Neoliberalismus als sozialer Liberalismus?

Büro Landesrat Dr. Hermann Kepplinger Altstadt 30/2, A-4021 Linz (0043) 732 7720 – 12040 [email protected] RB Neoliberalismus als sozialer Libe...
Author: Max Walter
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Büro Landesrat Dr. Hermann Kepplinger Altstadt 30/2, A-4021 Linz (0043) 732 7720 – 12040 [email protected] RB

Neoliberalismus als sozialer Liberalismus? Von Chicago bis (Ober-)Österreich

Fassung vom 4. Dezember 2008

Inhalt

Der Anlass .................................................................................................................. 1 Ein wenig Dogmengeschichte zur Orientierung .......................................................... 2 Die Krise als kleiner Betriebsunfall ........................................................................... 21 Good Public Governance?........................................................................................ 27 Was hat das denn mit Ober-/Österreich zu tun?....................................................... 30 Zusammenfassung der Ergebnisse .......................................................................... 35

Der Anlass

Ein prominenter oberösterreichischer Landespolitiker erklärte am 6. November 2008 im Landtag sinngemäß (gefilmt und protokolliert), der Neoliberalismus •

sei eine Gegenbewegung zum "laissez faire"-Liberalismus des 19. Jahrhunderts,



schaffe einen Ordnungsrahmen für die Marktwirtschaft,



sei eine der Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft,



so dass auch Ludwig Erhard ein Vertreter des Neoliberalismus gewesen wäre,



hätte in den 1990er Jahren durch die politische Demagogie der SozialdemokratInnen eine Umdeutung erfahren, und zwar in Form einer Kampfparole als Ersatzdroge für den Klassenkampf früherer Jahrzehnte,



würde nicht propagiert werden, da unsere gute Konzeption – die Ökosoziale Marktwirtschaft – in der Mitte zwischen Neoliberalismus und Neosozialismus (gemeint ist wahrscheinlich der Dritte Weg) liege.1

Merkt man die Absicht und ist man verstimmt? Es ist wohl so. In ähnlich provokanter Weise ist man geneigt zu erwidern: "Lernen Sie Dogmengeschichte, Herr Politiker!" Jedenfalls ist diese Äußerung Grund genug, sich hier mit ökonomischen Schulen und wirtschaftspolitischen Entwicklungen auseinanderzusetzen. Dies deshalb, weil nun einerseits die neoliberale Wirtschaftspolitik der vergangenen drei Jahrzehnte nahezu rund um den Globus und nun besonders beängstigend ihre problematischen Auswirkungen deutlich macht. Und andererseits, weil der Neoliberalismus offenbar in seiner nunmehrigen Verteidigungsposition aus der Schusslinie der Kritik genommen werden soll, um ihn und die dahinter stehenden Interessen weiterhin zu wahren. Hier soll argumentiert werden, dass versucht wird, davon zu überzeugen, wir betrieben nicht Neoliberalismus, sondern Soziale Marktwirtschaft (mehr noch: Ökosoziale Marktwirtschaft), das System wäre stabil, die jetzige Krise sei ausnahmsweise durch Missbrauch entstanden, und wir in (Ober-)Österreich hätten mit der Krise nichts zu tun, hätten nicht zur Zuspitzung beigetragen.

1

Diese Darstellung folgt dem Anhören des Videomitschnitts von der Landtagssitzung auf www.ooe.gv.at.

1

Dazu seinen zunächst die Dogmen und ihre grundlegenden Politiken klargelegt, bevor Fehler, Unredlichkeiten, Taktiken und sonstige Beiträge zur Krisenanfälligkeit des Systems aufgezeigt werden sollen.

Ein wenig Dogmengeschichte zur Orientierung

Wie jede ökonomische Strömung (auch: Paradigma, Dogma) kam der ökonomische Liberalismus (Wirtschaftsliberalismus) in all seinen Ausformungen in einem jeweils entsprechenden Entstehungszusammenhang auf.

Klassischer ökonomischer Liberalismus als die Wurzel Seine erste historische Ausprägung erfuhr er als Klassischer ökonomischer Liberalismus ab der Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem in Großbritannien, und zwar als Reaktion auf den politischen Absolutismus der Hocharistokratie und das starre berufsständische Regelungssystem. Die Berufsstände wirkten konservativ und ließen keine wirtschaftlich und gesellschaftlich dynamische Entwicklung zu (nahezu Nullwachstum der Wirtschaft). Der politische Absolutismus setzte sein gesamtes Streben nahezu bedingungslos auf die Erzielung von Staatseinnahmen zur Finanzierung der luxuriösen Hofhaltung, der Prachtbauten und der Kriegführung. Dazu bediente man sich staatlicher Faktoreien zur Steigerung der Produktivität, zur Erwirtschaftung hoher Außenbeiträge zum Inlandsprodukt und zur Abschöpfung der Gewinne sowie einer einfallsreichen wie exzessiven Besteuerung. Dem gegenüber setzte die schottische Moralphilosophie (aus der die Ökonomie als eigenständige Wissenschaft hervorging) auf das relativ stark als sittlich angesehene Streben des Individuums nach Selbstverwirklichung zum einen in religiöser Pflichterfüllung und/oder zum anderen in wirtschaftlichem Erfolg. Das Geniale eines Adam Smith und David Ricardo war es obendrein, den Mechanismus des Marktes, der verstärkte Arbeitsteilung und dadurch merkliche Produktivitätssteigerungen erlaubte, als einen Automatismus zu begreifen, der funktionierte, sofern sich die verhasste ständische und aristokratische Obrigkeit nicht despotisch einmische. Als wesentliche Triebkraft wurde in diesem System das materielle Eigeninteresse erkannt und als Streben nach mehr Wohlstand legitim erachtet. Zusammen mit dem kommerziellen Wettbewerbsprinzip ließ der materielle Egoismus die Einzelentscheidungen auf dem Markt als Beiträge zum Allgemeinwohl wie von einer "hidden hand" gelenkt quasi als Ausfluss eines Natur- oder Gottesgesetzes erscheinen. 2

Das bewirkt bis heute die verbreitete Grundauffassung im ökonomischen Mainstream, dass die Wohlstands- oder Reichtumssteigerung eines Einzelnen immer zur Mehrung des Gesamtwohlstands beitrage. Demnach wäre das egoistische Streben des Individuum wirtschaftlich und (was wäre damals noch dagegen einzuwenden gewesen?) auch gesellschaftlich optimal ("das große Glück der großen Zahl"). Freilich war man sich bewusst, dass es im Leistungswettbewerb GewinnerInnen und VerliererInnen gebe. Doch einerseits rechtfertigen Klassisch-liberale Ökonomen die Besteuerung von nicht selbst verantwortetem Vermögenszuwachs durch hohe Erbschaftssteuern. Andererseits kommt eine qualitative Komponente der Lebenszufriedenheit in die quantitative Expansion von Produktivität und Einkommen: Die Tüchtigen, Erfolgreichen kommen in die Lage, die Schönen Künste zu genießen und werden dadurch gegenüber ihren armen Mitmenschen mildtätig gestimmt; diese Caritas sollte Armenwesen und Bildungssystem im Wesentlichen finanzieren.

Sozialismus als systemische Problemanalyse Die Gegenbewegung dazu bildeten der Frühsozialismus und der Wissenschaftliche Sozialismus. Angesichts der großen Sozialen Frage (ein eingeübter, aber euphemistischer Ausdruck) setzte der Frühsozialismus primär induktiv bei der Bekämpfung der Armut und des Elends der werktätigen Massen an – wohl das hässlichste Phänomen des Klassischen ökonomischen Liberalismus.2 Indes analysierte der Wissenschaftliche Sozialismus als Systemtheorie weit stringenter die Entstehung der Ungleichheit und leitete darüber hinaus die negativen Folgen von Ungleichheit für Konjunktur und Langfristwachstum daraus her.3

Neoklassik und das Postulat freier Märkte Mittlerweile bildete sich die Neoklassik heraus, eine Schule, die formal (mit Hilfe der Extremwertmethode) die Gewinn- und Nutzenmaximierungsentscheidung des 2

Gleichwohl suchte dereinst einmal ein hochrangiger Funktionär der Industriellenvereinigung in Oberösterreich – erfolglos – nach einem Historiker oder einer Historikerin, der oder die endlich einmal nachweisen möge, dass sich die ArbeiterInnen der Industriellen Revolutionen glücklich schätzen konnten, in die Stadt geflohen und in der Industrie beschäftigt zu sein, da sie auf dem Land ohnehin verhungert wären. 3

Das war nach dem Tableau économique von Francois Quesnai und dem Handelsüberschussdenken der Merkantilisten die erste umfassende und als solches eine moderne Makroökonomie – selbst wenn sie heute verteufelt wird, indem man sie mit Leninismus, Stalinismus und Zentraler Planwirtschaft gleichsetzt.

3

privaten Unternehmens bzw. des Privathaushalts erklärt und dabei – vor allem damals im Regelfall – von vielerlei per Annahme ausgeht: vor allem von vollkommener Information, Erwartungssicherheit, vollständiger ökonomischer Rationalität (Homo oeconomicus-Modell) und perfekten Wettbewerbsmärkten.4 Das Neoklassische Grundmodell war derart abstakt (von der Realität abstrahiert) und daher generell formuliert, dass man glaubte, es immer und überall zur Problemerklärung und Lösungsableitung einsetzen zu können. "Niemand im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte möchte seine Tochter mit einem 'homo oeconomicus' verheiratet sehen, mit jemandem, der sämtliche Kosten nachrechnet und stats nach dem Gegenwert fragt, der nie von verrückter Großzügigkeit oder nicht berechnender Liebe heimgesucht ist, der nie aus einem Gefühl der inneren Identität handelt und der in der Tat keine innere Identität besitzt, auch wenn er gelegentlich von sorgfältig kalkulierten Erwägungen über Wohlwollen und Missgunst bewegt ist."5 Obwohl die Neoklassik vordringlich durch ihre Analysemethode – den Marginalismus (marginalistische Deduktion von Erkenntnis aus einem relativ realitätsfernen Modell) – gekennzeichnet ist, finden Neoklassiker am ökonomischen Liberalismus Gefallen, der ihnen durch Liberalisierung ihre Prämisse vom perfekten Markt retten soll. Umgekehrt favorisieren Wirtschaftsliberale die Neoklassik, die ihnen zusichert, dass die rationalen WirtschaftsteilnehmerInnen mit ihrer Freiheit (mit dem Minimum an staatlichem Zwang) systematisch und, wenn auch ungewollt, zum Nutzen der Allgemeinheit agieren.6

Historische Schule, Erziehungszölle und der Disput mit der Neoklassik Die Historische Schule hat ihren Entstehungszusammenhang in der Realitätsferne des neoklassischen Theoriegebäudes und ist nicht zuletzt daher zugleich eine Institutionalistische Schule der Nationalökonomie. 4

Vollkommener Preiswettbewerb wurde mit dem bloßen Verweis auf die Wichtigkeit einer Wettbewerbspolitik vorausgesetzt, die die Entstehung von wenigen großen Marktanbietern und deren Entwicklung von Marktmacht verhindern möge. 5

Bofinger, Peter (2007), Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung in die Wissenschaft von Märkten, 2. Aufl., München u. a., Pearson Education, S. 112, Box: "Der 'Homo oeconomicus' und die 'Behavioural Economics'"

6

Das macht ihnen eine veritable Makroökonomie verzichtbar: "Der Staat als Firma", d. h., der Nationalstaat mit seiner Volkswirtschaft funktioniert wie ein einzelnes Unternehmen, das nur spart, wenn es investieren will (Say's Law), und dazu jede beliebige Menge produzieren, absetzen und daran verdienen kann, ist ein Stehsatz, der gesamtwirtschaftliche Probleme wegdefiniert und ausklammert, wie sie Marx und später Keynes identifiziert und analysiert haben und wie sie in der Funktionalen Finanzwissenschaft seit dem II. Weltkrieg gang und gäbe sind. Das macht ihnen die Sicht auf die Quantitätsgleichung des Geldes als Basis für die Erklärung des Preisniveaus durch die Geldmenge frei und legt den Grundstein zum Monetarismus.

