Theorien sozialer Wahrnehmung und sozialer Urteilsbildung als Ausgangspunkte

2 Theorien sozialer Wahrnehmung und sozialer Urteilsbildung als Ausgangspunkte Zusammenfassung Dem Menschen ist unvoreingenommene Wahrnehmung unmög...
Author: Pia Brodbeck
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Theorien sozialer Wahrnehmung und sozialer Urteilsbildung als Ausgangspunkte

Zusammenfassung

Dem Menschen ist unvoreingenommene Wahrnehmung unmöglich. Alle Wahrnehmungen werden durch Vorabannahmen, Hypothesen und Erwartungen beeinflusst. Andererseits können diese durch Wahrnehmungen verändert werden. Daher gilt: Hypothesen machen Wahrnehmungen, und Wahrnehmungen machen Hypothese (Irle 1975, S. 85).

2.1 Hypothesen, Einstellungen und verwandte psychologische Konstrukte Der Terminus Hypothese wird im folgenden Kapitel nicht bzw. nicht ausschließlich im wissenschaftlichen Sinne verwendet, sondern als Vermutung von Menschen im Alltagsleben. Hypothesen sind alle Annahmen oder Vermutungen, die eine Person über sich und ihre Umwelt aufrecht hält. Wenn wir die Aussage akzeptieren, dass Menschen nichts mit Sicherheit wissen können, sondern dass unsere ganze Erkenntnis nichts anderes ist, als ein System mehr oder weniger gut bewährter Vermutungen, dann können wir auch sagen, dass Hypothesen unser gesamtes Wissen umfassen. Unser gesamtes Vermutungswissen beeinflusst ständig unsere Wahrnehmung. Personen können nichts unvoreingenommen wahrnehmen. Alles, was wahrgenommen wird, wird in seiner Wahrnehmung beeinflusst durch das, was die wahrnehmende Person bereits zu wissen glaubt. 77

Hypothesen beeinflussen die Wahrnehmung.

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 G. Raab et al., Marktpsychologie, DOI 10.1007/978-3-658-02067-5_2

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2  Theorien sozialer Wahrnehmung und sozialer Urteilsbildung als Ausgangspunkte

Nun ist es sicherlich nicht so, dass Personen durch Wahrnehmung nicht auch etwas Neues lernen oder ihr Wissen nach einer Wahrnehmung umstrukturieren. Also gilt auch: 77

Wahrnehmung führt zur Bildung und/oder Veränderung von Hypothesen.

Somit wird deutlich, dass Wahrnehmung und vorhandenes Wissen (Wenn wir im Folgenden den Begriff „Wissen“ benutzen, dann ist immer „Vermutungswissen“ im Sinne von Hypothesen gemeint.) in einer ständigen wechselseitigen Beziehung zueinander stehen. Das eine ohne das andere ist undenkbar. Jegliche Wahrnehmung kann als ein ständiger Prozess des Aufstellens und Prüfens von Hypothesen aufgefasst werden. Einstellungen sind sehr eng mit Hypothesen verwandt, eine genaue Trennung scheint kaum möglich. Oft wird das Einstellungskonstrukt synonym mit dem des Attitüdenkonstruktes verwandt (Konstrukte sind gedankliche Konstruktionen, gedankliche Gebilde). Wir wollen beide Konstrukte inhaltlich in Anlehnung an Irle (1967, S. 195–197) unterscheiden. Einstellungen werden danach als eine Erwartungshaltung in der Wahrnehmung verstanden. Das wiederum führt dazu, dass wir dazu neigen, durch Wahrgenommenes unsere Erwartungen tendenziell bestätigt zu sehen. Wir glauben das wahrzunehmen, was wir erwartet haben. Solange das Wahrgenommene nicht zu sehr von den Erwartungen abweicht, gilt das fast uneingeschränkt. Erst bei starken Abweichungen wird die Situation komplizierter. Das ist Gegenstand der Theorie der kognitiven Dissonanz (siehe Kap. 4). Die Annahme, dass Einstellungen Erwartungen ausdrücken, ist der Kern des Einstellungsmodells nach Fishbein (1966, zu neueren Darstellungen vgl. Assael 1992, S. 208, ff.; Raab et al. 2009, S. 90 ff.). Die Einstellung gegenüber einem Produkt drückt sich durch die Summe der Erwartungen aus, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Produkt bestimmte Eigenschaften aufweist, jeweils mit der subjektiv empfundenen Bedeutung dieser Eigenschaft multipliziert. Formal ergibt sich: n

Eij = ∑ Bijk × aijk k =1

Es gilt: Eij : Die Einstellung einer Person i zur Marke j Bijk : Die subjektiv empfundene Wahrscheinlichkeit der Person i, dass die Marke, das Produkt j eine bestimmte Eigenschaft k aufweist; aijk : Die subjektive Bedeutung des Vorhandenseins der Eigenschaft k bei dem Produkt j für die Person i. Es geht also um die Vermutung über das Vorhandensein einer Eigenschaft. In der praktischen Marktforschung wird oft statt nach der Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins einer Eigenschaft nach der vermuteten Ausprägung einer Eigenschaft gefragt. Das folgende Beispiel entstammt Fishbein und Ajzen (1980, S. 154):

