersten beiden zu verstehen, da wird Romeo und Julia in Prokofjews Schaffen unter die Lupe genommen. Da für einen Interpreten die Zutaten seiner Arbeit zu kennen unerlässlich ist, befindet sich hier auch eine Analyse des Stückes Montagues und Capulets aus Prokofjews Zehn Stücke für Klavier. Wer sich schon gefragt hat warum ich dieses Thema gewählt habe, hat mittlerweile vielleicht schon bemerkt, oder wird später beim Lesen darauf stoßen, dass mich eigentlich alles interessiert: die fremde Kultur genauso wie die eigene, die alten Zeiten genauso wie die Gegenwart, Politik genauso wie Kunst. Der Rest gehört entdeckt!

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1.William Shakespeare: Romeo und Julia (The Tragedy of Romeo and Juliet) Die Geschichte der zwei Liebenden, die durch widrige Umstände getrennt werden, ist in der Literatur vielfach präsent, denke man nur an Liebespaare wie Tristan und Isolde, Pyramis und Thysbe, Hero und Leander, Flore und Blancheflur oder Troilus und Cressida (wurde auch von Shakespeare verarbeitet). Die erste Version eines Werkes mit der gleichen Handlung wie Romeo und Julia ist im Jahre 1476 von Massuccio Salernitano auf Italienisch erschienen, wurde dann von Luigi da Porto adaptiert und 1530 herausgegeben. Abgesehen von den Personennamen ist dieses Werk ähnlich der Shakespeare Version. Die erste englische Adaptierung war eine lange Verserzählung, die 1562 unter dem Titel The Tragical History of Romeus and Juliet von dem englischen Übersetzer Arthur Brooke veröffentlicht wurde. Shakespeare nutzte diese Quelle als Vorlage für sein Stück.1 Die Entstehungszeit des Dramas wird auf 1594 - 1595 geschätzt. Bei den Personennamen nahm Shakespeare einige Änderungen vor, so wird Romeus zu Romeo und Marcuccio zu Mercutio: Ein genialer Einfall von Shakespeare, da dieser Name an den mit Flügeln versehenen Götterboten Merkur erinnert, was wiederum Merkutios Lebendigkeit unterstreicht. Die Wahl des Namen Tybalt, der im Drama ein feindseliger Charakter ist, wird gleichfalls als „Glücksgriff“ Shakespeares bezeichnet, da er Assoziationen an das damals sehr populäre Märchen Reineke Fuchs hervorruft: hier wird ein boshafter und streitsüchtiger Kater Tibert genannt. 2 Juliet ist ein Diminutiv von Julia und wird in manchen deutschen Übersetzungen auch als Jule übersetzt. Der Name Benvolio, eine Erfindung Shakespeares, heißt „Wohlwollen“ und steht für einen friedlichen Charakter. Trotz der italienischen Herkunft ihrer Dienstherren erhalten die zwei Diener, wie Shakespeares komische Figuren in der Unterschicht generell, englische Namen (Sampson und Gregory).3

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vgl. Asimov, Shakespeares Welt, S. 63 vgl. Ebda., S.67. und 75. 3 vgl. Ebda., S.65-67 2

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1.1. Shakespeares Dramen Romeo und Julia spielt in Verona in der Zeit der Renaissance. Auch andere Werke Shakespeares haben italienische Schauplätze, wie zum Beispiel The Merchant of Venice, Two Gentlemen of Verona, Othello, Much Ado about Nothing und Titus Andronicus. Die Historiendramen und weitere Stücke wie Macbeth, King Lear und The Merry Wives of Windsor spielen in England. Weitere Schauplätze von Shakespeares Dramen sind Griechenland (Timon of Athen und teilweise The Comedy of Errors), Wien (Measure for Measure) und Dänemark (Hamlet). Man kann Shakespeares Dramen neben der oben genannten Aufteilung nach Schauplätzen auch in Tragödien, Komödien und Historiendramen gliedern. Die Dramen King John, Richard II, Henry IV, Henry V, Henry VI, Henry VIII, Richard III werden als Historiendramen bezeichnet. Titus Andronicus, Romeo und Julia und Julius Caesar sind Tragödien, Anthony and Cleopatra und Coriolanus werden als Römerdramen bezeichnet während die großen Tragödien sind Hamlet, Othello, King Lear und Macbeth. Komödien oder Lustspiele sind The Comedy of Errors, Two Gentlemen of Verona, The Merry Wives of Windsor, Much Ado about Nothing, Taming of the Shrew und As You Like It.

1.2. Sprache und Stil in Romeo und Julia Obwohl Romeo und Julia ein Frühwerk Shakespeares ist, gibt es bereits eine Vielfalt an unterschiedlichen Sprachstilen, die zur Charakterisierung der Personen besonders wirkungsvoll beitragen.4 So sind zum Beispiel Romeos Worte in Sonetten verfasst und wirken sie dadurch leidenschaftlich. Auch Julias Sprache ist von Leidenschaft durchdrungen:

Dein Name, nur dein Name ist mein Feind: Du bleibst du selbst, auch ohne Montagu. Was ist schon Montagu? Nicht Hand noch Fuß, Noch Arm, noch Kopf, noch irgend sonst ein Teil, das einen Menschen macht. Tausch deinen Namen! 4

vgl. Doran, Shakespeare’s Dramatic Language, S. 10-13

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Was sagt ein Name? Das, was Rose heißt, Würd gleichsüß unter andern Namen duften.5

Bruder Lorenzo spricht in moralischen Sentenzen:

Zwei Feinde lagern so im menschlichen Gemüte Sich immerdar im Kampf: verderbter Will’ und Güte; An vielen Tugenden sind viele drunter reich, Ganz ohne Wert nicht eins, doch keins dem andern gleich. Was nur auf Erden lebt, da ist auch nichts so schlecht, Daß es der Erde nicht besondern Nutzen brächt’.6

Mercutios Derbheit und Rationalismus kommt in folgenden Versen zum Ausdruck:7 Geh hin, vergleich mit unbefangtem Blick Sie mit andern, die ich aus der Nähe Dir zeigen will; dein Schwan wird dann zur Krähe.8

Mercutios Scherzhaftigkeit verwandelt sich oft in spöttische Gemeinheiten, zum Beispiel wie er Romeos Liebe mit der Liebe Petrarcas zu seiner Muse Laura vergleicht: Er schwimmt in Versen, die schon seit Petrarca Plätschern. Natürlich, gegen seine Liebste war Madonna Laura ein Küchentrampel […]9

Er verspottet auch Tybalt: „Tybalt, du Rattenfänger, einen Gang?“10 5

Shakespeare/Günther, Romeo und Julia, II. Akt, 2. Szene Ebda., II. Akt, 3. Szene 7 Mercutio zweifelt an Romeos Liebe, da dieser für Rosalinde schwärmt noch bevor er Julia kennenlernt 6

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Ebda., I. Akt, 2. Szene Ebda., II. Akt, 4. Szene

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Ebda., III. Akt, 1. Szene

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Tybalt selbst spricht in prägnanten, selbständigen Sätzen, die seiner Person Agression verleihen: Blankziehn und Friede rufen? Das Wort haß Ich wie die Hölle und die Montagus.11

Die Amme hat einen schwatzhaften Plauderton: „Nun gut, Herr, meine Herrschaft ist ein allerliebstes Fräulein. O jemine, als sie noch so ein kleines Dingelchen war - Oh, da ist ein Edelmann in der Stadt, einer, der Paris heißt, der gern einhaken möchte; aber das gute Herz mag ebenso lieb eine Kröte sehn, eine rechte Kröte, als ihn. - Ich ärgre sie zuweilen und sag ihr: Paris wär doch der hübscheste; aber Ihr könnt mirs glauben, wenn ich das sage, so wird sie so blaß wie ein Tischtuch. Fängt nicht Rosmarin und Romeo mit demselben Buchstaben an?”12

1.3. Die Geschichte von Romeo und Julia Romeo und Julia gehören zu zwei verfeindeten Adelsfamilien Veronas, Julia zu den Capulets, Romeo zu den Montagues. Shakespeare nennt keinen Grund für die Fehde, „und es existieren keine Hinweise, dass sie politischer Natur war“.13 Da es öfter Auseinandersetzungen der Angehörigen der zwei Familien in Veronas offenen Plätzen gibt, ruft der Fürst von Verona zu Friede auf und beschließt jede weitere Auseinandersetzung mit Tode zu bestrafen. Julias Vater beabsichtigt seine Tochter mit dem Prinzen Paris, einem Verwandten des Fürsten, zu verheiraten, und organisiert einen Maskenball. In einem Zwiegespräch mit Paris stellt sich heraus, dass der alte Capulet diese Feindschaft nicht wirklich ernst nimmt:

Da wird´s uns alten Männern [ihm und Montagu], Denk ich, nicht schwer sein, Frieden halten.14

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13 14

Shakespeare/Günther, Romeo und Julia, I. Akt, 1. Szene Shakespeare/Schlegel, Romeo und Julia, II. Akt, 4. Szene Asimov, Shakespeares Welt, S. 65 Ebda., I. Akt, 2. Szene

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Als Romeo maskiert beim Ball erscheint und Julias streitsüchtiger Vetter Tybalt ihn erkennt, ist dieser vollkommen empört über Romeos Erscheinen im verfeindeten Haus. Dagegen nimmt der alte Capulet eher eine verteidigende Stellung gegenüber dem Eindringling ein:

[…] lass ihn in Ruh. Der hat Benimm und Anstand wie ein Herr. Recht muß Recht bleiben: ganz Verona rühmt Die Wohlerzogenheit des braven Kerls.15