4

Sie kritisiert sie (im Begründungszusammenhang der gegnerischen Theorie) das Fehlen des Faktors "historische Zeit" und des Faktors "Institutionen" für die Erklärung der Wirtschaftsentwicklung. Die Historische (Institutionalistische) Schule kann nämlich (im Verwendungszusammenhang der gegnerischen Theorie) nichts mit den generell abstrakten, ahistorischen und institutionell unstrukturierten Überlegungen des Klassischen ökonomischen Liberalismus und der Neoklassik nichts anfangen. Sie setzt vielmehr auf die Erklärung der Entwicklung durch die jeweils einmaligen historischen Bedingungskonstellationen und ebenfalls das Handeln vorgebenden Institutionen i. w. S. (gesellschaftliche Normen, wirtschaftspolitische Einrichtungen, Organisationsstrukturen und -abläufe). In diesem Sinn – quasi: die Gegenwart ist ein Produkt der je unmittelbaren Vergangenheit und der fließende Übergang in die Zukunft und mit mehr oder weniger Beharrungsvermögen in der Zukunft ("Hysterese-Phänomen") – werden staatliche Eingriffe in den Wirtschaftsablauf zur Optimierung befürwortet und jedenfalls dem "Laissez faire, laissez passer"-Prinzip des Klassischen ökonomischen Liberalismus und der Neoklassik eindeutig vorgezogen. Da freier Wettbewerb zwischen ungleich Starken laut Historischer Schule eine stärkere Polarisierung statt, wie der Liberalismus vertritt, eine Angleichung bewirkt, tritt man für begründete Schutzzölle und staatliche Infrastrukturpolitik ein. Auf der anderen Seite spricht die Neoklassik der Historischen Schule jegliche Wissenschaftlichkeit aus dem Grund ab, dass diese keine allgemeingültigen Ergebnisse aus generell-abstrakten Modellen formal ableite, sondern ihre punktuelle Erkenntnis induktiv aus einzelnen Beobachtungen der Realität gewinne und diese speziellen Resultate nicht verallgemeinern könne. Wer ist nun unwissenschaftlich: •

die Neoklassik als der "technische Arm" des Klassischen ökonomischen Liberalismus, weil sie mit Modellen arbeitet deren Geltungsvoraussetzungen in der Realität so gut wie nicht erfüllt und erfüllbar sind, oder



die Historische Schule, die in ihrem Modelldenken relativ unmittelbar von der beobachteten Wirklichkeit ausgeht und deshalb den "Lauf der Welt" nicht umfassend erklären kann?

Auch in der wirtschaftspolitischen Praxis fand der Methodenstreit zwischen Neoklassik und Historischer Schule seinen Niederschlag, indem es einerseits um die Erhebung von Erziehungszöllen zum Aufbau international wettbewerbsfähiger Wirtschaftszweige und die Bildung von Zollunionen ging, andererseits um die Durchsetzung von Freihandel i. w. S.

Österreichische Schule und Handelsliberalisierung So erlebte die Welt in den 1890er Jahren und bis zum I. Weltkrieg eine erste Phase der Globalisierung (weltwirtschaftliche Integration). 5

Dann kam die Kriegswirtschaft und ein Einschnitt in den internationalen Beziehungen. In der Zwischenkriegszeit war sehr bald die Hyperinflation das Hauptproblem, das auf Grund der kategorischen staatlichen Nicht-Interventions-Philosophie des damaligen wirtschaftsliberalen Mainstream, der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, dem blühendsten Zweig der Neoklassik, weitgehend unbehandelt blieb und schwere Folgen zeitigte.

Neoliberalismus (I): die Geburt Das war in etwa die Zeit, als sich liberale Ökonomen international disloziert in Genf, Paris, London, Wien und Chicago an den Akademien etablierten. 1925 wurde der Begriff "Neoliberalismus" erstmals geprägt. Der Neoliberalismus ist •

als Reaktion auf die Historische Schule und die Zoll- und Infrastukturpolitik,



als internationale Verbreitung der extrem wirtschaftsliberalen Österreichischen Schule sowie später



als Gegenbewegung zur ruinös-protektionistischen Politik der Zwischenkriegszeit,



als Antipode zur volkswirtschaftlichen Rahmenplanung im ideologischen Westen Europas in einigen Jahren nach dem II. Weltkrieg und



schließlich während Teilen der Nachkriegszeit als Antipode zu einer aktivistischen, keynesianischen, wohlfahrtsstaatlichen Politik.

Protektionismus und Kreislaufzusammenhang Bald entsann man sich in der Zwischenkriegszeit der merkantilistischen Politik des Exportüberschusses zum "Import" von Einkommen, Beschäftigung und Geldkapital – was allerdings in allseits unbedachte protektionistische Zölle und wahre Wettläufe der Währungsabwertung (nach Ende des Goldstandardsystems) mündete. Das war, im Nachhinein betrachtet, zu erwarten, denn noch gab es nicht die moderne, Kreislaufzusammenhänge beachtende Makroökonomie eines John Maynard Keynes, Michal Kalecki oder Sidney Alexander. Deren Theorie sahen auch gesamte Volkswirtschaften als interdependente Elemente im weltwirtschaftlichen Ganzen an und lehnten daher protektionistische Wettläufe auf Kosten aller ab (ebenso das für eine dynamische Wirtschaft zu enge Korsett des Goldstandard). 6

Das "Negativsummenspiel" ("race to the bottom) der Importminimierung und Exportmaximierung ("beggar-thy-neighbour politics") trug schließlich zum Gang in die Weltwirtschaftskrise bei, die im Oktober 1929 von einem – zu heute sehr ähnlichen – Börsenkrach ausgelöst und durch wirtschaftspolitische Enthaltsamkeit des Staates nicht abgeschwächt, sondern durch Passivität verschärft und prolongiert wurde. Als eine Lehre für heute (und als eine Bestätigung der Sicht der Historischen Schule von der persistenten Macht des Faktischen) erholte sich die Weltwirtschaft relativ rasch wieder, was das reale Wachstum betrifft, aber bis zum II. Weltkrieg nicht, was die Beschäftigung angeht (Hysterese).

Keynesianismus: Finanzmarkt, Güternachfrage und Einkommensdynamik Schon 1928 veröffentlichte John M. Keynes seine "Monetary Theory of Output" und stellte erstmals die Theorie eines wesentlichen Einflusses des monetären auf den realen Sektor der Wirtschaft auf.7 Am Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise besannen sich einige Wirtschaftspolitiker – trotz ihrer Angst vor einer staatlichen Ankurbelung von Hyperinflation und trotz flammender Appelle seitens des Mainstream zur wirtschaftspolitischen Abstinenz in der Krise – auf eine pragmatische Lösung der drückenden Krisenprobleme. Die praktische Wirtschaftspolitik nahm vorweg, was John M. Keynes wenige Jahre später theoretisch etablierte und als zweckmäßig empfahl: staatliche Ausgabenprogramme (britischer sozialer Wohnbau, deutsche Infrastruktur- und leider auch Rüstungsinvestitionen), moralische Unterstützung gegen den Kaufkraft verzehrenden Pessimismus und die Ermunterung zu Preissteigerungen, welche die Produktion anreizen sollten (New Deal Program in USA). 1936 veröffentlichte John Maynard Keynes in London seine "General Theory of Employment, Interest and Money" und revolutionierte die Makroökonomie.

Neoliberalismus (II): das Netzwerk und sein Anliegen Die international verstreuten, führenden Neoliberalen (darunter Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Jacques Rueff) versammelten sich 1938 im "Colloque Walter Lippmann" in Paris und begannen, wie man heute sagen würde, ihr Netzwerken – mit erneuten Kontaktseminaren, gegenseitigen Einladungen; Lehr- und Forschungsaufenthalten, Sozialkapitalaufbau (Informationsnetze und "Seilschaften"). Dies dürfte die Geburtsstunde des Neoliberalismus als potenzielle, ernstzunehmende Kraft gewesen sein. 7

Bis dahin hatte die wirtschaftsliberale Theorie die "Dichotomie" des monetären und realen Sektors vertreten und gemeint, das "Geld wie ein Schleier" über der Realwirtschaft liege und diese nicht beeinflusse.

7

Auch wenn sich die Teilnehmer des Kolloquiums verständlicherweise vom "laissez faire" des Klassischen Ökonomischen Liberalismus abgrenzen, das Stigma der Sozialen Frage von ihrem Liberalismus abschütteln wollten und sich als selbst Neoliberale bezeichneten, zeigt zumindest die Entwicklung ihrer Disziplin und ihre parktisch-politischen Einflusses keine wesentliche Unterscheidung. Zentralste Elemente sind Deregulierung und Privatisierung, mit dem Ziel, dem Staat seine wirtschafts- und sozialpolitischen Möglichkeiten zu minimieren und den Sinn in der so genannten Freiheit zu sehen, die daraus entstehen würde. Doch entscheidend ist das Wesen und somit die Verteilung der Freiheit: •

Weitgehende Absenz von formeller Kompetenz und faktischem Einfluss ("Zwang") des Staates oder aber



Befähigung möglichst jedes Individuums, trotz – nein, sogar wegen – formeller Zwänge in Form staatlicher Regulierungen faktisch frei von ökonomischen Zwängen zu entscheiden.

Ersteres ist wohl für den Neoliberalismus ähnlich wie für den Klassischen ökonomischen Liberalismus anzunehmen und bedeutet letztlich Sozialdarwinismus. "Freiheit als menschlicher Grundwert bedeutet nicht nur – wie in der Position des Wirtschaftsliberalismus – die Abwesenheit von Zwang, sondern muß auch positiv die Möglichkeit enthalten, ein der Würde des Menschen entsprechendes Dasein zu führen. Diese positiv verstandene Freiheit bedingt damit entsprechende materielle Voraussetzungen. Das bedeutet, daß ein gewisses Maß an Gleichheit eine Voraussetzung für eine nicht bloß formale Freiheit darstellt."8

Design-orientierte, funktionelle, aktivistische, interventionistische Wirtschaftspolitik Schon während des II. Weltkriegs verständigten sich die Alliierten darauf, nach dem Krieg nicht mehr dieselben Fehler zu machen wie in der Zwischenkriegszeit. Und zwar legten sie Augenmerk auf die für die spätere Zusammenarbeit zerstörerischen Reparationen, die fehlenden Preiskontrollen im Hinblick auf Hyperinflation und den Protektions- und Abwertungswettlauf mit seiner Welthandel und Welteinkommen beeinträchtigenden Wirkung – und handelten entsprechend entgegengesetzt. •

Administrativ wurde die Inflation zurückgestaut und die so bewahrte Kaufkraft kontrolliert freigesetzt, also dem sich entwickelnden Angebot angepasst.



Verträge im Geiste derer von St. Germain und Versailles wurden durch das European Recovery Program ersetzt.

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Nowotny, Ewald (1996), Der öffentliche Sektor. Einführung in die Finanzwissenschaft, 3. Aufl., Berlin u. a., S. 21

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Der Internationale Währungsfonds mit seinen diversen Finanzierungsfazilitäten, außenwirtschaftlichen Anpassungsforderungen, einem relativ stabilen (aber immerhin stufenflexiblen) Wechselkurssystem und der Fremdwährungskonvertibilität bei den Notenbanken sollte eine strenge Alternative zu ungerechtfertigtem Protektionismus und konkurrierenden Abwertungen darstellen.

In der Finanzwissenschaft bekannte man sich rasch und weit überwiegend zur "Functional Finance", als einer Lehre von der staatlichen Aufgabenerfüllung und deren Finanzierung, und zwar im Gegensatz zur herkömmlichen Schwerpunktsetzung auf Ausgabenminimierung und -deckung im Nachtwächterstaat, speziell im Gegensatz zum Gebot eines strikten jährlichen Budgetausgleichs (konjunkturelle Parallelpolitik). Die vom Staat zu erfüllenden Aufgabenbereiche waren Allokation, Distribution und Stabilisierung. Staatliche Allokation ist die nicht marktmäßige Bereitstellung von Gütern durch den Staat, primär in Form von generell gehaltenen Wirtschaftsordnungen, spezifischen Regulierungseingriffen in Märkte, aber auch in Gestalt "privater Güter" (privat produzier- und vermarktbarer Güter), die vom Staat aus Gründen wirtschaftlicher oder sozialer Zweckmäßigkeit "verdienstvoll" produziert oder gekauft und günstig abgegeben werden ("meritorische Güter").

