Positionspapier zur Begleitung von Menschen mit Behinderungen in der Abgrenzung zwischen Eingliederungshilfe und Pflege - Schwerpunkt Wohnen

Positionspapier zur Begleitung von Menschen mit Behinderungen in der Abgrenzung zwischen Eingliederungshilfe und Pflege - Schwerpunkt Wohnen Die Aussa...
Author: Emil Lorentz
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Positionspapier zur Begleitung von Menschen mit Behinderungen in der Abgrenzung zwischen Eingliederungshilfe und Pflege - Schwerpunkt Wohnen Die Aussagen des Papiers beziehen sich auf alle Menschen mit Behinderung jeglichen Alters. Wenn im Folgenden von Menschen mit Behinderung gesprochen wird, sind somit Menschen mit einer körperlichen, einer geistigen als auch mit einer seelischen Behinderung gemeint.

Die Ausgangssituation Die Zahl von Menschen mit Behinderung mit zusätzlichem Pflegebedarf nimmt zu. Die Sozialhilfeträger und der KVJS in Baden-Württemberg reagierten im Juli 2007 darauf mit der Forderung nach einer spezifischen stationären Pflegeeinrichtung insbesondere für alt gewordene geistig behinderte Menschen. Sie verwendeten dafür den Begriff des „Fachpflegeheimes“. Ein wesentliches Motiv für diese „neue“ Angebotsform ist der Wunsch nach einer finanziellen Entlastung der Sozialhilfeträger dadurch, dass die vollen Leistungen der stationären Pflege von den Pflegekassen in Anspruch genommen werden. Es kann aber nicht sein, dass der Bedarf pflegebedürftiger Menschen mit Behinderungen der Finanzierungsart folgt und auf diese Weise deren Anspruch auf Leistungen der Teilhabe nach SGB XII in Verbindung mit SGB IX verloren geht. Vielmehr müssen wir den/die Einzelne/n mit seiner/ihrer Bedürfnislage in den Vordergrund der Betrachtung stellen und dafür Sorge tragen, dass eine bedarfsgerechte Hilfe auch für Menschen mit Behinderungen mit einer zusätzlichen Einschränkung gesichert ist – unabhängig von Alter und Behinderungsart. Vor allem der Umstand, dass schon heute jüngere Menschen mit Behinderungen, insbesondere mit seelischen und/oder körperlichen Behinderungen teilweise in Pflegeeinrichtungen leben bzw. leben müssen bedarf der kritischen Betrachtung.

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Die Position der Liga der freien Wohlfahrtspflege: 1. Wunsch- und Wahlrecht achten In der Frage, welche Form des Wohnens für Menschen mit Behinderung die geeignete ist – eine ambulante Versorgung, die stationäre Einrichtung der Eingliederungshilfe, eine spezifische Pflegeeinrichtung für die jeweilige Zielgruppe, die „normale“ Pflegeeinrichtung etc. – sind der Wunsch und der individuelle Bedarf des behinderten Menschen ausschlaggebend.

2. Eingliederungshilfe beinhaltet Pflege Die aktuelle Rechtslage ist eindeutig: In § 55 SGB XII ist festgelegt, dass erstens Eingliederungshilfe in Einrichtungen die notwendige Pflege enthält und zweitens ein Verlassen der Einrichtung der Eingliederungshilfe durch den pflegebedürftigen behinderten Menschen nur dann in Frage kommt, wenn er dies selbst wünscht oder wenn die Einrichtung der Eingliederungshilfe feststellt, dass sie den spezifischen pflegerischen Hilfebedarf nicht sicherstellen kann. Zur Umsetzung der Rechtslage müssen Einrichtungen die entsprechende Qualifizierung und Ausstattung vorhalten und gewährleisten.

3. Eingliederungshilfe unterliegt keiner Altersbegrenzung Das Gesetz sieht nicht vor, dass der Anspruch auf Eingliederungshilfe ab einem bestimmten Lebensalter endet. Es besagt auch nicht, dass ab einem bestimmten Grad der Pflegebedürftigkeit die Pflege im Vordergrund steht und die Hilfe in einer Einrichtung der Pflege erbracht werden muss. Diese Rechtslage ist in jedem Fall zu achten. Menschen mit Behinderungen bedürfen zur Sicherung ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eines Nachteilsausgleichs. Das gilt ohne jegliche Altersbegrenzung und unabhängig von der Art ihrer Behinderung.

