Philosophische Ethik: Zur Frage der Werte und Kompetenzen 1

1 Philosophische Ethik: Zur Frage der Werte und Kompetenzen1 1 Zur Frage der Werte Gestatten Sie mir, mit meinem persönlichen Erfahrungshintergrund...
Author: Miriam Lorenz
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Philosophische Ethik: Zur Frage der Werte und Kompetenzen1 1

Zur Frage der Werte

Gestatten Sie mir, mit meinem persönlichen Erfahrungshintergrund und meiner Zugangsmotivation zu beginnen: Ethik und noch mehr Moral war für mich jahrelang emotional vorbelastet durch moralinsaure Aufforderungen während Jugend und Adoleszenz. Mit Beginn der Pubertät habe ich mich dagegen aufgelehnt. Auch noch während meines Philosophiestudiums habe ich das Fachgebiet Ethik eher vernachlässigt, und zwar solange, bis ich u. a. die hohe Bedeutung von Freiheit besonders in Zusammenhang mit philosophischer Ethik erkannt habe. Freiheit war und ist für mich sehr wichtig. Ich verstehe ich mich als Vertreter des philosophischen Konzepts von Aufklärung, wie es Kant konzipiert hat. Er definiert Aufklärung [für ihn ein unabgeschlossener Prozess!] als „Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“. Unmündigkeit sei die Unfähigkeit, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet sei diese Unmündigkeit, weil es nicht an Verstand fehle, sondern nur an Mut, denselben ohne Leitung eines anderen zu gebrauchen. Im Sinne Kants lautet daher mein Wahlspruch: Habe (immer wieder) Mut dich deines Verstandes ohne Leitung durch andere zu bedienen. Jeder, der dieses Konzept von Aufklärung vertritt, hinterfragt gerne und viel. Freiheit ist nicht nur mich, sondern auch für viele Philosophen ein zentraler Wert. Sie darf aber nicht mit Willkür gleichgesetzt werden; gemeint ist ein zumindest weitgehend wohlüberlegter Gebrauch derselben. Diese Abgrenzung ist wichtig, denn Freiheit hat kein Maß in sich und aus Freiheit lässt sich auch allerlei Unvernünftiges, ja Böses anstellen. Deshalb kann es nur um reflektierte Freiheit gehen. Aber nicht nur bezüglich des Maßes besteht ein Problem mit Freiheit. Wie sich nicht nur in der Wissenschaft über alles trefflich streiten lässt, so steht auch dieser Wert

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In diesen Aufsatz sind Überlegungen aus Rainer Erlingers „Moral“ (Frankfurt/Main 2011), aus Ralf Ludwigs „Der kategorische Imperativ“ (München 1995) sowie aus Peter Heintels und Larissa Krainers „Prozessethik“ (Wiesbaden 2010) eingearbeitet.

2 nicht außer Streit2. Vor allem außerwissenschaftlich gibt es einen Attraktivitätsverlust von Freiheit (vgl. Hippiebewegung der 70er Jahre vs. heute). Freiheit wird, u. a. weil sie - meist uneingestanden - mit Angst einhergeht und mit Verantwortung verbunden ist, von so manchen als Zumutung empfunden und (zunehmend) abgelehnt. Es werden geschlossene Denk- und Glaubenssysteme bevorzugt (Dogmatismus vs. Pluralismus). Aber dafür bin ich nicht zu haben. Freiheit ist also ein Wert, an dem sich bereits zeigt, dass Werte - schon intrakulturell, aber erst recht interkulturell betrachtet - durchaus unterschiedlich bedeutsam sein können. Die Werte der/des einen können dem/den anderen fragwürdig erscheinen, die jeweils eigenen Werte jedoch als richtig. Hiermit erweist sich eine absolute Wertsetzung zumindest als problematisch. Dennoch ist es wichtig, mit gegebenen Wertsetzungen vertraut zu sein, wo immer wir uns befinden. Was können Sie in diesem Aufsatz von mir erwarten, was nicht? Obwohl ich gerade einen für mich wichtigen Wert genannt habe, werde ich auf die Vermittlung vor allem von normativ-inhaltlichen Werten verzichten (keine Aufforderung zur Selbstliebe oder zum Altruismus, zur Pünktlichkeit, zur Solidarität etc.). Das ist sehr oft etwas für Sonntagsreden; es sind Soll-Forderungen, die meist ohne Adressaten verhallen, in der Regel nur zu Absichtserklärungen führen. Es geht mir nicht um Wertevermittlung, sondern Werte werden zur Frage. Dennoch brauchen wir Werte; sie leiten uns, sind ständig - oft unbemerkt - präsent; obwohl oft widersprüchlich, geben sie uns dennoch oder vielleicht gerade deswegen Orientierung. Wir kommen auch ohne „BeWERTungen“ nicht aus, beispielsweise wenn wir Entscheidungen treffen, Positionen beziehen. Deswegen wird es vor allem um Wertebewusstsein gehen. Das Ziel ist zum einen, zur Werteüberprüfung zum Zwecke einer bewussten Wertsetzung anzuregen, zum anderen nach Begründungsbasen, Kriterien für richtiges oder falsches Handeln bzw. Urteilen zu suchen. Sie selber sollen schlussendlich anhand der Ausführungen überprüfen können, ob, und falls ja, was ethische Positionen für Ihr Verhalten, Urteilen und Wertbewusstsein bereithalten. Keinesfalls ist die Vermittlung von Rezepten, Benimmregeln das Ziel. Wohl aber können Sie Impulse für die Lebenspraxis, Denkanstöße, Wissenszuwachs erwarten.

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Viele sehen es als unstrittig, dass es die Unstrittigkeit nicht gibt; für andere wiederum steht so manches außer Streit. Demnach lässt sich auch über Unstrittigkeit streiten, was ein Beleg dafür ist, dass es die Unstrittigkeit nicht gibt. Sogar das Verständnis von Wissenschaft ist schon strittig. Gerade die Strittigkeit zeichnet die Wissenschaft aus, macht sie aber auch für so manchen unattraktiv.

3 Ethik und Moral haben gegenwärtig Konjunktur. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Forderung nach Einführung eines Ethikunterrichts an Schulen. Vielen ist vieles viel zu beliebig (anything goes) und in Anbetracht zahlreicher Probleme gibt es sogar ein drängendes, zumindest stärker werdendes Bedürfnis nach Ethik. Stichworte: Werteverfall einerseits, Zuwanderung aus völlig anderen Kulturen andererseits. Ferner ist zumindest eine gewisse Orientierungslosigkeit bemerkbar. Auch deshalb der Ruf nach Verbindlichkeiten, Werten! Da es in der Ethik auch um Werte geht, zumindest seit der zweiten Hälfte des 19. Jh., als der Begriff „Wert“ aus der Nationalökonomie in die Philosophie übernommen wurde, ist sie (wieder) gefragt. Oft findet sich sogar die Gleichsetzung von Ethik und Werten.3 Bezogen auf Werte besteht bei uns das Problem, dass uns traditionelle Instanzen zu ihrer Herleitung nicht mehr wie einst zur Verfügung stehen, da ihre Vermittlungskraft offenbar nicht mehr so groß ist; wir sind auf uns selbst angewiesen (wollen es vielfach auch sein). Dennoch oder gerade deswegen sind wir auf der Suche, was auch zu einem Interesse an Ethik führt.4 Moral betrifft uns sowieso immer; sei es, dass wir uns daran halten oder nicht; sei es, dass es andere tun oder eben nicht.

