Narration in der Fotografie

Narration in der Fotografie eingereicht von: Pilar Meier Binzenmatt 9 6314 Unterägeri E-Mail: [email protected] Hauptfach: Publizistik- und Kommunik...
Author: Hajo Mann
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Narration in der Fotografie

eingereicht von: Pilar Meier Binzenmatt 9 6314 Unterägeri E-Mail: [email protected] Hauptfach: Publizistik- und Kommunikationswissenschaft 1. Nebenfach (30 KP): Philosophie 2. Nebenfach (30 KP): Theorie und Geschichte der Fotografie Matrikelnummer: 08-702-250 Veranstaltung: Proseminar, Ästhetik und Technik, HS 2012: Art & Photography Modulverantwortliche: Kathrin Beer Kunsthistorisches Institut Universität Zürich

Unterägeri, 4. Januar 2013

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung............................................................................................. 1 2. Narrative Fotografie ............................................................................ 3 2.1. Textanalyse: Sandra Maria Geschke – Da tut sich was! Überlegungen zur Semiotik narrativer Fotografie ................................... 3 2.2. Grammatikmodell der narrativen Fotografie ................................. 4 2.3. Weitere Definitionen zur narrativen Fotografie ............................. 5 2.4. Narrative vs. nicht-narrative Fotografie ......................................... 7 2.5. Zusammenfassende Definition: Was ist narrative Fotografie? ....... 8 3. Narration in der Fotografie am Beispiel von Cindy Sherman .............. 9 3.1. Kurzporträt: Wer ist Cindy Sherman?............................................. 9 3.2. Narration in „Untitled Film Stills“ ................................................... 9 4. Fazit ................................................................................................... 12 5. Literatur- und Quellenverzeichnis ..................................................... 14 5.1. Bildnachweis ................................................................................ 14 5.2. Literatur ....................................................................................... 15

1. Einleitung Für Kunst gibt es keine einheitliche Definition. Dennoch hat Jeder seine eigene Idee und Vorstellung davon, wie Kunst aussieht, wie sie entsteht, welchen Zweck sie haben soll, wie sie wirken soll und was als Kunst gelten soll und was nicht. Und so überträgt man seine eigene Idee von Kunst auch auf verschiedene Medien und man hat seine eigene Vorstellungen davon, wann ein Bild, ein Film, eine Fotografie oder ein Auftritt einen künstlerischen Wert hat und wann nicht. Crowther (2003) gibt zwei normative Kriterien für Kunst an, nämlich dass sie einen transkulturellen und transhistorischen Wert haben muss und einen komparativ historischen Horizont, durch welchen ein Werk Beachtung erhält und die Tragweite eines Mediums entwickelt, aufweisen muss. Nur anhand des zweiten Merkmals lässt sich Kunst als solche erkennen, weil das gewählte Medium für jedes Kunstwerk von grosser Bedeutung ist (vgl. Crowther 2003: 130). Abell (2012) listet verschiedene Definitionen auf, die Kunst über funktionale oder prozedurale Kriterien beschreiben. Zu den gängigen funktionalen Kriterien gehören die Ansprüche an einen ästhetischen Wert des Werkes und die Erwartung, dass Kunstwerke Gedanken und Gefühle ausdrücken und einen Sinngehalt darstellen (vgl. Abell 2012: 672 – 673). Dass das Medium Fotografie auch Kunst sein kann, ist heutzutage weniger umstritten als früher, wo die Reproduzierbarkeit einer Fotografie für viele bedeutete, dass Fotografien nicht als Kunstwerk betrachtet werden können (vgl Benjamin 1939). Diesen Anspruch der Einmaligkeit stellt man heute nicht mehr unbedingt. Auch die kommerzielle Absicht hinter einer Fotografie vernichtet nicht automatisch die Möglichkeit, dass das zu diesem Zweck aufgenommene Bild als Kunstwerk bezeichnet werden kann. Wer Fotografie als Kunst betrachtet, der wird wohl auch den Anspruch stellen, dass das Bild etwas aussagt, ihm etwas erzählt und irgendeine Wirkung hat. Die Narration eines Bildes macht so einen grossen Teil seines künstlerischen Wertes aus. Narration muss in diesem Sinn nicht explizit gemeint sein. Narration entsteht durch Andeuten, Hinweisen, durch dargestellte Handlungen oder auch durch eine Abfolge von Bildern. Die Geschichte muss hier gewiss nicht eindeutig erkennbar sein. Ein und dasselbe Bild erzählt zwei verschiedenen Betrachtern möglicherweise durch und durch verschiedene Seite | 1