Diese Haltung des alten Capulet lässt vermuten, dass er bemüht ist weitere Eskalationen zu verhindern, gleichzeitig „könnte man sich fast vorstellen, eine potentielle Verbindung zwischen Montagus Sohn und Capulets Tochter wäre das ideale Ende dieser Fehde“.16 Der Prolog des Dramas deutet jedoch bereits darauf hin, dass die Geschichte von einem „Liebespaar, vom bösen Stern bedroht“17 handelt, insofern ist nicht viel Gutes zu erwarten. Romeo erblickt Julia beim Ball und die zwei verlieben sich unsterblich. Sie beschließen gleich am nächsten Tag heimlich zu heiraten und bitten um die Hilfe Bruder Lorenzos, einem Franziskaner Mönch. Dieser scheint willig zu sein die Liebenden zu trauen, da er sich damit die Beendigung der Feindschaft erhofft:

Aus einem Grunde werd ich zu dir stehn: Eure Verbindung könnte glücklich lehren, Den Sippenhaß in Liebe umzukehren.18

Doch nach ihrer Trauung, die so viel Hoffnung in sich birgt, kommt es zu einer unerwarteten Wendung, was den Beginn der Tragödie ankündigt: der streitsüchtige Tybalt fordert Mercutio zum Fechtkampf auf. Mercutio nimmt das zuerst nicht ernst und lehnt die Aufforderung ab. Romeo erscheint und versucht die zwei auseinander zu halten, immerhin ist er mit Tybalt durch die

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Shakespeare/Günther, Romeo und Julia, I. Akt, 5. Szene Asimov, Shakespeares Welt, S. 78 17 Shakespeare/Günther, Romeo und Julia, Prolog 18 Ebda., II.Akt, 3. Szene 16

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geheime Trauung verwandt. Hätte Mercutio das auch gewusst, hätte er sich wahrscheinlich nicht so aufhetzen lassen, meint Asimov. Ein unglücklicher Zug und Mercutio ist tödlich verletzt. Romeo verliert in dem Moment seinen Verstand und rächt den Tod seines geliebten Freundes. Im Zweikampf stirbt Tybalt und Romeo wird vom Fürsten nach Mantua verbannt. Da den Streit ursprünglich Tybalt angefangen hat, wird Romeo nicht zu Tode verurteilt. Als Julia davon erfährt ist sie untröstlich „denn sie hat Tybalt sehr geliebt. Trotzdem ist ihre Liebe zu Romeo stärker.“19 Weiters wird sie mit dem Willen ihres Vaters, nämlich Paris zu heiraten, konfrontiert, ihr Widerstand ist zwecklos, in Verzweiflung eilt sie zu Bruder Lorenzo und bittet um Hilfe. Der Franziskaner Mönch ist ein leidenschaftlicher Alchemist:

Welch große Gnadenkraft doch darin wirkt, Was Pflanze, Kraut und Stein tief in sich birgt. Denn nichts auf Erden ist so nutzlos schlecht, Daß es der Erd nicht auch sein Gutes brächt.20

Er bietet Julia einen Schlaftrunk an, der sie 48 Stunden lang in einen kataleptischen Trancezustand versetzt, damit sie von allen für tot erklärt und in der Familiengruft beigesetzt wird. Nach Plan sollte Romeo sie nach zwei Tagen aufsuchen und sie mit nach Mantua nehmen. Inzwischen schickt Bruder Lorenzo einen Boten zu Romeo, der die Nachricht überbringen sollte. Hier könnte die Geschichte noch gut ausgehen wenn alles nach Plan liefe, jedoch prophezeit der Prolog, dass es anders sein wird. Der Bote wird unglücklicherweise durch von der Pest verursachte Umstände aufgehalten und Romeo erfährt von einem Freund von Julias vermeintlichem Tod. Er eilt nach Verona zur Gruft, tötet Paris vor dem Eingang und vergiftet sich neben Julias vermuteten Leiche. Julia erwacht, findet Romeo tot auf und ersticht sich mit seinem Dolch. „Die gemeinsame Trauer beendet die Familienfehde, die einige Tage zuvor auch in gemeinsamer Freude hätte beendet werden können.“21

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Asimov, Shakespeares Welt, S. 89 Shakespeare/Günther, Romeo und Julia, II.Akt, 3. Szene 21 Asimov, Shakespeares Welt, S. 95 20

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1.4. Mögliche Interpretationen Nun stellt sich die Frage ob der tragische Ausgang überhaupt vermeidbar gewesen wäre, da die Handlung mehrmals Hoffnungen aufkommen lässt. Inwiefern kann der Mensch sein Schicksal bestimmen? Heraklit sagt „Der Charakter ist das Schicksal des Menschen“. Nehmen wir zuerst Julia unter die Lupe. Nicht umsonst betont Shakespeare so oft ihr Alter: Mein Kind ist noch ein Küken in der Welt, Noch keine vierzehn Jahr hat sie erlebt.22

Und wenn ich rechne War ich im gleichen Alter deine Mutter, Wo du noch Mädchen warst.23

Demnach ist die Mutter selbst nicht mehr als 28 Jahre alt. Asimov meint, dass ein wesentlicher Faktor für den Ausgang der Geschichte Julias junges, romantisches und unvernünftiges Wesen ist. Denn die Komplikationen werden durch die heimliche Hochzeit ausgelöst. Auch wenn Romeo einen vernünftigen Plan im Kopf hatte, mit ehrlichen Absichten „in eine eheliche Verbindung zu nutzen aller einzugehen, dann verwirft er ihn nun wieder. Wenn die romantische kleine Julia heimliche Nachrichten, verstohlene Worte und sogar eine aufregende, verbotene Hochzeit will, soll sie das bekommen.“24 Die Fehde zwischen den Familien ist laut den Worten des alten Capulets eigentlich gar nicht so gefährlich und aktuell, „sonst hätte Romeo niemals auf feindlichem Territorium zurückgelassen. Stattdessen wirken sie nicht annähernd beunruhigt.“25Tybalt ist der Einzige der durch seinen streitsüchtigen Charakter aus der Glut der alten Feindschaft immer wieder neues Feuer anfacht. Da er Julia sehr nahe steht, hat er „all seine krankhaften Ansichten über die Fehde, die er im zornerfüllten Herzen trägt, auch ihr ins Ohr geflüstert. Und sie hatte wohl alles in

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Shakespeare/Günther, Romeo und Julia, I. Akt, 2. Szene Ebda., I. Akt, 3. Szene 24 Asimov, Shakespeares Welt, S. 82 25 Ebda., S. 79 23

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sich aufgenommen.“26 Wäre Julia also nicht so beeinflußbar von Tybalt gewesen und wäre sie nicht von der Idee einer heimlichen Hochzeit fasziniert gewesen, gäbe es keine Tragödie von Romeo und Julia. Ein nächster Person, die durch ihren Charakter die Geschehnisse beeinflusst, ist Bruder Lorenzo. Er entscheidet unvernünftig, weil er wohlwollend und träumerisch, also eher romantisch als rational ist. Beweis dafür sind seine Handlungen: Er verheiratet die beiden heimlich in der Hoffnung dass sich beide Familien dadurch versöhnen beziehungsweise er setzt seinen „Rettungsplan“ mit dem Schlaftrunk fort. So viel zum Charakter, der das Schicksal bestimmt. Wiefern das Unvorhersehbare, das „Schicksalshafte“ das Leben bestimmen kann, zeigen in Romeo und Julia die Missgeschicke, die ständig die Pläne auf den Kopf stellen: So ist der Unfall mit Tybalts Tod, das Aufhalten des Boten, der nach Mantua reisen sollte, sowie die zu frühe Rückkehr Romeos zur Gruft. Diese Unfälle sind ärgerlich für den Leser, da er immer den Daumen drückt. Nach all den Hoffnungen fühlt er sich betrogen, auch wenn im Prolog klargestellt wird, dass sie unter einem „bösen Stern“ stehen und ihre Leben verlieren werden. Der Leser bleibt immer ein Kind, dem einmal Abendmärchen vorgelesen wurden. Er hofft trotz Rationalismus, denn „die Hoffnung stirbt zuletzt“, wie es zu Recht so schön heißt. Shakespeare „enttäuscht“ den Leser nicht. Die am Anfang angekündigte Tragödie wird vollendet, die Katharsis ist erreicht. Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Geschichte von Romeo und Julia oft mit einem happy end versehen - diese Version wird aber niemals die gleiche Katharsis hervorrufen. Shakespeare reicht uns keinen sättigenden billigen Lutscher, damit wir uns nach einem eindeutig guten Ende keine Fragen mehr stellen müssen. Warum enden dann Märchen immer gut? Weil vielleicht das Gute und das Schlechte doch relativ ist, denn Shakespeare spricht durch die Worte Bruder Lorenzos zu uns:

Doch ist auch nichts so gut, das, diesem Ziel entwendet, Abtrünnig seiner Art, sich nicht durch Mißbrauch schändet. In Laster wandelt sich selbst Tugend, falsch geübt, Wie Ausführung auch wohl dem Laster Würde gibt.27

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Asimov, Shakespeares Welt, S. 78 Shakespeare/Günther, Romeo und Julia, 2. Akt, 3. Szene

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Und weil eben alles so ambivalent ist und viele Gesichter hat, braucht der Mensch man doch einen Hauch von Leichtigkeit und Ironie, selbst wenn alles zu fallen scheint: „Ich bin der Narr des Schicksals“ lässt Shakespeare durch Romeo sagen.