2.1 Hypothesen, Einstellungen und verwandte psychologische Konstrukte

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Für die Beurteilung eines Farbfernsehgerätes ist die Natürlichkeit der Farben vollkommen unwichtig

0 0 0 0 0 0 0

extrem wichtig

-3 -2 -1 0 +1 +2 +3

Hinsichtlich der Natürlichkeit der Farben ist ein Sony-Farbfernsehgerät nicht zufriedenstellend

0 0 0 0 0 0 0 sehr zufriedenstellend -3 -2 -1 0 +1 +2 +3

(Die Zahlenangaben sind in den eigentlichen Fragebögen nicht enthalten, sie dienen Lediglich der späteren Auswertung)

Abb. 2.1   Skalen nach Fishbein und Ajzen (1980)

Tab. 2.1   Auswertung nach Fishbein und Ajzen (1980) Evaluative criterion Satisfaction with Sony Importance of vis-a-vis criterion criterion Natural colors Price Reliability Appearance Overall satisfaction:

+ 2 − 3 + 1 + 1

6 3 2 1

Satisfaction importance 12 − 9 2 1 + 6

Es geht um die Beurteilung von Farbfernsehgeräten, u. a. anhand der vermuteten „Natürlichkeit von Farben“. Die Bedeutung dieser Eigenschaft wird auf einer 7er-Skala von 0 bis 6 und die Ausprägung jeweils auf eine 7er-Skala von − 3 bis + 3 gemessen. Es wurden diesbezüglich Fragen gestellt und entsprechende Skalen gestaltet, wie aus Abb.  2.1 ersichtlich. Der Gesamtwert ergibt sich möglicherweise wie folgt in Tab.  2.1 (im Original nach Fishbein und Ajzen 1980, S. 154): Der Gesamtwert gibt danach im Vergleich zu Konkurrenzprodukten eine relativ gute Annäherung an die Kaufpräferenz, ebenfalls im Vergleich zu Konkurrenzprodukten an. Da nach Fishbein und Ajzen (1980, S.  67 und 68) Versuchspersonen dazu neigen, die Ausprägungen wahrgenommenen Eigenschaftsausprägungen bei als wichtig angesehenen Eigenschaften extremer anzugeben, führt diese Messmethode zu extremeren Resultaten, als es der Realität entspricht. Daher wird vorgezogen, die Einstellung wie zuerst dargestellt, anhand der vermuteten Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins einer Eigenschaft zu messen. Es wird also nicht gefragt, „wie verbrauchsarm ist ein Skoda Superb TDI“ sondern: „Wie überzeugt sind Sie davon, dass ein Skoda Superb TDI verbrauchsarm ist?“. Beides kann dann anhand der oben dargestellten Skalen gemessen werden.

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Bewertung anhand der Erwartung, bezogen auf einzelne Produkteigenschaften

soziale Normen

Gesamtüberzeugung einer Person, bezogen auf eine Marke anhand der einzelnen Produkteigenschaften

eigene Überzeugung

Motivation diesen Normen entsprechen zu wollen

Gesamtbewertung des möglichen Verhaltens

Kaufabsicht

tatsächliches Verhalten

Abb. 2.2   Von Erwartungen zu Verhaltensweisen. (Assael 1992, S. 213, vgl. auch Wells und Prensky 1996, S. 324)

Einstellungen sind also nach diesem Modell die Erwartungen der Verbraucher hinsichtlich des Vorhandenseins von Eigenschaften. Das tatsächliche Kaufverhalten wird neben der Überzeugung gegenüber Marken oder Produkten noch durch soziale Normen und die Motivation diesen Normen zu entsprechen ausgeprägt. Die in Abb. 2.2 dargestellten Zusammenhänge werden als das „Modell begründeten Verhaltens“ bezeichnet („Theory-of-reasoned-action-modell“; Wells und Prensky 1996, S. 324). Anhand eines anderen Modells wird die Einstellung anhand der vermuteten Ausprägungen verschiedener Eigenschaften im Vergleich zu Idealausprägungen gemessen. Dieses sog. Ideal-Punkt-Modell hat folgende Struktur (Ginter 1974; Trommsdorff 1975): n