Da der Begriff „Ethik“ nicht auf Anhieb für alle verständlich sein dürfte, empfiehlt sich ein Blick in die Etymologie. Ethik leitet sich vom altgriechischen Wort „ethos“ ab. Eine Bedeutung wäre „Weideplatz“ für Tiere, eine andere „gemeinsames Wohnen“ von Mensch und Tier. Ethik hat also offenbar ursprünglich etwas mit Nahrung5 und Wohnung zu tun. Ohne Nahrung können wir nicht lange leben. Wohnungen entlasten insofern, als sie Schutz bieten. Darüber hinaus besteht eine Verbindung von Ethik und

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„Die Vermittlung von allgemein gültigen Werten und Prinzipien ist eine zentrale Aufgabe in unserer heutigen Zeit, auch und im Besonderen an unseren Schulen.“ (Vizekanzler Mitterlehner zum Ethikunterricht an Schulen). Der Ethikunterricht habe also Werte zu vermitteln. Abgesehen davon, dass es andere ethische Themen gibt, etwa die Frage nach der Freiheit des Willens oder die Frage, ob man überhaupt moralisch sein soll (Metaethik), stellt sich hier das Problem, was „allgemein gültig“ heißt. National? Weltweit? Vermutlich meint der Vizekanzler den Katalog der Menschenrechte, besonders Religionsfreiheit (hoffentlich nicht nur die eigene, sondern auch die der anderen), Demokratie, Gleichstellung von Mann und Frau, Rechtsstaatlichkeit, gesellschaftlicher und politischer Pluralismus. Das sind laut Integrationsministerium unsere wichtigsten Werte. Ferner ist für viele die Nützlichkeit ein sehr hoher Wert (offenbar auch fürs Bildungsministerium). Aber wenn man Werte vermitteln soll, dann wie? Dogmatisch? Gebetsmühlenartig? Nein. Sie müssen immer wieder überdacht werden. Sofern sie sich durch Überprüfung als vertretbar herausgestellt haben, ist dafür einzutreten, aber auch die Diskussion darüber ist nicht zu scheuen. 4

Sicherlich ließen sich hier noch weitere Begründungen anführen. … auch mit der Nahrung für Menschen. Wir können den Menschen als Differenzwesen begreifen, also ein Wesen, das von vielen Unterschieden geprägt ist. Eine Differenz wäre, dass wir einerseits Geist (Verstand, Vernunft), andererseits Natur (Tier) sind. 5

4 Gewohnheit.6 Auch Gewohnheiten können entlasten. Abschließend werden wir untersuchen, ob uns Ethik tatsächlich „Nahrung“ und „Entlastung“ bieten kann. „Ethos“ ins Lateinische übertragen ergibt das Wort „mos/moris“, dessen adjektivischer Gebrauch zu „moralisch“ führt. So meinen „ethisch“ und „moralisch“ streng genommen dasselbe. Dementsprechend verwenden die einen Ethik und Moral synonym. Andere sehen hier einen Unterschied. Ethik sei die Theorie, Moral die Praxis. Für wieder andere ist der Unterschied nicht so groß. Moral spiele in Morallehren und Moralphilosophien eine zentrale Rolle. In Ersteren geht es um Vorschriften (Du sollst L, [eventuell mit Begründung]), während vor allem philosophische Ethiken bestimmte Modelle für richtiges Handeln und Urteilen entwickeln, die zur Orientierung herangezogen werden können. Insofern aber als Moralphilosophien im Unterschied zu Morallehren, die meist einen religiösen Hintergrund haben, wie philosophische Ethiken mit rationalen Begründungen arbeiten, kann die philosophische Ethik mit der Moralphilosophie gleichgesetzt werden. Dennoch herrscht hier eine ziemliche Begriffsunschärfe. Ich favorisiere die Unterscheidung von Ethik und Moral. In der traditionellen Ethik lassen sich Ausgangsorte, Standpunkte finden, von denen aus wir Begründungen für entsprechendes Verhalten (Handeln/Unterlassen) und Urteilen ableiten können. Sie können aber auch zur Werteüberprüfung dienen, denn auf den Zusammenhang von Verhalten/Urteilen und die Leitfunktion von Werten wurde schon hingewiesen. Die für mich wichtigsten normativen (von außen vorgegebenen) ethischen Modelle - zunächst in einem ersten Überblick - sind:7 1. Eudämonismus: Er geht in seiner höchsten Form zurück auf Aristoteles, der als Erster Ethik als philosophische Disziplin eingerichtet hat. Das Glücklichsein (altgriech. „eudaimonia“ = die „Glückseligkeit“) ist das oberste Ziel und die Grundlage der Handlungs- und Urteilsausrichtung, was es in der Tat zu sein scheint, denn es genügt für sich alleine, sei das Endziel, habe keinen darüber hinaus liegenden Zweck. Reichtum könne nicht oberstes Gut sein, weil er ein Mittel für andere Zwecke8 ist; doch das Glücklichsein wählten wir um seiner selbst willen.

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Bei Aristoteles sind es Tugenden (Haltungen als Entscheidungsgrundlage), in die wir durch soziale Praxis „hineingewöhnt“ werden. 7 Beachtenswert wäre auch M. Webers Verantwortungs- und Gesinnungsethik. Darauf wird hier jedoch nicht eingegangen, vor allem weil es leicht ist, sich mittels des Aufsatzes „Politik als Beruf“ sich ein Bild davon zu machen. Wenig hält für mich hingegen Schopenhauers Mitleidsethik bereit, die hier auch nicht erörtert wird. 8 Reichtum kann als Mittel zum Glück (=Zweck) angestrebt werden; dann ist aber wieder das Glück der höhere Wert. Aber zum Glück gehören auch äußere Güter. So ist Großzügigkeit als sittliche Tat nur möglich mit Geld

5 Das Glücklichsein ist aber nicht nur auf eine kurze Zeitspanne bezogen, sondern das Glück eines vollen Menschenlebens ist gemeint („Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling L“). Es sei laut Aristoteles u. a. erreichbar im Streben nach sittlicher Vortrefflichkeit (Zusatz: Freude und Freiwilligkeit sind Voraussetzung; philosophische Ethik ist also von Anfang an mit freiem Willen, mit Freiheit9 in Verbindung). Sittliche Vortrefflichkeit bestehe im Finden des inneren Maßes zwischen jeweils zwei Extremen. Ein Beispiel anhand des Genusses: „Wer sich in jeden Genuss stürzt und sich nichts versagt, wird haltlos, wer jeden meidet wie die Spießer, wird stumpfsinnig.“ (In: Nikomachische Ethik). Nicht zu viel Genuss, aber auch nicht zu wenig sei anzustreben. So sei einem auch die Anerkennung durch die anderen, die „Urteilsfähigen“ sicher (= ein wesentlicher Teil des Glücklichseins). 2. Pflichtethik Kants: Pflicht klingt nach dem Gegenteil von Freiheit. Nicht so für Kant! Doch davon später. Allerdings ist auch nicht unbedingt die Rechtfertigung, man tue nur seine Pflicht, damit gemeint. Für Kant gibt es kein anzustrebendes Gut als ethisches Kriterium, auch nicht das Glück. Denn mit Ausnahme des „guten Willens“ gebe es nichts in der Welt, was ohne Einschränkung als gut bezeichnet werden könne. So seien z. B. Klugheit, Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit durchaus anstrebenswert; sie könnten aber auch Eigenschaften eines Kriminellen sein. Weil alle anstrebenswerten Güter auch fragwürdige Seite hätten10, sagt Kant, dass nur der „gute Wille“ gut sei. Das sei der durch den kategorischen Imperativ bestimmte Wille, der Verhalten als Pflicht gebiete. (Er wird weiter unten - auch anhand von Beispielen - erläutert). 3. Utilitarismus: (lat. „utilis“ = nützlich). Der Begründer ist Jeremy Bentham (englischer Philosoph des 18./19. Jh.): „Unter dem Prinzip der Nützlichkeit ist jenes Prinzip zu verstehen, das schlechthin jede Handlung billigt oder missbilligt, wie ihr die Tendenz innezuwohnen scheint (Hervorhebung von mir), „pleasure“ (= Freude, Vergnü-

und/oder politischem Einfluss als Hilfsmittel. Doch Großzügigkeit ist nur eine Möglichkeit sittlicher Vortrefflichkeit; es gibt auch andere Möglichkeiten, die dieser Hilfsmittel nicht bedürfen. Ferner sind zum Glücklichsein Anerkennung, Sicherheit etc. erforderlich. 9 Für Hegel ist die Freiheit ebenso eine Grundbestimmung des Willens wie die Schwere eine Grundbestimmung der Körper ist. - Freiheit sei nach A. nicht jedem zu gewähren. Ganz besonders Kinder seien „noch gar nicht fähig, in solchem Sinne zu handeln (…)“, denn „Kinder und Tiere streben nach Lust.“ Wir müssten uns von Jugend an in Richtung sittlicher Vortrefflichkeit formen (Gewöhnung!). Anm. von mir: Entlastung durch Einhausung. 10 Anm. von mir: Glück kann übermütig, sogar überheblich machen. Außerdem kann das Anstreben des Glücks dazu führen, dass man es mit aller Gewalt erreichen möchte; das kann unglücklich machen.