1.5. Romeo und Julia in verschiedenen Kunstgattungen

William Shakespeares Thema wurde von vielen Schriftstellern aufgenommen. Die bekannteste Adaptation im deutschsprachigen Raum ist Gottfried Kellers Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe aus dem Jahre 1856. Keller verlegt die Handlung in die Schweiz, wo zwei Bauernkinder am Streit ihrer Väter zugrunde gehen. Vertont wurde Romeo und Julia auch vielfach, die ersten Vertonungen wurden jedoch mit einem glücklichen Ende versehen. Die bedeutendsten Opernfassungen sind I Capuleti e i Montecchi von Vincenzo Bellini (1830), Roméo et Juliette von Charles Gounod (1867) und Romeo und Julia von Henrich Sutermeister (1940). Die bekanntesten Konzertbearbeitungen sind die Fantasieouvertüre von Tschaikowski, die Ballettmusik von Prokofjew und das Musical West Side Story von Leonard Bernstein. Es gibt eine Menge Verfilmungen zu dem Thema, laut Internet Movie Database wurde Romeo und Julia 30 mal verfilmt. Eine der bedeutendsten ist von Regisseur Franco Zefirelli aus dem Jahre 1968. Besonderheiten des Films sind die Originalschauplätze in Verona und die Verwendung von Shakespeares Originaltext. Interessant ist auch, dass das Alte der Schauspieler dem Alter der Protagonisten im Drama entspricht. Darüber hinaus bestechen die historischen Kostüme – überhaupt ist der Film mit seinen Farben und Bildern atemberaubend. Ein echtes Kunstwerk von Zefirelli, einen wesentlichen Beitrag zu dem Erfolg leisten natürlich die Schauspieler. In der bildenden Kunst gibt es auch einige Beispiele: Romeo und Julia von Ford Madox Brown (1870), (vgl. Abb 1) - diese leidenschaftliche Kussszene erweckt Assoziationen mit dem berühmten Gemälde Der Kuss, (1908) von Gustav Klimt (vgl. Abb 2). Das Gemälde Romeo und Julia (1881) von Fernando Hayez (vgl. Abb. 3) kann mit dem Gemälde Hektor und Andromache (1917) von Giorgio de Chirico (vgl. Abb.4) Parallel betrachtet werden. Das surrealistische Gemälde Die Liebenden (1928) von Rene Magritte (vgl.Abb.5) und Roy Lichtensteins Gemälde We rose up slowly (1964) im Stil des Pop Art (vgl. Abb.6) haben auch einiges gemeinsam. Wenn Leonard 15

Bernstein Westside Story als Analogie zur Geschichte Romeo und Julias komponiert hat, können die oben genannten Gemälde meiner Meinung nach als entfernte bildliche Assoziationen betrachtet werden. Es geht hier letztendlich um Liebende, wie es auch in Magrittes Gemäldetitel heißt. Dieses Bild zeigt zwei umhüllte Köpfe und führt durch die Anonymität der Personen zu einer Generalisierung der Liebe, gleichzeitig strahlt es eine unglaubliche Intimität des „blinden Vertrauens“ aus. Auch Platon sagte: „Denn der Liebende wird blind im Bezug auf den Gegenstand der Liebe“. Dieses blinde Vertrauen bietet Schutz und Realitätsflucht, jedoch von den Existenzialisten (z. B. Jean Paul Sartre) als Willensbegrenzung und Freiheitsberaubung gesehen. Eine Münze hat zwei Seiten. Die Liebe ist genauso ambivalent wie alles andere auf der Welt, das teilt uns Shakespeare auch mit Bruder Lorenzos Worten mit. Nur Wenige wissen, dass Magritte auf seinem Bild Die Liebenden den tragischen Tod seiner Mutter verarbeitet hat, die ertrunken, das Gesicht mit einem Tuch umhüllt, aufgefunden wurde.

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2. Sergej Prokofjew: Leben und Werk Sergej Prokofjew war einer der bedeutendsten Komponisten und Pianisten Russlands am Anfang des 20. Jahrhunderts. Seine russischen Zeitgenossen waren unter anderem Dmitri Schostakowitsch und Igor Strawinsky. Prokofjew hat im Jahr 1891 im damaligen russischen Kaiserreich, in der heutigen ukrainischen Steppe, als Sohn eines Landgutverwalters das Licht der Welt erblickt. Die Mutter, selbst begabte Pianistin, die dem kleinen Sergej Sergejewitsch die ersten musikalischen Eindrücke gegeben, war eine begeisterte Beethoven Spielerin. Ersten Klavierunterricht erhielt er also bei der Mutter, die er als „geborene Pädagogin, aber dennoch Dilettantin und keine Komponistin “ 28 bezeichnete. Bald wurde er dem Komponisten Reinhold Gliere vorgestellt, und mit 13 Jahren als Student am St. Petersburger Konservatorium aufgenommen. Seine Kompositionslehrer waren Alexander Glasunow - der die Mutter Prokofjews überredet hat den Jungen aufs Konservatorium zu schicken -, und Nikolaj Rimskij-Korsakov. Klavier hat er bei Anna Jessipowa, Dirigieren beim Nikolaj Tcherepnin studiert. So schreibt Prokofjew über seinen Professoren: „Tscherepnin war ein glänzender Musiker, der über alte Musik ebenso interessant und liebevoll erzählen konnte wie über die neueste“, „und sagte: Hören sie mal, wie wunderbar hier das Fagott klingt! Ich kam auf den Geschmack der Partituren von Haydn und Mozart - hieraus ging die Klassische Sinfonie dann hervor. Wenn ich die Orchestrierung bei Rimski-Korsakov nicht erlernt hatte, so habe ich das in der Klasse Tscherepnins nachgeholt.“29. Über sein eigenes Klavierspiel schreibt Prokofjew, das er sich „nur schwer abgewöhnen konnte, unsauber zu spielen, zumal Mozart, Schubert und Chopin, auf denen Jessipova besonders beharrte, irgendwie außerhalb meines Gesichtsfeldes lagen. Damals war ich ganz mit der Suche nach einer neue harmonischen Sprache beschäftigt und konnte es einfach nicht begreifen, wie man Mozart mit seiner einfachen Harmonik möge“.30 Diese Zitate Prokofjews beleuchten seine kompositorische Entwicklung sehr gut: Er verknüpft Altes und Neues. Tarakanow formuliert es folgendermaßen: „Der protestierende Rebell in ihm

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Prokofjew, Meine Lehrer, S. 28 Prokofjew, Materialien, S. 142-143 30 Ebda., S.142 29

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verträgt sich mit dem treuen Anhänger der Tradition“.31 Von Bach, Scarlatti, die französischen Barock Meister des Klaviers, bis in die Romantik von Schumann, Brahms, Grieg, Reger, sogar Mendelssohn, gepaart mit der Genauigkeit des klassischen Stils vom Haydn, schmilzt in seine Musik alles zu einer Einheit, zeigt aber gleichzeitig offenbare Kontraste.32 Prokofjew verriet einmal dem Cellisten M. Rostropovich, dass sein Lieblingskomponist Haydn wäre. Die Liebe zur Klassik hat er sowohl bei seiner Mutter - die Beethoven Sonaten spielte -, wie auch bei seinem Studium bei Tscherepnin entwickelt. Obwohl ihn Chopin, Liszt, sogar Strauss, Debussy und Strawinsky beeindruckt und beeinflusst haben, „verdankt er, bei genauer Analyse, doch keinem von ihnen Wesentliches. (…) Er war tatsächlich neu und blieb es, bis man seinen Stil akzeptierte. Dann wurde er originell“.33

2.1. Die Musik Prokofjews Als er nach zehn Jahren das Konservatorium verlassen hat, wo er bei der Abschlussprüfung sein eigenes Klavierkonzert im Programm hatte, schenkte ihm die Mutter eine Reise nach London. Da traf er den Ballettmanager Serge Diaghilev. Als Prokofjew ihm das zweite Klavierkonzert vorspielte, rief Diaghilev:“ Aber das ist doch ein wildes Tier!“, und beauftragte den jungen Komponisten mit einem Tanzspiel für das russische Ballett.34 Was Diaghilev zu einem solchen Ausruf brachte sind vermutlich die mächtige Energie und Kraft, die groben Linien, die gewichtigen Formen und die grellen Farben die aus seine Musik ausstrahlen.35 Die kühnen Dissonanzen „schiessen mit einem Schwung und einem antrieb aus der Quelle, die einen mit fortreißt“, sagte Pierre Lalo über Prokofjews Musik.36 Die Musik Prokofjews zeichnet sich durch starke motorische, rhythmische Qualitäten, viele Akzente, technische Brillanz und Monumentalität aus, aus denen viele Zuhörer das Zeitalter des Stahls herauszuhören glaubten.37 Als Gegenpol tritt seine melodische Lyrik auf. Beide Pole sind mit Humor, Ironie und Sarkasmus umhüllt. Oft wird Prokofjews Musik als Groteske bezeichnet. Groteske wird als Bezeichnung für bildkünstlerischen und literarischen Darstellungsweise

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Tarakanow, Legende, S. 19 vgl. Ebda., S. 19 33 Swarsenski, Prokofieffs Orchesterwerke, S. 41 34 Stuckenschmidt, Die Neue Zeitung, S. 4 35 Tarakanow, Legende, S. 17 36 vgl. Dumesnil, Musik der Zeit, S. 6 37 vgl. Downes, Musik der Zeit, S. 9 32