Eij = ∑ Bijk − I ik k =1

2.1 Hypothesen, Einstellungen und verwandte psychologische Konstrukte

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Es gilt: Eij : Einstellung der Person i zu Produkt oder Marke j Bijk : Von der Person i wahrgenommene Ausprägung des Merkmals k bei Produkt oder Marke j I ik : Von der Person i eingeschätzte ideale Ausprägung des Merkmals k bei dieser Objektklasse Bijk − I ik : Eindruckswert der Person i bei Merkmal k des Produktes oder der Marke j In diesem Fall werden die Einschätzungen von Merkmalsausprägungen direkt abgefragt und der ideal empfundenen Ausprägung gegenübergestellt. Es gilt die Einstellung als am günstigsten ausgeprägt, die (im Gegensatz zum obigen Modell), den geringsten Wert im Konkurrenzvergleich erzielt. Gewichtungsfaktoren sind nicht erforderlich, weil bei als besonders wichtig empfundenen Eigenschaften die Abweichungen von der als ideal empfundenen Ausprägung von vornherein stärker angegeben als empfunden werden. Gewichtungsfaktoren würden diesen Effekt lediglich intensivieren. Es dürfte nicht schwer fallen, ähnliche Einstellungskonstrukte für ganz andere Bereiche des Wirtschaftslebens abzuleiten: Unternehmungen als Arbeitgeber weisen bestimmte Eigenschaften mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit und Bedeutung auf, ebenso Führungskräfte aus Sicht der Mitarbeiter/innen und Mitarbeiter/innen aus Sicht von Führungskräften. Wertpapiere an der Börse können ähnlich beurteilt werden: Ertragskraft der Unternehmung, augenblicklicher Kurs, Wachstumserwartungen etc. fließen in die Beurteilung der Spekulanten ein. Attitüden gehen darüber hinaus. Sie beinhalten Tendenzen, die Urteile über StimulusKomplexe beeinflussen, ferner beinhalten sie Verhaltensbereitschaften (bezogen auf das wahrgenommene Objekt). Attitüden stehen für ein System aus drei Komponenten: • eine erkennende, die kognitive Komponente, • eine bewertende, die evaluative Komponente, • eine das Verhalten auslösende, die konative Komponente. Die erkennende, kognitive Komponente bezieht sich auf Einstellungen, die anderen beiden Komponenten gehen offensichtlich über das Einstellungskonzept hinaus. Abb.  2.3 zeigt das Attitüdenkonzept in seiner Struktur. Wir können die „bewertende/evaluative“ Komponente als kognitiv-emotionale Basis des Verhaltens verstehen. Die „erkennende/wahrnehmende“ Komponente entspricht eindeutig einer kognitiven Verhaltensbasis (beispielsweise im Sinne „Sozialer Wahrnehmung“). Die Verhaltensbereitschaft hat einen engen Bezug zur motivationalen Basis menschlichen Verhaltens. Wir können diese Einführung mit der Erläuterung dreier eng mit Einstellungen und Attitüden verwandten Konzepten abschließen: Image Wert und Vorurteil.

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2  Theorien sozialer Wahrnehmung und sozialer Urteilsbildung als Ausgangspunkte

unabhängige Variable

Stimuli (d.h. für die betroffene Person wertrelevante Außenreize), andere Personen, physikalische Reize

Attitüden

intervenierende Variable

messbare, abhängige Variable

Evaluation / Bewertung

Mimenspiel, verbale Aussagen

Erkennen/ Wahrnehmung

Blickaufzeichnung Messung des elektrischen Hautwiderstandes - verbale Aussagen

Verhaltensbereitschaft

verbale Aussagen aufgrund indirekter Befragung, Conjointanalyse

Abb. 2.3   Schematische Darstellung von Attitüden nach Rosenberg und Hovland (1980, S. 3; zu den Verfahren der Blickaufzeichnung, Messung des elektrischen Hautwiderstandes und der Conjointanalyse vgl. auch Raab et al. 2009, S. 327 ff.; Fuchs und Unger 2014, S. 534 ff.)

Unter einem Image verstehen wir die Einstellungen vieler Personen bezogen auf ein bestimmtes Objekt. Es werden bestimmte Personen über ihre Meinung (und damit ihre Erwartungen) bezogen auf irgendein Objekt befragt. Die Gesamtstruktur der Resultate dieser Befragung beschreibt das Image dieses Objektes bei den befragten Personen. Meinungen sind tatsächlich nichts anderes als Erwartungshaltungen. Wenn wir irgendeine Meinung bezogen auf irgendetwas hegen, dann erwarten wir irgendetwas von dem relevanten Objekt. Person X sei der Meinung, dass ein Fahrzeug der Marke Y besonders sicher, wirtschaftlich usw. ist. Das sind Erwartungen bezogen auf Fahrzeuge dieser Marke. Wenn von einem Image gesprochen wird, dann müssen wir uns verdeutlichen, dass es nicht einfach das Image eines Objektes gibt. Es kann a) nur das als Image ausgedrückt werden, was Inhalt der zugrunde liegenden Befragung ist (Image ist das, was die jeweilige Befragung erfasst; das ist allerdings ein sehr allgemeines wissenschaftstheoretisches Problem jeder Messung) und b) bezieht sich das gemessene Image nur auf die Grundgesamtheit, die der befragten Stichprobe zugrunde liegt. Werte sind besonders zentrale Einstellungen einer Person. Jede Person verfügt über eine sehr große Anzahl von Einstellungen. Einige dieser Einstellungen stehen in Beziehung zueinander, andere nicht. So mag die Einstellung zu einer „gesunden Lebensführung“ eine enge Beziehung zu der ernährungsrelevanten Einstellung und zu den Einstellungen bezogen auf die Qualität des Wohnraumes haben. Die Einstellung zum Urlaub mag auch relevant sein, jedoch nicht in gleichem Maße und Einstellungen zum TV-Abendprogramm haben vermutlich keinen Bezug zur „gesunden Lebensführung“. Nun können wir uns leicht vorstellen, dass manche Einstellungen einen stark beeinflussenden Bezug zu sehr vielen anderen Einstellungen aufweisen, andere nicht. Die zentralen, viele andere

