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Konkurrenz für Titan

PEEK erobert den Medizintechnikmarkt Immer häufiger werden chirurgische Instrumente, Endoskope und vor allem Implantate aus PEEK (Polyetheretherketon) gefertigt. Seinen Erfolg verdankt der Hochleistungskunststoff, den Evonik unter dem Namen VESTAKEEP® vermarktet, seinen mechanischen Eigenschaften, seiner Röntgentransparenz und seiner Biokompatibilität. [ text Marc Knebel ]

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Wirbelsäulenimplantat aus PEEK: Die höhere Elastizität von VESTAKEEP® im Ver­ gleich zu Titan reduziert Spannungsspitzen an der Grenzfläche von Knochen und Wirbel­ säulenimplantat

Einer Studie von Frost & Sullivan zufolge gehören Rückenschmerzen zu den häufigsten Beschwerden in den USA – allein im Jahr 2005 gingen die US-Amerikaner wegen Problemen mit Bandscheiben oder Wirbelsäule knapp 20-millionenmal zum Arzt. Bisweilen hilft nur ein chirurgischer Eingriff gegen die Schmerzen: Jedes Jahr werden in den USA mehr als 800.000 Operationen an der Wirbelsäule durchgeführt. Zu den gängigen Methoden gehören je nach Alter und Krankheitsbild die Entfernung von Bandscheiben (Diskektomie) oder von Teilen des Wirbelkörpers (Laminektomie), der Ersatz von Bandscheiben durch Implantate und die Stabilisierung (Non Fusion) oder Versteifung (Fusion) des entsprechenden Wirbelsäulenabschnitts ebenfalls mit Implantaten. Immer häufiger greifen Hersteller medizinischer Produkte in der Wirbelsäulenchirurgie, aber auch in Bereichen von Traumatologie und Orthopädie zu Polyetheretherketon (PEEK), wenn es um die Fertigung von Implantaten oder medizinischen Instrumenten geht. Das Material, das Evonik unter dem Namen VESTAKEEP® vermarktet, ist biokompatibel, inert gegen Körperflüssigkeiten und lässt sich einfach zu individuellen Implantaten verarbeiten. Gegenüber Titan, dem klassischen Implantatmaterial, punktet es außerdem mit Röntgentransparenz und einer Elastizität, die etwa der von Knochen entspricht. Wegen seiner herausragenden Eigenschaften hat sich PEEK mittlerweile zum wichtigsten thermoplastischen Ersatzstoff für Titanimplantate entwickelt. Da Implantate ein Leben lang halten sollen, müssen die dafür genutzten Materialien sowohl biostabil als auch mechanisch beanspruchbar sein. Lange Zeit war dies ausschließlich die Domäne von Titan oder Kobalt-Chrom. Doch inzwischen werden immer

mehr Implantate aus PEEK eingesetzt, die sich, aus Halbzeugen gefertigt, besser zerspanen lassen oder, im Spritzgießverfahren hergestellt, noch zusätzliche Designfreiheit gewähren.

Elastisch und röntgentransparent Im Vergleich zu Titan oder anderen Metalllegierungen bieten Implantate aus PEEK noch zahlreiche weitere Vorteile. So kommen metallische Implantate an ihre Grenzen, wenn es um bildgebende Verfahren geht, mit denen der Arzt die Operation begleitet, den Heilungsprozess verfolgt und das Ergebnis kontrolliert. Wegen ihrer Dichte sind Metalle undurchlässig für Röntgenstrahlen und produzieren deshalb im einfachen C-Bogen wie auch im Computertomographen (CT) und beim Magnetic Resonance Imaging (MRI) Artefakte. Diese versperren den Blick auf das hinter dem Implantat liegende Knochengewebe und erschweren so eine sichere Bildauswertung. VESTAKEEP® dagegen ist wegen seiner Röntgentransparenz im CT und MRI unsichtbar und erlaubt so eine gute Kontrolle von Knochenwachstum und Heilungsprozess. In bestimmten Fällen will der Arzt dennoch das Implantat sehen können, etwa, um den Sitz des Implantats zu kontrollieren. Auch dies lässt sich durch Modifizierungen einstellen. Eine weitere Schwachstelle der Metalle ist der hohe Elastizitätsmodul, der deutlich über dem des Knochenmaterials liegt. Das Implantat übernimmt deshalb einen Großteil der mecha­ nischen Belastung und entlastet so den Knochen. Dieser sogenannte Stress-Shielding-Effekt kann weitreichende Folgen haben: Da Knochen die mechanische Beanspruchung brauchen, um sich einerseits im Heilungsprozess zu regenerieren und 333