Geschichten, der Narrationsgehalt ist so aber dennoch gegeben, solange eine Erzählung und Aussage hinter dem Werk vermutet wird. In Zusammenhang des Themas des Seminars, in dessen Rahmen diese Arbeit erstellt wurde, ist es deshalb von Interesse, wie Narration in einem Bild hergestellt wird, wie sie von verschiedenen Kunsthistorikern und Wissenschaftlern definiert wird und wie diese narrativen Elemente konkret angewendet werden. Ziel ist es, anhand der in dieser Arbeit präsentierten Ansichten eine klarere Auffassung von Fotografie als Medium der Erzählung zu erhalten und die narrativen Elemente in einem Bild zu erkennen. Als Beispiel für die Narration in der Fotografie dient in dieser Arbeit die Fotografin Cindy Sherman, deren Serie „Untitled Film Stills“ im Kapitel 3 genauer unter den zuvor besprochenen Aspekten analysiert wird. Abschliessend wird ein Fazit gezogen und es werden die aus dem Seminar und der Arbeit an diesem Aufsatz gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst.

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2. Narrative Fotografie In diesem Kapitel wird zuerst der Text von Sandra Maria Geschke zur narrativen Fotografie als Grundlagentext vorgestellt und analysiert. In 2.2. wird ihr Grammatikmodell für die narrative Fotografie zusammengefasst. Darauf werden weitere Überlegungen anderer Wissenschaftler zur Narration im Bild präsentiert und es wird schliesslich eine abschliessende Definition für narrative Fotografie gefunden.

2.1. Textanalyse: Sandra Maria Geschke – Da tut sich was! Überlegungen zur Semiotik narrativer Fotografie Die Sprachwissenschaftlerin Sandra Maria Geschke wagt sich in einem in Lars Bluncks Publikation

Die

fotografische

Wirklichkeit.

Inszenierung,

Fiktion,

Narration

erschienenen Aufsatz an die Analyse der Narration im Bild heran. Ihr geht es darum, ein Grammatikmodell zu erstellen, welches die einzelnen Komponente eines Bildes beschreibt, welche benötigt werden, um einem Bild die erzählerische Aussagekraft zu verleihen. Ihrer Meinung nach geht es in der Erzählung primär darum, eine Handlung darzustellen, weshalb sie den Text so aufbaut, dass sie zuerst den Begriff der Handlung und der Narration klar definiert und dann in Bezug bringt mit dem fotografischen Bild. Dass für die Autorin die Narration durch die Handlung entsteht, wird alleine schon im Titel klar. Im Bild muss sich „was tun“. Eine Handlung ist laut Geschke eine „bewusste, sinnstiftende Aktion eines Menschen“ (S. 173) und sie ist rückgebunden an soziale Beschreibungen. Diese seien kulturell geprägt, weswegen das Sinnhafte einer Handlung nur unter Beachtung des jeweiligen sozialen Kontexts eingeordnet, interpretiert und bewertet werden kann. Damit eine Handlung literarisch interessant wird, muss sie zusätzliche Eigenschaften aufweisen. Handlungen sollen einen Prozess beschreiben und auf einen Höhepunkt zusteuern (vgl. Geschke 2010: 173 – 175). Eine Handlung wird dann erst zu einer Erzählung, wenn sie in einen Kausalzusammenhang gebracht wird und zeitlich strukturiert ist. Ist also eine logische Abfolge zu erkennen oder zu erahnen, und ist die Handlung in einen Zusammenhang eingebettet, wird sie narrativ. Wird eine Handlung narrativ inszeniert, dann geschieht dies durch symbolische Verdichtung, welche der Handlung erst ihren Sinn verleihen und ihr laut Geschke eine Moral und einen höheren Sinn zuspricht, welche die Seite | 3

