Psychiatrie zwischen Vergangenheit und Zukunft

Psychiatrie zwischen Vergangenheit und Zukunft Halle, 13.10.2015 Dyrk Zedlick Klinik für Psychiatrie/Psychotherapie/Psychosomatik des Rudolf Virchow ...
Author: Klaus Frei
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Psychiatrie zwischen Vergangenheit und Zukunft

Halle, 13.10.2015 Dyrk Zedlick Klinik für Psychiatrie/Psychotherapie/Psychosomatik des Rudolf Virchow Klinikum Glauchau

gGmbH

Vorstand Aktion Psychisch Kranke (APK)

Psychiatrie?

• Psychiatrie ist angewandte Neurowissenschaft?

• Psychiatrie ist angewandte Psychologie?

• Psychiatrie ist angewandte Philosophie und Sozialwissenschaft?

Interne Spannungsfeld

„Psychische Erkrankungen sind Erkrankungen des Gehirns“ Wilhelm Griesinger (1845) „Psychiatrie ist soziale Psychiatrie oder sie ist keine“ Klaus Dörner (1970) „Eine „nicht-biologische“ Psychiatrie gibt es nicht.“(Holsboer, 2010)

Rückblicke

Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen (1803)

Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege (1808)

Johann Chr. Reil 1759 - 1813

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Johann Chr. Heinroth, 1773 – 1843 Professur für psychische Heilkunde in Leipzig

6

Affektive Beeinträchtigung

Klare Verstandestätigkeit Philippe Pinel 1745 – 1826 7

Philippe Pinel Releasing Lunatics from Their Chains at the Bicêtre Asylum in Paris in 1793 Artist: Charles Louis Lucien Muller

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„Psychische Krankheiten sind Erkrankungen des Gehirns“

Wilhelm Griesinger (1817 – 1868)

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Emil Kraepelin (1856 – 1926) 10

Erste Gemeindepsychiatrische Ansätze in der Weimarer Republik

„Offene Irrenfürsorge“ (zurückgehend auf Kolb,1908 dem sog. Erlanger Modell der Außenfürsorge von der Anstalt ausgehend oder das Gelsenkirchner Modell, beim Gesundheitsamt verankerte nachsorgende und psychohygienische Dienste) Hermann Simon: „Aktive Krankenbehandlung in der Irrenanstalt“ 1929 11

• Binding K. und Hoche A.: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“ Leipzig, 1920 • 1933 „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ unter Mitwirkung von Ernst Rüdin, Direktor der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie • „Aktion T4“ Euthanasieprogramm 1940 bis 1941 unter Leitung des Psychiatrieprofessors Werner Heyde aus Würzburg • 12

• Über 360 000 Menschen wurden zwangssterilisiert, wobei über 6000 dabei starben

• Über 70 000 kamen durch die aktive Euthanasie und ca. 250 000 bis 300 000 Patienten durch sogenannte wilde Euthanasie ums leben

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Faulstich, Heinz (1998) Hungersterben in der Psychiatrie 1914 – 1949 Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie Freiburg im Breisgau: Lambertus

„Sehr geehrte Damen und Herren, Psychiater haben in der Zeit des Nationalsozialismus Menschen verachtet, die ihnen anvertrauten Patientinnen und Patienten in ihrem Vertrauen getäuscht und belogen, die Angehörigen hingehalten, Patienten zwangssterilisieren und töten lassen und auch selbst getötet….Dafür schämen wir uns…“ Erklärung des Präsidenten der DGPPN, Prof. Frank Schneider, auf der Gedenkveranstaltung der DGPPN am 26.11.2010

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Nachkriegszeit

• Phase der Rekonstruktion der Heil- und Pflegeanstalten

• „vorneuroleptische Etappe“

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Nachkriegszeit 50`er Jahre

• Katastrophale räumliche, materielle und geistige Hinterlassenschaft des Nationalsozialismus • 1945 ca. 35 Anstalten mit 30.000 Betten mit ca. noch 6.000 alten, verwahrlosten und hungernden Patienten in der sowjetischen Besatzungszone • Rote Armee belegte 1956 ca. 7.860 psychiatrische Betten • 1956 Brandenburg-Görden 2.500 Patienten/8 Ärzte • 1956 Beginn der neuroleptischen Ära mit Chlorpromazin

Entwicklungsetappen psychiatrischer Versorgung in der DDR

60`er Jahre in der DDR Phase der Konsolidierung, des Aufbruchs und Neuorientierung in Richtung einer Rehabilitationsorientierten Psychiatrie mit komplextherapeutischem Behandlungskonzept