2.2 Hypothesentheorie sozialer Wahrnehmung

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Einstellungen beeinflussenden Einstellungen sind Werte. Sie sind besonders änderungsresistent, weil ihre Änderung dazu führen würde, viele andere Einstellungen ebenfalls ändern zu müssen. Personen ändern leichter solche Einstellungen, deren Änderung weniger weiterführende Veränderungen zur Folge haben würden. Der in den späten 80er Jahren aufgekommene Begriff des zunehmenden Wertewandels drückt lediglich aus, dass sich zentrale Einstellungen in stärkerem Maße ändern als in vorangegangenen Jahrzehnten. Vorurteile sind solche Einstellungen, die auch bei offensichtlich widersprechender Wahrnehmung beibehalten werden. Sie sind extrem änderungsresistent. Hierin unterscheiden sie sich nicht von Werten. Vorurteile müssen jedoch keine zentralen Einstellungen betreffen. Es kann sich auch um eher peripher e, für die betroffene Person also weniger bedeutsame Aspekte, handeln. Nun sind die wichtigsten Elemente kognitiver Systeme erläutert. Wir wollen anschließend zwei eng verwandte grundlegende Theorien darlegen, welche soziale Wahrnehmung und soziale Urteilsbildung erklären. Der Begriff „sozial“ drückt aus, dass beide Phänomene durch Beziehungen von Personen untereinander mit beeinflusst werden. Soziales Verhalten ist ein Verhalten das (auch) durch Beziehungen der sich verhaltenden Person zu anderen Personen beeinflusst wird.

2.2 Hypothesentheorie sozialer Wahrnehmung Bedürfnisse, Motive, Werte und Wünsche beeinflussen die Wahrnehmung. Diese Annahme ist der Kern des sog. „directive state“-Konzeptes, dessen empirische Basis allerdings noch Schwächen aufweist (vgl. Lilli und Frey 2001, S.  51). Immerhin lässt sich schon hieraus die Annahme rechtfertigen, dass dasjenige, was Bedürfnissen, Motiven oder Wünschen einer Person entspricht, bevorzugt wahrgenommen wird. Das ist angesichts der Informationsüberlastung (was dazu führt, dass nur ein Bruchteil aller vorhandener Signale von einer Person wahrgenommen und ein noch geringerer Teil davon verarbeitet wird) in praktisch allen entwickelten Gesellschaften von erheblicher Bedeutung für die Marketing-Kommunikation. Auch Werte mögen einen ähnlichen Effekt haben, allerdings ist auch zu vermuten, dass solche Dinge bevorzugt wahrgenommen werden, die bestehenden Werten extrem entgegenstehen. Schon das „directive state“-Konzept beseitigt grundlegend die Annahme, dass es eine reine, unvoreingenommene Wahrnehmung gibt. Es gibt keine passiven oder ausschließlich reagierenden Informations-Empfänger. Jede menschliche Wahrnehmung beginnt mit einer Hypothese. Hypothesen sind alle Annahmen einer Person über sich selbst und ihre Umwelt. Wahrnehmung ist ein Produkt vorhandener Annahmen über die Realität (also von Hypothesen) und der tatsächlich vorhandenen, wahrnehmbaren Realität. Die Hypothesentheorie sozialer Wahrnehmung (zurückgehend auf Allport 1955; Bruner 1951, 1957; Postman 1951) ist eine Weiterentwicklung des „directive state“-Konzeptes, welches sich im Wesentlichen auf drei zentrale Aussagen reduzieren lässt (Lilli und Frey 2001, S. 56):

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2  Theorien sozialer Wahrnehmung und sozialer Urteilsbildung als Ausgangspunkte

• Je stärker eine Hypothese ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie erregt wird, d. h. eine Person glaubt, eine Bestätigung für ihre Hypothese zu finden. • Je stärker eine Hypothese ist, desto geringer ist die Menge der unterstützenden Reizinformationen (oder Signale), die zu ihrer Bestätigung (aus psychologischer Sicht der betroffenen Person) nötig ist. Eine Person, die beispielsweise sehr stark an etwas glaubt, benötigt nur sehr wenige diesen Glauben unterstützende Hinweise, um verstärkt von der Richtigkeit ihres Glaubens auszugehen. • Je stärker eine Hypothese ist, desto größer muss die Menge widersprechender Informationen sein, um zu bewirken, dass die betroffene Person dazu bereit ist, ihre Annahme aufzugeben. Wer also sehr stark an etwas glaubt, benötigt besonders viel gegenteilige Informationen, um seine Annahme aufzugeben. Die Theorie besagt nicht, dass vorhandene Hypothesen immer dazu führen, die Realität im Sinne dieser Hypothesen wahrzunehmen. Bei extrem widersprechenden Informationen sind Personen auch bereit vorhandene Hypothesen zu verwerfen. Es sind aber, bei gleicher Hypothesenstärke weit weniger Informationen zur Hypothesenbestätigung erforderlich und weit mehr Informationen zur Aufgabe einer Hypothese notwendig. Daraus ergibt sich der Satz (Irle 1975, S. 85): 77