Neoliberalismus (III): Mont Pélerin Society als Gegenpol und als Hort wissenschaftliche Grundlagenarbeit All dies waren Wasser auf die Mühlen staatlicher Wirtschaftsaktivitäten und Wirtschaftspolitik-Agenda sowie freilich Ansporn für Wirtschaftsliberale – jetzt "Neoliberale" – zur wissenschaftlichen und politischen Bekämpfung dieser Entwicklungen und Zustände. 1947 kam es zur Gründung der Mont Pélerin Society in Genf, einer Vereinigung mit elitärem Charakter und begrenztem Zugang (nur nach schriftlicher Empfehlung von je zwei Mitgliedern der Gesellschaft): Das war und ist die Elite des Neoliberalismus. Ab da erfolgte gut 20 Jahre lang verstärkte theoretische Grundlagenarbeit, deren Galionsfiguren Friedrich August von Hayek, Milton Friedman, James Buchanan und Gordon Tullock waren und (teils selbst nach ihrem Tod – Buchanan und Tullock leben) noch sind. "Hayeks wissenschaftliches Werk ist geprägt von der Auseinandersetzung mit mit dem Sozialismus und der keyenesianischen Konzeption der Globalsteuerung. Wie kein anderer hat Hayek die enorm effiziente Informationsverarbeitung durch Märkte herausgearbeitet (...). Wettbewerb ist für ihn ein wichtiges 'Entdeckungsverfahren'. Dies gilt auch für gesellschaftliche Institutionen, die für Hayek ein Resultat

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menschlicher (individueller; Anm. R.B.) Aktionen, nicht aber eines menschlichen (wirtschaftspolitischen; Anm. R.B.) Designs darstellen."9 Das erlaubte keinerlei wirtschaftspolitische Intervention in den Marktprozess. "Hayeks Skepsis gegenüber staatlichen Eingriffen erstreckte sich auch auf die Makroökonomie (keynesianische Wirtschaftspolitik statt zentralstaatlicher Wirtschaftsplanung; Anm. R.B.). Wie radikal Hayek hier dachte, wurde deutlich durch seinen Vorschlag einer 'Entnationalisierung des Geldes', d.h. einer Abschaffung der staatlichen Zentralbank, um eine wettbewerbliche Geldemission durch private Banken zu ermöglichen."10 Es ist kaum auszudenken, wie sich dies in der heutigen Finanzkrise und Kreditklemme auswirken würde. Immerhin gibt es heute auch mehr gemäßigte Strömungen des Wirtschaftsliberalismus.

Ordoliberalismus: Wirtschaftsordnung, weder umfassend noch effektiv Mit Zentrum in Freiburg im Breisgau etablierte sich mit Walter Eucken als Leitfigur der so genannte Ordoliberalismus (Freiburger Schule), der eine Produktions-, Markt-, Geld- und Finanz-"Verfassung" – aber sicher keine "Sozialverfassung" – vorsah. Man bekannte sich zwar dazu, den Wirtschaftsablauf einem Ordnungsrahmen zu unterwerfen, in dem er sich einigermaßen menschenfreundlich entwickeln konnte. Das Problem des Ordoliberalismus ist aber seine grundlegende Staatsskepsis, und zwar nicht, was die demokratischen Entscheidungsbedingungen und -ergebnisse anbetrifft, sondern die nur schlecht zu bewältigende diskretionäre wirtschaftspolitische Ausgestaltung und die Effizienz deren Ergebnisses. Die Politik wäre leider unfähig, als Gestalterin bestimmte Politikergebnisse in der Wirtschaft hervorzubringen; zu komplex sei dazu die Realität. "Mein ökonomisches Weltbild ist geprägt vom Ordoliberalismus, der für eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung eintritt, in der dem Staat die Aufgabe zugewiesen wird, einen Ordnungsrahmen für Sicherheit, Privateigentum, Vertragsfreiheit, freien Wettbewerb und Geldwertstabilität zu gewährleisten. Als Ordoliberaler glaube ich grundsätzlich an das Selbstbestimmungsrecht des Individuums und die Freiheit der/des Einzelnen, Entscheidungen selbst (das heißt ohne Bevormundung) treffen zu können. Zwang, sei er ausgeübt von staatlichen 9

Bofinger, Peter (2007), Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung in die Wissenschaft von Märkten, 2. Aufl., München u. a., Pearson Education, S. 91, Box: "Der radikale Gentleman"

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Bofinger, Peter (2007), Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung in die Wissenschaft von Märkten, 2. Aufl., München u. a., Pearson Education, S. 91, Box: "Der radikale Gentleman"

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oder privaten 'Autoritäten', ist mir naturgemäß suspekt und erscheint mir nur in ganz wenigen Ausnahmefällen - im Sinne der für die Aufrechterhaltung der oben definierten marktwirtschaftlichen Ordnung unabdingbaren Regulierungen gerechtfertigt."11 Freilich ging der Ordoliberalismus über den Status des Nachtwächterstaates auf der Basis des Klassischen ökonomische Liberalismus hinaus, aber sein Ordnungsstaat war viel zu inputbezogen statt outputorientiert, als dass er mit der spezifischen und ergebnisorientierten Regulierungspolitik auch nur annähernd mithalten könnte und wollte. Heute beschränkt sich daher der Ordoliberalismus darauf, demokratische Verfahren zu optimieren und Ordnungskonzeptionen zu entwickeln, die – im Rahmen des marktliberalen Systems – versprechen, von einer möglichst breiten Mehrheit der Wahlbevölkerung als faire Spielregeln akzeptiert zu werden. So geht kommunizierbare und empfundene Fairness der Entscheidungsverfahren vor konkreten, wohlfahrtsrelevanten Ergebnissen des Wirtschaftssystems. Walter Eucken selbst tendierte teils eher in die Richtung einer effektiven Politik zur Erreichung gesetzter Ziele, indem er im Wettbewerbsbereich staatliche Antimonopolpolitik verfocht und die Liaison zwischen Konzernen und Spitzenpolitik zerschlagen sehen wollte. Doch auch Kleinheit allein, wie wir heute längst wissen, schützt nicht unbedingt vor Marktmacht; umgekehrt ist eine "Schrebergartenwirtschaft" für so mache wirtschaftliche Herausforderung ökonomisch ineffizient – auch hier zeigt sich eine Grenze des Ordoliberalismus.

Neoliberalismus (IV): Hayeks Radikalisierung und Entfernung vom Ordoliberalismus Friedrich August von Hayek – gemeinsam mit Milton Friedman wohl der Neoliberale schlechthin – verbrachte seine Schaffenszeit (in dieser Reihenfolge) in Wien, London, Chicago und Freiburg/Br., doch seine persönliche Entwicklung ging immer mehr in die Richtung von Marktradikalität und Staatsablehnung und entfernte sich somit zunehmend von der Ordnungsidee der Freiburger, seinem letzten Domizil.

Soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards Ein Gegenpol zum akademisch erstarkenden Neoliberalismus wurde wissenschaftlich von Alfred Müller-Armack mit seiner Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft geschaffen und von Ludwig Erhard (als Bundeswirtschaftsminister 1949-1963 unter Konrad Adenauer und 1963-1966 selbst als Bundeskanzler) in der Bundesrepublik Deutschland wirtschaftspolitisch verankert. 11

Böheim, Michael H. (2008), Die Post ist kein natürliches Monopol, in: Der Standard, 24.11., S. 23

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Die Ordnungskonzeption Soziale Marktwirtschaft war als Alternative zu Extremen, sowohl zu Enthaltsamkeit und Protektionismus der Zwischenkriegszeit als auch zur Planwirtschaft der Nazis entworfen worden, und zwar mit Erfolg. "Die geniale Synthese aus Markt und sozialer Absicherung war wesentlich für das Wirtschaftswunder (hohes Wachstum, geringe Arbeitslosigkeit; Anm. R.B.) verantwortlich (...)".12 Ludwig Erhards Motto und Buch "Wohlstand für alle" (1957) hob sich eindeutig von anderen Strömungen ab, •

sowohl von der Grundauffassung des Klassischen ökonomischen Liberalismus mit dessen alleiniger Betrachtung des Gesamtwohlstands unter Ausschluss der Verteilungsaspekte,



als auch von der fehlenden Sozial-"Verfassung des Ordoliberalismus,



als auch vom Grundtenor des Neoliberalismus, die beste Sozialpolitik sei die Liberalisierung des Arbeitsmarktes zur Senkung überhöhter Löhne (Hayek war glühender Gewerkschaftsfeind, übrigens im Verein mit Reagan, Thatcher, Kohl, Schüssel und Stoiber), so dass jede und jeder zu welch niedrigem Reallohnsatz, den der Markt objektiv vorgebe, auch immer Beschäftigung finden könne (was sich bis heute zu Karlheinz Kopf fortsetzt).

Das liest sich recht schön, doch war Ludwig Erhard mit seiner Sozialen Marktwirtschaft in zweierlei Hinsicht nur in einem sehr engen Sinn wirklich sozial: viel Wettbewerb und wenig Umverteilung; andererseits befürwortete er wiederum einen hohen Anteil der ArbeitnehmerInnen an der Wertschöpfung. Erhard setzte relativ unbedacht auf die behaupteten Segnungen des Wettbewerbs (der Kunde ist König, er lukriert jeden Fortschritt, und alle werden wohlhabend); er hatte den freien, wenn auch staatlich geordneten Wettbewerb im Auge. Wettbewerbspolitik ist demnach eine prominente, wenn nicht die wichtigste Staatsfunktion in der Sozialen Marktwirtschaft. "Auf dem Wege über den Wettbewerb wird – im besten Sinn des Wortes – eine Sozialisierung des Fortschrittes und des Gewinns bewirkt und dazu noch das persönliche Leistungsstreben wach gehalten. (...) Es ist darum eine der wichtigsten Aufgaben des Staates, die Erhaltung des freien Wettbewerbs sicherzustellen."13

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Bofinger, Peter (2007), Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung in die Wissenschaft von Märkten, 2. Aufl., München u. a., Pearson Education, S. 217 ff.: 11.5 Zur Vertiefung: Ludwig Erhard – der Vater des deutschen Wirtschaftswunders

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Erhard, Ludwig (1957/1964), Wohlstand für alle, S. 8, 9, zit. n. Bofinger, Peter (2007), Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung in die Wissenschaft von Märkten, 2. Aufl., München u. a., Pearson Education, S. 219

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Weiter trat Erhard in seiner Konzeption Soziale Marktwirtschaft nicht so sehr für einen sozialen Ausgleich durch staatliche Umverteilung, sondern für Wachstum und quasi automatische Verteilung dieses Wohlstandszuwachses auf die verschiedenen Menschen ein und ähnelt darin der US-republikanischen Tradition. "(...) dass die gerade von mir angestrebte Erhöhung des Lebensstandards nicht sosehr Verteilungs- als vielmehr Produktions- bzw. Produktivitätsprobleme berührt. Die Lösung liegt nicht in der Division, sondern in der Multiplikation des Sozialprodukts."14 Was hingegen Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft von den übrigen Strömungen des Wirtschaftsliberalismus eindeutig unterscheidet und wohl seinen Slogan "Wohlstand für alle" am ehesten rechtfertigt, ist sein Bekenntnis zu einer "freizügigen Lohnentwicklung" (konkret meinte er eine produktivitätsorientierte Lohnentwicklung, die wir in den vergangenen drei – den neoliberalen – Jahrzehnten nicht hatten). Eine expansive Lohnentwicklung soll den privaten Konsum dynamisieren. "Wer meine Auffassung kennt, weiß, dass zu dieser Konzeption als wesentliches Element eine freizügige Lohnentwicklung gehört. Zu wiederholten Malen habe ich darum erklärt, dass der oft geübte Widerstand der Arbeitgeber gegenüber Lohnerhöhungen (...) nicht in das System der Marktwirtschaft passt. Ein solcher Widerstand missachtet die Zielsetzung der Marktwirtschaft, so wie ich sie verstehe, sogar gröblich."15 Schließlich war Erhard gegenüber keynesianischer Konjunkturstabilisierung skeptisch, wollte er doch mit einer Art Seelenmassage den Pessimismus vertreiben und Optimismus verbreiten, so dass ohne stabilisierungspolitischen Aufwand der Konjunkturausgleich erreicht werden sollte. "Gelingt es mit psychologischen Mitteln ein verändertes wirtschaftliches Verhalten der Bevölkerung zu bewirken, dann werden diese psychologischen Einwirkungen zu einer ökonomischen Realität und erfüllen den gleichen Zweck wie andere Maßnahmen der hergebrachten Konjunkturpolitik."16

14

Erhard, Ludwig (1957/1964), Wohlstand für alle, S. 216, zit. n. Bofinger, Peter (2007), Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung in die Wissenschaft von Märkten, 2. Aufl., München u. a., Pearson Education, S. 220

15

Erhard, Ludwig (1957/1964), Wohlstand für alle, S. 211, zit. n. Bofinger, Peter (2007), Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung in die Wissenschaft von Märkten, 2. Aufl., München u. a., Pearson Education, S. 224

16

Erhard, Ludwig (1957/1964), Wohlstand für alle, S. 235, zit. n. Bofinger, Peter (2007), Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung in die Wissenschaft von Märkten, 2. Aufl., München u. a., Pearson Education, S. 224

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Karl Schiller und keynesianische Globalsteuerung Erst Karl Schiller, der nachfolgende Bundeswirtschaftsminister, verankerte Globalsteuerung keynesianischer Prägung im bundesdeutschen Stabilitäts- und Wachstumsgesetz (1968) und legitimierte sie somit für die praktische Politik – nicht zu unrecht, denkt man an die nachfolgenden Krisen (partielle Sättigungserscheinungen, Bretton Woods-Wechselkurssystem-Zusammenbruch, Ölpreisschocks und globaler Strukturwandel mit jeweils Nachfrageeffekten). Es ist ebenfalls kaum auszudenken, eine kritische Situation wie die gegenwärtige, die noch dazu durch Vertrauensverlust gekennzeichnet ist, allein durch Psychologie meistern zu wollen; diese ist freilich als Unterstützung willkommen, braucht aber handfeste, merkliche Maßnahmen zur Entfaltung von Wirksamkeit und Erzielung von Stabilisierungserfolg.