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verwendet, in denen Gegensätze wie Grauen und Komik, Lächerlichkeit und Bedrohung, Zierlichkeit und Monstrosität in eine Einheit gebracht sind. Prokofjew hat sich gegen diese Bezeichnung gewehrt: „Ich möchte (…) die Groteske, die mir einige anzuhängen versuchen, eher als Krümmungen der bereits erwähnten Linien ansehen.(…) In Bezug auf meine Musik würde ich es lieber durch den Terminus Scherzhaftigkeit ersetzen.“ 38 So schreiben Kritiker und Freunde über Prokofjew: „Wir neigen dazu, Prokofieff in erster Linie als enfant terrible anzusehen, als einen Meister jener Züge von Sarkasmus, Karikatur und Groteske, die in der russischen Literatur seit Gogol so sehr in Erscheinung treten.“ 39 „Diese Musik erschloss eine neue Welt, in der sich die verborgene Natur offenbarte, in der die Dämone Kraft für höllische Versuchungen boshaften Lachens gewannen, was das gutartige Bewusstsein überraschte und die Leute ärgerte, die in der Musik Erholung von den Sorgen des Lebens suchten.“40 Heinrich Neuhaus, der russische Klavierpädagoge schreibt: „Staunenerregend sind die Rhythmen Prokofjews, männlich, gestochen, scharf und dabei einfach, fast quadratisch, hart wie Granit, unzerstörbar wie Stahl – Rhythmen, die unaufhörlich freudige und aufmunternde Gedanken und Gefühle der Seele des Hörers vermitteln.“41

2.1.1. Die vier Hauptlinien

Der Komponist weist selber auf vier Hauptlinien, die sein Schaffen bestimmen. Die erste ist die klassische, die noch in der Kindheit datiert, als die Mutter ihm Beethoven Sonaten vorspielte. Dies ist bei seinem neoklassizistischen Werken nachvollziehbar, zum Beispiel bei der Klassischen Sinfonie, inspiriert von seiner Begeisterung für Haydn. Die zweite Linie ist die eigene

38

Prokofjew, Materialien, S.148-149 Abraham, Musik der Zeit, S. 35 40 Tarakanow, Legende, S. 17 41 Prokofjew, Dokumente 39

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Innovationslinie, was vor allem die Suche nach einer eigenen Harmoniesprache ist, um starke Emotionen auszudrücken. Dies geht zurück auf die Begegnung mit seinem Professor Tanejew, der seine „primitiven Harmonien“ kritisierte.42 Bei diesem Punkt ist es unvermeidbar eine Parallele mit anderen Künste in Russland zur Zeit Prokofjews zu ziehen. Beispielweise mit der Malerei. Die Neuerer der russischen Malerei am Anfang des 20. Jahrhunderts - Neoprimitiven genannt -, waren Künstler wie Mikhail Larionow (vgl. Abb 7) und Natalja Gontscharowa (vgl. Abb.8 und 9). Die eckigen Linien und schreienden Farben, welche den Stil dieser Künstler auszeichneten, lasse eine augenscheinliche Assoziation mit dem westlichen Malern Pablo Picasso und Fernand Leger zu. In dieser Periode entsteht eine gewisse Ästhetik von Lapidarität, Monumentalität und ursprünglicher Schöpfung, wie der russische Musikkritiker Karatygin formuliert. Dies spiegelt sich in Prokofjews Musik in Geradlinigkeit und Formenstrenge wider, die auch als verfeinerte Primitivismus und Einfachheit bezeichnet wird.43 Die dritte Hauptlinie in Prokofjews Schaffen ist die toccatenhafte, motorische Linie, welche wahrscheinlich von Schumanns Toccata herrührt - nach den Geständnissen des Komponisten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Toccata für Klavier op.11. Die vierte Linie ist die lyrische, die als lyrisch kontemplative Melodie auftritt, wie zum Beispiel am Anfang des ersten Violinkonzerts op.19. Lange Zeit hat man Prokofjew jegliche Lyrik abgesprochen.44

2.1.2. Die drei Schaffensperioden

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, ist Prokofjew als einziger Sohn einer Witwe vom Kriegsdienst befreit gewesen. In dieser Periode, auch „russische Periode“ genannt, schrieb er die Klassische Symphonie und die Skythische Suite. Beim ersten wurde er von Haydn inspiriert, und fühlte er sich zu historisierenden Tänzen hingezogen (Beispiel dafür ist die Gavotte aus der Klassischen Symphonie). Die Skythische Suite zeigt seine innovative Seite, er verwendete eigenwillige

42 43

44

Prokofjew, Materialien, S. 148-149 Tarakanow, Legende, S. 17 Prokofjew, Materialien, S. 148-149

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Rhythmen und dissonante Akkordkombinationen. Man bezeichnet diese Schaffensperiode als gewagt und kühn, wo Prokofjew seine musikalischen Ideen ungezügelt realisiert hat. Als gefeierter Pianist - auch „Paganini des Klaviers“ genannt –, reiste er 1918 nach New York um Konzerte zu geben. Hier wurde seine Oper Die Liebe zu den drei Orangen uraufgeführt, was ihm am Anfang wenig Erfolg brachte, dafür später umso mehr. Bald reiste er nach Paris, wo er sich mit zwei anderen berühmten Russen in Verbindung setzte, nämlich mit dem Ballettimpressario Diaghilev und dem Dirigenten Koussevitzky. Hier komponierte Prokofjew die Ballette Le Chou, La Pas d Acier und einige Symphonien. In dieser zweite „Auslandsperiode“ gewann seine musikalische Sprache noch mehr an Modernität, Gewagtheit, auch wenn er die Modernität anderer Zeitgenossen nicht teilte, da er die Grenzen der Tonalität nie gesprengt hat. So schreibt er später 1948 über die Atonalität: „Der tonale Aufbau eines Musikwerkes mit der Errichtung eines Gebäudes auf solidem Fundament zu vergleichen ist, während der atonale Aufbau ein bauen auf Sand ist“.45 In dieser Periode heiratet er Carolina Codina, eine spanische Sängerin kubanischer Herkunft, die ihm zwei Söhne schenkte (vgl. Abb. 11). Nach achtzehn Jahren Ehe trennte er sich 1941 von ihr und lebte mit Mira Mendelssohn zusammen, die er 1948 heiratete. Die dritte Schaffensperiode Prokofjews ist die sogenannte „sowjetische Periode“, welcher auch das gesamte letzte Kapitel gewidmet ist.

2.2. Prokofjew als Sowjetkomponist 1933 kehrte Prokofjew endgültig nach Russland zurück. Er reiste nur 1938 noch einmal in die USA, wo er in Interviews erzählte wie sehr Russland seinen Komponisten gute Verdienstmöglichkeiten und ein sorgenfreies Leben bietet.46 „Ich mache mir nichts aus Politik. Ich bin durch und durch Komponist. Jede Regierung, die mich meine Musik in Ruhe schreiben lässt, die alles was ich komponiere druckt, bevor die Tinte trocken ist, und jede meiner Noten zur Aufführung bringt, soll mir recht sein. Solange meine Jungen gut

45 46

Prokofieff, Musik der Zeit, S. 22 vgl.Downes, Musik der Zeit, S. 8

21

ernährt und gekleidet sind, eine gute Schule besuchen, bin ich beruhigt und kann ich mich auf meine Arbeit konzentrieren“.47 Strawinsky war gegenüber Prokofjews Rückkehr nach Russland sehr kritisch, nannte ihn politisch naiv. Er sagte, dass Prokofjew die Gefahr nicht erkannte, oder die Bedingungen nicht erkennen wollte, die ihm das Sowjetregime gegen erwarteten Komfort auferlegte. Strawinskys war der Meinung dass Prokofjew in die Heimat zurückkehrte um ein national gefeierter Komponist zu werden, da er im Ausland vorher nicht den erhofften Erfolg gehabt hat. Neu zugängliche Dokumente zeigen, dass Prokofjew für die Kultur des erneuerten Russlands tiefe Sympathie empfunden hat und mit der russischen Avantgarde im Einklang stand. Regisseure wie Meyerhold, Eisenstein und Literaten - die sogenannten Futuristen - wie der Dichter Majakowski, standen ihm geistig nahe. Majakowski nannte Prokofjew „Vorsitzender der Abteilung Musik des Erdballs“.48 Prokofjew hat gleichzeitig Heimweh empfunden: „Ich muss russische Lieder hören, es sind meine Lieder“ erklärte er seinen Freunden in Paris kurz vor seiner Rückkehr. Die Liebe zur russischen Geschichte spiegelte sich schon früher, um 1914, in der Skythischen Suite wieder. Hier wird der musikalische Nationalismus in einer wenig oberflächlichen Art dargestellt, indem die barbarische und heroische Vergangenheit Russlands hervorgerufen wird.49 Die Kantate Alexander Nevsky, die aus seiner gleichnamigen Filmmusik entstand, greift auch auf eine russische Geschichte, nämlich der der teutonischen Richter aus dem 13. Jahrhundert zurück. Dass Prokofjew tatsächlich überzeugt von der sowjetischen Ideologie war, zeigt auch folgende Aussage: „Die Zeiten, als Musik für einen winzigen Kreis von Ästheten geschrieben wurde, sind vorbei. Jetzt stehen große Massen des Volkes von Angesicht zu Angesicht ernster Musik gegenüber und warten fragend“.50 Seine musikalische Bestrebung war in dieser Periode Einfachheit und Klarheit zu schaffen, damit die Musik für alle Schichten der Gesellschaft zugänglich wird: „Eine Melodie zu finden, die auch einem nicht sachkundigen Hörer sofort verständlich und dabei originell ist, ist die schwerste Aufgabe für den Komponisten“, schreibt er 1948, und „man muss beim Komponieren besonders vorsichtig sein, damit die Melodie einfach bleibt und dabei nicht billig, süßlich oder epigonal wird. Das ist leicht gesagt, aber schwer getan“.51

47

Andrej Nekrassow, Der verlorene Sohn, Transkription https://www.youtube.com/watch?v=a3o0d-Phmak vgl.Tarakanow, Legende, S. 16, 19 49 vgl. Abraham, Musik der Zeit, S.41 50 Prokofjew, Materialien, S. 222 51 Prokofjew, Musik der Zeit, S. 22 48