„Hypothesen machen Wahrnehmung, und Wahrnehmungen machen Hypothesen.“

In welchem Maße Hypothesen die Wahrnehmung beeinflussen oder Hypothesen durch Wahrnehmungen verändert werden, hängt offensichtlich in starkem Maße von der Hypothesenstärke ab. Diese wird durch folgende Faktoren bestimmt (vgl. Irle 1975, S. 86–88): • Häufigkeit der Bestätigung in der Vergangenheit Je häufiger beispielsweise eine bestimmte Handlungsweise zum Erfolg geführt hat, in umso stärkerem Maße dürfte die betroffene Person die Überzeugung/Hypothese bilden, das Richtige getan zu haben und selber für den Erfolg verantwortlich zu sein. • Anzahl verfügbarer Alternativhypothesen Je weniger Alternativen eine Person zur Lösung eines Problems zur Verfügung hat, um so sicherer ist sich die Person, dass diese Alternativen das Problem lösen. • Stärke motivationaler Unterstützung Je mehr eine Person eine bestimmte Sache wahrnehmen will, um so eher wird sie diese wahrnehmen. Wer einer Person gegenüber negativ eingestellt ist, mag dazu motiviert sein, bei dieser Person Negatives wahrzunehmen.

2.3 Theorie sozialer Urteilsbildung

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• Verbindung einer Hypothese mit anderen Hypothesen Wir können davon ausgehen, dass Personen über ein extrem komplexes System von Hypothesen verfügen. Zwischen einigen dieser Hypothesen bestehen Verbindungen, zwischen anderen nicht. Einige Hypothesen haben zu sehr vielen anderen Hypothesen Beziehungen, andere stehen isoliert. Die Änderung einer Hypothese, die zu vielen anderen in Beziehung steht, fällt der betroffenen Person sehr schwer, da dies häufig auch Änderungen anderer Hypothesen nach sich ziehen wird. Daraus lässt sich ableiten, dass eine Hypothese umso resistenter gegen Änderungen ist, umso stärker ist, je mehr sie mit anderen in Verbindung steht.

2.3 Theorie sozialer Urteilsbildung Ein ähnlicher Ansatz wie der Hypothesentheorie sozialer Wahrnehmung liegt auch der Theorie sozialer Urteilsbildung zugrunde. Es wird angenommen, dass vorhandene Einstellungen bezogen auf einen Tatbestand diesbezügliche Wahrnehmungen beeinflussen. Diese Theorie geht auf Sherif und Hovland (1961); Sherif et al. (1965) zurück, dort als „Social Judgement“-Theorie bezeichnet. Sie ist auch als „Assimilation-Kontrast“-Theorie bekannt Um diese Theorie verstehen zu können müssen wir uns zuerst verdeutlichen, dass sich Einstellungen auf Skalen darstellen lassen, welche jeweils von einem Extrempunkt über einen neutralen Bereich zu einem anderen entgegengesetzten Extrempunkt reichen. Wir nehmen das Beispiel entsprechend Abb. 2.4. Auf solchen Skalen lassen sich sowohl die Standpunkte der Empfänger von Botschaften als auch die Standpunkte, der wahrzunehmenden Botschaften selber darstellen. Die These ist, dass die Empfänger die Botschaften nicht objektiv, sondern in Abhängigkeit vom eigenen Standpunkt aus wahrnehmen und beurteilen. Die Theorie sozialer Urteilsbildung besteht aus folgenden Kernaussagen: • In einem sehr engen um die eigene Einstellung liegenden Bereich werden andere Aussagen als mit der eigenen Einstellung identisch wahrgenommen. Sie werden assimiliert (Assimilationsbereich). • In einem darum liegenden Bereich werden die anderen Aussagen zwar als von der eigenen Einstellung abweichend wahrgenommen, aber doch als ähnlicher als sie es in Wirklichkeit sind. Diese Aussagen werden akzeptiert, sie können auch zu einer Beeinflussung der wahrnehmenden Person führen. Die Person ändert ihre Einstellung in Richtung der Botschaft. Dieser Bereich wird als Akzeptanzbereich bezeichnet. Der Assimilationsbereich ist der „innere Bereich“ im Akzeptanzbereich. Abb. 2.4   Skala zur Messung einer Einstellung

Ich vermute, dass Ich vermute, dass die Partei XYZ in die Partei XYZ in Arbeitsmarktfragen 0 0 0 0 0 0 0 0 0 Arbeitsmarktfragen extrem kompetent extrem inkompetent ist. ist.

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2  Theorien sozialer Wahrnehmung und sozialer Urteilsbildung als Ausgangspunkte