Neoliberalismus (V): Kernelemente, Entwicklung, Stellenwert Neoliberalismus ist, kennt man den Tenor der Werke der erwähnten Galionsfiguren, eine im Gegensatz zum Klassischen ökonomischen Liberalismus keineswegs moderate, sondern bedingungslosere Theorie und Politikanleitung als Ordoliberalismus und v. a. Soziale Marktwirtschaft. Die neoliberale Theorie gründet sich im Wesentlichen auf folgende grundlegende Ansätze: •

die monetaristische Theorie des geldmengenbestimmten Preisniveaus (Quantitätstheorie des Geldes) als eine Theorie der weitgehenden Unwirksamkeit geldpolitischer Maßnahmen in Bezug auf das reale Einkommen (Milton Friedman, Karl Brunner),



das "Fooling Model" als eine Theorie der staatlichen Impotenz auf dem Arbeitsmarkt, was die Konsequenzen schon auf mittlere Sicht betrifft (sobald die ArbeitnehmerInnen bemerken, dass sie sich über den Reallohnsatz getäuscht haben, reduzieren sie ihre Beschäftigung wieder, erklärt Friedman) und



die Public Choice Theory (Theorie öffentlicher Entscheidungen), die den Staat als Moloch von Korruption, Unfähigkeit, Machtgier und Ineffizienz darstellt und daraus Regeln zur Einengung und Kontrolle staatlichen Handeln ableitet (James Buchanan, Gordon Tullock).

Die Verbreitung und Etablierung des Neoliberalismus auf Netzwerkbasis (die Mont Pélerin Society zählt etwa 1000 auserwählte Mitglieder, davon rund 70 Frauen) fand nicht nur auf akademischem Boden statt, sondern auch etwa im Bereich der Think Tanks und Notenbankleitungen (z. B. Alan Greenspan). Friedrich August von Hayek wandte sich nach seiner wissenschaftlichen Niederlage gegen die KeynsianerInnen von der ökonomischen Wissenschaft im engeren Sinn ab und eher philosophischen und politischen Fragen zu.

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Er wurde in seinen Ansichten immer radikaler und propagierte eine "Marktwirtschaft ohne Adjektiv" (d. h. ohne das Eigenschaftswort "sozial" eines Ludwig Erhard). In seinem radikal-liberalen Traktat "Wege zur Knechtschaft" (1950) sah Hayek staatliche Eingriffe als Wege in die Knechtschaft an. Der Staat müsste daher extrem schlank sein, er sollte nur allgemeine Spielregeln für den Wettbewerb aufstellen und bloß Aufgaben in der Grundversorgung mit Gesundheit, Bildung und Umweltqualität wahrnehmen.17 Mit diesem zugespitzten Marktradikalismus war Hayek ein Kämpfer gegen den Sozialismus, und nicht nur den real existierenden Sozialismus sowjetischen Typs; er lehnte auch sozialdemokratische Konzeptionen grundsätzlich ab und war auch gegen den christlichen Reformismus ("soziale Bindung des Eigentums") eingestellt. Österreich unter Bruno Kreisky (1911-1990) sah Hayek als sozialistische Enklave an (1970-1983).18 Beginnend mit Hayek reflektiert die Liste der Nobelpreisträger für Ökonomie die starke Position des Neoliberalismus (weitgehend und untrennbar verbunden mit der ubiquitären Neoklassik) auf den Akademien: Friedrich Hayek (1974), Milton Friedman (1976), James Meade (1977), Gérard Debreu (1983), James Buchanan (1986), Maurice Allais (1988), Ronald Coase (1991), Gary Becker (1992), Robert Lucas (1995), Finn Kydland und Edward Prescott (2004) und Edmund Phelps (2006). Robert Lucas entwickelte mit seiner "Policy Ineffectiveness Proposition" Friedmans Theorie der Wirkungslosigkeit und Zwecklosigkeit staatlicher Nachfragepolitik weiter; sie stellten damit die staatliche Stabilisierungsfunktion grundsätzlich in Frage. Finn Kydland und Edward Prescott interpretierten mit ihrer Theorie realer Konjunkturzyklen die kurzfristigen Schwankungen in der Wirtschaftsentwicklung nicht als Zeichen der Instabilität des Systems, sondern als effiziente Anpassung der Wirtschaft nach angebotsseitigen Schocks an das neue "allgemeine Gleichgewicht" (das freilich Keynes' Vollbeschäftigungsgleichgewicht nicht entspricht). Vielmehr gibt Milton Friedmans "natürliche Arbeitslosigkeit" vor, bei welcher Marke von Arbeitslosigkeit Vollbeschäftigung definiert und die bestehende Arbeitslosigkeit als freiwillig erklärt wird. Grundsätzlich geht die neoliberale Theoriebildung in die Richtung, dass der Mensch als Homo oeconomicus alles Mögliche unternimmt, um sich ökonomisch rational (effizient) zu verhalten und nahezu unter allen Umständen das Bestmögliche für sich herauszuholen.

17

Rothschild, Kurt W. (2004), Die politischen Visionen grosser Ökonomen, Göttingen: Stämpfli Verlag – Bern: Wallstein Verlag 18

Bartel, Rainer/Kepplinger, Hermann/Pointner, Johannes (2006), Besser als Neoliberalismus: Solidarische Wirtschaftspolitik, Wien: Verlag des ÖGB, S. 21

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Das meint, dass demnach Vollbeschäftigung, Umweltschutz, Verteilungsgerechtigkeit etc. keine öffentlichen Güter mehr sind, die auf dem Markt nicht produziert werden und daher vom Staat bereitgestellt werden müssen, sondern dass diese durch die Kooperationsanstrengungen der WirtschaftsteilnehmerInnen dezentral in Verhandlungen zustande gebracht werden. In letzter Konsequenz gibt es dann (fast) keinen Aktivitätsbereich mehr, in dem der Staat nicht schlechter handeln würde als der nunmehr omnipotente Markt – eine Radikalität der Anschauung, die bereits zur Zeit des Aufkommens des Neoliberalismus vor gut acht Jahrzehnten vorherrschte. Mit dem Niedergang des real existierenden Sozialismus in den (immer weniger) planwirtschaftlichen Staaten Mittel- und Osteuropas fiel die Hauptkonkurrenz des marktwirtschaftlichen Systems – die Außenbedrohung, welche die ArbeitnehmerInnen und SteuerzahlerInnen ganz wesentlich zu disziplinieren half – weg. Genau in dieser Hinsicht und ganz zentral musste ein neuer wirtschaftlicher und wirtschaftpolitischer Kampf aufgebaut werden: der Standortwettbewerb; er ersetzte den Wettbewerb zwischen den Wirtschaftsblöcken. Hans-Werner Sinn (2002) von der Universität München, Chef des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung und des CES Center for Economic Studies, sieht den alten Systemwettbewerb zwischen Marktwirtschaft und Planwirtschaft nun ersetzt durch einen neuen um die Ansiedelung von Wirtschaftsbetrieben, die ihre Standortentscheidungen international fällen. "Während der alte Systemwettbewerb bei geschlossenen Grenzen stattfand, hat Globalisierung eine neue Art von Systemwettbewerb mit sich gebracht, der von der Mobilität der Produktionsfaktoren getrieben wird. Der neue Systemwettbewerb wird wahrscheinlich die Abtragung des europäischen Wohlfahrtsstaates bedingen, ein Rennen in Richtung abwärts in dem Sinn hervorrufen, dass das Kapital nicht einmal für die Infrastruktur bezahlt, die es nützt, und die nationalen Regulierungssysteme erodieren. Im Allgemeinen wird er an der selben Art Marktversagen leiden, das die jeweilige staatliche Aktivität ursprünglich herbeigeführt hat. Der neue Systemwettbewerb mag ineffizient arbeitende Regierungen zwingen, auf nationaler Ebene Effizienz anzustreben, aber nationale Effizienz schließt nicht mit ein, dass der Systemwettbewerb selbst effizient wäre."19 Die Tendenz ist eindeutig: Deregulierung und Privatisierung sind die Haupt- und Generalinstrumente, die wirtschaftspolitisch eingesetzt werden, und dienen vorwiegend der kompetitiven Lohn-, Kosten- und Preissenkung, die – wie schon in der historischen Weltwirtschaftskrise – das Gesamtsystem verlieren lassen, selbst wenn es auch einige GewinnerInnen dabei gibt. Problemlösungen, die auf dem Markt, durch die Marktprozesse, auftreten, zu ihrer Lösung wieder dem Markt überantwortet werden, laufen auf eine "Privatisierung", eine Entmachtung der Wirtschaftspolitik hinaus. 19

Sinn, Hans-Werner (2002), Der neue Systemwettbewerb, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik (3), 4, S. 391-407, Abstract: http://www3.interscience.wiley.com/journal/118963518/abstract, eigene Übersetzung

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Wirtschaftsprobleme, die wirtschaftspolitisch unbekämpft bleiben, fiskalische, insbesondere steuerliche Strukturen, die diese Probleme noch akzentuieren, kosten dem Staat die für die Wirtschaftspolitik und ihre Umsetzung so nötigen Ressourcen, worauf die Menschen mit dem öffentlichen Sektor unzufrieden sind und dessen weiterer Aushungerung zustimmen. Und so weiter: Die negative Spirale dreht sich; die wirtschaftlichen Machtverhältnisse werden ungleicher, die Gesamtsituation wird instabiler, nicht wirklich besser und die sozialen Unterschiede zumindest nicht kleiner. Gemeinsamkeiten des Klassischen ökonomischen Liberalismus und Neoliberalismus lassen sich knapp formulieren: •

Es gibt eherne Marktgesetze, denen wirtschaftspolitische Instanzen nicht oder zumindest nicht längerfristig entgegenwirken sollen und können.