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Zahnimplantate aus PEEK. Im Unterschied zu den klassischen Materialien können sie spritz­ gegossen werden und reduzieren damit die Herstellkosten

333 andererseits dauerhaft ihre Festigkeit zu behalten, kann sich die Heilung verlangsamen und der entlastete Knochen sich im Laufe der Jahre sogar abbauen. Im Gegensatz zu den Metallen weist VESTAKEEP® einen niedrigeren E-Modul bzw. eine höhere Elastizität auf, die in der Größenordnung von Knochenmaterial liegt. Dadurch wird der Stress-Shielding-Effekt verhindert, so dass im Kontakt mit dem Knochen dieser nicht völlig von mechanischer Beanspruchung entlastet wird. Er kann so seine Festigkeit auch über Jahre behalten.

Ein Kunststoff für harte Umweltbedingungen Sowohl die Röntgentransparenz als auch die Verhinderung des Stress-Shielding-Effekts haben mit dazu beigetragen, dass sich PEEK in den vergangenen Jahren als bedeutendste thermoplastische Alternative zu den metallischen Implantatmaterialien etabliert hat. Der vergleichsweise junge Hochleistungskunststoff ist erst seit Anfang der 1980er Jahre auf dem Markt und kommt immer dann zum Einsatz, wenn Bauteile harten Umweltbedingungen standhalten müssen – etwa hohen Temperaturen, Korrosion durch Salze, Lösemitteln, ätzenden Stoffen und Säuren oder extremen mechanischen Belastungen. Grund dafür ist der aromatische, teilkristalline Charakter des PEEK-Polymers. Aufgrund seiner chemischen Struktur und seiner Morphologie besitzt es ausgezeichnete Beständigkeit gegenüber Verschleiß, Abrieb, Hydrolyse, Korrosion und Chemikalien. Zudem zeichnet sich PEEK durch hohe Maßhaltigkeit aufgrund der geringen Wasseraufnahme, hohe Steifigkeit bei niedrigem Gewicht, eine hohe Wärmeformbeständigkeit, eine Dauer­ gebrauchstemperatur von 260 °C und vielseitige Verarbeitbar-

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keit aus. Verglichen mit anderen Kunststoffen bietet PEEK die beste Kombination aus inertem Verhalten und Wärmeformbeständigkeit. Wichtige nichtmedizinische Anwendungsbereiche sind die Halbleiterfertigung, die Ölexploration, Fahrzeuge sowie die Luftfahrt, wo es beispielsweise in Flugzeugen zunehmend Werkstoffe wie Aluminium, Titan oder Stahl verdrängt. In Medizinprodukten wird PEEK in der Regel eingesetzt, weil es einen höheren Nutzen bietet: Es spart Gewicht, ermöglicht mehr Freiheit beim Design und eine höhere Funktionsintegration. Zugleich ist es eine kostengünstigere Alternative zu Metall oder anderen Materialien. Neben chirurgischen Instrumenten und Endoskopen, bei denen auch die guten elektrischen Isolationseigenschaften von PEEK zum Tragen kommen, sind vor allem die Implantate ein wichtiges Einsatzgebiet. Typische Anwendungen sind Wirbelsäulenimplantate, orthopädische Implantate, Dentalimplantate sowie die Traumachirurgie, bei der Knochenbrüche fixiert oder Knochenfragmente ersetzt werden.

Sehr gute Sterilisationsbeständigkeit Wesentlich für die medizinischen Anwendungen von PEEK sind neben den mechanischen Eigenschaften und der Röntgentransparenz die ausgezeichnete Sterilisationsbeständigkeit und die Biokompatibilität. Viele andere Polymere kommen an ihre Grenzen, wenn zur hygienischen Reinigung die Kombination aus Waschen, chemischem Reinigen und Dampfsterilisation ein­ gesetzt wird. Nicht so PEEK: Der Hochleistungskunststoff behält auch nach Langzeiteinwirkung von heißem Dampf, Ethylenoxid und Gammastrahlen seine ursprünglichen Eigenschaften unverändert bei und lässt sich deshalb problemlos mit allen gängigen Methoden

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Tabelle 1 Biokompatibilitätsprüfungen VESTAKEEP® I VESTAKEEP® M USP Class VI





Akute systemische Toxizität





Subkutane Irritation





Implantationstest 7 Tage





Zytotoxizität





Sensibilisierung





Hämokompatibilität



Implantation subkutan 90 Tage



Genotoxizität



Subchronische systemische Toxizität



Evonik hat die Biokompatibilität seiner VESTAKEEP® Polymere in umfang­reichen Untersuchungen von einem unabhängigen Prüfinstitut nachweisen lassen; sie ist vor allem auf die hohe Chemikalien­beständig­keit zurückzuführen

sterilisieren – eine wichtige Voraussetzung beispielsweise für den Einsatz in chirurgischen, mehrfach verwendbaren Instrumenten. Da die Polymere sich zudem gut einfärben lassen, sind auch Farbkodierungen der Instrumente möglich.