Entwicklungsetappen psychiatrischer Versorgung in der DDR

• 1959 Fachausschuß Psychiatrie beim Gesundheitsministerium unter Beteiligung der Reformgruppe (E.Lange, R.Walther, L.Eichler) • 1963 „Internationales Symposium über psychiatrische Rehabilitation“in Rodewisch • 1968 Gesetz über die Einweisung von psychischKranken in psychiatrische Einrichtungen • „Anordnung zur Sicherung des Rechts auf Arbeit für Rehabilitanden“ • Kreisrehabilitationskommission

Empfehlungen des internationalen Symposiums über psychiatrische Rehabilitation vom 23. bis 25. Mai 1963 Rodewisch i.V. Die Rehabilitation psychisch akut und chronisch Kranker Je klarer über die klinisch-medizinische Führung des Kranken hinaus seine soziale Wiedereingliederung als ärztliche Aufgabe erkannt und bejaht wird, desto konsequenter müssen klinischmedikamentöse Therapie und sozial wirksame Heil- und Betreuungsmethoden integriert werden in einer komplexen rehabilitationsgezielten Therapie. Moderne medikamentöse Behandlungsverfahren und aktive Soziotherapie, beide unter optimalen Heilbedingungen, bilden eine untrennbare Einheit im Denken und Handeln der Ärzte und des Pflegepersonals.

Empfehlungen des internationalen Symposiums über psychiatrische Rehabilitation vom 23. bis 25. Mai 1963 Rodewisch i.V. 5.

Bei erreichter Stabilität der ärztlichen Versorgung im Bereich der Psychiatrie wird im Sinne des Dispensairesystems die nachgehende Fürsorge als kontinuierliche Arbeit eines Kollektivs aus Psychiatern, Psychologen und Fürsorgerinnen zu entwickeln sein. Dieses Kollektiv soll engste Verbindung zu den Produktionsbetrieben unterhalten und Arbeitsplatzstudien ermöglicht bekommen.

6.

Dringend erforderlich sind Übergangslösungen zwischen kontinuierlichen arbeitstherapeutischen Einsätzen auf der einen Seite und der vollen Erwerbsarbeit andererseits, zwischen der ambulanten Krankenbetreuung und der stationären Krankenbetreuung bisheriger Art.

Empfehlungen des internationalen Symposiums über psychiatrische Rehabilitation vom 23. bis 25. Mai 1963 Rodewisch i.V. 7.

Die gewaltige soziologisch-gesellschaftliche Bedeutung der psychischen Krankheiten als Volkskrankheiten ist weit stärker als bisher herauszustellen, auf geeignete Weise zu popularisieren mit dem Ziel einer wirksamen Prophylaxe, der unbedingten Früherfassung und Frühbehandlung von psychisch Kranken.

8.

Amtliche oder gesetzliche Zwangsmaßnahmen psychisch Kranken gegenüber sind auf das nur unbedingt erforderliche Minimum zu beschränken. Die humane Grundhaltung des sozialistischen Lebensstils muss darin zum Ausdruck kommen, dass alles vermieden wird, was geeignet ist, psychisch Kranke in der Öffentlichkeit zu diffamieren und sie außerhalb der Gesellschaft zu stellen.

Entwicklungsetappen psychiatrischer Versorgung in der DDR 70`er Jahre • Prozess der Ausdifferenzierung der Reformideen und des Reformhandelns mit deutlichen lokalen Unterschieden am Anfang des Jahrzehntes und

Stagnation der Reformhandlung Ende der 70‘er Jahre

Entwicklungsetappen psychiatrischer Versorgung in der DDR

1974 „Brandenburger Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft“

Brandenburger Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft

These 1: Der Mensch entwickelt und bewährt sich in der Gemeinschaft These 2: Psychisch gestörte oder erkrankte Menschen reagieren auf ungünstige Einflüsse mit zusätzlichen psychischen Störungen These 3: Die aus der geschichtlichen Entwicklung ableitbare Struktur psychiatrischer Krankenhäuser ist geeignet, zusätzliche Störungen hervorzurufen oder bestehende zu verstärken.