4. Den persönlichen Lebensmittelpunkt erhalten Wie bei anderen Menschen, die u.a. aus altersbedingten Begleiterscheinungen pflegebedürftig sind, gilt auch bei Menschen mit Behinderungen der Grundsatz, dass ihre Bedarfe stark von der bisherigen Biographie abhängen und ihr persönlicher langjähriger Lebensmittelpunkt so lange wie möglich erhalten bleiben soll. Daher ist es heute noch der Regelfall, dass pflegebedürftige Menschen, insbesondere mit geistiger Behinderung, vorzugsweise weiterhin in den Wohneinrichtungen leben wollen, in denen sie ihre Heimat gefunden haben.

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Die aktuelle Diskussion um Dezentralisierung und Ambulantisierung führt dazu, dass Menschen mit Behinderungen auch bei Pflegebedürftigkeit zunehmend „in normaler Nachbarschaft“ leben und dort eine für ihre speziellen Bedarfe ambulante Versorgung benötigen. 5. Besondere Situationen am Lebensende erfordern individuelle Lösungen Wenn im bisherigen Wohnumfeld der zusätzlich auftretende krankheits- und/oder altersbedingte Pflegebedarf nicht mehr gedeckt werden kann, kann – wie bei allen anderen Menschen auch - unter Achtung der Wünsche des/der Betroffenen und der Vorstellungen ihrer/seiner Angehörigen eine Verlegung in eine entsprechend qualifizierte Pflegeeinrichtung nach SGB XI notwendig werden.

6. Häusliche Pflege in Wohneinrichtungen sichern Zur Sicherstellung der bedarfsgerechten Versorgung ist eine gesetzliche Lösung erforderlich, welche dazu führt, dass grundsätzlich Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe als Häuslichkeit bzw. als „sonst geeigneter Ort“ im Sinne des § 37 Abs. 5 SGB V anerkannt werden. Dann können in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe Leistungen der häuslichen Pflege nach SGB XI und der Behandlungspflege nach SGB V in Anspruch genommen werden.

7. Volle Leistungen der Pflegeversicherung in Einrichtungen der Eingliederungshilfe ermöglichen Der Bundesgesetzgeber hat dafür Sorge zu tragen, dass § 43 a SGB XI dahingehend verändert wird, dass Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen der Eingliederungshilfe leben, einen Rechtsanspruch auf die vollen Leistungen der Pflegeversicherung erhalten. Damit würde die gesetzliche Ungleichbehandlung von Menschen mit Behinderung aufgehoben.

8. Fehlplatzierung vermeiden Der passgenauen Ausgestaltung der Einzelfallhilfen kommt für die Bereiche Eingliederungshilfe und Leistungen der Pflege eine besondere Bedeutung zu. Wichtige und zentrale Elemente dafür sind eine transparente Hilfebedarfsbemessung sowie eine qualifizierte und kooperative Hilfeplanung. Dadurch werden Fehlplatzierungen und wohnortferne Unterbringungen vermieden.

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9. Sozialplanung gemeinsam wahrnehmen Veränderte Bedarfslagen von Menschen mit Behinderungen aufgrund verschiedener Entwicklungen müssen wahrgenommen werden. Freie und öffentliche Träger der Wohlfahrtspflege sollten in gemeinsamer Verantwortung reagieren, indem sie Sorge für eine angemessene, bedarfsgerechte Infrastruktur und differenzierte Angebote tragen. Hierzu ist eine gemeinsame Sozialplanung bzw. Systemsteuerung erforderlich.

Fazit: Aus den vorgenannten Positionen lehnen die Verbände der freien Wohlfahrtspflege die Schaffung von so genannten „Fachpflegeheimen“ ab und fordern stattdessen den gleichberechtigten Zugang zu Leistungen der Pflegeversicherung in ihren jeweiligen Wohnformen.