6 gen, Genuss11), „happiness“(= Glück) der Gruppe, deren Interesse in Frage steht, zu vermehren oder zu vermindern (L).“12 Das „größte Glück der größten Zahl“ bildet „den Maßstab von richtig und falsch“. Ziel ist, die Summe der Freude, des Glücks in der Welt so weit wie möglich zu steigern. Handlungen seien aber auch gut, wenn sie Leiden so gering wie möglich halten. Beides lässt sich von vornherein nicht genau sagen („die Tendenz innezuwohnen scheint“), sondern die Beurteilung einer Handlung ist von ihren Folgen abhängig. Im Blick steht hierbei die Freude, das Glück der von einer Handlung Betroffenen, und zwar im gleichen Maße: „Jeder zählt für einen, keiner für mehr als einen.“ John Stuart Mill (19. Jh.)13 klingt fast gleich wie Bentham, wenn er lehrt, dass Handlungen insoweit moralisch seien, als sie die Tendenz hätten, Glück zu befördern. Hier ist die Interpretation des Glücks als Freisein von Unlust, des Unglücks als Fehlen von Lust bedeutsam. Mill musste sich der Kritik stellen, die ihm vorwarf, nur auf Luststreben aus zu sein und keinen höheren Zweck im Leben zu sehen. Mill konterte und meinte, dass Lust zwar sehr wichtig sei, aber dass man unterscheiden müsse zwischen intellektueller (also geistiger) und körperlicher Lust; erstere sei vorzuziehen. Die Entscheidung für erstere setze die Fähigkeit voraus, in diesem Zusammenhang überhaupt Lust empfinden zu können. „Es ist unbestreitbar, dass ein Wesen mit geringerer Fähigkeit zum Genuss die besten Aussichten hat, voll zufriedengestellt zu werden; während ein Wesen von höheren Fähigkeiten stets das Gefühl haben wird, dass alles Glück, das es von der Welt, so wie sie beschaffen ist, erwarten kann, unvollkommen ist.“ Dennoch sei es „besser ein unzufriedener Mensch zu sein, als ein zufriedengestelltes Schwein.“ - Der Utilitarismus Benthams und Mills wird, obwohl wir uns immer wieder daran orientieren, heute in der Philosophie nur noch von einer Minderheit vertreten. Es gibt mehrere Weiterentwicklungen (Regel-, Handlungs-, Präferenzutilitarismus). 4. Care14-Ethik: Viele ethische Theorien verfolgen einen Allgemeinheitsanspruch bis hin zur Universalisierung; die jeweilige Lehre soll für viele/alle gleichermaßen gelten

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wird meist mit „Lust“ übersetzt. Man wird hier unschwer einen Bezug zum Eudämonismus feststellen können. Doch für Aristoteles steht eher das Glück des Einzelnen im Vordergrund; dieses Konzept ist stärker auf Sozialität ausgerichtet. Das MaximumHappiness-Principle bei Bentham ist auf möglichst viele bezogen. Beachtet wird hier die Quantität, weniger die Qualität des Glücks. Glück sei Bedürfnisbefriedigung bzw. minimalisierte Frustration. Er erhoffte sich eine Abnahme des Egoismus. Utilitaristisch gedacht müsste nämlich der Einzelne, der nach „pleasure“ und „happiness“ strebt, einsehen, dass ihm am besten gedient ist, wenn er sein Streben an der Allgemeinheit ausrichtet. 13 Er hat sehr viel Wert gelegt auf Meinungsfreiheit. 14 = Achtsamkeit, Sorge 12

7 und sie sollte neutral über Einzelinteressen hinausgehen.15 Dem widersetzt sich die Care-Ethik: Es geht um die Sorge um Menschen, die man persönlich kennt oder denen man persönlich begegnet. Als Modell dient die Fürsorglichkeit der Mutter in der Beziehung zum Kind. Sie wäre jedoch eine massive Überforderung, wenn Verallgemeinerung das Ziel wäre. Dennoch würde sich wohl einiges im Zusammenleben ändern, wenn dieser Ansatz universell wäre, will heißen, dass jeder in seinem persönlichen Bezugsfeld dieses Prinzip verfolgt. Insofern ist der Universalisierungsgedanke nicht vom Tisch. 5. Religiöse Ethik(en): Sie werden auch als Morallehren bezeichnet. Handlungen und Urteile sind nach religiösen Ethiken nur dann richtig, wenn sie den heiligen Schriften (Bibel, Koran oder Thora) entsprechen. Die Letztbegründung kommt von außen, aus dem Transzendenten, ist in den so genannten monotheistischen Religionen Gott. Ohne explizit werten zu wollen, ist hier auf eine Differenz zwischen philosophischer und religiöser Ethik hinzuweisen. Diese Differenz könnte mit den Adjektiven „anthropozentrisch“ vs. „theozentrisch“ beschrieben werden. Doch hier werden sich Christen wehren, weil sie das Christentum gegenüber anderen Religionen als anthropozentrisch verstehen (Jesus ist Mensch und Gott). Tatsache ist jedoch, dass in allen religiösen Ethiken die Letztinstanz im Transzendenten, Überirdischen liegt, während die philosophische Ethik den Menschen ins Zentrum stellt. So heißt es etwa bei Kant: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ (Hervorhebung von mir). Das moralische Gesetz liegt also im Menschen; hier steht eindeutig der Mensch im Zentrum. Kant missachtet zwar die Religion nicht; sie ist entscheidend im Zusammenhang mit Glückseligkeit, welche aber nicht Motiv des moralischen Handelns sein kann: „Nur dann, wenn auch die Religion dazu kommt, tritt auch die Hoffnung ein, der Glückseligkeit16 dereinst in dem Maße teilhaftig zu werden, als wir darauf bedacht gewesen, ihrer nicht unwürdig zu sein.“ Also erst nach dem Tod! Darüber hinaus führt Kant in seiner theoretischen Philosophie aus, dass sich die Frage nach der (Nicht)Existenz Gottes nicht beantworten lasse. - Religiöse Menschen werden mit dieser Position wahrscheinlich keine Freude haben. Dennoch müssen sie sich dessen bewusst sein, dass sie ihre Ethik Nicht- oder Andersgläubigen nur schwer plau15

Warum diese Universalisierung? Für je mehr Menschen die jeweilige Ethik gelten kann, desto stabiler scheint ihr Fundament. 16 = Glück-SELIGKEIT (Chance auf Glück erst in der Seligkeit)