Brandenburger Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft These 7: Keine „Therapeutische Gemeinschaft“ ohne offene Türen These 8: Die „Therapeutische Gemeinschaft“ hilft, Vorurteile gegenüber psychisch Kranken zu überwinden These 9: Sozialpsychiatrie ist kein Gegensatz zur biologischen Grundlage der Psychiatrie

Entwicklungsetappen psychiatrischer Versorgung in der DDR • 1974 Übernahme eines Pflichtversorgungssektors in Leipzig durch Leipziger Universitätsklinik mit Aufbau gemeindepsychiatrischer Strukturen „Leipziger Modell“ • 1975 Ausbildung zur Fachkrankenschwester/-pfleger für Psychiatrie, Potsdamer Fachschule für Ausbildung von Fürsorgern, Sozialtherapeuten • 1970-1980 Forschungsprojekt des Gesundheitsministeriums „Psychonervale Störungen“

Entwicklungsetappen psychiatrischer Versorgung in der DDR Die 80‘er Jahre Phase der Stagnation und Einrichten

in das Inseldasein der Reformkräfte

M. Uhle (Stichprobenuntersuchung 1980 von 5.535 Patienten)

• • • • • •

95,9 % vollstationär 1,3 % nachtklinisch 2,8 % tagesklinisch 1883 Fehlplazierungen 43 % auf geschlossenen Stationen 3 h/Woche Gruppentherapien in Therapie- und Rehastationen • 1 h/Woche auf Langzeitstationen

„Zur Lage der Psychiatrie in der ehemaligen DDR“ „Bestandsaufnahme und Empfehlungen“ 30.05.1991 BMG/APK

Ergebnisse der Bestandsaufnahme • „... zum Teil katastrophale und menschenunwürdige Verhältnisse in der stationären Psychiatrie“ • „geringer Personalstand mit Anzeichen einer überwiegend verwahrenden Psychiatrie“ • Fehlbelegungsprognose von 35 bis 70 %, eher große „Behinderteneinrichtungen“ mit 310 bis 1800 Betten aber auch • Gemeindeorientierte Polikliniken mit multiprofessionellen Teams • Integration in die normale Arbeits- und Wohnwelt

• Scheitern nicht primär nur an den spezifischen Hindernissen der DDR, sondern an den allgemeinen, historisch bedingten Problemen der deutschen Psychiatrie mit der damaligen zentralen Stellung des Krankenhauses und am Festhalten medizinischnaturwissenschaftlichen Krankheitsverständnisses •

Nichtvollzogener Paradigmenwechsel von einer naturwissenschaftlichen zu einer humanwissenschaftlichen Konzeption

Psychiatrie Enquete der BRD 1975 • „Bericht zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland“ im Auftrag des Bundestages (Drucksache 7/ 4200) „ beträchtliche Lücken in der Versorgung auf allen Gebieten, vorwiegend in folgenden Bereichen: a) Komplimentäre Dienste b) ambulante Dienste c) gemeindenahe stationäre Dienste...“

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Psychiatrie Enquete der BRD 1975 - Weitgehende Ausklammerung der Versorgung psychisch Kranker aus der allgemeinen Medizin... - Mangel an qualifiziertem Personal in allen Bereichen... Besonders unzureichende Versorgung der Psychisch kranken und behinderten Kinder und Jugendlichen Suchtkranken Chronisch psychisch Kranke, psychisch kranke alte Menschen und erwachsene geistig Behinderte“ (S.6) 35

Psychiatrie Enquete der BRD 1975 • 241 Krankenhäuser an der psychiatrischen Versorgung beteiligt (130 Fachkrankenhäuser, wobei fast 70% über 1000 Betten hatten, 1 Arzt für 60 Betten zuständig, 1 Psychologe für 506 Betten, 1 Sozialarbeiter für 540 Betten) •

59% (knapp 60 000) der Patienten lebten länger als 2 Jahre und 31% (knapp 30 000) sogar länger als 10 Jahre im Krankenhaus

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Psychiatrie Enquete der BRD 1975

• „In den Beratungsdiensten der Gesundheits-, Jugend- und Sozialämter...sind die Möglichkeiten einer qualifizierten Beratung bei psychischen Störungen, Krankheiten und Behinderungen vielfach durch Personalstellenmangel, Mangel an finanziellen Mitteln, Überlastung, mangelnden selbständigen Handlungsspielraum und Bürokratisierung der Arbeit eingeschränkt“ (S.9)

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Psychiatrie Enquete der BRD 1975 Ziele und Grundsätze u.a. -Prävention/ Beachtung der Bedeutung sozialer Einflüsse -Aufbau eines bedarfsgerechten Versorgungssystems -Gemeindenahe Versorgung - Umstrukturierung der großen psychiatrische Krankenhäuser... - Zusammenwirken aller Berufsgruppen - Gleichstellung psychisch und somatisch Kranker 1. 38