Der Marktmechanismus weist in seinen Ergebnissen eine Tendenz zu Interessenausgleich, Gleichgewicht und Harmonie auf.20

Vom Ordoliberalismus unterscheidet den Neoliberalismus seine Abneigung gegen staatliche Regeln, von der Sozialen Marktwirtschaft seine Gegnerschaft zu dynamischer Lohnentwicklung. Bis auf die Weltkriege und die politischen Wirren der Zwischenkriegszeit sowie das Gemeinwohldenken (die wohlfahrtsstaatlichen Fortschritte) in den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten war und ist der Neoliberalismus – am ehesten eine Fortsetzung des Klassischen Wirtschaftsliberalismus – der Mainstream. "Schließlich sind die Grundlagen des Neoliberalismus so 'neo' nicht, und doch wurden seinen Vorgängern wie dem Manchesterliberalismus und ähnlichen Strömungen immer wieder alternative Konzepte entgegengehalten. Wieso also die gegenwärtige Tendenz zu flächendeckender Vorherrschaft? Von ausschlaggebender Bedeutung für die Dominanz des neoliberalen Konzepts dürfte ein zusätzliches Element sein, nämlich eine radikale Vereinfachung und Vulgarisierung liberaler Theorien und Rezepte, durch die der Eindruck einer Unausweichlichkeit neoliberaler Wirtschaftspolitik vermittelt wird. (...) Konservative Kreise, die auf den Güter- und Finanzmärkten eine starke Stellung einnehmen und in ihrer Dispositionsfreiheit nicht eingeschränkt werden wollen, finden in ihm (dem klassischen 'altliberalen' Konkurrenzmodell, wie von Rothschild an anderer Stelle bezeichnet; Anm. R.B.) eine geeignete Grundlage als Legitimierung für ihre wirtschaftspolitischen Forderungen. Diese Tendenz dehnte sich, vom englischen Manchesterliberalismus ausgehend auf immer mehr Staaten aus. Mit der in unseren Tagen aufggrund der neuen Technologien möglich gewordenen Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen mit ihren Fusionen und transnationalen

20

Bartel, Rainer/Kepplinger, Hermann/Pointner, Johannes (2006), Besser als Neoliberalismus: Solidarische Wirtschaftspolitik, Wien: Verlag des ÖGB, S. 22

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Konzernen hat sich diese Ideologie in einem neuen weltweiten Neoliberalismus verfestigt."21 Hauptkritikpunkt am Neoliberalismus ist, dass das Marktprinzip vorgeblich ohne vernünftige Alternativen auf fast alles und jedes angewandt wird, ohne die Vorzüge einer Mischung zwischen Markt und Staat zur Kenntnis zu nehmen, sondern um nur die eigenen Partikularinteressen zu befördern, wie Kurt Rothschild (2005, vgl. hier: vorangegangene Fußnote 20) ausführt. Diagnose: •

unlautere Übersimplifizierung (freie Märkte können alles),



unhaltbare Verabsolutierung (entweder Liberalisierung oder Untergang) und



strategisches "Kreidefressen" (es geht leider nicht anders, und es ist halt Zufall, dass gerade wir davon profitieren und andere nicht).

Die demokratische Diskussion ist dadurch inhaltsleer und unproduktiv geworden; im Grunde fehlen die Wahlmöglichkeiten; sie stehen hinter dem "es ist alles so kompliziert, aber der Markt macht es für uns wieder einfach" deutlich zurück. Aussichten (noch unsicher): Leichte Gegenströmungen der Unzufriedenheit und Kritik zeigten sich wegen der unbefriedigenden Verteilungs- und Wachstumssituation schon ab den mittleren 1990ern aus der Wissenschaft und v. a. der Zivilgesellschaft und verstärkten sich zusehends; nun nagt die Weltfinanz- und -wirtschaftskrise an seiner breiten Akzeptanz. Mit Erfolg? T.I.N.A. ("there is no alternative") wird vielleicht bald wieder durch T.A.M.A.R.A. ("there are many and real alternatives") abgelöst, doch so ein Umschwung kommt (wie etwa das Ende des "Ostblocks") zwar ziemlich sicher vorhergesehen, aber dann doch unerwartet rasch.

Ökosoziale Marktwirtschaft am Scheideweg Die heutige Konzeption der ökosozialen Marktwirtschaft bringt ökologische Nachhaltigkeit ins Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ein. Die Ökosoziale Marktwirtschaft steht heutzutage vor der Entscheidung, •

ob sie bei der liberal geprägten Sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards bleibt oder gar den neoliberalen Kurs eines Wolfgang Schüssel oder Karlheinz Grasser weiter verfolgt und ob sie weiterhin der Erhaltung der BäuerInnen als

21

Rothschild, Kurt W. (2005), Der diskrete Charme des Neoliberalismus, in: Ilan Fellmann und Friedrich Klug (Hg.), Politik und Verwaltung im neoliberalen Staat, Linz: Kommunale Forschung in Österreich (Eigenverlag), S. 200

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Nahrungsmittelproduzenten auf Subventionsbasis mit dem Ziel der nationalen Autarkie oder des Exportüberschusses bleibt oder •

ob sie sich dem gewerkschaftlich-wohlfahrtsstaatlichen Ansatz und dem Konzept der BäuerInnen vorwiegend als staatlich entgoltene LandschaftspflegerInnen und marktlich entgoltene HochpreisproduzentInnen merklich annähert.

Die bisherige Zwischenposition zwischen liberal und sozial ist wohl kaum aufrechtzuerhalten. Zu groß ist die Nähe zwischen der von der Industrie getragenen PR-Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die eine getarnte Propagierung des Neoliberalismus ist, und dem, was die im Rahmen des Global Marshall Plan kooperierenden Initiativen vertreten, nämlich ein sozial etwas besser verbrämtes Konzept, das auf flächendeckend auf Wettbewerb beruht.22

Sozialdemokratie am Scheideweg Ähnliches gilt für die Sozialdemokratie, die sich zu entscheiden hat, •

ob sie dem neoliberalen Zug in Richtung fortschreitender Deregulierung, Privatisierung und Nichtregulierung folgt und die wirtschaftspolitisch gestalterische, sozial orientierte Komponente als dabei kleiner werdendes Residuum bestmöglich verteidigt (Dritter Weg) oder



ob die Vorzüge der Marktwirtschaft durch effektive Regulierungen (ggf. auch Interventionen in die Marktbeziehungen), durch Kaufkraft stärkende Lohnpolitik und staatliche Umverteilung sowie durch Nachfragestärkung und aktive Beschäftigungspolitik besser ausgeschöpft werden und strukturelle Ungleichheiten durch Steuer- und Bildungspolitik wesentlich verringert werden.

Letzteres wird von anderen Parteien gebetsmühlenartig als rückschrittlich bezeichnet. Doch fragt sich, was tatsächlich rückschrittlich ist: eine nahezu unbedingte, polarisierende Liberalisierungspolitik, die auf die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückgeht, oder eine aktivistische Politik des effektiven wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritts, die nur ca. 75 Jahre alt ist – obwohl freilich das Alter über Qualität nichts aussagen muss.

Replik auf die dogmenhistorischen Behauptungen im Landtag •

Der Neoliberalismus ist keine Gegenbewegung zum "laissez faire"Liberalismus des 19. Jahrhunderts, sondern ein Versuch zu dessen

22

Speth, Rudolf (2004), Die politischen Strategien der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Studie der Hans Böckler Stiftung, Düsseldorf: Eigenverlag, www.boeckler.de/pdf/fof_insm_studie_09_2004.pdf

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Wiederbelebung nach der Aufwertung des Staates als Wirtschaftspolitiker mit Aktivismus, nämlich in Form von Nachfragestützung, internationaler Wechselkursstabilisierung volkswirtschaftlicher Rahmenplanung und wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung. •

Der Neoliberalismus schafft keinen Ordnungsrahmen für die Marktwirtschaft, sondern betreibt im Gegenteil vornehmlich Deregulierung, weil ihm die Wirtschafts-"Verfassungen" im Sinn des Ordoliberalismus Walter Euckens besonders in den Bereichen Markt (v. a. die Wettbewerbskontrolle und Good Governance) und Produktion (speziell bei Finanzprodukten und Vermögensverkehr) zu restriktiv vorkommen.



Der Neoliberalismus ist keine der Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft, sondern das Bestreben zu ihrer Rückführung o angesichts der Favorisierung nicht zurückhaltender Lohnpolitik durch Ludwig Erhard und freilich insbesondere durch die Gewerkschaften sowie o in Anbetracht der Weiterentwicklung des Sozialstaates in Richtung eines Wohlfahrtsstaates – und ist somit eher auf dem Weg zurück zum Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts, nur bloß im Schafs- statt im Wolfspelz.



Der Neoliberalismus ist durch Ludwig Erhard nicht vertreten worden, zumal dieser die Radikalität des vom Neoliberalismus an den Tag gelegten Liberalisierungsstrebens nicht teilte, sondern das soziale Element stärker betonte (wenn auch nicht durch prononcierte staatliche Umverteilung).



Der Neoliberalismus hat in den 1990er Jahren seitens der Sozialdemokratie keine Umdeutung erfahren, sondern an Bedeutung und Schärfe gewonnen, und zwar o durch weit verbreitete Steuerreformen zu Gunsten der Reicheren, o durch internationale Liberalisierungen im Rahmen von GATT, WTO und GATS und o durch den internationalen Standortwettbewerb, der sowohl durch die beiden voran stehenden Faktoren als auch durch das Ende des Ostblocks seine Bahn brach.



Der Neoliberalismus rückte nicht durch "politische Demagogie" ins Zentrum breiter Kritik und war keine "Kampfparole" der SozialdemokratInnen als "Ersatzdroge für den Klassenkampf früherer Jahrzehnte", sondern o Neoliberalismus war und ist wegen seiner markant schlechten Auswirkungen Ziel empörter Angriffe, und o die Sozialdemokratie griff und greift eben diese ungerechten polarisierenden Folgen auf und an und betrachtet diese als eine sich 20

verschärfende Fortsetzung der Klassengegensätze und insofern des Klassenkampfs mit nur relativ leicht verschobenen Klassengrenzen. •

Der Neoliberalismus wird in Oberösterreich tatsächlich nicht erklärter Maßen von den Konservativen propagiert, da sich diese der Ökosozialen Marktwirtschaft verpflichtet fühlen, doch implizit bzw. faktisch o läuft zum einen die Unterstützung des bisherigen Kurses der BundesÖVP auf eine neoliberale Wirtschaftspolitik im Sinne von SchüsselGrasser-Bartenstein hinaus (z. B. bei der Förderung privater Pensionen, quasi Kapitaldeckung zu Lasten der Umlage23). o tragen zum anderen regionale industriepolitische Enthaltsamkeit, Privatisierung und Ausgliederung im Gemeinwirtschaftsbereich sowie das dominante Prinzip des Budgetausgleichs neoliberale Züge.



Die Ökosoziale Marktwirtschaft liegt freilich "zwischen Neoliberalismus und Neosozialismus", doch fragt sich wo, nämlich o wo genau sie situiert ist und ob sie nicht in Richtung des Neoliberalismus unterwegs und ihm schon relativ nahe gekommen ist, zumal sie mit der liberalistischen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft bei der Verfolgung des Global Marshall Plan in einem Boot sitzt und den relativen Lohnsenkungswettbewerb im Grund favorisiert, und o wohin die Sozialdemokratie – als eigentliche Verfechterin einer starken regulativen Position des Staates auf dem Markt und beim sozialen Ausgleich – unterwegs ist und etwa am Dritten Weg dem neoliberalen Trend nachläuft.

Die Krise als kleiner Betriebsunfall

"Voice" statt "Exit" Vertreter des Mainstream schreiben bereits jetzt, bevor Ausmaß und Verlauf der eingesetzt habenden Krise überhaupt absehbar sind, sie könnten es nicht mehr ertragen, dass BeobachterInnen jetzt meinen, sie selbst oder andere hätten das Eintreten einer das System gefährdenden Krise schon längst warnend vorausgesagt.

23

"Da die teilweise Umstellung der Pensionssysteme auf (Finanz)Kapitaldeckung in Europa erst in den späten 1990er-Jahren begonnen wurde, werden die Kürzungen der Betriebs- und Privatpensionen höher ausfallen als in den USA (...). Die (künftigen) Pensionisten wird die nachhaltig verbittern und die neoliberale Losung 'Lassen Sie Ihr Geld arbeiten' als lächerlich erscheinen lassen.": Schulmeister, Stephan (2008), Das Finanzkapital und seine Luftschlösser – eingestürzt und "ausgebubblet", in: Der Standard, 23.9.

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Angesichts der wirtschaftspolitisch gesetzten Reaktionen auf Problementwicklung und -potenzial, angesichts der Einbekenntnisse (z. B. durch US. Fed-Präsident Ben Bernanke, in: Handelsblatt, 5.10.2008), die Lage unterschätzt zu haben, und angesichts der zögerlichen oder mangelnden Bereitschaft, Systemreformen, die an der Wurzel ansetzen, ist es nur als verantwortungsbewusst zu bezeichnen, immer wieder auf das Überhören der Warnungen hinzuweisen und diese Warnungen fortzusetzen.