8 sibel machen können, wenn sie moralisches Verhalten und Urteilen auf ihrer Religion begründen. Obendrein haftet den religiösen Ethiken zumindest der Geruch von Fremdbestimmung an [weil es geschrieben steht]. Einen anderen, nicht-normativen Weg im Hinblick auf das Begründen des moralischen Verhaltens und Urteilens schlägt die Diskursethik vor: Sie wurde von Habermas und Apel (deutsche Philosophen des 20/21. Jh.) entwickelt. Vor allem die Habermas‘sche Prägung lehrt, dass moralische Normen und Werte nicht von außen vermittelt, vorgeschrieben werden könnten, sondern sich nur herstellen ließen, wenn sie durch gute Argumente Zustimmung von möglichst vielen erhielten. Es geht um das gemeinsame Abwägen von Argumenten im Gespräch. Ein begründeter Konsens sei zu finden, der nicht davon abhängen dürfe, welche Personen gerade an einem Diskurs beteiligt gewesen seien, sondern er müsse auch für andere einsichtig sein. Es sei wichtig auf eine Gesprächssituation zu achten, die frei von Zwang sei und in der alle Teilnehmer die gleichen Chancen hätten. – Eine Weiterentwicklung dieser Diskursethik ist die Prozessethik (P. Heintel; österreichischer Philosoph des 20./21. Jh.). Personen nehmen gemeinsam Werteüberprüfung vor, streben Wertfindung und Wertsetzung durch Ausverhandeln, Ausstreiten an. Normative Ethiken können, müssen aber nicht hierfür herangezogen werden. Es geht um die Frage: „Wollen wir es so, wie es ist?“. Der Philosoph ist hierbei Begleiter, Moderator. Grundsätzlich außer Streit stehende Normen und Werte gibt es nicht. Alles steht zur Disposition.17 Beachtenswert hierbei ist, dass die Prozessethik den Menschen als Differenzwesen sieht; beispielsweise liegt in uns die Differenz Rationalität – Emotionalität vor, der in solchen Prozessen Raum gewährt werden muss, um zu stabilen Ergebnissen zu kommen. Es besteht allerdings das Problem, dass solche Prozesse meist zeitintensiv sind und auch ergebnislos verlaufen können. Wir sehen zweierlei: Es gibt eine Differenz zwischen philosophischer und religiöser Ethik und die religiöse Ethik gibt es genauso wenig wie die philosophische; es gibt religiöse und philosophische Ethiken. Letztere werde ich noch genauer erläutern, ihre Möglichkeiten und Grenzen bezüglich Begründungen für richtiges Verhalten und Urteilen sowie Werteüberprüfung aufzeigen. Der ethisch Unkundige beruft sich, sofern er überhaupt versucht, sein Tun oder Unterlassen, sein Urteilen zu begründen, auf 17

Zumindest die „Nikomachische Ethik“ (Balancefindung!), der Utilitarismus und der kategorische Imperativ (Maximenfindung und –überprüfung!) sind ebenfalls prozessual, nur als Prozess denkbar; allerdings mehr oder weniger auf das Individuum bezogen.

9 Tradition, auf eigene Erfahrungen, die soziale Umwelt („Man tut das nicht!“), Natur („Das ist [nur] natürlich/widernatürlich!“) bzw. hat oft so genanntes Normales als ethisches Kriterium18. Das ist zwar nicht völlig unzulässig, aber für Vertreter des philosophischen Konzepts der Aufklärung zumindest zu hinterfragen. Besonders problematisch ist die Haltung: „Das ist einfach so! Basta!“ Jetzt wie angekündigt zu einer genaueren Erörterung schon erwähnter normativphilosophisch-ethischer Positionen, und zwar in der Reihenfolge, wie sie für mich Bedeutung haben. Ich beginne mit dem für mich weniger wichtigen Utilitarismus, gefolgt vom bedeutungsvolleren aristotelischen Eudämonismus und schließlich von der Pflichtethik Kants. Obwohl nicht nochmals thematisiert, darf ich als Lehrer hoffentlich als selbstverständlich voraussetzen, dass auch die Care-Ethik für mich Bedeutung hat. Doch am interessantesten ist für mich die Weiterentwicklung der Diskurs- zur Prozessethik.19 Der Utilitarismus: Er ist weit verbreitet; sehr oft begründen wir unser Verhalten nach utilitaristischen Gesichtspunkten. Handlungen sind nur in dem Maß moralisch, als sie die Tendenz haben, allgemeines Glück, allgemeine Freude zu befördern bzw. Leid zu lindern. Die Praxis: Es erfolgt eine Zusammenschau der möglichen Auswirkungen einer Handlung auf die einzelnen Individuen. Der Gesamtnutzen einer Handlung wird berechnet, indem das entstehende Einzelglück addiert und das Einzelleid davon abgezogen wird. Ein Problem: der U. ist auf Prognosen angewiesen, die mit Unsicherheit behaftet sind, weil sich immer wieder andere Handlungsfolgen als erwartet einstellen können. Daher ist die Bewertung der Richtigkeit einer Handlung oder eines Urteils erst im Nachhinein möglich. Das ist aber problematisch, weil wir nie sicher wissen können, was die Folgen gewesen wären, wenn anders entschieden worden wäre. Andererseits: Wenn die Folgen vorliegen, lässt sich beurteilen, ob diese Handlung, die dazu geführt hat, richtig war. Es liegt ein Zwiespalt vor: Einerseits kann das Abschätzen der Handlungsfolgen präventiv sein; es ist aber notgedrungen spekulativ. Liegen jedoch andererseits die Handlungsfolgen vor, sind sie also real und nicht mehr spekulativ, kann es zu spät sein, etwas zu ändern.

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Aufzählung ohne Anspruch auf Vollständigkeit Eine genaue Erörterung dieses Ansatzes wäre zwar wichtig, aber in diesem überblicksmäßig gestalteten Teil des Aufsatzes unpassend. Siehe daher dazu: „Prozessethik“ von Krainer L. und Heintel P. (Wiesbaden 2010). 19

10 Ein Beispiel, das den U. sehr problematisch erscheinen lässt: In einem Krankenhaus liegen fünf Patienten, die dem Tod geweiht sind (Erkrankungen des Herzens, der Leber, zweimal der Nieren, der Lunge). Alle fünf streben ohne Organtransplantation in den nächsten Tagen. Da kommt ein gesunder Mann ins Krankenhaus zum Blutspenden. Mit seinen Organen könnten alle fünf Patienten gerettet werden. Der Chirurg müsste einen opfern, um fünf zu retten. Streng utilitaristisch gedacht ist der Eingriff des Chirurgen schwer abzulehnen.20 Ein weiteres Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie urlauben in einem Land, in dem eine Militärjunta über Nacht die Macht erlangt. Sie sehen zwanzig Aufständische zur Exekution an die Wand gestellt. Ein Hauptmann wählt Sie aus, einen zu erschießen und alle anderen sind frei. Falls Sie sich weigern, werden alle zwanzig erschossen. Utilitaristisch gedacht müssten Sie schießen. - Wegen dieser Probleme wurde u. a. der Regelutilitarismus kreiert, der jedoch weitere Fragen aufwirft. Hier werden nicht einzelne Handlungen beurteilt, sondern die Regeln, nach denen man handelt. Wenn die Regeln mehr positive als negative Folgen zeitigen, sollte man sich an sie halten, und zwar auch dann, wenn klar ersichtlich wird, dass das, was man gerade gemäß der Regel tun will, in einem speziellen Einzelfall in die Katastrophe führt. Betrachten wir nun Aristoteles’ Eudämonismus genauer. Er ist eine teleologische Ethik (altgriech. „telos“ = „Endzweck“, „Endziel“) und geht vom Handeln aus, das zweck-, zielorientiert ist. Das oberste, weil vollkommenste Ziel „dürfte“ die Glückseligkeit sein. Aristoteles räumt jedoch ein, dass es in Bezug auf das Glück viele unterschiedliche Auffassungen gebe, und zwar nicht nur zwischen den Menschen; bisweilen wechselt sogar ein und derselbe Mensch seine Meinung. Aristoteles versteht unter Glück, die Tradition überblickend, ein Tätigsein der Seele21. Zwei Wege, die eine Einheit bilden, führten zum Glück: a) die sittliche Vortrefflichkeit, ermöglicht durch Lernen und Üben, durch Gewöhnung. Sie sei keine Naturgabe, wohl aber seien alle von Natur aus dazu fähig. Glück sei für uns („die Edlen“ vs. die „gewöhnlichen Leu20