Modellprogramm Psychiatrie 1980 bis 1985 Bericht der Expertenkomission 1988

Sozialpschiatrischen Dienste: •Sollten generell so organisiert und ausgestattet sein, dass sie in der Lage sein, im Schwerpunkt chronisch psychisch Kranken und Behinderten die erforderlichen beratenden, vorsorgenden nachgehenden und intervenierenden Hilfen zu gewähren

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Zusammenarbeit mit allen Diensten und Einrichtungen der Versorgungsregion



Initiierung eines notfallpsychiatrischen und Kriseninterventionsdienstes



Multiprofessionelle Besetzung mit Arzt, Psychologe, Sozialarbeiter und psychiatrischer Fachpflege Aufbau eines Gemeindepsychiatrischen Verbundes in jeder Region 40

Resümee 2015 „Die Psychiatriereform ist eines der erfolgreichsten sozialen

Reformprojekte

Bundesrepublik psychisch

in

Deutschland.

kranker

Menschen

der

Geschichte

Die erfolgt

der

Behandlung heute

ganz

überwiegend gemeindenah, mit erheblich weniger

Krankenhausbetten, sehr viel stärker tagesklinisch und ambulant, mit wesentlich mehr Fachpersonal und erheblich qualifizierter als vor 40 Jahren“

(Steinhart/

Wienberg, Sozialpsychiatrischen Informationen,4/2015) 41

Resümee 2015 aber •Gemeindeintegrierte Unterstützungs- und Behandlungssysteme für Menschen mit schweren psychischen Störungen und komplexen Hilfebedarf nicht ausreichend •Mangelnde Personenorientierung •Fragmentierung des Angebotsystems •Fehlende Kontinuität in der Unterstützung 42

Paradigmenwechsel vom institutions- zum personenzentrierten Handeln (APK, Kruckenberg 1995)

„Das System psychiatrischer Hilfen ist so zu gestalten, dass einem akut oder chronisch psychisch erkrankten Menschen in jeder Situation und zu jedem Zeitpunkt eine auf seine individuellen Bedürfnisse und seine Fähigkeiten und die Besonderheit seiner individuellen Lebenswelt ausgerichtete integrierte Behandlung und Betreuung gewährt wird“.

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Die Organisation der Hilfe muss so flexibel sein, dass Art und Umfang entsprechend dem wechselnden Bedarf ohne Abbruch der therapeutischen Beziehungen verändert, die Kontinuität therapeutischer Beziehung gewahrt und die hilfebedürftige Person in ihrem Lebensfeld integriert bleiben kann:

personenzentrierte Hilfe. um personenzentrierten

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Aktuelle Situation und zukünftige Problemfelder

Krise der Forschung •

Mehr oder weniger Irrelevanz der akademischen Psychiatrie für klinische Praxis und Entwicklungen in der Gemeindepsychiatrie



Outcome-Studien zeigen, dass die Effekte psychopharmakologischer Behandlung (über die Zeit) immer weniger beeindruckend sind



Psychiatrie in den 70er Jahren führend im Bereich „community-based interventions“ – und jetzt?



Psychosoziale Forschung wurde zunehmend marginalisiert



Akademische Psychiatrie hat sich in eine schwierige Position manövriert

Zukunftsprojekte

Brain Activity Map (BAM) Project USA 2013-2023 ca. 3 Milliarden Dollar

Human Brain Project (HBP) EU 2013-2023 ca. 1,19 Milliarden Dollar

UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)

?

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UN-Behindertenrechtskonvention (UNBRK) Thema Behinderung wird Menschenrechtsthema, alle bestehenden Menschenrechte werden auf die Lebenssituation behinderter Menschen zugeschnitten und konkretisiert mit dem Ziel

- Chancengleichheit - Inklusion - Selbstbestimmung Strategie: Disability Mainstreaming und Empowerment

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Inklusionsbegriff Perspektivwechsel von der Integration zur Inklusion Der Mensch ist nicht mehr behindert, sondern wird durch einstellungs- und umweltbedingte Barrieren behindert Funktionaler Krankheitsbegriff ersetzt medizinischen, defizitorientierten Krankheitsbegriff Menschen mit Behinderungen haben das Recht, mitten in der Gesellschaft zu leben, sie sind Teil der Vielfalt der menschlichen Gesellschaft „Es ist normal, verschieden zu sein“ Richard v.Weizsäcker

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Inklusion ermöglicht: • mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben und zu arbeiten, • ihren Aufenthaltsort zu wählen, • entscheiden zu können, wo und mit wem sie leben wollen, • nicht verpflichtet zu sein, in besonderen Wohnformen zu leben und • Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten und Anspruch auf Assistenz zur Vermeidung von Isolation zu haben.