Maßgeblich für Biokompatibilität ist das fertige Medizinprodukt Die Biokompatibilität entscheidet über die grundsätzliche Eignung eines Werkstoffs als Implantatmaterial – der Werkstoff darf weder cytotoxisch noch mutagen noch cancerogen sein, darf keine allergenen Eigenschaften besitzen und muss auch in der biologischen Umgebung stabil sein. Der Nachweis der Biokompatibilität muss jedoch immer am fertigen Medizinprodukt erfolgen, da sich durch die Verarbeitung und Kombination der Rohstoffe deren biologische Verträglichkeit ändern kann. Die Anforderungen an die Biokompatibilität des fertigen Medizinprodukts hängen dabei sowohl von der Art des Kontakts (Haut, Blut, Fettgewebe, etc.) als auch von der Dauer des Kontakts ab. Die biologische Beurteilung von Medizinprodukten richtet sich deshalb nach der vorgesehenen Verwendung. Die DIN EN ISO 10993 fasst zahlreiche internationale Normen zur Biokompatibilitätsprüfung zusammen und regelt die Auswahl der Prüfungen, die für die jeweilige Anwendung relevant sind. Dennoch sind bestimmte Prüfungen am Rohstoff sinnvoll, da sie einen wichtigen Hinweis auf die Eignung im fertigen Endprodukt liefern. Neben der DIN EN ISO 10993 beschreibt die US Pharmacopoeia (USP) „General Chapter ” Prüfungen an Kunststoffen für Medizinprodukte und ermöglicht eine Einteilung je nach Anwendung in die Klassen I bis VI, wobei Kunststoffe der Klasse VI die höchsten Anforderungen erfüllen 333

Tabelle 2 Entsprechend den Untersuchungen eines unabhängigen Prüfinstsituts erfüllen VESTAKEEP® I-Formmassen umfangreiche Anforderungen für medizinische Anwendungen

United States Pharmacopoeia Testing: „Biological Reactivity Testing In Vivo“ Class VI: • Acute Systemic Toxicity Test: 4 verschiedene Extraktionsmedien (70°C/24h) • Irritation Test – Intracutaneous Injection Test: 4 verschiedene Extraktionsmedien (70°C/24h) • Implantation Test: In-vivo-Implantation Test: intramuskulär, 7 Tage Weitere Prüfungen, die in Anlehnung der ISO 10993 durchgeführt wurden. Hierbei handelt es sich um Untersuchungen der Toxizität, Sensibili­sie­rung, Irritation, subchronischen Toxizität, Geno­toxizität und der Implantation: • Zytotoxizität gemäß ISO 10993-5 • Hämokompatibilität gemäß ISO 10993-4 • Intrakutane Reaktivität gemäß ISO 10993-10 • Sensibilisierung gemäß ISO 10993-10 • Akute systemische Toxizität gemäß ISO 10993-11 • Subchronische Toxizität gemäß ISO 10993-11 • Genotoxizität (Ames Test); Durchführung gemäß EN ISO 10993-3 und OECD • Genotoxizität (Chromosomenaberrationstest); Durchführung gemäß ISO 10993-3 • Genotoxizität (Maus-Lymphoma-Test) gemäß ISO 10993-3 OECD 476 • Implantation In-vivo-Implantation intramuskulär 12 Wochen gemäß ISO 10993-6

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34  D E SIGN ING WITH POLYM ER S abgestimmt, und eine Chargenprüfung „in vitro“ auf Zyto­ toxizität nach DIN EN 10993-5 bietet zusätzliche Sicherheit. VESTAKEEP® I-Formmassen erfüllen entsprechend den Untersuchungen umfangreiche Anforderungen für medizinische Anwendungen (Tab. 2, S. 33). Danach sind VESTAKEEP® I-Polymere inert gegen Körperflüssigkeiten und zeigen keine nachteiligen Effekte in den standardisierten Biokompatibilitätsprüfungen: Sie sind nicht toxisch, rufen keine Hautrötungen oder Ödeme hervor und sind nicht biologisch reaktiv. Im intramuskulären Implantationstest ließen sich außerdem weder Entfärbung oder Verkapselung noch Infektionen, Blutungen oder Nekrose feststellen. Auch die Untersuchungen der Hämokompatibilität und der subchronischen Toxizität zeigten keine Auffälligkeiten. Die Spezifikation, die Produktion und die produktbegleitende Dokumentation wurden an die hohen Anforderungen der Medizintechnik angepasst.