Nur die gebündelte Verbriefung und die Clinton-Politik schuld? Der oberösterreichische Landespolitiker, von dem eingangs die Rede und der Ausgangspunkt all dieser Überlegungen war, analysierte recht zutreffend die Entstehung der aktuellen Finanzmarkt- und Realwirtschaftskrise, machte aber den oben beschriebenen Fehler, indem er die bisherigen fundamentalen Warnungen in den Wind schlug. Er meinte nämlich sinngemäß, dass ohne eine Bündelung der schlechten Hypothekarkredite zu neuen (hoch riskanten und schließlich wertlosen) Wertpapieren und ohne die Ermunterung durch die Clinton-Administration zur Kreditausweitung auf nicht Kreditwürdige ohnedies nichts passiert wäre. Dem könnte man beim besten Willen vielleicht noch folgen, selbst wenn einiges dagegen einzuwenden ist: •

Die Verantwortung der Banken für die Vergabe riskanter Kredite in einer Wirtschaft, die generell durch Informationsasymmetrien, aggressive Werbung und einem seit langen unerwidert gebliebene Kreditfinanzierungsmentalität bei Privathaushalten seit Jahrzehnten gekennzeichnet ist, darf nicht klein geredet werden. Sonst hieße es die Verhältnisse der Realität einseitig verkennen – und diese grundlegenden Verhältnisse dominanter PR- und Werbemärkte und somit unternehmensdominierter Absatzmärkte gibt es schon lange, spätestens seit einschließlich Ronald Reagan II, und ist vielmehr eine neoliberale denn eine solidarische Grundhaltung (Letztere würde sich in professionellem Verantwortungsgefühl oder gemeinnütziger Entwicklungsorientierung wie bei Mikrokrediten ausdrücken).



Die Hypothekarkrise kann nicht aus den relativ wenigen plakativen Fällen der Kreditvergabe an mehr oder minder eindeutig kreditunwürdige KundInnen erklärt werden, sondern basiert größtenteils auf grundsätzlich durchaus bedienbaren Mittelstandskrediten; darauf weisen die äußerst niedrigen Insolvenzraten vor dem Akutwerden der Krise hin.



Das Anliegen, Diskriminierungen in Form von kategorischem Ausschluss bestimmter Kredite suchender Schichten ohne faire Bonitätsprüfung bzw. Risikoabschätzung hintan zu halten, beschränkt sich ebenso wenig auf die Clinton-Administration (ist ein altes und berechtigtes Anliegen nicht zuletzt der Weltbank) wie

22



die expansive Geldpolitik (seit ca. Reagan II) und



die übrigens auf dem Vermögensmarkt gar nicht erforderliche Ermunterung der Finanzinstitute zur Bildung von Derivaten.



Auch waren Fanny Mae und Freddy Mac nicht die einzigen Schuldigen, wie der hier kritisierte Politiker es vermittelte.

Das sind die Antworten auf die Äußerungen des besagten Politikers im oberösterreichischen Landtag. Doch die Hauptpunkte der Kritik an einem Kurzfrist- und Scheuklappendenken wie dem seinen betreffen Grundlegendes des neoliberalen Wirtschaftssystems: Das stets eher kurzfristige, jedenfalls partiale Gewinn- oder Nutzenmaximierungsstreben wirkt in einem liberalen Marktsystem sozial abträglich und baut systematisch Gefahrenpotenziale auf, die dann durch einen gering erscheinenden Anlass ausgelöst werden und daher auch der Meinung oder dem Vorwand Anlass geben können, die Krise wäre eine Art Betriebsunfall in einem an und für sich zuverlässigen Betrieb.

Problematik der Deregulierung, Nichtregulierung und ineffektiven Regulierung von Finanzmärkten und Corporate Governance •

Die Verantwortlichkeit für Finanzkrisen kann bei weitem nicht allein dem unreguliert gebliebenen Bereich der Derivate und Hedgefonds zugeschrieben werden, die von Beginn an ungeregelt blieben, sondern es nicht zu übersehen, dass GATT, WTO bzw. GATS den Finanzmarkt (neben der Telekommunikation) als den Vorzeigebereich feier(te)n, wo die meiste Deregulierung (mit mehr als 90 % der bestandenen Regulierungen) vorgenommen worden ist (da kann der Derivat- und Hochrisikobereich mit Wettcharakter gar nicht dabei sein).



In den USA, wo es das Trennsystem bei den Banken gibt, sind bloß die Geschäftsbanken reguliert, während die Investmentbanken "praktischen einen Freifahrtsschein auf den Finanzmärkten" (Prof. Jan Pieter Krahnen, Frankfurt a. M., in: Handelsblatt, 19.9.2008) haben – das europäische integrierte Bankensystem gibt der einzelnen Unternehmung doch mehr Solvenzschutz.



Derivate sind nicht nur das Sammeln und Verbriefen von Forderungen ("originate-and-distribute model") in einem neuen (meist irreführenden) "Kleid", sondern ein Hauptbereich entwickelte sich aus den ursprünglich zur Wechselkursabsicherung im Außenhandel institutionalisierten Optionen und führte zur Entwicklung quasi eines (meist fremdfinanzierten) "Wettscheinsystems", wie Stephan Schulmeister es als arteigen und wesentlich qualifiziert.



Die unangenehmen Eigenschaften dieses "Wettscheinsystems" im Derivatbereich sind 23

o die besonders schweren Konsequenzen für die Vermögenssituation der WettverliererInnen und für die Liquiditätssituation ihrer KreditorInnen sowie o die multiplikative Wirkung, welche dieses System auf die Entwicklung der Wertpapierkurse nimmt, wie man es derzeit speziell auf den Aktienmärkten hat. •

Die Anfang der 1990er Jahre noch als effiziente und deshalb als besonders liberalisierungswürdig angesehenen Finanzmärkte haben sich mittlerweile – nicht zuletzt dank der Entstehung und Entfaltung der Behavioural Finance als Teil der Finanzierungswissenschaften – als Paradebeispiel für das Gegenteilige herauskristallisiert, weil die Spekulation o sich nur mehr auf Kursentwicklungsrichtungen statt -ziele bezieht, o viel systematischer, automatischer und rascher geworden ist und o wegen der sehr unterschiedlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten in Zusammenwirken mit dem verführerischen Versprechen rascher, hoher Wertzuwächse zu einem Vermögensumverteilungsspiel par excellence mutiert ist, das aber in Krisen zudem allen MarktteilnehmerInnen schadet, und o immer eher destabilisierend als stabilisierend auf den Markt und die Realwirtschaft wirkt.



Der säkulare Trend, der schon 1936 von John M. Keynes als gefährlich kritisierte worden ist, zeigt dass sich Finanzveranlagung in ihrer Motivation und ihren Auswirkungen wesentlich ändert, und zwar o von der langfristigen Erzielung einer akzeptablen Rendite bei langfristig im Wesentlichen stabilen Kursen o zu einer stets kurzfristigen Vermögenswertmaximierung durch möglichst billiges Kaufen und möglichst teueres Verkaufen – schon von Tag zu Tag, denn die Transaktionskosten sind fast zu vernachlässigen.



Damit hat nicht nur der Markt seine Finanzierungsfunktion für die Realwirtschaft wesentlich verschlechtert (nicht nur in der Krise) und die realwirtschaftlichen Entwicklungsbedingungen massiv erschwert.



Im Zuge dessen haben sich die Banken von Kredit- bzw. Finanzierungsinstituten primär zu Vermögenshandelshäusern gewandelt (nachdem sie ihre Industriebeteiligungspolitiken aufgeben oder es schon getan haben).



Die De-, Nicht- bzw. ineffektive Regulierung der Finanzmärkte bringt ein weiteres Problem mit sich, das erst jüngst erkannt wurde: Die Schuld an den spekulativen Blasen und ihrem Platzen sowie an einer aggressiven Kreditwerbepolitik wird der expansiven Geldpolitik gegeben – obwohl diese auf eine Anregung und Finanzierung realwirtschaftlicher 24

Investitionstätigkeit (und jüngst auf die Funktionsfähigerhaltung des Geldmarkts) ausgerichtet war bzw. ist. Schon in den frühen 1980er Jahren gab das Federal Reserve System seine monetaristisch verknappende Geldpolitik in Friedmanscher Manier wegen katastrophaler realwirtschaftlicher Auswirkungen auf (und wurde erst ein Jahrzehnt später von Kreditklemme der Deutschen Bundesbank getoppt). Alan Greenspan (Fed-Präsident und Mitglied der Mont Pélerin Society) stand für expansive Geldpolitik unter der Nebenbedingung einer akzeptabel niedrigen Inflationsrate (sofern die Inflation nicht unabänderbar importiert wurde). Diese Politik führte freilich der Spekulation Manövriermasse zu, soll jetzt aber nicht nur die aktuell hohe (weltwirtschaftliche, importierte) Inflation bekämpfen, sondern soll künftig auch die Aktienpreisinflation, also die Entstehung der Kursblasen, verhindern. Dies wäre für die Realwirtschaft vermutlich weiteres Gift, ist aber kein unlösbares Dilemma, denn dieses wäre sofort aufgelöst, wäre der internationale Finanzmarkt oder bedeutende Teile von ihm effektiv reguliert: Liquiditätsversorgung zur Finanzierung stabilisierender realer Investitionen statt destabilisierender finanzieller Spekulationen. Greenspan (nochmals: Mitglied der Mont Pélerin Society) ermöglichte mit seiner durchaus zu vertretenden Politik nicht nur Realinvestitionen, sondern unter den gegebenen Liberalisierungsbedingungen auch das spekulationsbasierte Reicherwerden einiger und Verarmen vieler. Auf dieser Basis – der Angst vor Blasen – soll nun die Friedmansche "Tight Money Policy" rehabilitiert und wieder eingeführt werden, was insofern als realistisch einzuschätzen ist, als der neoliberale Widerstand gegen eine effektive Regulierung der Finanzmärkte noch übermächtig sein dürfte. So viel zur Notwendigkeit effektiver Regulierung der (Finanz-) Vermögensmärkte (manche andere Vermögensmärkte als die des Finanzkapitals werden bereits ebenfalls zur destabilisierenden Spekulation missbraucht). "Die EU-weite Liberalisierung der Postdienste war eine politische Entscheidung – genauso wie der Verzicht auf eine strenge Regulierung des Finanzsektors. Letzteres hat sich als eine (von entsprechenden Interessengruppen) forcierte, die Grundpfeiler der Marktwirtschaft erschütternde 'fundamentale Fehlentscheidung' erwiesen."24 •

24

Die Belastung und Verringerung der äußerst kurzfristigen und hektischen, nervösen und destabilisierenden Vermögenstransaktionen durch Finanztransaktionsbesteuerung ist seit James Tobin und spätestens seit ATTAC eine leere Worthülse geblieben, selbst wenn sich die Politik dieser

Böheim, Michael H. (2008), Die Post ist kein natürliches Monopol, in: Der Standard, 24.11., S. 23

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Konzeption gegenüber wohlwollend zeigt (sich aber nicht dazu durchringen kann). •

Das "Enterprise Hopping" der FinanzinvestorInnen – ihr Springen von Unternehmen zu Unternehmen – macht die Führung der Unternehmen (Corporate Governance) ebenfalls kurzfristig und kurzsichtig, unterliegen sie doch dem Einfluss hauptsächlich kurzfristig Gewinn maximierender AktionärInnen und Aktienfonds und maximieren sie ihre Gewinne, Dividenden und Kurse ebenso kurzfristig, was für ein Produktionsunternehmen ganz besonders kurzsichtig und fatal ist.



Hilfreich dabei sind Aktienbeteiligungen der MitarbeiterInnen nur inweit, als jede Maßnahme zum Nachteil der MitarbeiterInnen (ausgenommen Top- und mittleres Management) mit etwaigen Vermögensnachteilen für die AktionärInnen und so auch für die Unternehmensanteile besitzenden MitarbeiterInnen begründet und geschickt durchgesetzt werden kann.



In gleicher Weise hat das sich Spitzenmanagement mit seinem "Enterprise Hopping" reich und – trotz der systemimmanenten Nachteile für die Unternehmen – im Karussell der Postenbesetzungen unabkömmlich gemacht (Mobilität gilt als Erfolg, auch wenn er nur ein Hinweis auf beinhartes Kostensenken auf Kosten der MitarbeiterInnen und der ganzen Firma und eine Flucht von den negativen Konsequenzen diese Unternehmensstrategie ist).