Beschlossen vom Liga-Vorstand in der Sitzung am 16.10.2008

Liga der freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg e.V. Stauffenbergstraße 3 70173 Stuttgart Telefon: Fax: E-Mail: Internet:

0711 / 61967 - 0 0711 / 61967 - 67 [email protected] www.liga-bw.de

Anhang Eine ausführliche Würdigung der rechtlichen Situation zur Abgrenzung von Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege

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Anhang - Rechtliche Situation

Die Rechtslage ist eindeutig: Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (§§ 53 – 55 SGB XII) ist die umfassende Hilfeart für diesen Personenkreis. Sie unterliegt weder Altersgrenzen und ist auch bei schwerster Form der Behinderung zu gewähren (OVG Saarlouis FEVS 29, S. 29). Sie umfasst auch die in der Einrichtung gewährten Pflegeleistungen (§ 13 Abs. 3 Satz 3, letzter Halbsatz SGB XI, § 55 Satz 1 SGB XII). Als Leistung zur Teilhabe ist sie vor der Pflege zu gewähren (§ 8 Abs. 3 SGB IX). Dies bedeutet: 1. Die Eingliederungshilfe orientiert sich an der Besonderheit des Einzelfalls (§ 53 Abs. 1 SGB XII) und ist zu gewähren, solange die Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Die Aufgabe der Eingliederungshilfe ergibt sich aus § 53 Abs. 3. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern … oder sie soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. 2. Die Gewährung der Eingliederungshilfe unterliegt keinen Altersgrenzen. Eingliederungshilfe ist grundsätzlich solange zu gewähren, wie die in § 53 Abs. 3 SGB XII genannten Ziele erreicht werden können. Es bleibt kein Spielraum, Eingliederungshilfe wegen Alters, zunehmender Gebrechlichkeit oder Verschlechterung des Allgemeinzustandes zu verweigern. (Fahlbusch in „Recht auf Teilhabe – Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen, Bethel-Verlag 1997). Sie endet auch keinesfalls mit der Vollendung des 65. Lebensjahres oder dem Bezug von Altersrente (ZSpr., EuG 23, 476; zit. nach Schellhorn, SGB XII, §53, Rz. 30). 3. Seit der Einführung der Sozialen Pflegeversicherung nach dem SGB XI war das Verhältnis zu den Leistungen der Eingliederungshilfe für Behinderte heftig umstritten. Während das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung den Standpunkt vertrat, dass die Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem BSHG im Verhältnis zu den SGB XI-Leistungen gleichrangig sind, stellten sich insbesondere die überörtlichen Träger der Sozialhilfe auf den Standpunkt, dass die Eingliederungshilfe gegenüber Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung nachrangig sei. Sie haben hierin die Möglichkeit gesehen, sich von den Kosten der Behindertenarbeit zu entlasten (Mrozynski; Das Verhältnis von Pflegeleistungen zur Eingliederungshilfe S. 71) Der Entlastungseffekt wurde dadurch angestrebt, dass die Träger der Sozialhilfe in der Eingliederungshilfe Teilmengen der Pflege ausmachten, die sie der Pflegeversicherung überantworten wollten.

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Als sich diese Lösung als unhaltbar erwies (VG Braunschweig, NVwZ-RR 1997, S. 420), ging man dazu über, bestimmte Betreuungsformen, die man früher der Eingliederungshilfe zugeordnet hatte, zur Pflege zu erklären. Auf diese Weise sollte ein ähnlicher Entlastungseffekt für die Träger der Sozialhilfe eintreten (Mrozynski a.a.O. S. 71). Im vollstationären Bereich bleiben behinderte Menschen, die in Behinderteneinrichtungen betreut werden, zwar grundsätzlich von der Sozialen Pflegeversicherung ausgeschlossen, jedoch übernimmt die Pflegekasse zur Abgeltung des pflegebedingten Aufwands 10 % des nach § 75 Abs. 3 SGB XI vereinbarten Heimentgelts, höchstens 256 € monatlich (§ 43 a SGB XI) Gleichzeitig verpflichtet § 13 Abs. 3 Satz 3 SGB XI die Sozialhilfeträger, in diesen Einrichtungen auch Pflegeleistungen zu gewähren. Die Träger der Sozialhilfe haben auch nach der durch § 43 a SGB XI eingeführten Kostenbeteiligung der Sozialen Pflegeversicherung eine stärkere Beteiligung gefordert. Sie verweisen darauf, dass bei einer Pflege in einer durch Versorgungsvertrag im Sinne des § 72 SGB XI zugelassenen Pflegeeinrichtung für Personen der Pflegestufe III bis zu 1.432 € pro Monat, in Härtefällen (vgl. § 43 Abs. 3 SGB XI) bis zu 1.688 € monatlich zu zahlen sind. 4. Um diese höhere Kostenbeteiligung der Pflegekassen durchsetzen zu können und auf diese Weise eine Absenkung der Kosten der Eingliederungshilfe in Einrichtungen der Behindertenhilfe im Sinne des § 43 a SGB XI zu erreichen, haben einige Träger der Sozialhilfe den Weg beschritten, die Einrichtungsträger der Behindertenhilfe aufzufordern, ihre Einrichtungen in zugelassene Pflegeheime umzuwandeln oder Teile der Einrichtung als Pflegeheime mit Versorgungsvertrag im Sinne der §§ 71 Abs. 2, 72 SGB XI auszuweisen. Einrichtungsträgern in Baden-Württemberg wurde eine vertragliche Regelung angeboten, in der Entgelte des Sozialhilfeträgers auf die SGB XI-Leistungen bis zur Höhe des bisher gewährten SGB XII-Entgelts „aufgesattelt“ wurden (so genannte Binnendifferenzierung). Die Einrichtungsträger und die überörtlichen Sozialhilfeträger waren sich einig, dass das ganzheitliche Hilfe- und Betreuungskonzept des Einrichtungsträgers durch diesen Vertrag erhalten bleibt und nicht beeinträchtigt wird. Der Deutsche Bundestag hat sich in einer von allen Fraktionen unterstützten Entschließung gegen die Umwandlung von Einrichtungen oder Einrichtungsteilen der Behindertenhilfe in Pflegeheime ausgesprochen (AuS-Ausschuss, Drucksache 14/550 v. 22.02.2000). Mit der Einfügung von § 55 SGB XII trägt der Gesetzgeber zur Umsetzung dieser Entschließung bei. Er stellt klar, dass die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, die in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe erbracht wird, auch die in der Einrichtung gewährten Pflegeleistungen erfasst. Er trägt damit dem Umstand Rechnung, dass Leistungen der Eingliederungshilfe im Sinne des § 53 Abs. 3 letzter Halbsatz SGB XII