Gleichbleibende Qualität wichtige Voraussetzung für Medizintechnik

Mit zertifizierten und valdidierten Arbeitsabläufen gewährleistet Evonik die gleichbleibende Qualität der eingesetzten Rohstoffe, der Produk­ tions­prozesse und der PEEK-Polymere

333 müssen. Auch hier gilt natürlich der Grundsatz, dass die Bio-

kompatibilität am fertigen Endprodukt sichergestellt werden muss.

Umfangreiche Biokompatibilitätsprüfungen bestanden Evonik hat die sehr gute Biokompatibilität von VESTAKEEP® – sie ist vor allem auf die hohe Chemikalienbeständigkeit zurückzuführen – in umfangreichen Untersuchungen von einem unabhängigen Prüfinstitut nachweisen lassen. Je nach Art und Dauer des Körperkontakts werden zwei unterschied­liche PEEK Varianten angeboten. Die Variante VESTAKEEP® M ist für kurzzeitigen Kontakt geeignet, beispielsweise für chirurgische Instrumente. VESTAKEEP® I dagegen eignet sich für den Langzeitkontakt, wie es für Implantate erforderlich ist (Tab. 1, S. 33). Die Rezeptur dieser Polymere ist auf eine hohe Bio­­kompatibilität

Marc Knebel ist im Geschäftsgebiet High Performance Polymers von Evonik verantwortlich für Sales & Marketing von VESTAKEEP® Medical. +49 2365 49-6783 [email protected]

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Medizinprodukte, die für den Langzeitkontakt mit Körpergewebe vorgesehen sind, müssen für die Registrierung in Europa oder in den USA besonders hohe Qualitätsanforderungen erfüllen. Die Hersteller müssen dazu einerseits nachweisen, dass die Rohstoffe für das jeweilige Einsatzgebiet geeignet sind, und andererseits darlegen, wie sie eine gleichbleibende Qualität gewährleisten. Beispielsweise wirken sich bei der Weiterverarbeitung in Extrusion oder beim Spritzgießen unterschiedliche Abkühlraten auf die Materialeigenschaften von PEEK aus. Auch Dauer und Temperatur der Wärmenachbehandlung haben einen direkten Einfluss auf die Kristallinität der PEEK-Polymere und damit auf ihre mechanischen Eigenschaften. Das heißt einerseits, dass die Materialeigenschaften gezielt gesteuert werden können, andererseits aber auch, dass Fehler im Produktionsprozess die Qualität verändern. Evonik als Rohstoffproduzent gewährleistet die gleichbleibende Qualität der eingesetzten Rohstoffe, der Produktionsprozesse und der PEEK-Polymere mit zertifizierten und validierten Arbeitsabläufen und einem leistungsfähigen Qualitätssicherungssystem. Diese zum Teil vertraulichen Informationen wurden außerdem in einem Device Master File bei der Food and Drug Administration (FDA) in den USA hinterlegt. Das erleichtert den Kunden die Registrierung eines neuen Implanatats: Beantragt ein Medizinproduktehersteller die Registrierung in den USA, kann die FDA direkt in der jeweiligen Dokumentation alle relevanten Informationen über den eingesetzten Rohstoff recherchieren. Evonik bietet darüber hinaus anwendungstechnische Beratung bei der Fertigung der Implantate, die wegen der meist geringen Stückzahlen überwiegend spanend aus Halbzeugen und nur bei größeren Volumina im Spritzgießverfahren hergestellt werden. Basis der Beratung sind umfangreiches Know-how in allen gängigen Verarbeitungstechniken, ein eigens für die Medizintechnik geschultes Team und externe medizinische Berater, die für die notwendige Augenhöhe gegenüber dem Kunden sorgen. Dahinter steckt nicht nur ein umfassender Servicegedanke, sondern auch Eigennutz: Da die Lebenserwartung kontinuierlich steigt, nimmt auch das Risiko von Wirbelsäulen­ erkrankungen zu – und damit auch die Wahrscheinlichkeit, selbst ein Implantat zu benötigen. 777