Handlung für den Rezipienten nachvollziehbar machen. Der Rezipient kann dank dieser Charakteristika die Handlung auf sein eigenes Leben übertragen und sie wird für ihn so bewegend, lehrreich und überhaupt erst interessant. In der Fotografie fehlt im Gegensatz zum literarischen Werk der Prozesscharakter, die Handlung muss also noch stärker verdichtet sein und es wird mit noch mehr Zeichen und Symbolen gearbeitet, um eine Handlung darzustellen (vgl. Geschke 2010: 174 – 175). Bezogen auf die häufigen Definition von Kunst wird so auch deutlich, wie ein Bild durch Narration zu einem Kunstwerk werden kann; nämlich indem es uns einen Ausschnitt liefert, welcher zuerst in einen Kontext gebracht werden muss, um einen Sinn zu erhalten. Geschieht dieses Einbetten in einen sozialen oder kulturellen Kontext durch Verdichtung, dann ist dieser Prozess stets persönlich, denn jeder Rezipient spricht dem Werk einen eigenen Kontext zu und überträgt ihn auf sein eigenes Leben. Somit berührt ihn das Werk, es bewirkt etwas in ihm und es ergibt einen persönlichen Sinn, was die gängigen Ansprüche an die Kunst widerspiegelt. Geschke spricht einen weiteren Aspekt der Bedeutung von Narration an. Sie geht darauf ein, wie das Erzählen von Geschichten schon immer fundamental war für die Identitätsstiftung und das Erstehen von Verbundenheit und Gemeinschaft. Durch das gemeinsame Austauschen von Geschichten und das Überliefern von Erzählungen an weitere Generationen entsteht Kultur, sozialer Austausch und Empathie. Erzählungen sind also für den Alltag und das soziale Leben sehr wichtig, weil sie uns Einblick in das Denken und Handeln unserer Mitmenschen gewähren und uns ermöglichen, uns mit ihnen zu identifizieren und auseinanderzusetzen. Ob sie diese Eigenschaft auch der Erzählung durch andere Medien (wie der Fotografie) zuspricht, bleibt offen (vgl. Geschke 2010: 173 – 175).

2.2. Grammatikmodell der narrativen Fotografie Das Ziel von Geschke war es, für die narrative Fotografie ein grammatikalisches Modell zu erstellen, das alle Elemente der Narration im Bild umfasst. Sie nimmt Bezug auf den Philosophen Ludwig Wittgenstein, welcher davon ausging, dass Sätze wie Bilder gelesen werden können. Laut Geschke ist für Bilder das Umgekehrte auch der Fall und sie behauptet: „Bilder können wie Sätze gelesen werden“ (S. 179). Ein Satz besteht in Seite | 4

der deutschen Grammatik aus einem Subjekt, einem Verb und einem Objekt. Das Verb in der finiten Form ist das Prädikat; es bestimmt also, worauf sich die Ausführungen in einem Satz beziehen. Von ihm hängen ab, „wer“ was tut und „was“ er tut. Das Prädikat ist die Aktion, der Satz ergibt eine Handlung. Dieses Konzept kann auf ein Bild übertragen werden. Damit in einem Bild eine Handlung dargestellt werden kann, benötigt es ein Subjekt, welches etwas (=Objekt) tut (=Prädikat). Das Verb steht im Mittelpunkt und gibt den Plot vor. Die anderen Elemente komplettieren die Handlung (vgl. Geschke 2010: 179 – 180). Kurz gesagt ist nach der Definition von Geschke die Narration in einem Bild also abhängig von der Handlung, welche durch ein simples grammatikalisches Grundmodell, Subjekt – Verb – Objekt, beschrieben und in einem Bild dargestellt werden kann. Diese sehr vereinfachte Reduzierung der Komplexität eines narrativen Werkes in diesem Modell lässt einige ihrer zuvor genannten Kriterien für Narration im Bild aus. So fehlt die psychologische Ebene der Aussage eines Bildes hier komplett. Wird nur eine Handlung dargestellt, ist noch nicht garantiert, dass diese im Betrachter auch etwas auslöst, ob sie einen sozialen oder kulturellen Bezug hat, ob sie offen oder geschlossen ist, ob Symbole oder Andeutungen zu erkennen sind. Das Modell ist deswegen ein interessanter Ansatz, bringt aber keine zufriedenstellende Vorlage für das Verstehen und Umsetzten von Narrativität in der Fotografie. Um sich von Narrativität in der Fotografie ein besseres Bild machen zu können,

werden folgend noch weitere

Definitionen und Ansichten von anderen Autoren zum Thema hinzugezogen.