• Darum gelegen finden wir einen weiteren Bereich, in dem andere Botschaften weder akzeptiert, noch abgelehnt werden, also einen neutralen Bereich, in welchem der Standpunkt anderer Botschaften mehr oder weniger objektiv wahrgenommen wird. • Noch weiter vom eigenen Standpunkt der wahrnehmenden Person finden wir den Ablehnungsbereich, den Kontrastbereich. Die dort wahrgenommenen Aussagen werden hinsichtlich ihres Standpunktes als noch weiter vom eigenen Standpunkt wahrgenommen, als sie es in Wirklichkeit sind. Sie werden „kontrastiert“, und sie werden abgelehnt. Eine Einstellungsänderung in Richtung des Standpunktes der Botschaft ist nicht zu erwarten. Bei extremer Abweichung der Standpunkte (welche noch extremer wahrgenommen wird, als sie es objektiv ist), ist viel eher ein Bumerang-Effekt (von Cranach et al. 1965) zu erwarten, d. h. eine Einstellungsänderung weg vom Standpunkt der in der Botschaft vertreten wird. Die Person ändert ihre Einstellung in die entgegengesetzte Richtung. Die Tatsache, dass von der ursprünglichen Einstellung der wahrnehmenden Person entfernt liegende Botschaften aus dem Ablehnungsbereich (oder Kontrastbereich) zunehmender Entfernung als noch weiter entfernt liegend wahrgenommen werden, als sie es tatsächlich sind, wird als Kontrast-Effekt bezeichnet. Als Assimilationseffekt wird der Effekt bezeichnet, wonach im Akzeptanzbereich (oder Assimilationsbereich) liegende Botschaften mit zunehmender Ähnlichkeit zunehmend noch ähnlicher wahrgenommen werden, und bei extremer Ähnlichkeit die Botschaft als völlig identisch mit dem eigenen Standpunkt beurteilt wird. Häufig werden Personen mit Botschaften konfrontiert, um diese zu beeinflussen. Die beeinflussende Wirkung hängt auch davon ab, wie der Standpunkt der Botschaft von der betroffenen Person wahrgenommen wird. Botschaften aus dem Assimilationsbereich erzielen keine beeinflussende Wirkung, da sie bekanntlich als mit der eigenen Einstellung identisch wahrgenommen werden. Botschaften aus dem Akzeptanzbereich erzielen eine umso größere Wirkung, je größer der wahrgenommene Abstand von der Einstellung der zu beeinflussenden Person ist. Botschaften aus dem neutralen Bereich erzielen keine Wirkung. Botschaften aus dem Kontrastbereich können einen Bumerangeffekt bewirken, der umso größer ist, als je weiter die beeinflussende Botschaft vom Standpunkt des Botschaftsempfängers (der zu beeinflussenden Person) entfernt wahrgenommen wird. Um als Kommunikator die beeinflussenden Wirkungen voraussagen zu können, müssten Informationen über das ungefähre Ausmaß des Akzeptanz- und Ablehnungsbereiches vorliegen. Das Ausmaß dieser Bereiche wird von zwei Faktoren beeinflusst: a. je extremer der eigene Standpunkt ist, umso enger ist in aller Regel der Akzeptanzbereich und umso größer ist der Ablehnungsbereich. b. je größer die persönliche Relevanz (synonym „Ich-Beteiligung“ oder „Involvement“) des Meinungsgegenstandes für die betroffene Person ist, je enger ist der Akzeptanzbereich und je größer ist der Ablehnungsbereich. Oft besteht zwischen diesen beiden

2.3 Theorie sozialer Urteilsbildung

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Standpunkt P Realität

Wahrnehmung der Realität Assimilationsbereich

Akzeptanzbereich

Neutraler Bereich

Kontrastbereich

Abb. 2.5   Soziale Urteilsbildung im Assimilations-, Akzeptanz- und Kontrastbereich

Aspekten ein enger Zusammenhang. Bei extremen Standpunkten ist in alle Regel auch eine starke persönliche Relevanz vorhanden. Daher können wir allgemein sagen: Je stärker die persönliche Relevanz ausgeprägt ist, umso enger ist Akzeptanzbereich; „die Weite des Spielraumes der Akzeptanz ist eine negative Funktion der Stärke der Ich-Beteiligung“ (Irle 1975, S. 291). Die gesamte Theorie ist als Modell in Abb. 2.5 dargestellt. In der Einführung der Variablen „Ich-Beteiligung“/„Involvement“ ist eine besondere Bedeutung der Theorie sozialer Urteilsbildung zu sehen. Involvement hängt von zwei Faktoren ab: Wert-Wichtigkeit und Wert-Instrumentalität. Wert-Wichtigkeit meint ganz einfach die Bedeutung eines Wertes für eine Person. Wert-Instrumentalität beschreibt die Instrumentalität eines beliebigen Gegenstandes zur Realisation eines Wertes. Für jede Person lässt sich zunächst einmal eine Rangreihe von Werten nach unterschiedlicher Wichtigkeit bilden. Die Objekten (z. B. Produkten) zuzuschreibende Instrumentalität bezeichnet das Ausmaß, in welchem diese Produkte Ziele der Person unterstützen können. Beide Faktoren gemeinsam bestimmen das Involvement bezogen auf ein Produkt. Daher kommt die im Marketing so weit verbreitete Unterscheidung von Produkten in die Klassen „High Involvement“ und „Low Involvement“ (im Marketing recht ungenau oft als „High“ oder „Low Interest“ bezeichnet). Nehmen wir an, einer Person sei Prestige sehr wichtig (hohe Wert-Wichtigkeit); nehmen wir ferner an, das Tragen bestimmter Markenkleidung wird von dieser Person als sehr nützlich angesehen, um Prestige zu erlangen (hohe Wert-Instrumentalität). Dann weisen die betroffenen Bekleidungsmarken hohes Produkt-Involvement auf. Dabei geht es allerdings in Wirklichkeit nicht um eine dichotome Unterscheidung sondern um die Frage eines mehr oder weniger stark ausgeprägten Involvements bezogen auf unterschiedliche Produkte, welches zudem bezogen auf verschiedene Qualitätsdimensionen unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann und so ein wichtiger

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2  Theorien sozialer Wahrnehmung und sozialer Urteilsbildung als Ausgangspunkte

Ansatz zur Marktsegmentierung ist. Wir können davon ausgehen, dass das Involvement gegenüber Mineralwasser bei den meisten Personen gering ausgeprägt ist. Es gibt aber ein Marktsegment von Personen, die gegenüber dem Natriumgehalt von Mineralwasser extrem stark involviert sind.