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In der sowjetischen Schaffensperiode schrieb er unter anderen das Ballett Romeo und Julia, sein 2. Violinkonzert und die 5. Sinfonie. Diese Periode zeichnet sich überwiegend durch Neoklassizismus aus, ist weniger gewagt, aber gewinnt an Schlichtheit und Klarheit. Gerald Abraham meint, das was aus Prokofjew einen Sowjetkomponisten macht „beruht auf der Betonung der lyrischen Seite seines Wesens unter Verzicht auf seine humorvollen, grotesken, brillanten Wesenszüge“.52 Teil der sowjetischen Ideologie war auch die Wichtigkeit der Erziehung der Kinder. Als Beitrag dazu hat Prokofjew die symphonische Dichtung Peter und der Wolf komponiert. Das Stück wurde damals gefeiert, und bietet bis heute ein wunderbares musikalisches Erlebnis für Kinder. Die Meinungen über den kompositorischen Wert dieses Stückes sind verschieden, Gerald Abraham nannte es „Brei für Kinder und nicht Fleisch für Erwachsene“.53 Im Sowjetregime war jede Art von Annäherung an die westliche Kultur ein Tabu, ein sogenannter Vaterlandsverrat. Komponisten wurden schnell als „bourgeoise Formalisten“ beschimpft, wenn ihre Musik nicht dem „großartigen“ sowjetischen Lebens Ausdruck gab. Die Musik dürfte nur schön für die Ohren klingend, monumental, ermutigend, preisend wirken. Das alltägliche Leben, in dem die Menschen mit großem Elan und Eifer in den Fabriken arbeiteten, und an den Feiertagen ihren Führer Stalin lobten, gehörte zur bestmöglichen Welt aller Welten. „Die Steigerung des patriotischen Gefühls erfasste alle Schichten der Gesellschaft, und die politische Führung benutzte die russische nationale Idee als Waffe, wobei sie sich an die Schichten des historischen Gedächtnisses wandte, auf die Land und Volk mit Recht stolz sein konnten.“ 54 In einem despotischen Regime, in dem das rein klangliche Experiment unzulässig war, wo die Gedankenfreiheit unterdrückt wurde, war die Kunst besonders herausgefordert um die allgemein menschlichen Werte zu bewahren, und sie in den Meisterwerken auszudrücken. Deswegen war die Anwesenheit Prokofjews in der Kultur der sowjetischen Zeit von großer Bedeutung. Seine Oper Krieg und Frieden nach dem Roman von N. Tolstoj, die er gleich nach Kriegsausbruch komponierte, war eigentlich „Protest gegen Krieg und ganz allgemein gegen die Gewalt als Mittel zur Lösung der Probleme der Menschheit und Nationen“.55 Seine Helden sind immer sehr komplexe Persönlichkeiten, was auch als Kampf Prokofjews gegen das „Vereinfachen von Charaktereigenschaften der Menschen verstanden werden kann, die heroisch-verherrlicht auf der Opernbühne stehen.“ 56

52

Abraham, Musik der Zeit, S. 38 Abraham, Musik der Zeit, S. 38 54 Tarakanow, Legende, S. 23 55 Tarakanow, Legende, S.24 56 Ebda., S.23 53

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Polytonalität war in dieser Zeit nur dann erlaubt, solange sie mit dem „Feind“ assoziiert wurde. So wären auch Stellen in Peter und der Wolf von der orthodoxen Sowjetkritik als sinnloser Modernismus und Formalismus verurteilt geworden, „wären sie nicht als Beschreibung Peters, wie er den Wolf mit dem Lasso am Schwanz einfängt, oder des Wolfs, wie er der Ente nachstellt, hingenommen worden“.57 Doch im Jahre 1948 wurde Prokofjew zusammen mit Schostakowitsch und Chachaturjan vom Regime mit dem Vorwurf des Formalismus beschuldigt, und Prokofjew musste sich öffentlich entschuldigen: „In der westlichen Kunst, und somit auch in der Musik, waren die Form und die künstlerischen Mittel wichtiger geworden als der Ausdruck, der inhaltlich verarmte und an Klarheit, Einfachheit und Harmonie verlor. Die Millionen einfachen Menschen begreifen die formalistischen Verrenkungen nicht. Es fällt mir nicht leicht diese Schlussfolgerung zu ziehen. Ich selbst bin, wie man so sagt, nicht frei von der Sünde, in meinem Schaffen unter dem Einfluss gewisser westlicher Strömungen formalistische Fehler gemacht zu haben.“58 Wie sein Sohn später erzählte, war das für Prokofjew eine Riesen - Enttäuschung, ein unerwarteter Schlag von der Seite des sowjetischen Regimes gewesen. Seine erste Frau, die er 1941 verlassen hat, wurde 1948 in Haft genommen. Aufgrund ihrer spanischen Herkunft, wurde sie als Feindin des Landes deklariert und der Verschwörung beschuldigt. Diese Aktion bedeutete indirekt eine Drohung in Richtung Prokofjew selbst. Die Illusionen, seine künstlerische Unabhängigkeit in dem repressiven Regime zu bewahren, waren nun verflogen. Eine solche Wende hatte er nicht erwartet. Der Brief der Selbstkritik, den er damals an die damaligen Machthaber der Sowjetunion geschrieben hat, zeigt einen enttäuschten Menschen, der in die Ecke gedrängt wurde.59 Nachdem Prokofjew vom Regime angegriffen wurde, komponierte er hauptsächlich im neoklassizistischen Stil. Laut Tarakanow waren „die Klassik und die darin erhaltenen künstlerischen Werte ein harter Schild [für Prokofjew] geworden, an dem die Pfeile der Kritik abprallten“.60 In dieser Hinsicht war sein Streben - die Traditionen europäischer Musik mit neuen Inhalten zu füllen - nicht einfach ein Nachgeben dem Druck der normativen Ästhetik des

57

Abraham, Musik der Zeit, S. 38 Prokofieff, Musik der Zeit, S. 22 59 vgl. Tarakanow, Legende, S. 25 60 Ebda., S. 22 58

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sozialistischen Realismus, sondern umso mehr ein Ausdruck des Widerstands gegen das ideologische Diktat. Prokofjew starb am 4. März 1953 an Gehirnblutung - am selben Tag, 50 Minuten vor seinem ideologischen Peiniger Josef Stalin. An seinem Grab fanden sich nicht einmal Blumen, da sie im ganzen Land für den Diktator verwendet worden waren.

2.3. Prokofjew - der Mensch Mensch und Werk sind untrennbar. Damit man auch die Musik Prokofjews besser verstehen kann, sind hier einige Perspektiven anderer Menschen und Beispiele für die moralisch – philosophischen Überzeugungen des Komponisten angeführt: „Ein großer schlanker Mann, stets vergnügt, unbelastet und liebenswürdig, ein bißchen Hindemith gleichend, am Klavier ein Hexenmeister mit unnachahmlichen Fingersätzen, hinterläßt er Freunde, wo immer er fortgeht. Erst in der Heimat hat er Feindschaft kennengelernt“ schreibt H.H. Stuckenschmidt am 10. März 1953 in Die Neue Zeitung, Berlin, in seinem Artikel gewidmet zum Tode Prokofjews. Swjatoslaw Prokofjew, der Sohn des Komponisten, machte 1952 ein berühmt gewordenes Foto seines Vaters (vgl. Abb. 10 ), und fügte dazu, dass er nach langer Trennung einen erschöpften und niedergedrückten Menschen wiedergesehen hat; anders als in seinen Kindheitserinnerungen – nämlich fröhlich, energisch und erfindungsreich.61 „Prokofjew war ein unreligiöser Mensch. Kunst und Musik waren seine weltliche Religion“, und „die musikalischen und die ethischen Werte seiner Musik werden von der Leuchtkraft seiner lebensfrohen Weltsicht bestrahlt.“62 Prokofjew hielt sich für einen Russisch-Orthodoxen. In einem Notizbuch, das 1959 in Paris aufgefunden wurde, sind 20 Thesen aufgeschrieben und mit seiner Unterschrift versehen. Sie sind auf Englisch geschrieben, und von der Sekte Christian Science beeinflusst. Hier einige Gedanken: „Ich erweise mich als Erscheinungsform des Lebens, das heißt der geistigen Kraft.“ „Ich bin ein Produkt der Liebe, die mein beständiges Interesse an meinem Schaffen unterstützt.“

61

Tarakanow, Legende, S. 25 Cholopow, Das Schaffen, S. 142

62

25

„Als Verkörperung des einzigen großen Zieles erscheint das Glück, ich ignoriere alles, was nicht für dieses Ziel geschaffen ist.“ „Ich drücke Freude aus, die stärker ist als jede Erscheinung, die sich davon unterscheidet.“ „Weil schöpferische Tätigkeit zu meinen unabdingbaren Eigenschaften gehört, erweist sich meine Lust zu arbeiten als natürliche Erscheinung.“ „Ich wünsche leidenschaftlich zu schaffen, weil Tätigkeit eine Erscheinungsform des Lebens ist.“ 63