2.3. Weitere Definitionen zur narrativen Fotografie Andere Autoren beschreiben die Narration in der Fotografie ähnlich wie Sandra Maria Geschke, ohne dabei jedoch die Eigenschaften auf ein einfaches Modell zu reduzieren. Roland Iselin thematisiert die Narration in der inszenierten Fotografie und verweist darauf, dass das eigene Schaffen einer Kulisse und darzustellenden Szene dem Künstler erlaubt, alle Elemente so zusammenzusetzen, damit die intendierte Aussage klar transportiert werden kann. Somit spielen bei ihm die Absicht des Künstlers und der Prozess, welcher zu einem Werk führt, eine bedeutende Rolle bei der Erstellung von Seite | 5

Narrativität. Er spricht weiter vom „Einfrieren eines Moments im Kontinuum“, womit ein Bild zur Erzählung gemacht werden kann. Ausserdem könnten durch Darstellung von Absurdem oder von Traumbildern ebenfalls Narrationen entstehen (vgl. Iselin 2007: 20 – 21).

Abbildung 1: Cindy Sherman, Untitled Film Stills #32, 1979

Lars Blunck, in dessen Sammelband Die fotografische Wirklichkeit Sandra Maria Geschkes Aufsatz publiziert wurde, führt im gleichen Band seine eigene Definition für Narration in der Fotografie auf. Er schreibt, dass Narrativität ein Attribut ist, das vor allem fiktiven und inszenierten Fotografien zugeschrieben werde, dabei der Begriff der Narrativität jedoch nie präzise definiert und eher lose benutzt werde. Ihm ist es ein Anliegen, den Begriff genauer zu umschreiben, um ihn sinnvoll einsetzen zu können. Er erklärt, dass schwammige Definitionen bestünden, welche die Narrativität von einer implizierten Vorher und Nachher in einem Bild abhängig machen. Nach seinen Ausführungen würde dies auf jede Fotografie zutreffen, weil ein Foto immer eine Momentaufnahme ist und es immer einen vorherigen und nachherigen Moment gebe. Daraus lasse sich also kein trennscharfer Narrationsbegriff ableiten, weil man unter Narrativität im künstlerischen Bereich mehr verstehe als die blosse Darstellung einer einzelnen Zustandsveränderung oder einen Moment mit möglichen Voraussetzungen oder Folgen. Deshalb hält Blunck es für wichtig, dass der Künstler das Bild bewusst so Seite | 6

inszeniert, dass es als Erzählung wahrgenommen wird und der Betrachter sich fragen muss, welche Wirklichkeit im Bild dargestellt wird. Das Zusammensetzen der implizierten Geschichte geschehe dann aber ausschliesslich in der Vorstellung des Betrachters, weil dieser die Leerstellen im Kunstwerk zu einer Erzählung zusammenfügt (vgl. Blunck 2010: 29 – 36). Burkhard Fuhs greift das Thema des erzählenden Fotos ebenfalls auf. In seiner Arbeit „Narratives Bildverstehen“ verweist er auf jene erzählenden Bilder, die durch Sequenz und Beschriftung ihre Narrativität beanspruchen. Dies ist beispielsweise bei Comics oder Fotogeschichten der Fall. Die Narrativität in einem isolierten Bild umschreibt er als Teil der visuellen Kultur. Die Geschichte entstehe nicht im Bild selber, sondern sie wird durch Assoziationen in unserer Vorstellung erschaffen. Er spricht von einer „inneren Bilderwelt“. Dieses Phänomen umschreibt auch Blunck. Bei Fuhs sind aber nicht nur künstlerische Bilder narrativ. Auch Bilder aus der Werbung oder aus dem privaten

Fotoalbum

rufen

diese

Assoziationen

hervor

und

haben

einen

Narrationsgehalt. Er erwähnt ebenfalls, dass die Aussage eines Bildes deshalb mehrdeutig sei und die Interpretation stark vom sozialen und kulturellen Kontext und den Eigenschaften des Rezipienten abhängt (vgl. Fuhs 2006: 218). Diese Definitionen unterscheiden sich nicht erheblich von jener von Sandra Maria Geschke, sie liefern aber weitere Einsicht in die Komplexität und Kontroverse des Themas Narrativität. Was bei Geschke fehlt sind die Hinweise auf die Intention des Künstlers und die Wichtigkeit des Andeutens einer Handlung, die über das Bild hinausgeht, was bei anderen Autoren diskutiert wird.