Wäre es auch möglich, einen Kranken zu opfern, um die vier anderen zu retten? Ja, aber bei jeweils einem Opfer sind fünf Gerettete besser als vier. Wenn allerdings der so verschonte Blutspender (Glück!) mitgerechnet wird, wäre wieder Gleichstand hergestellt. Aber für erstere Variante hätte man sich schon wegen des bestehenden Risikos früher entscheiden müssen, ohne zuzuwarten, bis - vielleicht - ein Gesunder zur Verfügung steht. Und geht man davon aus, dass die Organe eines Gesunden generell besser geeignet (mehr wert) sind, ist der Gleichstand sowieso fragwürdig. 21 Anm. von mir: Wir müssen nicht warten, ob Glück uns zufällt oder nicht; wir können für unser Glück etwas tun. Obwohl A. weiß, dass es verschiedene Auffassungen gibt von dem, was glücklich macht, legt er sich hier fest, und stimmt denen zu, die sittliche Vortrefflichkeit als Weg zum Glück anerkennen. Vor allem dem einseitigen Luststreben als Glücksquelle, das sich auch als Unlustvermeidung zeigen kann, erteilt er eine Absage, da hier Unersättlichkeit vorliege.

11 te“, für die die einzelnen Freuden miteinander im Streit liegen) erreichbar, indem wir auf die Mitte abzielen, die Extreme vermeiden. Ein inneres Maß zwischen Extremen sei anzustreben; aber nichts festgelegt Quantitatives, sondern „das Mittlere in Beziehung auf uns“; es sei inhaltlich nicht für alle gleich, sondern eine jeweils individuelle Mitte, die sich auch lebensgeschichtlich verändern kann. Hinsichtlich Feigheit und Verwegenheit sei Tapferkeit die Mitte; in Bezug auf Haltlosigkeit gegenüber Genuss vs. Stumpfsinn sei es die Besonnenheit. Solche Mitten gebe es viele, obwohl nicht alle benannt werden könnten, da für sie genauso wie für so manche Extreme Begriffe fehlen. Es sei leicht die Mitte zu verfehlen, schwer sie zu treffen; die Mitte könne nicht auf jedes Verhalten angewandt werden (ausgenommen seien Ehebruch, Diebstahl, Mord, L). Um die Mitte zu treffen, müssten wir von dem Gegensatz stärker abrücken, zu dem es uns hinziehe; gelegentlich würden wir uns auf die Seite des Zuviel oder Zuwenig bewegen müssen. b) Glücklichsein bestehe in einem „Leben der aktiven geistigen Schau“; es „scheint“ Befriedigung und Genuss in sich selbst zu tragen; sei das Höchste überhaupt, der Gegensatz zum Handeln (nach außen); „ein Leben im Geistigen“22, „etwas Göttliches“; je umfassender es sei, desto glücklicher seien wir; es sei im höchsten Grad beim Philosophen zu finden. Dieses Leben bedürfe der Muße (übersetzbar mit Zeit, Ruhe, Gelegenheit): Auch sie scheine Genuss, Glückseligkeit in sich selbst zu tragen. „Denn dies wird uns nicht in der Arbeit, sondern in der Muße zuteil, weil der Arbeitende ja eben durch seine Arbeit einen Zweck erst zu erreichen sucht und nicht also sich schon im Besitz desselben befindet, während die Glückseligkeit selber Endziel ist und jedermann sich dieselbe nicht mit Unlust, sondern mit Genuss verbunden denkt.“ (In: Politik, S 343). Muße ist also der Gegensatz zur Arbeit. Muße und geistiges Schauen bedürfen der „Einkünfte“ bzw. „Gunst der äußeren Umstände“, da wir Menschen seien (Gesundheit [des Leibes], Nahrung, äußere Güter), es sei aber kein beträchtlicher Aufwand erforderlich. Jedoch: „Zur richtigen und edlen Lebensgestaltung in der Muße müsse man erzogen werden; darin liege der Sinn und Zweck der musischen Erziehung.“ (Muse = musische Kunst). Muße mache nämlich auch übermütig und in Muße-Zeiten ließen sich auch Verschwörungen aushecken. Muße bedürfe auch der Philosophie.

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„Der Geist aber hat seinen Rang in der Absonderung (von körperbedingten Beimischungen).“

12 Wie der Utilitarismus kann auch Aristoteles’ Ethik nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Denn erstens ist die Ausrichtung auf ein anstrebenswertes Gut (Glück durch sittliche Vortrefflichkeit) problematisch; zweitens besteht mit dem Anstreben des Maßes ein Problem, auf das Aristoteles nicht hinweist: Man kann im Maßhalten selbst maßlos werden. Wir können uns maßlos mäßigen. Hier ist die Fadesse nicht weit. Außerdem hat die aristotelische Ethik den Nachteil, dass sie wenig Antworten auf viele konkrete Probleme gibt. Andererseits könnte Aristoteles inspirierend sein für einen sinnvollen Umgang mit Gegensätzen (Extremen), in denen wir uns immer wieder finden; allerdings dynamisch vs. im Anstreben der Mitte, obwohl auch Aristoteles die Mitte nicht statisch versteht (im Bereich des Handelns gebe es keine Stabilität; der Handelnde müsse sich nach den Erfordernissen des Augenblicks richten). Wichtig wäre meiner Meinung nach zu vermeiden, Gegensätze dauerhaft (zu lange) einseitig abzuspannen. Einige solcher Gegensätze wären: Spaß - Ernst; Theorie - Praxis; Risiko - Sicherheit; Nähe - Distanz; Spontaneität - Planung; Wachen - Schlafen; Rausch - Nüchternheit; Tiefgang - Oberflächlichkeit; Lust - Verzicht; Aktivität (Handeln) - Passivität (Lassen); Geist - Natur; L Hier wären jeweils situativ passende Antworten zu finden. Kant geht einen anderen Weg. Mit seiner deontologische Ethik (altgriech. „deon“ = „Pflicht“) sucht und findet er eine Antwort auf eine seiner Grundfragen, nämlich: „Was soll ich tun?“ Er bricht mit der Jahrhunderte langen Tradition, in der richtiges Handeln und Urteilen dadurch bestimmt ist, dass irgendein als sittlich wertvoll erachtetes Gut (Tapferkeit, Besonnenheit, L) oder Glück als oberstes Ziel erstrebt werden soll. Mit Ausnahme des „guten Willens“ gebe es nämlich nichts in der Welt, was ohne Einschränkung als gut bezeichnet werden könne. Aber mit dem guten Willen ist kein Wunschdenken gemeint. Was versteht Kant also darunter? Der Wille (das, was ich will) ist dann gut, wenn die ihm zugrunde liegende Maxime der Prüfung durch den kategorischen Imperativ standhält. Was ist eine Maxime? Diese Frage lässt sich nicht unstrittig beantworten. So viel kann jedoch gesagt werden: Sie ist eine Regel, nach der jemand handelt oder beabsichtigt, nach ihr zu handeln: eine Art Leitlinie. Man hat sie nicht von Grund auf, sondern man entwickelt sie; man kann auch gegen sie verstoßen, sie sogar aufgeben. Beispiele: Ich will immer ein Maximum an Profit machen; keine Beleidigung ungerächt zu erdulden.