63

Sawkina, Prokofjew, S. 58

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3. Sergej Prokofjew: Romeo und Julia 3.1. Einleitung - Prokofjews Themenwelt Von früher Kindheit an übte die Oper eine große Anziehungskraft auf Prokofjew aus, da die Mutter ihn oft in die Oper mitnahm. Seine Musik ist sehr häufig programmatisch, er ist ein Beobachter dramatischer Situationen, Milieus, Gefühlsausbrüche und Stimmungen.64 Die Themen Prokofjews sind teilweise mit der Kindheit und Märchenwelt verbunden wie zum Beispiel im symphonischen Märchen Peter und der Wolf, im Ballett Cinderella oder in dem Vokalwerk Das hässliche Entlein. Ein großer Teil seiner Kompositionen bezieht sich auf einen bestimmten literarischen Stoff wie zum Beispiel seine Opern Der Spieler op.24 nach F. Dostojewski, Krieg und Frieden op.91 nach L. Tolstoj oder Die Liebe zu den drei Orangen op.33 nach Carlo Gozzi. Das gleiche gilt für die Ballette Romeo und Julia op.64 nach W. Shakespeare, Der Narr op.21 nach A. Afanassjew und für seine Schauspielmusiken: Ägyptische Nächte nach A. Puschkin, W. Shakespeare und G. B. Shaw, Boris Godunow op.70 und Eugen Onegin nach op.71 nach A. Puschkin oder Hamlet op.77 nach W. Shakespeare. So schreibt Juri Cholopow über Prokofjews Musik: „Die ethischen Werte der geistigen Welt Prokofjews sind von der Idee des Lichtes, des Guten und des Reinen durchdrungen. Damit sind die für ihn so typischen Sphären des Theaters, des Märchens und der Kindheit verknüpft“.65 Eine mögliche weitere Kategorie beinhaltet die Werke, die mit verschiedenen Völkern und Nationen verbunden sind: zum Beispiel Skythische Suite, Zwölf russische Volkslieder op.104, Fünf kasachische Volksweisen, Ouvertüre über hebräische Themen op. 34, die Schauspielmusik Ägyptische Nächte, Amerikanische Ouvertüre Russische Ouvertüre op. 72, Zigeunerfantasie op. 127, Ural-Rhapsodie op. 128, Streichquartett über karbadinische Themen, die Klavierwerke Indischer Galopp, Orientalisches Liedchen und die Kantate Es sind ihrer Sieben (Chaldäische Beschwörung) op.30. Prokofjew komponierte auch Werke mit politischen Themen – meistens sind es Vokalwerke: Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution op. 74 nach Marx/Lenin/Stalin, Trinkspruch (Heil 64

vgl. Swarsenski, Musik der Zeit, S. 41 Cholopow, Das Schaffen, S. 142

65

27

Stalin) op. 85 Blüh’ auf, gewaltig’ Vaterland op. 114, Sieben Massenlieder und Marsch op. 89, Nationalhymne op. 98 und Soldatenmarschlied op. 121.

3.2. Das Ballett Romeo und Julia Interessanterweise war der Komponist zwischen 1934 und 1938 – in das Zeitraum als das Ballett Romeo und Julia op.64 und die Werke Boris Godunow op.70, Eugen Onegin op.71 und Hamlet op. 77 entstanden sind - besonders mit literarischen Themen beschäftigt. Seine Begeisterung für die Literatur spiegelt sich in der Schauspielmusik, der Oper und dem Ballett wieder. Im Ballett kommt auch seine Vorliebe für den Tanz zum Ausdruck: Charakteristisch ist eine Regelmäßigkeit des pulsierenden Rhythmus, die jedoch durch unerwartete Akzente innerhalb eines Taktes aber durchbrochen wird (zum Beispiel im Stück Montagues und Capulets aus dem Ballett Romeo und Julia). Als Quelle verwendet Prokofjew höfische Tanzmusik vergangener Zeiten, die rhythmisch stabile Formen verwendete.66 Die Zusammenarbeit mit dem Choreographen Zakharow war für Prokofjews Ballettmusik von großer Bedeutung. Das Ballett Romeo und Julia entstand gleichzeitig mit dem zweiten Violinkonzert 1935, kurz nach der Rückkehr Prokofjews in die Sowjetunion. Bis 1946 erstellte der Komponist aus dem Ballett drei Suiten für Orchester und die Klavierbearbeitungen Zehn Stücke für Klavier op.75. Die Aufführung dieses Balletts war eine Herausforderung für die damaligen Tänzer und für das Orchester, deswegen wurde es erst 1938 in der Tschechoslowakei uraufgeführt. In Russland folgten Aufführungen ab 1940. Die erste russische Julia – Tänzerin, Galina Ulanowa, war mit der Kargheit der Orchestrierung, die ihrer Meinung nach das Gehör der Tänzer nicht erreichte, unzufrieden. Sie sagte: „Es gibt keine traurigere Geschichte auf der Welt als die Musik Shakespeares im Ballett“.67 Romeo und Julia ist das längste Ballett Prokofjews, das aus drei, jeweils ungefähr 40 - minütigen Akten und einem zehnminütigen Prolog besteht. Die Handlung folgt dem Theaterstück, ursprünglich wollte Prokofjew aber im Gegensatz zum Shakespeare ein glückliches Ende schreiben. Seine Gründe dafür waren plausibel und gleichzeitig amüsant:

66 67

vgl. Tarakanow, Legende, S. 19 Kossatchowa, Romeo und Julia, S. 200

28

„Im letzten Akt kommt Romeo eine Minute später an, findet Julia lebend vor, und alles endet gut. Die Gründe, die uns zu dieser Barbarei veranlassten, waren rein choreographischer Natur: Lebendige Menschen können tanzen. Sterbende tanzen nicht im Liegen“. Trotzdem hat er sich für die Originalhandlung entschieden und es ist ihm gelungen - zum ersten Mal im Ballett - die Helden der Shakespearschen Tragödie mit adäquaten Mitteln darzustellen.68 Romeo und Julia in der sowjetischen Schaffensphase entstanden, ist es dem neoklassizistischen Stils Prokofjews zuzuordnen. Die Hauptlinien seines Schaffens, die sich früher größtenteils getrennt entwickelt haben, kommen in diesem Ballett zu einer Synthese: scherzhafte Charakterisierungskunst, neobarocke Stilisierung, sowie starke Motorik sind hier gleichzeitig aufzufinden.69 In manchen Akkordkombinationen wird gelegentlich auch die Tonalität gesprengt: Machtwort des Herzogs (I.Akt, 1.Szene) und Romeo rächt Mercutios Tod (II. Akt, 3.Szene) spielen an der Grenze zur Atonalität. Im Jahr 1948, als er vom Sowjetregime wegen dem sogenannten westlichen Formalismus angegriffen wurde, schreibt Prokofjew in seinem Entschuldigungsbrief: „In einer Reihe meiner folgenden Arbeiten, wie Alexander Nevsky, Trinkspruch, Romeo und Julia und in der 5. Sinfonie habe ich mich bemüht, mich von den Elementen des Formalismus frei zu machen, und mir scheint, das ist mir in gewissem Grade auch gelungen“.70 Die Einfachheit dieser Periode scheint gewollt zu sein, als Reaktion auf Kritik sagte der Komponist: „Es wird mir sehr leidtun, wenn man in diesem Werk Melodie und Gefühl vermissen sollte; aber ich bin mir sicher, dass man das früher oder später nicht mehr tun wird“.71 In der Musik von Romeo und Julia treten zwei Themen als Pol und Gegenpol auf, die dann immer wiederkehren. Das eine ist das bedrohliche Thema in Montagues und Capulets, quasi Leitmotiv der Feindschaft, das zweite ist die zarte, lyrische Melodie in Julia als junges Mädchen - die Julias zerbrechliche Reinheit verkörpert.72 Diese zwei Gegenwelten sind typisch romantisch: Auf der einen Seite die äußere, feindliche Welt mit dem schrillem Karneval und den blutigen Duellen, auf der anderen Seite die innere erhabene Welt, in der „die ersten Gefühle der jungen Helden erblühen“.73

68

vgl. Kossatchowa, Romeo und Julia, S. 200 Tarakanow, Legende, S. 23 70 Prokofieff, Musik der Zeit, S. 22 71 Abraham, Musik der Zeit, S. 39 72 vgl. Morley, Musik der Zeit, S. 58 73 Kossatchowa, Romeo und Julia, S. 202 69

29

Es kommen eine Reihe prägender Themen zum Vorschein, die Charaktere wie Mercutio, die Amme oder das Volk darstellen. Julias Amme wird mit gutmütigem Humor charakterisiert, ihre Musik ist „auf Intonationen aufgebaut, die gleichsam den plumpen, eckigen Gang der unbeholfenen, dick gewordenen Kinderfrau rekonstruiert“.74 Das Porträt Mercutios, auch im Stile der Komödie, zeigt seinen Sarkasmus beim Nachahmen von Menschen. Der Scherzocharakter seines kämpferischen Übermuts verwandelt sich in der Duell- und Todesszene in eine finstere Groteske. In den Stücken Tanz des Volkes, Szene, Menuett und das Maskenspiel wird die feiernde Menge dargestellt, das Volksfest auf Veronas Straßen hat seinen Ausgangspunkt in der italienischen Commedia dell´arte.75 Iris Morley meint, dass in diesem Ballett erstmals eine Art Filmtechnik angewendet wird, damit die Konzentration der Zuschauer erhalten bleibt. Das heißt, dass die musikalischen Themen sehr oft abgebrochen und wieder eingeflochten werden, ähnlich wie bei den Bildern einer Kamera. Ein Beispiel dafür ist der zweite Akt, wo der Schauplatz zwischen Piazza in Verona, einer Mönchszelle und verschiedenen anderen Bildern wechselt.76