2.4 Anwendungen Die Hypothesentheorie sozialer Wahrnehmung erklärt beispielsweise Verhaltensbereiche im Rahmen der Personalführung. Führungskräfte, die ganz bestimmte Erwartungen an das Verhalten einer Person richten, neigen dazu, sich in der Leistungswahrnehmung in ihren Erwartungen bestätigt zu sehen. Werden im Rahmen von Personalbeurteilungen Führungskräfte über das Verhalten, die Leistungsbereitschaft, Fähigkeit oder Persönlichkeitseigenschaften befragt, so erhalten wir Antworten, die in mehr oder weniger starkem Maße durch die Erwartungen der Führungskräfte beeinflusst werden. Die Tatsache, dass es keine unvoreingenommene Wahrnehmung gibt, ist Führungskräften oder Lehrkräften in Schulen, Ausbildung oder Hochschulen oft nicht oder doch zu wenig bewusst. Im Marketing spielt die Hypothesentheorie im Rahmen der Produktwahrnehmung eine große Rolle. Viele Verbraucher vermuten beispielsweise, dass koffeinfreier Kaffee weniger „aromatisch“ schmeckt. Diese Hypothese mag dazu führen, den Geschmack einer solchen Marke von vornherein zu unterschätzen und eher als einen Kaffee für „gesundheitlich Angeschlagene“ aufzufassen. In einer TV-Kampagne wurde daraufhin gezielt mit sportlich dynamischen Personen in einem Restaurant geworben, wobei eine Person, die sich gerade gewundert hat, dass ihr Gegenüber Kaffee Haag bestellt, gar nicht bemerkt, dass sie selber Kaffee Haag trinkt sagt „So muss Kaffee schmecken“. Diese Kampagne hat in besonders starkem Maße die Aufgabe Erwartungshaltungen bezogen auf das Produkt und zu verändern und Vorurteile bezogen auf die Verwender/innen abzubauen. Durch letzteres soll die soziale Akzeptanz des Produktes gesteigert werden. Es gibt Produktbereiche, in denen die Verbraucher oder die Mehrheit der Verbraucher konkurrierende Marken praktisch nicht unterscheiden können: Bier, Mineralwasser, Zigaretten, Kaffee, Weinbrand. In Blindtests (Produkttest ohne Markenkenntnis der Versuchspersonen) empfinden die Versuchspersonen keine oder deutlich weniger Unterschiede als in solchen Tests, in denen die Marken den Versuchspersonen bekannt sind (vgl. Moser 1990, S. 68). Die Wahrnehmung der Marke führt zu einer Hypothese, welche anschließend die Geschmackswahrnehmung beeinflusst. Die Assimilation-Kontrast-Theorie findet im Rahmen jeglicher Beeinflussung Anwendung. So ist es beispielsweise kaum denkbar, in Wahlkämpfen Anhänger aus dem (sagen wir) rechten Wählerlager zu Wähler/innen linker Parteien zu machen. Botschaften aus dem rechten Lager kommen für sie aus dem Ablehnungsbereich und werden entweder ignoriert oder führen zu Bumerangeffekten. In Wahlkämpfen geht es darum, die eigenen Anhänger zur Stimmabgabe zu motivieren („diesmal kommt es darauf an“); oder Anhänger des anderen Lagers zu demotivieren oder zu verunsichern und so von der Wahl abzuhalten.