13 Was ist der kategorische (= unbedingt, allgemein geltende) Imperativ? Er ist von hypothetischen Imperativen zu unterscheiden. Ein solcher könnte lauten: Wenn du A willst, musst du B tun. Etwa: Wenn ich mein Klavierspiel verbessern möchte, muss ich täglich einige Stunden üben. Ein solcher Imperativ kann nicht notwendig für alle gelten, sondern nur unter der Voraussetzung, dass jemand überhaupt sein Klavierspiel verbessern möchte. Der kategorische Imperativ jedoch stellt ein moralisches Prinzip für alle Menschen dar. Es ist losgelöst von jedem Eigennutzdenken, unabhängig von jeder Situation, also von Erfahrungen23. Nur so kann es Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erheben. Der kategorische Imperativ ermöglicht nun die Überprüfung von selbst formulierten Maximen hinsichtlich Moralität. Obwohl Kant sagt, es gebe nur eine Formulierung, hat er ihn in seinem Gesamtwerk unterschiedlich formuliert. Eine Formulierung lautet: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Der kategorische Imperativ ist, wie man sieht, formal, d. h. er schreibt nicht inhaltlich vor, was zu tun ist. Ich muss selbst meine Maximen aufsuchen und prüfen, ob ich sie als allgemeines Gesetz wollen kann. Zur Verdeutlichung eines von Kants Beispielen: Jemand ist in Geldnot und will sich Geld borgen. Er weiß, dass dies nur möglich sein wird, wenn er verspricht, es zurückzuzahlen. Doch genau das hat er nicht vor. Die Maxime wäre: Wenn ich in Geldnot bin, so will ich mir Geld borgen und versprechen, es zurückzuzahlen, obgleich ich weiß, es werde niemals geschehen. Kann ich ein allgemeines Gesetz wollen, das dies erlaubt? Ein Versprechen ist dasselbe wie eine Selbstverpflichtung. Ein falsches Versprechen wäre dann, keine Verpflichtung zu übernehmen. Als allgemeines Gesetz würde das bedeuten, dass mit jeder Selbstverpflichtung keine Verpflichtung verbunden sei. Ein Widerspruch! Ferner wird vermutlich keiner mehr Geld borgen, da allen bekannt sein muss, dass sie es nicht mehr zurückbekommen. Ein nicht kantisches Beispiel: Ich beabsichtige, mit einem öffentlichen Verkehrsmittel zu fahren, ohne den Fahrpreis zu bezahlen. Um herauszufinden, ob dieses Verhalten moralisch ist, formuliere ich eine Maxime. Sie könnte lauten: Immer wenn ich Geld sparen möchte, fahre ich auf Kosten anderer schwarz. Jetzt verallgemeinere ich die Maxime: Kann ich ein allgemeines Gesetz wollen, dass Leute sich in öffentlichen Verkehrsmitteln auf Kosten anderer fortbewegen? Ein solches Gesetz kann die Ver-

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Von Erfahrungen auszugehen ist hinsichtlich Universalisierung problematisch, da es diesbezüglich zwar Ähnlichkeiten, aber auch große Unterschiede geben wird.

14 nunft nicht akzeptieren, da es für Bezahlungsverweigerer vorteilhaft, für die anderen nachteilig ist (sie bezahlen ja). Weitere Beispiele: Kann ich ein allgemeines Gesetz wollen, das Lügen erlaubt? Die Lüge braucht Wahrhaftigkeit, um zu funktionieren. Der Lügner will, dass die Lüge geglaubt wird. Das ist aber nur unter der allgemeinen Annahme möglich, dass Aussagen aufrichtig gemeint sind. Ein allgemeines Gesetz, das Lügen erlaubt, würde diese Annahme aushebeln. Lügen ist deswegen nicht verboten; nur moralisch ist es nicht.24 Oder: Gedankenloses Konsumieren (von Energie, von anderen Gütern). Kann ich ein allgemeines Gesetz wollen, das gedankenloses Konsumieren gutheißt? Aus wirtschaftlicher Sicht könnte ich es, oberflächlich und profitorientiert gedacht, vielleicht noch bejahen; in allgemeiner Hinsicht sicherlich nicht (Ressourcenverschwendung, Abfallberge etc.). Oder: Privatisierung der Gewinne, Vergesellschaftung der Verluste als allgemeines Gesetz? Auch das wird für unsere Vernunft nicht einsichtig sein (analog zum Schwarzfahrerbeispiel). Zu den Missverständnissen bei der Verallgemeinerung oder wie sie nicht gemeint ist: 1) Was wäre, wenn alle das täten? So kann sie nicht verstanden werden, denn dies wäre öfter durchaus vorstellbar (z. B. alle fahren schwarz). 2) So genannte goldene Regeln sind ebenfalls nicht mit obiger Verallgemeinerung gleichzusetzen. Eine solche Regel lautet: Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu! Diese Regel würde jemanden, der zu stolz ist, sich von anderen helfen zu lassen, nicht nur davon entbinden, sondern sogar verbieten, anderen zu helfen. Eine weitere goldene Regel lautet: Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst! Diese Regel klingt plausibel. Was ist aber, wenn ich ein Masochist bin? Oder wenn jemand kein Mitleid will, und deshalb andere niemals bemitleidet. - Dennoch sind diese Leitsprüche mit dem kategorischen Imperativ verwandt und die genannten Regeln können in so mancher Situation Entscheidungshilfen bieten. Kant betont auch, dass sein kategorischer Imperativ nichts Neues sei; er sei nur eine andere, neue

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Kant weist auch darauf hin, dass wir nicht immer moralisch handeln können, denn zu einem vollkommen moralisch bestimmten Willen sei „kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte seines Daseins, fähig (…).“ Dies träfe nur auf die „Heiligkeit“ zu.

15 Formulierung dessen, was ohnehin in jedem Menschen dauernd vor sich gehe, was jeder Mensch - zumindest unbewusst - in sich habe. Alle referierten Beispiele sind negativ. Es wird nur aufgezeigt, welche Maximen nicht verallgemeinerungsfähig sind. Man kann auf eine mögliche Moralität des Verhaltens höchstens durch Umkehrung schließen. Bedauerlich? Wenn Kant keine moralisch richtigen Maximen formuliert, ist er nur konsequent; sonst würde er inhaltlich Moralisches vorschreiben. Und genau das ist nicht seine Absicht. Seine Ethik ist formal. Nur so ist Allgemeingültigkeit möglich. Zwar sind wir auf uns selbst gestellt, jedoch gewährleistet/erfordert vor allem diese Ethik Freiheit, Autonomie (Selbstgesetzgebung). Gerade deswegen wird die Umsetzung dieses Konzepts nicht einfach, vielleicht sogar mühsam sein. Ferner lässt es sich nicht auf alle Fragen des moralischen Handelns und Urteilens anwenden. Es eignet sich jedoch, um jenen entgegenzutreten, die anderen inhaltlich vorschreiben möchten, was moralisch ist und was nicht. Der kategorische Imperativ „ist also nur ein einziger“ (s. o.); dennoch hat Kant ihn in seinem Werk in mehreren Varianten formuliert. Eine (noch) weniger bekannte Formulierung ist die Zweckformel: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. (Hervorhebungen von mir). Das bedeutet, sich selbst und andere niemals nur als Mittel, als Objekt zu sehen, sondern immer auch als Subjekt, als Person mit eigenem Willen. Dadurch ist Menschenwürde gewährleistet. Es gibt eine Weiterführung des kategorischen Imperativs durch Hans Jonas (deutscher Philosoph des 20. Jh.): „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Hierzu müsse man sich eine Vorstellung machen von den örtlichen und zeitlichen Fernwirkungen. Wir seien diesbezüglich auf Prognosen angewiesen. Im Zweifelsfall sei nach „in dubio pro malo“ vorzugehen, d. h. die schlimmere Prognose sei vorzuziehen. Denn es sei weniger bedenklich, sich damit zu irren als andersherum. Resümee: Brauchen wir Werte? Ja, wir brauchen sie, um uns orientieren zu können. Außerdem sind wir, wenn wir Entscheidungen zu treffen haben (auch das Vertreten von Positionen bedarf solcher Entscheidungen), zu Moral und Ethik „verdammt“. Wir richten sie nämlich, obwohl dies nicht immer bewusst geschieht, nach unseren Wertvorstellungen, Wertfiguren aus. Hinter Entscheidungen stehen immer Werte, insofern