Aktienoptionen als Gratifikationsbestandteil fürs Top Management verstärken solches Corporate Governance-Verhalten, bei dem viele Stakeholders verlieren, nur die schnellsten, eingeweihten der AktionärInnen und WettscheinbesitzerInnen nicht.

All dies sind keine Hirngespinste, sondern ist Alltagsgeschehen, weil es bereits zum System gehört, einem System, das durch die Jahrzehnte lange Propaganda in Wissenschaft und Politik geprägt worden ist: •

z. B. Hayeks/Friedmans Nobelpreise,



der Schüssel-Grasser-Kurs,



der kritiklose, kadavergehorsame Pro-EU-Kurs von Mock bis Plasnik,



die Achse von Wien bis Linz, wo doch die ÖVP Oberösterreich auch ein – wichtiger – Teil der Bundes-ÖVP ist, obwohl sie dies unsichtbar machen will, und



speziell Josef Pühringer, der jede ihm persönlich genehme Lösung als einzig vernünftige, alle anderen aber als parteipolitisch und unsachlich darstellt – ganz in T.I.N.A.-Manier (etwa im Fall der VA Tech, als er zu den KundgebungsteilnehmerInnen vor dem Landhaus sprach).

Diese Vorgänge sind Ausfluss des Neoliberalismus in seiner grenzenlosen Überschätzung freier bis ineffektiv geregelter Märkte ("Vulgärliberalismus"), die in T.I.N.A.-Manier mit der schieren Wiederholung diskursiver Floskeln Liberalisierung

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als dominanten Hauptinhalt von "Good Public Governance" eingebläut und verankert haben. Heißt man, wie im Anlassfall unseres besagten Politikers, das System – im gegenwärtigen, teils weithin unregulierten oder ziemlich ineffektiv regulierten Zustand – sicher und gut, leistet man auf diese Art bewusst oder unbewusst Unterstützungsarbeit für den Neoliberalismus. Geht insbesondere eine Verbindung vom Finanzmarkt zum Gütermarkt, wie vom Klassischem Wirtschafts- und vom Neoliberalismus eigentlich verneint wird, so werden sich die zuletzt stark angewachsenen Instabilitätspotenziale des Finanzsystems letztlich auf den realen Sektor auswirken. Gerade in dieser Hinsicht kann der Neoliberalismus nicht einmal im Sinn von Ludwig Erhards sozialer Besserstellung durch starkes Globalwachstum als sozial eingestuft werden. Verstärkt wird diese Problematik durch die Prinzipien neoliberaler Wirtschaftspolitik, der heutigen Good Public Governance. Allerdings sind die US-AmerikanerInnen in der Wirtschaftspolitik viel pragmatischer als die eher strikt dogmatischer EuropäerInnen, so dass sich – erfolgreiche – Verharmlosung in unseren Breiten deshalb gravierender auswirkt (aber auch wegen Lohn- und Konsumschwäche, Eurohoch und Exportproblemen).

Good Public Governance?

Eine Reihe von Haupteckpunkten längst gängiger Wirtschaftspolitik mit eindeutig neoliberaler Provenienz steht einer aktivistischen, ggf. interventionistischen, effektiven und im wahrsten Sinn effektiven Wirtschaftspolitik entgegen, einer Politik, die nahezu ohne Argumentation als retro vom Grünen Tisch gewischt wird (mit dem oft einzigen Argument, die keynesianisch-wohlfahrtsstaatliche Ära sei vorbei und zugleich überholt). •

Die Normen für die öffentlichen Finanzen erschöpfen sich o in einer Reduktion der Staatsquote (Privatisierung, Deregulierung, Ausgabeneinsparung, regelgebundene oder ausgelagerte "Politik"Entscheidungen), o in der Rückführung der Staatsschuldenquote und o in dem Budgetausgleich über den Konjunkturzyklus. Die Gegenargumente, o den Staat als Wirtschaftspolitiker nicht zu entmachten,

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o die Staatsschuldenquote, statt, wie beabsichtigt, über Budgetüberschüsse (im Nenner der Quote) vielmehr über fiskalische Beschleunigung der Wirtschaftsentwicklung (in Zähler der Quote) zu kontrollieren und o das Budget aus Gründen der Arbeitslosigkeit über einen Zyklus hinweg nicht auszugleichen, werden hier in kategorischer Weise (T.I.N.A.) ausgeblendet. Dadurch werden, ohne volkswirtschaftliche Nutzen und Kosten abzuwägen, Zwischenziele kategorisch zu Oberzielen gemacht. •

Privatisierung mit der Behauptung, der Staat könne alles nur schlechter bewerkstelligen als Private (wohl bis auf die "Nachtwächterkompetenzen", heute "Kernkompetenzen"), ist empirisch nicht schlagend. Übereifrige Privatisierung unterliegt (bewusst?) der Vermögensillusion: dass der Staat dadurch reicher wird, glauben wohl nur die, denen Grundkenntnisse der Bilanzierung fehlen. Abgesehen davon wird in vielen Fällen der Souverän als solcher übervorteilt, indem relativ leichtfertig zu wenig Einnahmen aus der Privatisierung lukriert werden. Schließlich (und hier schließt sich der Kreis) fallen bei regulativ nicht oder zu wenig flankierter Privatisierung all jene überbetrieblichen Nutzen weg bzw. fallen diese nur vermindert an, weil Private keine kostenträchtigen Gemeinschaftsagenden wahrnehmen (außer die Corporate Social Responsibility wird wirklich umfassend wahrgenommen, weil sie sich rentiert – was meist nicht der Fall ist). Privatisierung industrieller Leitunternehmen für die Volks-, Regional- oder Lokalwirtschaft gibt die unmittelbare strategische Industriepolitik aus der Hand, was sogar Hans-Werner Sinn (ifo, CES, Uni München) angesichts der europäischen und globalen Realität, in der wir leben, grundsätzlich kritisiert. Systematische, in die Gesamtkonzeption der Industrie- und Regionalpolitik organisch hineinpassende Haltung von strategischem Industrieeigentum ist kein (wie oft vorgehalten wird) generelles staatliches Hineinregieren in die operative Führung des Unternehmens, sondern eine selektive, indirekte (via Eigentümerfunktion wahrgenommene) Industriepolitik (SIIP). Ganz im Sinn einer Corporate Social Responsibility, die sich nicht rechnet, sind auch inländische AnteilseignerInnen ("KernaktionärInnen") relativ ungeeignet, die industriestrategischen Agenden an Stelle des Staates zu erfüllen. In diese Richtung geht auch die Frage der Beteiligung des Staates an den von ihm durch Rettungspakete unterstützten und abgesicherten Finanzinstitute, zumal diese für das Funktionieren eines essenziell auf Geld und Kredit beruhenden Wirtschaftsystems unabdingbar und dominoartige 28

Bankenzusammenbrüche unbedingt zu vermeiden sind – doch diesbezüglich gibt es vielenorts keine bis schwammige politische Aussagen. Besonders problematisch ist das Privatisieren in gemeinwirtschaftlichen Bereichen, wenn dabei keine effektive Regulierung erfolgt (und wenn diese tatsächlich erfolgte, dürfte eigentlich kein Gewinn maximierender Privater mehr bereit sein, sein Kapital dort und nicht in einem unregulierten Markt für private Güter zu investieren). Obendrein ist die Organisation staatlich-gemeinwirtschaftlicher Aufgaben in Form einer staatlich dominierten Aktiengesellschaft mit einem Pferdefuß versehen, zumal der Mehrheitseigentümer die AG-Führung per legem nicht oder nicht effektiv steuern kann und auf die Kooperationsbereitschaft dies Vorstands angewiesen ist (z. B. Pühringer – Windtner, Dobusch – Froschauer). •

Liberalisierung wird nahezu generell als überlegene wirtschaftspolitische Strategie unterstellt und abgewandt – ob in Form von Deregulierung, Nicht-Regulierung oder ineffektiver Regulierung – und ist somit Ausdruck eines unreflektierten, kategorischen Wirtschaftsliberalismus, eben von der Prägung des ("vulgären") Neoliberalismus . Auf Grund einer grundlegenden Phobie vor Staatsversagen wird wirtschaftspolitische Gestaltung minimiert – entweder auf generelle und somit krude Ordnungspolitik (Soziale Marktwirtschaft) oder in Richtung eines Nachtwächterstaatniveaus (Neoliberalismus). Folgerichtig gerät man dadurch in praxi in eine Entwicklung zunehmenden Marktversagens (speziell infolge von nicht internalisierten Externalitäten, nicht bereitgestellten öffentlichen Gütern, zunehmenden Größenvorteilen und nicht korrigierten ökonomischen Irrationalitäten) – eine Tendenz, die von theoretischer Seite durch Verweise auf fundamentale Kooperationsbereitschaft der Individuen in kollektiven Angelegenheiten quasi wegdefiniert wird. Letztlich entspricht dies einer Privatisierung der Wirtschaftspolitik und einer Institutionalisierung von Scheinlösungen auf dem und durch den Markt, der bei Externalitäten, Skalenvorteilen, öffentlichen Gütern und Irrationalitäten zwangsläufig versagen muss (falls nicht – unrealistisch – davon ausgegangen wird, dass alle Wirtschaftssubjekte dezentral besser Wirtschaftspolitik betreiben als die "Bestie Staat"). "Although originated in the USA, this crisis could only affect to such a large extent also European institutions because these were themselves deeply involved in the global game of speculation, and the European policies facilitated such involvement. At the same time as the financial crisis seems to be culminating a severe recession is building up in the EU which will be exacerbated by the financial turbulence but has basically home made roots. These are the very restrictive monetary and fiscal policies of the EU, the drive for further deregulation of labour markets and an income distribution which puts a brake on private consumption. To counter these developments we

29

propose a democratic transformation of finance and a large macroeconomic investments and public employment programme."25

Was hat das denn mit Ober-/Österreich zu tun? •

Erstens wird das (ober-)österreichische System der Finanzinstitute sehr gelobt, doch der Eindruck vom Lob als Zweckoptimismus mehrt sich mit der Zeit und den Informationen. Dessen ungeachtet besteht freilich der Vorzug des hierzulande üblichen integrierten Bankensystems, das Investment Banking mit Commercial Banking kombiniert, indem durch das zweite Standbein Geschäftsbankbetrieb die Unsicherheit und Bedrohlichkeit jeweils für das einzelne Unternehmen (wohl aber kaum so sehr für die Gesamtheit) vermindert wird. Dieser Vorzug schwindet allerdings tendenziell in dem Maß, in dem das Standbein Vermögenshandel ausgeweitet und der "Spagat" vergrößert wird: "Im Wirkungsfeld der Globalisierung versteht sich die Raiffeisenlandesbank OÖ als moderne Investmentbank im weitesten Sinn und schafft den Spagat zwischen der regionalen Verankerung und der internationalen Betreuung der Kunden. Durch die Öffnung der Grenzen ergeben sich viele neue Möglichkeiten und enorme Chancen, die es zu nutzen gilt" (Geschäftsbericht 2007). Beispielsweise betrug bei der Raiffeisenbank Oberösterreich 2007 die Relation der Nettozinserträge zu den Nettoerträgen, und zwar zu den Betriebserträgen (netto) nur 0,28, zum Betriebsergebnis 0,52, zum EGT 0,86 und zum Jahresüberschuss 0,89 (Geschäftsbericht 2007, http://geschaeftsbericht2007.rlbooe.at).