3.3. Romeo und Julia im Kontext sowjetischer Musik „Shakespeare hat dem Komponisten geholfen, jener Unversöhnlichkeit und Feindschaft zu widerstehen, deren Nährboden die Überzeugung des eigenen Rechtshabens ist und die gnadenlose Vernichtung der Fremden verlangt, die eine abweichende Meinung vertreten.“ 77 „In der Epoche des Kollektivismus hat Prokofjew das Recht der Persönlichkeit betont, sein Schicksal selbst zu erfüllen. Seine Julia fordert die unterdrückende Macht ständig heraus, die bedingungslosen Gehorsam verlangt.“78 Michail Tarakanow, ein überzeugter Verteidiger Prokofjews, meint, dass das Ballett Romeo und Julia in mehreren Hinsichten rebellische Konnotationen gegenüber dem unterdrückenden Sowjetregime hat. Das Werk verurteilt die Feindseligkeit und die Überzeugung des eigenen Rechthabens, die „die gnadenlose Vernichtung der Fremden, die eine abweichende Meinung

74

vgl. Kossatchowa, Romeo und Julia, S. 202

75

vgl. Ebda., S. 202 vgl. Morley, Musik der Zeit, S. 58 77 Tarakanow, Legende, S.23 78 Ebda., S.23 76

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vertreten“ verlangt.79 Am Ende des Dramas steht die Versöhnung der verfeindeten Familien: In den 1930er Jahren war ein Aufruf zur Versöhnung und Beendigung jener Streitigkeiten fehl am Platz, da zu den patriotischen Tugenden immer mehr das Bespitzeln und das Hetzen gehörten. Julia fordert ihren Vater, den von ihr absolute Gehorsamkeit verlangt und eine Verkörperung der Macht darstellt, ständig heraus. Ihre rebellische Persönlichkeit ist als Aufruf Prokofjews zur Selbstbestimmung in einer Epoche des Kollektivismus und Konformismus zu verstehen. Der Komponist zeigt weiters Zivilcourage, dass er auf der Bühne eine Volksmenge auftreten lässt, „die aus selbstvergessener Fröhlichkeit im sich unendlich drehenden Karneval zu blinder, urteilsloser Wut übergeht, die das Volk zu Gewalt aufstachelt“.80 Da gibt es einige Parallelen zur sowjetischen Gesellschaft. Diese unscheinbaren Andeutungen haben die Menschen, die sensibel genug dafür waren, erreicht – wer Ohren hatte, der hörte – und bereiteten ihnen Freude und kleine Lichtblicke. Prokofjew in seiner sowjetischen Schaffensperiode einseitig zu beurteilen und ihn mit Konformismus oder Kapitulation abzustempeln, wäre also zu kurz gegriffen.

79

Tarakanow, Legende, S.23 Ebda., S.23

80

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3.4. Zehn Klavierstücke op.75: Analyse des Stückes Montagues und Capulets

Auf die Frage, warum eine musikalische Analyse wichtig für den Interpreten sei, antwortet Erwin Ratz: „Um ein Werk sinngemäß wiedergeben zu können, muss er in der Lage sein, seinen Inhalt richtig zu erkennen“.81

3.4.1. Harmonische Analyse

Grundtonart dieses Stückes ist e-Moll, interessanterweise sind nur drei Stücke von zehn in einer Molltonart geschrieben: Nr.6 Montagues und Capulets in e-Moll, Nr. 5 Maskenspiel in g-Moll und Nr.9 Lilientanz der Mädchen in a-Moll. Alle drei Stücke stellen einen Gruppentanz dar, während die in einer Durtonart geschriebenen Suiten meistens ein Porträt eines Charakters zeichnen wie zum Beispiel Das Mädchen Julia in C-Dur, Pater Lorenzo in F-Dur, Mercutio in As-Dur, Romeo und Julia nehmen Abschied Beginn in B-Dur, Ende in b-Moll. In dieser Klaviersuite verwendet Prokofjew manche Tonarten bevorzugt: B-Dur, As-Dur und eMoll kommen viermal vor, C-Dur dreimal (mitgerechnet sind auch die Modulationen in den jeweiligen Stücken). Im Vergleich zu seinem russischen Zeitgenossen Dmitri Schostakowitsch, der in seinen Werken eine Vorliebe für Molltonarten hatte, sind Prokofjews Kompositionen großteils in Durtonarten geschrieben (zum Beispiel auch die Zehn Stücke für Klavier). Während der harmonischen Analyse des Stückes Montagues und Capulets stößt man auf eine harmonische Wendung, die aufgrund ihrer Häufigkeit wie ein Merkmal des Stückes wirkt: Die Wendung von e-Molltonika zur Molldominante h-Moll. Die kleine Terz erzielt hier eine archaisierende Wirkung, an modale Tonarten erinnernd, immerhin spielt Romeo und Julia im XV. Jahrhundert. Eine Reihe von besonderen harmonischen Wendungen befindet sich in Takt 9/10. Die Verfremdung der alten Dur- und Molltonalität und die ironische Durchbrechung der traditionellen harmonischen Modelle ist für Prokofjew charakteristisch. In Takt 9 und 10 befinden sich vier chromatisch fallende Akkorde, die eigentlich einem Quintfall entsprechen. Dieser Quintfall ist schon in den Werken des 81

Ratz, Einführung, S.9

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mittelalterlichen Komponisten Guillaume du Machaut zu finden - wieder eine Anspielung auf die historische Zeit. Die Dissonanzen sind aber auch für die Spätromantik spezifisch. In Takt 17 kommt ein stark erweiterter ins quasi geräuschhafte „verbogener“ h-Moll Klang vor, der als Absprungspunkt zum d - Moll Dreiklang empfinden werden kann. Das Stück (siehe Harmonischer Fahrplan - Beilage) moduliert in Takt 19 nach d-Moll, in Takt 29 nach f-Moll und in den Takten 52, 60, 68 und 76 nach es-Moll. In den letzten drei Takten des Stückes erklingen bitonale Mischklänge, der vorletzte Akkord besteht aus dominantischen und antizipierten Tönen. Das Werk zeigt, dass Prokofjew sehr fundierte Kenntnisse über die Harmonik der vergangener Jahrhunderte besaß. Der bewusste Umgang mit der alten Musik führt zur einer sehr spezifischen musikalischen Sprache.

3.4.2. Formanalyse

Erwin Ratz schreibt in seine Einführung in die musikalische Formenlehre , dass die Formenlehre zeigen soll „worauf es zurückzuführen ist, dass wir ein musikalisches Kunstwerk als einen in sich geschlossenen Organismus empfinden. Solange wir unter dem Begriff der musikalischen Form nur das Schema einer bestimmten Anordnung von Teilen verstehen, bleibt die entscheidende Frage unbeantwortet, worauf denn jene Ganzheit beruht, die mehr ist als die Summe ihrer Teile“.82 Es wurde im harmonischen Fahrplan (siehe Beilage) auch die musikalische Form dieses Stückes visuell dargestellt, um zu betonen, dass die Größe eines Kunstwerkes auch in ihrem wohl durchdachten architektonischen Aufbau liegt. Da eine bestimmte musikalische Form in diesem Stück nicht eindeutig erkennbar ist, es werden hier verschiedene Möglichkeiten präsentiert. Auf den ersten Blick scheint das Stück in drei größere Teile gegliedert zu sein: Teil A (von Takt 1 bis 46)

82

Ratz, Einführung. S. 8

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Teil B (von Takt 47 bis 78) Teil A (von Takt 78 bis 95) Demnach weist das Stück eine dreiteilige Form: der erste Teil selbst besteht auch aus einer ABA Form (Takte 1-17, 19-36, 37-46), bei der Rückkehr im dritten Teil kommt diese Form nur mehr verkürzt vor (Takte 78 bis 95 äquivalent den Takten 1-17), dadurch entsteht ein Ungleichgewicht. Aufgrund der oben genannten Dreiteiligkeit des ersten Teils gibt es die Möglichkeit einer anderen Aufteilung: Teil A (von Takt 1 bis 18) Teil B (von Takt 19 bis 36) Teil A (von Takt 37 bis 46) Teil C (von Takt 47 bis 78) Teil A (von Takt 78 bis 95) Demnach wäre die musikalische Form dieses Stückes als ein kleines Rondo aufzufassen, wobei jeder Wiederkehr des Refrains variiert wird. Andererseits schreibt Hans Christian Koch in seiner Kompositionslehre aus dem 18. Jahrhundert: „In der Musik unterscheidet sich das Rondo von allen andern Tonstücken hauptsächlich dadurch, dass die verschiedenen Perioden oder Zwischensätze desselben keine solche Gemeinschaft der melodischen Theile unter sich haben, wie die Perioden der übrigen Tonstücke“.83 Nach dieser Definition würde man den Teil ab Takt 19 nicht als Zwischensatz bezeichnen, da die Begleitung thematische Ähnlichkeit mit dem Refrain hat. Der Teil ab Takt 19 kann auch als Seitenthema betrachtet werden, was wiederum auf eine Sonatenrondoform schließen lässt. Ein Argument dafür, dass das Stück am meisten Ähnlichkeit mit der Lied - oder der Sonatenrondoform hat, wäre, dass der Teil T. 19 bis 36 mit dem Anfangsteil verbunden ist, nicht nur wegen der oben genannten Begleitform sondern auch im Kontext mit dem Ballett. Teil A wird im Ballett als Thema für die verfeindeten Familien wahrgenommen, das Thema ab Takt 19 ist unter anderen mit Julias Vater, der seine Tochter zwingt Paris zu heiraten, verbunden. Teil B hingegen

83

Koch, Versuch, S. 248

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dient zum ersten Mal als musikalische Untermalung für die Liebesszene von Romeo und Julia und später für die Szene von Julia und Paris. Teil B ist weist sogar eine andere Taktart und eine neue Tempobezeichnung auf: Teil A 4/4 Takt, Allegro pesante, während Teil B 3/4 Takt, Moderato tranquillo, dolce. Bei der Analyse der Länge und Aufteilung der Perioden stellt sich heraus, dass der Teil ab Takt 19 mit Teil A eng verbunden und bei weitem nicht so eigenständig ist, wie Teil B. Eine Gliederung des Stückes nach Taktgruppen sieht folgendermaßen aus: Teil A: 2 + 8 + 8, 8 + 2 + 8, 2 + 8 Takte Teil B: 8 + 8, 8 + 7 Takte Teil A: 2 + 8 + 8 Takte Sowohl bei der harmonischen Analyse als auch bei der Analyse der Form dieses Stückes bleiben viele Fragen offen, aber gerade diese fehlende Eindeutigkeit verleiht der Komposition Authentizität.