ACT

Reha

FrühAmbulante erkennung Teams Familienintervention

Krisenintervention Klinik Home Treatment TagesKlinik

Wie soll die psychiatrische Versorgung der Zukunft aussehen?

Thesen zur aktuellen und zukünftigen Situation in der Psychiatrischen Versorgung •

Das psychiatrische Versorgungssystem ist nicht nur Teil der medizinischen Versorgung sondern immer Teil der sozialen Infrastruktur eines Landes und einer Kommune. Dies erfordert in der Zukunft eine stärkere Sozialraumorientierung.



Die zunehmende Ökonomisierung des Sozialen macht auch vor der Psychiatrie nicht Halt. Das Primat betriebswirtschaftlichen Denkens und Handelns bestimmen den therapeutischen Rahmen und die Versorgungsstruktur. Diese Zweck–Mittel Umkehrung muss gestoppt werden. 54

Thesen zur aktuellen und zukünftigen Situation in der Psychiatrischen Versorgung •Das wieder zunehmende institutionszentrierte Denken (z.B. im Rahmen des zukünftigen technokratischen preisbasierten Abrechnungssystem stationärer Leistungen - PEPP-) steht im Widerspruch zum fachlich geforderten Paradigmenwechsel vom institutionszum personenbezogenen Handeln und zur Integration in die Gemeindepsychiatrie sowie der Entwicklung eines inklusiven Sozialraumes. Deshalb brauchen wir die Entwicklung eines bundesweiten, sektorübergreifenden und bugdetbasiertes Entgeldsystems.

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Thesen zur aktuellen und zukünftigen Situation in der Psychiatrischen Versorgung



Psychiatrie steht immer im Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle, dies um so mehr auf dem Hintergrund des liberalen Zeitgeistes, der UNBehindertenrechtskonvention und der aktuellen Psychiatriegesetzgebung des Bundes und der Länder. Deshalb brauchen wir mehr Transparenz für die notwendige Ordnungs- und Kontrollfunktion der Psychiatrie.

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Thesen zur aktuellen und zukünftigen Situation in der Psychiatrischen Versorgung •

Leidtragende der vielfältigen Widersprüche zwischen Ökonomisierung und der Liberalisierung des Zeitgeistes sind in erster Linie die Mitarbeiter, Patienten und deren Angehörige. Die Verkürzung psychischer Krankheiten auf ein medizinischnaturwissenschaftliches Krankheitsmodell wird der Psychiatrie als Seelenheilkunde auf anthropologischer Grundlage nicht gerecht. Der therapeutische Trialog, die therapeutische Beziehung muss wieder im Zentrum psychiatrischen Handelns stehen und braucht Zeit. 57

Thesen zur aktuellen Situation in der Psychiatrischen Versorgung



Die Erfolge der Psychiatriereform des letzten halben Jahrhunderts bleiben auf der Hälfte der Strecke stehen und es besteht die Gefahr der Gegen-Reformation. Wir benötigen wieder eine stärkere Politisierung der Psychiatrie und eine

neue Psychiatrieenquete.

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Ein letzte Bemerkung... „Perfekt wird keiner je arbeiten können. Wir werden immer wieder Fehler machen, Menschen etwas schuldig bleiben. Wir werden an Menschen, die aggressiv, verletzend oder sonst wie unsere Nerven strapazierend auftreten, scheitern. Das ist auch sonst im Leben so, aber im Umgang mit Menschen, deren Beziehungsfähigkeit früh gestört wurde und/oder mit Menschen, die ver-rückt kommunizieren ist es nahezu unausweichlich.

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„Aber Fehler zu machen ist etwas anderes als einem grundsätzlich falschen Ansatz zu huldigen. Ich bin der Meinung, wie gut oder schlecht die Psychiatrie ist, beruht im höchsten Maße darauf, wie menschlich sie ist oder hochtrabend ausgedrückt: Es kommt auf die ethisch basierte Fachlichkeit, der in ihrem Rahmen arbeitenden Menschen an.“ Renate Schernus. „Ist gute Psychiatrie planbar?“ in „Psychiatrie in Niedersachsen 2014/2015“ Elgeti/ Ziegenbein(Hg.)

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Psychiatrie?

• Psychiatrie ist angewandte Neurowissenschaft? • Psychiatrie ist angewandte Psychologie? • Psychiatrie ist angewandte Philosophie und Sozialwissenschaft? Psychiatrie ist angewandte Humanwissenschaft !

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