Zweitens wird die längst langjährige Fusions-, Expansions- und v. a. Internationalisierungsstrategie heimischer Finanzinstitute als Effizienz steigernd und Risiko diversifizierend unter Applaus verfolgt. Dennoch oder gerade wegen des Karaoke-Systems der Präsenz auf den – mittlerweile intransparenten – internationalen Finanzmärkten (etwa: "Mitspielen ist alles", wir leisten uns einen smarten Dealer und eine teure Rating-Agentur und erzielen traumhafte Renditen fast ohne Risiko) sind unsere Banken – bedauernswerte, unschuldige? – Opfer der Finanzkrise geworden. Die Opferrolle gilt wahrscheinlich eher für die von den Rating-Agenturen gepriesenen wundertätigen Derivate, die gekauft wurden und gehalten werden

25

E-Mail von EuroMemorandum Group ([email protected]) an [email protected]: 2nd call for the support of EuroMemorandum 2008/09, 2.12.2008

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(auf die sehr viele Profis hineingefallen sind), aber weniger für die fragwürdige Bereitschaft, überhaupt in den USA zu investieren, die nicht nur schon vor rund zwei Jahrzehnten Nettoschuldner geworden sind, sondern auch sehr hohe laufende Finanzierungsdefizite als Volkswirtschaft aufweisen (allerdings sind ober-/österreichische nicht unmittelbar stark in den USA engagiert, mittelbar jedenfalls). So tragen sie und die InvestorInnen (GläubigerInnen) außerhalb der USA zum künftigen Kollaps des wesentlich von US-Dollar mitgeprägten Weltfinanzmarktes bei, über den nicht mehr die Frage ist, ob – unter unveränderten Bedingungen – die Flucht aus dem Dollar und der (welt)wirtschaftliche Abstieg der USA einsetzen, sondern wann (diese Auffassung ist nicht neu, sondern seit vielen Jahren zu hören und wird verdrängt). Das gilt am Rande auch für privathaushaltliche FinanzkundInnen, aber freilich primär für professionelle Finanzinstitutionen: "Wir sind alle Finanzkapitalisten – oder wir wurden dazu gemacht. Wir alle wurden ein bisschen zu Komplizen des Systems, auch wenn wir es nicht wollten."26 •

Drittens sind unsere Finanzinstitute mittlerweile offenbar auch dadurch zu Täterinnen geworden, indem sie die Naivität dazu verleitete, unbedingt in den Reformstaaten Mittel- und Osteuropas und den potenziellen "Emerging Markets" in Asien investiert zu sein, wo doch ein ungebrochen erfolgreicher Expansionstrend anhält und auch weiterhin anhalten soll, wie man vorerst gemeint hat oder bislang immer noch meint. Dies wurde bzw. wird vertreten, obwohl doch die internationale Eigentumsverflechtung durch ausländische Direktinvestitionen besonders stark zunimmt und, zusammen mit der dortigen Internationalisierung der Investmenttätigkeit, auch eine entsprechende ökonomische Verflechtung mit sich bringt (also keine Insel der Seligen bleiben muss). "" Nun erheben und verstärken die österreichischen Finanzinstitute, die in Osteuropa stark investiert sind, "den Ruf auch nach Banken-Hilfspaketen auch in diesen von der Krise nun ebenfalls immer stärker erfassten Ländern"27. Probleme stellen sich auf der Passiv- wie auf der Aktivseite, wie im Folgenden beispielhaft illustriert wird. "Die fünf Banken, die die Constantia Privatbank um einen Euro (und unter Einsatz staatlicher Finanzierungsgarantien aus Verbindlichkeiten; Anm. R.B.) gekauft haben, bekommen nun Fracksausen. (...) Denn die vielen Unklarheiten, die in den (vermutlich strafrechtlich relevanten; Anm. R.B.)

26

Stephan Schulmeister, zit. n. Putschögl, Martin (2008), Rütteln an Prinzipien, in: Der Standard, 18.9.

27

Strobl, Günther (2008), Ruf nach weiterem Hilfspaket, in: Der Standard, 11.11.

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Verbindungen zu Immofinanz und Immoeast bestehen, haben bei den Erwerbern den Eindruck entstehen lassen, 'dass man derzeit keine Ahnung haben kann, welche Verpflichtungen man als Eigentümer der Bank hat'."28 "Das große Problem sehen die Experten bei der Immoeast, deren Assets zu einem beträchtlichen Teil in (oft minderheitlichen) Beteiligungsgesellschaften liegen und die zu bewerten sehr schwierig sei. (...) Dass auf der Homepage der Immoeast Immobilien angepriesen werden, an denen nur Minderheitsanteile gehalten werden, sei 'ein Fehler gewesen'. Man könne nicht ausschließen, dass es außer Moskau noch weitere derartige Fälle gebe'."29 "Als Erstes müssen die Staaten dafür sorgen, dass alle Finanzinstitutionen, Banken und Kreditfirmen alle ihre Verbindlichkeiten (auch die kompliziertesten Produkte) auf den Tisch legen, damit die Tiefe der Krise erkannt und gezielt eingegriffen werden kann."30 Zudem findet sich zu Zeiten der Immobilienkrise immer noch folgende Aussage auf der Homepage von Raiffeisen Capital Management: "Immobilienfonds können einerseits eine stabile gleichmäßige und in der Regel positive Wertentwicklung bieten, andererseits können durch die Auswahl von Objekten in renditestarken Immobilienmärkten attraktive Erträge erzielt werden. Offene Immobilienfonds verbinden daher in idealer Weise die Vorteile einer wertbeständigen Immobilie mit den Vorteilen eines Wertpapierinvestments. Durch die Indexierung der Mietverträge bieten Immobilienfonds einen optimalen Inflationsschutz" (www.rcm.at/publish/de/immobereich/vorteil.html, 2.12.2008). Dabei liegen die Eigenkapitalquoten österreichischer Banken unter den nunmehr als nötig angesehenen neun Prozent (zitiert werden aus einer Studie von Keefe, Bruyette & Woods beispielsweise Raiffeisen International mit 7,9 % und Erste Group mit 7,2 Prozent) "Aus der Banche ist zu hören, dass vor allem RZB, Bank Austria und Bawag die Injektion gut brauchen könnten (...)."31 Nun kommen noch konkrete Vorwürfe anhaltender Unseriosität dazu: "Aktuelle Lebensversicherungsprodukte mit Kapitalgarantien von 165 Prozent bis 225 Prozent haben es in sich. Im Normalfall werden die Kundengelder so veranlagt, dass zum Ablauf der Vertragslaufzeit zumindest die versprochene Rückzahlung geleistet wird. Manche der derzeit angebotenen Produkte mit Kapitalgarantie beinhalten aber ein hohes Risiko.

28

Graber, Renate/Ruff, Claudia (2008), Banker wollen Fallschirm, in: Der Standard, 27.10.

29

Graber, Renate/Ruff, Claudia (2008), Die Banken werden nervös, in: Der Standard, 21.10.

30

Bayer, Kurt (2008), Banker an die Kandare, in: Der Standard, 21.10.

31

Schnauder, Andreas (2008), Staatliche Blutauffrischung in Vorbereitung, in: Der Standard, 20.10.

32

Die Einmalerläge werden entsprechend den Vertragsbedingungen von den österreichischen Anbietern in Anleihen eines ausländischen Unternehmens investiert. Gleichzeitig wird ein Garantiegeber namhaft gemacht, der für die Rückzahlung der Anleihe und damit für die Sicherheit des Versicherungsvertrages garantiert. Die Sicherheit hängt also von der Bonität des Anleihe-Emittenten und des Garantiegebers ab. Die Realität sieht aber anders aus: Bei den derzeit aktuellen Angeboten sind der Anleihe-Emittent und der Garantiegeber identisch oder zumindest wirtschaftlich eng miteinander verbunden. Wenn der Garantiegeber im Konkursfall des Emittenten gleichzeitig mit diesem untergeht, wie sich jetzt im Fall des Investmenthauses Lehman Brothers Inc. abzeichnet, haftet niemand für die Rückzahlung der Anleihe. Laut den Vertragskonstruktionen würden die Versicherungsnehmer trotz zugesicherter Kapitalgarantie ihre eingesetzten Ersparnisse verlieren, denn die Versicherungen, die bisher dieses Produkt vertrieben haben, haften laut Vertragsbedingungen nicht. Nachdem die Finanzprobleme von Lehman Brothers nun bekannt sind, ist es umso erstaunlicher, dass nach wie vor derartig riskante Produkte angeboten werden. So fungiert etwa die Citigroup Inc., die laut Medienberichten mit 138 Milliarden Dollar der größte Gläubiger der Investmentbank Lehman Brothers ist, aktuell als Emittent und Garantiegeber für ein Versicherungsprodukt eines inländischenAnbieters. Nach Ansicht von AK-Präsident Dr. Johann Kalliauer hättenVersicherungsnehmer/-innen ausführlich auf dieses Risiko hingewiesen werden müssen. 'Konsumenten schließen Verträge mit einer österreichischen Versicherung ab, weil sie auf die Seriosität der Branche und die strengen gesetzlichen Bestimmungen vertrauen. Damit dieses hohe Vertrauen in die heimische Lebensversicherungsprodukte erhalten bleibt, sollten die österreichischen Versicherungs-Unternehmen den betroffenen Kunden den verlustfreien Ausstieg aus diesen Verträgen anbieten', findet Kalliauer."32 Von der Lehman Brothers-Pleite sind die Constantia Privatbank, die Fondsgesellschaft C-Quadrat, die M&A Privatbank, die Uniqa und die Vienna Insurance Group betroffen (DerStandard.at, 17.9.2008, 12:07 MESZ). Immer noch (2.12.2008) preist z. B. Raiffeisen Capital Management auf seiner Homepage die Vorzüge von Immobilienfonds als Anlagealternative, ohne auf die gegenwärtig nicht unproblematische Situation einzugehen: "Immobilienfonds können einerseits eine stabile gleichmäßige und in der Regel positive Wertentwicklung bieten, andererseits können durch die Auswahl von Objekten in renditestarken Immobilienmärkten attraktive Erträge erzielt werden. Offene Immobilienfonds verbinden daher in idealer Weise die Vorteile einer wertbeständigen Immobilie mit den Vorteilen eines Wertpapierinvestments. Durch die 32

AK Oberösterreich (2008), Lehman-Pleite: AK fordert Ausstiegsmöglichkeit für betroffene Besitzer von Lebensversicherungen, Presseaussendung, 19.9., www.ots.at/presseaussendung.php?schluessel =OTS_20080919_OTS0011

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Indexierung der Mietverträge bieten Immobilienfonds einen optimalen Inflationsschutz" (http://www.rcm.at/publish/de/immobereich/vorteil.html).

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Zusammenfassung der Ergebnisse Dogmengeschichte und Wirtschaftspolitik genauer betrachtet •

Neoliberalismus ist keine Gegenbewegung zum "laissez faire"-Liberalismus des 19. Jahrhunderts, sondern ein Versuch zu dessen Wiederbelebung nach der Aufwertung des Staates als Wirtschaftspolitiker mit Aktivismus.



Neoliberalismus schafft keinen Ordnungsrahmen für die Marktwirtschaft, sondern betreibt im Gegenteil vornehmlich Deregulierung.



Neoliberalismus ist keine der Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft, sondern ihre Rückführung im Hinblick auf Lohn- und sozialer Wohlfahrtspolitik.



Neoliberalismus ist durch Ludwig Erhard nicht vertreten worden, zumal dieser die Radikalität des neoliberalen Liberalisierungsstrebens nicht teilte.



Neoliberalismus hat in den 1990er Jahren seitens der Sozialdemokratie keine Umdeutung erfahren, sondern an negativer Bedeutung und ökonomischsozialer Härte gewonnen.



Neoliberalismus steht nicht wegen "politischer Demagogie" im Zentrum breiter Kritik, sondern wegen seiner schlechten sozialökonomischen Auswirkungen.



Neoliberalismus und war keine "Kampfparole" der SozialdemokratInnen als "Ersatzdroge für den Klassenkampf früherer Jahrzehnte", vielmehr setzt die Sozialdemokratie kritisch bei den ungerecht polarisierenden neoliberalen Folgen an, die immer noch soziale Klassen schmieden.



In Oberösterreich besteht Neoliberalismus implizit in der Unterstützung des bisherigen Kurses der Bundes-ÖVP und manifestiert sich faktisch in industriepolitischer Enthaltsamkeit, Privatisierung im Gemeinwirtschaftsbereich und dem Grundprinzip Budgetausgleich.



Es fragt sich, wo und wohin die Ökosoziale Marktwirtschaft "zwischen Neoliberalismus und Neosozialismus" unterwegs ist: ob sie nicht in Richtung des Neoliberalismus unterwegs und ihm schon relativ nahe gekommen ist, insbesondere wegen ihrer Weggemeinschaft mit der liberalistischen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft bei der Verfolgung des Global Marshall Plan und den relativen Lohnsenkungswettbewerb im Grund favorisiert.

N:\Alle\WIRTSCHAFTSPOLITIK (RB)\Regionalökonomie\Eigene Arbeiten\Neoliberalismus frisst Kreide, RB, 25.11.08.doc

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