16 als Besseres von Schlechterem, Wertvolleres von weniger Wertvollem unterschieden wird. Wertfundamente sind unsere Entscheidungsgrundlage. Sie entlasten uns insofern, als wir uns im (sehr oft auftretenden) Entscheidungsfall, der selbst schon Kraft raubend ist, nicht auch noch auf die Suche nach einer Begründungsbasis begeben müssen. Wir wurden in Wertfundamente „hineingewöhnt“, oft ohne es so recht zu bemerken. Hierbei spielen und spielten traditionelle Instanzen der Wertevermittlung (Kirche, politische Ideologien, SchuleL) eine Rolle. Doch sie sind nicht mehr unumstritten. Ferner hinterfragt der aufgeklärte Mensch Wertsetzungen, vor allem wenn sie inhaltlich vorgegeben sind. Wenn wir aber einerseits ohne solche Gewohnheitsfundamente nicht auskommen, weil wir sie in Entscheidungsfällen brauchen und weil sie entlasten, andererseits die herkömmlichen Vermittlungsinstanzen ihre Selbstverständlichkeit verloren haben, wird die Wertfindung und Wertsetzung zu einem Feld bewusster Gestaltung: Wir müssen uns unsere Fundamente selbst schaffen und dabei überprüfen, was beibehalten, übernommen, was aufgegeben werden soll. Wertebewusstsein ist durch Reflexion herzustellen; dafür ist Denkzeit nötig. Die referierten philosophisch-ethischen Positionen können wir jetzt darauf untersuchen, ob und falls ja, was sie zur Herstellung eines Wertbewusstseins leisten, ob sie bei der Wertsetzung helfen und ob sie tatsächlich „Nahrung“ und „Entlastung“ bieten. Meine Position ist wie folgt: So manche Überlegungen der Nikomachischen Ethik sind beachtenswert (etwa der Gewöhnungsaspekt) und in Anknüpfung an Aristoteles ließe sich die Reflexion schulen, um nicht zu lange in Einseitigkeiten zu verharren. Die kategorischen Imperative (auch Hans Jonas’ Ergänzung) könnten Orientierung und Ausschließungskriterien bieten. Sich um Menschen, denen man persönlich begegnet oder die man persönlich kennt, besonders zu kümmern (Care-Ethik), ist in sozialen Berufsfeldern (aber nicht nur dort) ganz besonders wichtig, obwohl Einschränkungen zu beachten sind. Denn - ganz im Sinne Kants - sind z. B. Fürsorglichkeit und Sorgsamkeit nicht nur gut; sie können z. B. ein Hemmschuh zur Entwicklung von Autonomie sein. Trotz der Problematik des Utilitarismus wird es - mit Einschränkungen beim Handeln - wohl auch wichtig sein, „pleasure“/„happiness“ für möglichst viele Menschen im Auge zu behalten bzw. „pain“ möglichst gering anzusetzen. Schließlich können wir uns auf die Diskurs- oder Prozessethik einlassen und uns so auf Antwort- bzw. Konsensfindung begeben, bezogen auf Differenzen zu anderen (Paar, in der Gruppe, in Organisationen und Institutionen). Anwendungsmöglichkeiten bestehen in der Schule u. a. bezüglich der Erarbeitung von Verhaltensver-

17 einbarungen mit SchülerInnen und im Hinblick auf den Umgang mit der so genannten Kompetenzorientierung (siehe dazu Abschnitt 2).

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Zur Frage der Kompetenzen

Im Jahr 1979 habe ich mit meinem Schuldienst begonnen. Bildung wurde damals und lange Zeit danach in erster Linie als Wissensvermittlung verstanden. Obwohl es bis heute keinen abschließenden Bildungsbegriff gibt, war und ist immer stärker von allen möglichen Seiten zu hören, dass Bildung wichtig sei. Aber wovon reden Leute, wenn sie Bildung fordern? Was verstehen sie darunter? - Seit einigen Jahren soll schulische Bildung, von ministerieller Seite verordnet, vor allem Kompetenzen vermitteln (Kompetenzorientierung). Endlich wissen wir, was wir als Lehrkräfte zu tun haben. Insofern könnte das doch ein Fortschritt sein. Aber ist es das wirklich? Auf der Homepage des BMB finden wir unter der Überschrift „Was sind Kompetenzen?“ Folgendes zu lesen: „(L) Kompetenz stellt die Verbindung zwischen Wissen und Können her und ist als Befähigung zur Bewältigung unterschiedlicher Situationen zu sehen.“ Die Grundlage hierfür liefert der deutsche Psychologe Franz E. Weinert (20.Jh.), der unter Kompetenzen „kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten“ versteht, „um Probleme zu lösen“ und „die Problemlösung in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“ (Hervorhebungen von mir). Offenbar war es unzulänglich, Bildung in erster Linie als Wissensvermittlung zu verstehen. Kompetenzorientierung heißt nun, dass durch schulische Bildung vor allem Fähigkeiten für die Praxis vermittelt werden sollen; die Verwertbarkeit, der Nutzen wird in den Vordergrund gestellt. Hiermit sehe ich die Kompetenzorientierung als eine Antwort auf zumindest drei Differenzen: Form und Inhalt, Theorie und Praxis (Wissen und Können), Zufall und Absicht (Spontaneität und Planung). Diese Antwort verschiebt den Akzent vom Inhalt auf die Form (hinsichtlich der Kompetenzen sind Inhalte nachrangig), von der Theorie auf die Praxis (die Problemlösung), von der Spontaneität zur Planung. Zu Letzterem: Wenn schulische Bildung vor allem Kompetenzen vermitteln soll, ist eine sehr genaue Unterrichtsplanung vonnöten.

18 Eine solche Akzentverschiebung ist nicht schon von vornherein verwerflich. Auf den ersten Blick scheint sie nicht unsinnig und es überrascht, warum das niemanden schon viel früher eingefallen ist. Dennoch gibt es nicht nur Befürworter, sondern auch Skeptiker und Gegner. Als Befürworter versteht sich beispielsweise C. Pichler (Historiker und Kärntner Landeskoordinator in Sachen Matura): Die Kompetenzorientierung sei für sein Fach geradezu „revolutionär“. Dass sie aber nicht nur ungeteilte Zustimmung findet, ist nur zu gut verständlich, denn mit dem zweiten Blick stellen sich tatsächlich einige Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind bzw. auf die es keine unstrittigen Antworten gibt: Soll schulische Bildung vornehmlich auf Befähigungen, also auf Nutzen, Verwertbarkeit ausgerichtet werden? Gib es wünschenswerte Kompetenzen und solche, die es nicht sind? Wer entscheidet das? Wenn Kompetenzorientierung „zur Bewältigung unterschiedlicher Situationen“ (Homepage des BMB) befähigen soll, ist mehr als fraglich, welche Kompetenzen das sein sollen, da wir vor allem über die unterschiedlichen Situationen der (fernen) Zukunft keine Aussagen machen können. Sollen also Fähigkeiten für Situationen, die wir prinzipiell nie kennen können, vermittelt werden? Offenbar birgt die Formel schulische Bildung = Kompetenzorientierung einige Probleme. Wenn ich ein Problem darin sehe, schulische Bildung vor allem auf den Verwertbarkeitsaspekt abzustellen, heißt das wiederum nicht, dass Schule nichts Nützliches vermitteln darf. Auch SchülerInnen fragen sich oft, was ihnen das eine oder andere „bringt“ (gemeint ist: für die Zukunft). Einerseits ist diese Frage berechtigt, weil SchülerInnen vieles lernen müssen bzw. mussten, wo sich Sinnfragen stellen (z. B. über alle Frauenbekanntschaften Goethes). Andererseits ist diese Frage problematisch, wenn alles nur mehr darauf abgestellt ist, dass es für die Zukunft etwas „bringt“. Denn - wie schon gesagt - wir wissen nicht genau, was in Zukunft gebraucht wird.25 Die Arbeitswelt entwickelt sich rasant in Richtungen, die schwer prognostizierbar sind. Dem könnte entgegengehalten werden, dass dann eben neue Kompetenzen zu erstellen wären. Das ist aber unrealistisch, denn Kompetenzen sollen in Zukunft im Lehrplan festgeschrieben werden (siehe Semestrierung!). Einmal festgelegt bedarf es einer ziemlichen Prozedur zu einer Änderung. Wegen dieses Aufwands müssen fixierte Kompetenzen dem sich ändernden Bedarf immer hinterherhinken. Außerdem ist obige Frage problematisch, weil sich SchülerInnen oft nicht erschließt, ob sie et25

Dieses Problem stellt sich auch bei der Wissensvermittlung. Aber nicht jedes Wissen altert schnell und ist in Zukunft unbrauchbar. Das trifft besonders auf die Philosophie zu, da es hier den linearen Wissensfortschritt nicht gibt.