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Zusammenfassung Je mehr man sich mit einem Thema beschäftigt, umso mehr blühen andere Themenkreise auf, die einladend sind und noch interessant zu entdecken wären. So hat zum Beispiel ein Überblick über Prokofjews Klavierwerke hier leider keinen Platz mehr gefunden. Diese Arbeit war für mich eine wundervolle und spannende Reise, indem ich zwei Giganten nämlich Shakespeare und Prokofjew gegenüberstellen konnte. Ich habe Prokofjew durch Shakespeare verstanden und Shakespeare durch Prokofjew. Die Offenheit und alles in Frage stellende Attitude von Shakespeare hat mich ermutigt, Prokofjew nicht als einen Konformisten abzustempeln, sondern den Dingen näher nachzugehen und sich selbst eine Meinung zu bilden. Durch Prokofjew habe ich die Dramen von Shakespeare wiederentdeckt und bin wunderbaren Autoren wie Asimov auf ihren Spuren gefolgt. Shakespeares Romeo und Julia hat bis heute nicht an Aktualität verloren. „Tybalt ist derjenige, der den Triumph der Vernunft verhindert, weil er als einziger Anführer der beiden Lager von irrationalem Haß erfüllt ist“ meint Asimov und warnt davor dass man mit Hass nur verlieren kann. Die politische Zeiten, die Hass gegen Fremde Ideologien und Kulturen schüren sind wie eine Pest für die Gesellschaft. So war es auch zur Zeit Prokofjews. Die Geschichte wiederholt sich, sagt der Spruch, und „die ganze Welt ist eine Bühne“, sagt Shakespeare. Nichts ist eindeutig, die einzigen Hüter sind unser Gefühl und unser Verstand. Wenn ich mit Tolstoi angefangen habe, beende ich meine Arbeit mit den Worten von Alfred Brendel: „Es stört mich, wenn man mich als Musiker einen Intellektuellen nennt. Für mich beginnt und endet die Musik im Gefühl, allerdings hat der Verstand eine wichtige Funktion als Filter“. Mein herzliches Dankeschön gilt Prof. Richard Dünser für die Betreuung der Masterarbeit, Mag. Florian Geßler für die Hilfe bei der Musikanalyse und für weitere wertvolle Anregungen, Prof. Milana Chernyavska, die mir die Zehn Stücke für Klavier vorgeschlagen hat, Diana Maksimovic und Thomas Stöhr für die sorgfältige Korrektur, meinem Bruder, der mir mit seinen PC Kenntnissen geholfen hat, meinem Sohn für sein Verständnis und vor allem meinen Eltern für Ihre Liebe und Unterstützung. Letztendlich sind wir immer auf die anderen angewiesen und nichts schaffen wir bloß alleine.

36

Literaturliste Abraham, Gerald: Prokofieff als „Sowjet“ Komponist, in: Musik der Zeit. Serge Prokofieff, hrsg. von Heinrich Lindlar, Bonn: Boosey and Hawkes 1953, S. 35-40 Asimov, Isaac: Shakespeares Welt, Berlin: Alexander Verlag 2014 Cholopow, Juri: Das Schaffen Prokofjews, in: Internationales Musikfestival. Sergej Prokofjew und Zeitgenössische Musik aus der Sowjetunion, hrsg. von Hermann Danuser, Juri Cholopow, Mikhail Tarakanow, Stadt Duisburg 1990, S. 134-142 Doran, Madeleine: Shakespeare's Dramatic Language, University of Wisconsin Press, 1976 Downes, Olin: New York Times, 1953, in: Musik der Zeit. Serge Prokofieff, hrsg. von Heinrich Lindlar, Bonn: Boosey and Hawkes 1953, S. 7-9 Dumesnil, Rene: „Le Monde“, Paris 1953, in: Musik der Zeit. Serge Prokofieff, hrsg. von Heinrich Lindlar, Bonn: Boosey and Hawkes 1953, S. 5-6 Kossatchowa, Rimma: „Romeo und Julia“, in: Internationales Musikfestival. Sergej Prokofjew und Zeitgenössische Musik aus der Sowjetunion, hrsg. Von Hermann Danuser, Juri Cholopow, Mikhail Tarakanow, Stadt Duisburg 1990, S. 200-203 Morley, Iris: „Cinderella“ und „Romeo und Julia“, in: Musik der Zeit. Serge Prokofieff, hrsg. von Heinrich Lindlar, Bonn: Boosey and Hawkes 1953, S. 56-58 Prokofieff, Serge: Über mein Schaffen, Moskau, Februar 1948, in: Musik der Zeit. Serge Prokofieff, hrsg. von Heinrich Lindlar, Bonn: Boosey and Hawkes 1953, S. 22-23 Prokofjew, S.S. und Mjaskovski, N.J.: Briefwechsel, Moskau 1977 Prokofjew, S.S.: Materialien, Dokumenten, Erinnerungen, Moskau 1961 Prokofjew, Sergej: Autobiografija, Moskau 1973 Prokofjew, Sergej: Dokumente, Briefe, Erinnerungen, zusammengetragen v. S.J. Schlifstein, Leipzig: o.J. 1965 Ratz, Erwin: Einführung in die musikalische Formenlehre, Wien: Universal Edition 1973

37

Sawkina, Natalja: Prokofjew und die Sekte Christian Science, in: Internationales Musikfestival. Sergej Prokofjew und Zeitgenössische Musik aus der Sowjetunion, hrsg. von Hermann Danuser, Juri Cholopow, Mikhail Tarakanow, Stadt Duisburg 1990, S. 57-58 Shakespeare, William/Günther, Frank: Romeo und Julia, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1995 Shakespeare, William/Schlegel, August Wilhelm: Romeo und Julia, Berlin 1797, Berlin: Taschenbuchverlag 2015 Stuckenschmidt, H.H.: Die Neue Zeitung, Berlin 1953, in: Musik der Zeit. Serge Prokofieff, hrsg. von Heinrich Lindlar, Bonn: Boosey and Hawkes 1953, S. 4-5 Swarsenski, Hans: Prokofieffs Orchesterwerke, in: Musik der Zeit. Serge Prokofieff, hrsg. von Heinrich Lindlar, Bonn: Boosey and Hawkes 1953, S. 41-49 Tarakanow, Mikhail: Legende und Wahrheit, in: Internationales Musikfestival. Sergej Prokofjew und Zeitgenössische Musik aus der Sowjetunion, hrsg. von Hermann Danuser, Juri Cholopow, Mikhail Tarakanow, Stadt Duisburg 1990, S. 16-25 Dokumentarfilm Nekrassow, Andrej: Der verlorene Sohn – Sergej Prokofjew – Leben und Werk 1991 https://www.youtube.com/watch?v=a3o0d-Phmak

hghg 38

Anhang

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A var

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Teil I

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S. Prokofjew: Montagues und Capulets aus Romeo und Julia Zehn Klavierst¨ ucke op.75

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Teil III

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Teil II

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Die Familie Prokofjew (Abb. 11)

Sergej Prokofjew 1952

Zeichnung von Oleg Prokofjew über seinen Vater 1947

Ford Madox Brown: Romeo und Julia, 1870 (Abb. 1)

Gustav Klimt: Der Kuss, 1908 (Abb. 2)

Rene Magritte: Die Liebenden, 1928 (Abb. 5)

Roy Lichtenstein: We rose up slowly, 1964 (Abb.6)

Grosser Gott von Sefar, Felsenmalerei, ca.300 v. Chr.

Pablo Picasso: Guernica, 1937

Mikhail Larionow: Herbst, 1912 (Abb. 7)

Fernando Hayez: Romeo und Julia, 1823 (Abb. 3)

Giorgio de Chirico: Hektor und Andromache, 1917 (Abb. 4)

Konrad von Altstetten, Codex Manesse ca. 1305-1340

Marc Chagall: Liebenden im blauen Himmel, 1914

Marc Chagall: Romeo und Julia, 1964

Anselm Feuerbach: Romeo und Julia, 1864

Marc Chagall: Liebende im Blau, 1914

Natalja Gontscharowa: Portrait Mikhail Larionows, 1913 (Abb.8)

Marc Chagall: Liebenden im blauen Himmel

S. Prokofjew : Romeo und Julia Zehn Klavierstücke op.75 Untersuchungen zu ausgewählten Aspekten

Wissenschaftlicher Teil der künstlerischen Masterarbeit Betreut von Prof. Richard Dünser

Zsuzsanna Csegzi Matrikelnummer: 0873334 Studienkennzahl: V 066 711 KUG, 2017

S. Prokofjew : Romeo und Julia Zehn Klavierstücke op.75 Untersuchungen zu ausgewählten Aspekten

Marc Chagall: Romeo und Julia

Wissenschaftlicher Teil der künstlerischen Masterarbeit Betreut von Prof. Richard Dünser

Zsuzsanna Csegzi Matrikelnummer: 0873334 Studienkennzahl: V 066 711 KUG, 2017

Natalja Gontscharowa: Orangenverkäuferin, 1916 (Abb. 9)

Lucas Cranach: Bildnis einer Frau, 1564 Pablo Picasso: Porträt einer jungen Frau nach Cranach, 1958

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