2.4 Anwendungen

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Wenn es im Social-Marketing darum gehen mag, Vorurteile abzubauen, stehen wir vor einem ähnlichen Problem. Wir können nicht erwarten, in einer einzigen Kommunikationskampagne eine verfestigte Anti- oder Pro-Einstellung umzukehren. Extreme Einstellungen, die in der Regel zusätzlich mit hohem Involvement verbunden sind, stehen dem entgegen. Im Social-Marketing müssen wir akzeptieren, dass sich Einstellungen oft nur in kleinen Schritten verändern lassen. Würden wir extremen Einstellungen mit extrem konträren Einstellungen entgegentreten, so ist eher mit Bumerang-Effekten zu rechnen. Im Konsumgütersektor kann die Assimilation-Kontrast-Theorie ebenfalls erklären, warum Beeinflussungen schwierig sind. Bei High Involvement-Produkten ist der Akzeptanzbereich relativ klein und der Ablehnungsbereich relativ groß. Botschaften für andere als das derzeit präferierte Produkt stammen mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Ablehnungsbereich. Bei „Low Involvement“-Produkten sind Beeinflussungen leichter, was daran liegen kann, dass der Akzeptanzbereich größer und der Ablehnungsbereich kleiner ist. Für diesen Aspekt aus dem Konsumgütersektor gibt es allerdings noch andere Erklärungen (insbes. die Cognitive Response-Theorie, Kap. 7). Bei Low Involvement erfolgt die Informationsaufnahme eher zufällig, werden Bilder eher als Textbotschaften aufgenommen, erfolgt die Beeinflussung eher über die Vermittlung emotionaler, bildbetonter, farbiger Darstellungen als über die Qualität und Struktur von Argumenten. Allerdings muss auch bei „High Involvement“-Produkten bedacht werden, in welchem Maße Zielgruppen gegenüber Werbebotschaften involviert sind. Es ist durchaus mit geringem Involvement gegenüber der Werbung bei höher ausgeprägtem Involvement gegenüber den Produkten zu rechnen. Das hat zur Folge, dass über emotionale, das geringe Involvement berücksichtigende Werbung Markensympathie aufgebaut wird, die dazu führt, sich anschließend über andere Informationskanäle intensiver mit dem Produkt und den entsprechenden Argumenten zu beschäftigen. Laczniak und Muehling (1993) untersuchen die Faktoren Überzeugungsstärke und Überzeugungssicherheit (belief certainty) in Bezug auf Low Involvement oder High Involvement. Es zeigt sich, dass die Überzeugungsstärke hinsichtlich des Vorhandenseins bestimmter Produkteigenschaften oder der Tauglichkeit zur Befriedigung bestimmter Bedürfnisse nicht vom Involvement abhängt, wohl aber die Überzeugungssicherheit. Bei „High Involvement“-Produkten sind sich Verbraucher/innen sicherer in ihren Überzeugungen als bei Low Involvement. Die Erklärung für diesen Effekt, die Laczniak und Muehling (1993, S. 314) liefern, überzeugt allerdings nicht ganz: „This may be the case since more involved receivers ad evaluations are likely to be based on more criteria and a more meaningful analysis than those of less involved persons“. Wir können eher davon ausgehen, dass auch bei „High Involvement“-Produkten Anzeigen eher kurz, bildbetont betrachtet werden, dass Bilder den Texten gegenüber bevorzugt werden und von Bildelementen emotionale Bildelemente mehr Beachtung erzielen. Vermutlich sind wesentlich subtilere kognitive Prozesse für den gefundenen Effekt größerer Sicherheit bei High Involvement verantwortlich, die im Bereich kognitiver Konsistenztheorien zu suchen sein werden. Menschen ertragen Unsicherheit bei wichtigen Dingen weniger als bei unwichtigen Dingen. Der durch Unsicherheit ausgelöste innere psychologische Spannungszustand ist vermutlich noch umso stärker, je wichtiger der jeweilige Tatbestand empfunden wird.

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2  Theorien sozialer Wahrnehmung und sozialer Urteilsbildung als Ausgangspunkte

Einstellungen und Attitüden spielen zur Erklärung des Konsumgüter-Kaufverhaltens eine zentrale Rolle. Marketing-Kommunikation schafft Produkt- und/oder Markenerwartungen. Wir kaufen ein Konsumgut eigentlich grundsätzlich auf der Basis von Erwartungen, diese sind nach häufigem Wiederholungskauf lediglich mehr verfestigt, als nach einmaligem Kauf aufgrund werblicher oder anderer Beeinflussung. Auch nach dem x-ten Kauf wissen wir nichts über das zu kaufende einzelne Produkt, wir hegen lediglich Erwartungen. Diese zu beeinflussen ist Aufgabe des gesamten Marketing-Mix, einschließlich der Preispolitik. Auch Preise schaffen bestimmte Leistungserwartungen. Oft ist der Preis ein Qualitätsindikator. Eine Kernaufgabe des Marketings ist die Positionierung. Die Positionierung einer Marke meint die Bildung einer Erwartung bezogen auf ganz bestimmte Produktmerkmale im Bezug auf die gleichen Erwartungen bezogen auf Konkurrenzmarken. Wir wollen das an einem einfachen Beispiel illustrieren: KFZ-Marken möge man danach beurteilen wollen, ob sie hinsichtlich der Käufererwartungen als mehr oder weniger sportlich, prestigeträchtig, wirtschaftlich oder sicher empfunden werden. Für das Marketing kommt es dann darauf an, a) festzustellen, welche Käufersegmente welche Idealvorstellungen haben und b) wie sich die eigene Marke innerhalb eines solchen Marktsegmentes im Konkurrenzvergleich eigenständig und vorteilhaft darstellen kann. Eine eigenständige Positionierung ist in vielen Bereichen des Konsumgüter-Marketing infolge der technischen Austauschbarkeit der Produkte durch eigenständige Kommunikation möglich. Wenn Produkte hinsichtlich der Sachaussagen austauschbar geworden sind, dann bedarf es eigenständiger emotionaler Kommunikation, die auf ungewöhnliche Darstellungen und Bildreize zurückgreifen kann (vgl. Kroeber-Riel und Esch 2000, S. 47 ff.; sehr viele Beispiele dazu lieferte Kroeber-Riel 1993).

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