19 was in Zukunft brauchen werden oder nicht. Allzu oft stellt sich heraus, dass etwas brauchbar ist, was man als unnütz erachtet hat. Allerdings auch das Gegenteil! Meine These lautet: Bildung muss immer mehr sein als vor allem auf den Nutzen ausgerichtet, als vornehmlich auf Problembewältigung abgestellt, nämlich z. B. Persönlichkeitsentwicklung, Interesse an Erkenntnissen ungeachtet der Verwertbarkeit. Prozessethisch könnte die Kompetenzorientierung vor allem in den Fachgruppen reflektiert werden, ausgehend beispielsweise von folgender Fragestellung: Wie wollen wir es in unserer Fachgruppe mit der Kompetenzorientierung halten? Darüber hinaus dürfte die Frage, ob schulische Bildung in allen Fächern vornehmlich Kompetenzen vermitteln soll, nie ganz außer Acht gelassen werden. Diesbezüglich sind unterschiedliche Antworten/Positionen, hinter denen Wertfiguren stehen, zu erwarten. Solche Antworten wären miteinander zu konfrontieren mit dem Ziel der Konsensfindung. Die Prozessethik bietet sich diesbezüglich an, weil sie nichts außer Streit stellt, weil hier auf Differenzen zurückgegangen wird, um tiefergehende Einsichten zu erlangen. Meine Position zum Fach Psychologie/Philosophie lautet vorweg: Wenn Philosophie als "Differenzwissenschaft" verstanden wird, was bedeutet, Vorgegebenes mit dem Nichts (der Negation) zu konfrontieren, um dann zu schauen, ob bzw. was übrig bleibt, dann wäre auch der Kompetenzbegriff dieser Negation auszusetzen. Vermutetes Ergebnis: Ja, Kompetenzen sind wichtig. Aber die gegenwärtige „Kompetenzmanie“ (vor allem gleichermaßen für alle Fächer) ist äußerst fragwürdig. Der Vorwurf jedoch, dass es mit der Kompetenzorientierung um Verzweckung von Schule gehe, greift zu kurz. Schule hat immer schon Zwecke verfolgt (bisher: Wissensvermittlung, Disziplinierung); jetzt sind es eben vornehmlich andere Zwecke. Das ist zwar kein Argument (auch wenn etwas lange besteht, kann es trotzdem falsch sein) und grundsätzlich steht deswegen die Verzweckung nicht außer Streit. Andererseits kann das aber nicht heißen, dass Schule nie Zwecke verfolgen darf. Wichtig aber wäre nachzudenken über partielle Zweckfreiheit. Sie könnte im Fach Psychologie/Philosophie, vor allem im Philosophieunterricht besondere Berücksichtigung finden.

20 Bezogen auf Philosophie ist die Orientierung am Nutzen problematisch, denn die Frage danach begleitet sie in unserer Tradition schon seit Thales von Milet. Eine abschließende Antwort darauf gibt es nicht. Gerade wegen obiger Akzentverschiebung ist als wichtige gegenteilige Auffassung die Position Aristoteles’ besonders hervorzuheben. Er spricht von Theorie UND Praxis. Beides sei wichtig, aber „ein Leben der aktiven geistigen Schau“ (die Theorie) der Praxis vorzuziehen. Es sei etwas Göttliches, zwar auch eine Tätigkeit, aber nicht nach außen gerichtet. Die Vorteile seien folgende: In der „geistigen Schau“ seien wir autark; wir brauchten niemand anderen dazu. Sie werde um ihrer selbst willen gewählt; wir erwarten von ihr nicht wie beim praktischen Wirken mehr oder minder großen Nutzen (Hervorhebung von mir). Sie stelle das vollendete Menschenglück dar. Wem ein Wirken solcher Art völlig versagt bleibe, der habe keinen Anteil am Glück. Je eindringlicher der Akt des Schauens, desto tiefer sei das Glücklichsein. Das „geistige Schauen“ könnte, insofern als es auch ein Tun darstellt, ebenfalls als Kompetenz verstanden werden. Dies wäre jedoch ein völliges Missverständnis der Ansicht Aristoteles’. Denn Kompetenz soll für etwas gut sein/nützen. Für Aristoteles hat jedoch das nicht auf den Nutzen ausgerichtete „geistige Schauen“ Vorrang und damit ist die Akzentverschiebung zugunsten der Praxis zumindest aus der Sicht der aristotelischen Ethik problematisch. Außerdem ist für „ein Leben der aktiven geistigen Schau“ laut Aristoteles „Muße“ (Zeit, Gelegenheit) vonnöten. Diese Muße scheint zumindest in Gefahr. Ich mache sowohl im kompetenzorientierten Philosophie- als auch im Deutschunterricht die Erfahrung, dass der Unterricht gegenüber früher viel gehetzter abläuft, weil bei gleichem Stundenausmaß viel mehr untergebracht werden muss. Deswegen bleibt auch viel weniger Zeit für Gespräche, Diskussionen. Ferner war der Zufall früher willkommener Gast; jetzt ist er ein weitgehend zu eliminierender Störenfried, weil er dem genau geplanten Unterricht zuwiderläuft. Allerdings ist all dies mehr den zahlreichen Themenbereichen geschuldet als der Kompetenzorientierung. Dennoch gibt es hier einen Zusammenhang: In der Philosophie ging es mir immer schon darum nicht nur Gedachtes, sondern auch Denken (eine Kompetenz) zu lehren. Letzteres ist aber nur möglich, wenn SchülerInnen viel wissen, also viel an Inhalt vermittelt bekommen. Jetzt ist aber nicht nur eine Kompetenz (das Denken) zu vermitteln, sondern es sind viele. Der Fokus müsste jedoch speziell in diesem Fach weiterhin auf der Wissens-

21 vermittlung liegen. So wird vor allem erst sinnvoller „Transfer“ (ebenfalls ein Begriff des kompetenzorientierten Unterrichts) möglich. Außerdem ist anzumerken, dass der Kompetenzbegriff mit der betriebswirtschaftlichen Engführung von Ökonomie im Zusammenhang steht. Mit der stark zunehmenden Ökonomisierung von Schule (z. B. der Betrachtung unter wirtschaftlichen Kriterien wie Kosten/Nutzen) wird besonders auf die Verwertbarkeit von schulischer Bildung Bedacht genommen. Der Nutzen besteht in der Vermittlung von Kompetenzen; die Zielerreichung kann über die Kompetenzmessung ermittelt werden. Diese Ökonomisierung von Schule zeitigt jedoch viele fragwürdige Konsequenzen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Um Bewegung zu gewährleisten, die sich über Position und Gegenposition vollzieht, scheint es wichtig, das geistige Schauen des Aristoteles und die Beachtung des (noch) nicht Nützlichen bzw. dessen, wo sich der Nutzen überhaupt nicht abzeichnet, als Eigenwert sowie die immer wieder eingeforderte Autonomie (vernunftbestimmte Selbstgesetzgebung) den ministeriellen Vorgaben als Gegengewicht gegenüberzustellen.

Mag. Dr. Bruno Posod

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