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auch das Ziel verfolgen, wesentlich behinderte Menschen im Sinne von § 53 Abs. 1 soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen, ohne den Anspruch auf Eingliederungshilfe im Sinne des § 53 Abs. 3 SGB XII mit der Prüfung der Frage zu verknüpfen, welches Ausmaß an Pflegebedürftigkeit vorliegt und ob die Bemühungen, z.B. durch Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Verbindung mit § 55 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX ein gewisses Maß an Eigenständigkeit des Menschen mit Behinderung bei der Vornahme der Verrichtungen des täglichen Lebens zu erreichen, im Verhältnis zu den tatsächlichen Pflegeleistungen, die an dem Menschen mit Behinderung erbracht werden, zeitlich und/oder durch den Einsatz entsprechender Fachkräfte der Behindertenhilfe von über- oder untergeordneter Bedeutung sind (Lachwitz HK-SGB IX, Anhang 2, Rz. 71). Es ist zusammenfassend festzuhalten, dass ein Mensch mit Behinderung nicht gegen seinen Willen auf die Inanspruchnahme einer Pflegeeinrichtung (§ 71 Abs. 1 SGB XI) verwiesen werden darf und zwar auch dann nicht, wenn bei ihm der Pflegebedarf im Vordergrund steht (Mrozynski, a.a.O. S. 37). Der neuerlich verwendete Begriff des Fachpflegeheims ist ein „Etikettenschwindel“, da es sich dabei um eine reine Pflegeeinrichtung nach SGB XI handelt. Bei Menschen mit Behinderung, die Aufnahme in eine Einrichtung der Behindertenhilfe begehren, ist die Bestimmung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB XII zu beachten. Danach soll Wünschen des Hilfeempfängers, den Bedarf stationär oder teilstationär zu decken, nur entsprochen werden, wenn dies nach der Besonderheit des Einzelfalls erforderlich ist, weil andere Hilfen nicht möglich sind oder nicht ausreichen und wenn mit der Einrichtung Vereinbarungen nach dem 10. Kapitel SGB XII bestehen. Ergibt die Einzelfallprüfung, dass nur vollstationäre Hilfe in Betracht kommt, kann der Sozialhilfeträger die Gewährung der Hilfe in einer Einrichtung der Behindertenhilfe nach der Wahl des Menschen mit Behinderung nicht mit der Begründung verweigern, dass die vollstationäre Eingliederungshilfe einschließlich Pflege in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe gemäß §§ 43a, 71 Abs. 4 SGB XI gegenüber der vollstationären Pflege in einer zugelassenen Pflegeeinrichtung im Sinne des § 71 Abs. 2 SGB XI nachrangig sei.

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