2.4. Narrative vs. nicht-narrative Fotografie Ein Aspekt, auf welchen Sandra Maria Geschke in ihrem Aufsatz ebenfalls nicht genauer eingeht, ist jener, inwiefern sich denn narrativer Fotografie von nichtnarrativer Fotografie unterscheidet. Genauere Ausführungen hierzu finden sich bei anderen Autoren. Natalie Moser (2011) deutet darauf hin, dass bei nicht-narrativen Erzählungen das Erzählte nicht auf die Darstellungsebene durchschlägt und das Dargestellte zu konkret Seite | 7

und nicht vereinheitlichend ist. Das heisst, das Bild wird nicht Gegenstand der Interpretation sondern bildet zum Beispiel nur einen Gegenstand in seiner gesamten Form ab und lässt dem Betrachter nicht den Anschein, das Abgebildete sei Teil eines Prozesses. Ausserdem geht die Narration immer auch zeitlich über das Erzählte im Bild selbst hinaus, weswegen Bilder, die einen Anfang und ein Ende in sich haben und geschlossen sind, nicht narrativ sind. Kann das dargestellte also nicht der persönlichen Interpretation unterworfen werden oder auf verschiedene Situationen übertragen werden, fehlt dem Bild der Narrationscharakter (vgl. Moser 2011: 58 – 63). Nach Luca Giuliani ist die Abgrenzung von narrativen und nicht-narrativen Bildern relativ simpel: narrative Bilder erzählen, nicht-narrative Bilder beschreiben nur. Beschreibungen würden nur das Nebeneinander von Gegenständen aufzeigen, bei Erzählungen ginge es hingegen um das Nacheinander (vgl. Giuliani 2003: 21 – 22). Die nicht-narrative Fotografie, also all jene Fotografie, die nicht erzählerisch ist, zeichnet sich so also durch fehlende implizierte Abläufe und die Limitiertheit auf das Abgebildete aus.

2.5. Zusammenfassende Definition: Was ist narrative Fotografie? Unter Beachtung der diskutierten Definitionen zur narrativen Fotografie kann diese zusammenfassend beschrieben werden als verdichtete Darstellung einer implizierten Handlung, welche erst durch den Rezipienten zu einer tatsächlichen Geschichte zusammengefügt wird. Narration entsteht durch die clevere Erstellung von einem Bild, bei welchem die Handlung ausserhalb des Bildes stattfindet und das Bild nur einen Ausschnitt liefert, welcher auf eine mögliche Handlung hindeutet. Was dem isolierten Einzelbild immer fehlt, ist der Prozesscharakter, welcher in anderen Erzählweisen vorhanden ist. Das narrative Einzelbild arbeitet stattdessen mit starker Verdichtung und mit Bildsprache. Der Betrachter füllt die Leerstellen selbst aus und fügt das Bild selbst zu einer Erzählung zusammen. Für das narrative Bild ist es deshalb essentiell, dass es offen bleibt und dem Rezipienten diesen Anreiz für das eigene Zusammensetzten der Geschichte gibt.

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3. Narration in der Fotografie am Beispiel von Cindy Sherman Cindy Sherman ist eine amerikanische Fotografin, deren Werk für die Analyse zu den narrativen Elementen in der Fotografie sehr geeignet ist. Im Folgenden wird deshalb eine ihrer bekanntesten Serien, die „Untitled Film Stills“, genauer betrachtet und in Bezug zum Thema dieser Seminararbeit sowie dem Thema des Seminars selbst gesetzt.

3.1. Kurzporträt: Wer ist Cindy Sherman? Cindy Sherman wurde 1954 geboren und zog 1976 nach New York, wo sie kurze Zeit später im Alter von 23 Jahren die Arbeit an ihrer bahnbrechenden ersten Foto-Serie „Untitled Film Stills“ begann. Sherman fotografierte, verkleidete und inszenierte sich für die Fotografien selbst und die Bilder erinnern stark an Ausschnitte aus Filmen der 50er und 60er Jahren. Die Verkleidungen und die Anspielungen an typische Frauenrollen in der Gesellschaft sollen zu Shermans Markenzeichen werden. In all ihren Fotografien ist stets sie selbst abgebildet. Doch nicht nur in ihren Fotografien übernimmt Sherman verschiedenste Rollen: auch bei der Arbeit selbst fungiert sie sowohl als Fotografin als auch als Model, Maskenbildnerin, Set-Designerin, Stylistin und Kostümdesignerin. Sie wurde mit ihrem innovativen Werk zu einer der bekanntesten und wichtigsten zeitgenössischen Künstlerinnen überhaupt (vgl. MOMA 2012).

3.2. Narration in „Untitled Film Stills“ Der Titel von Cindy Shermans Debüt-Serie “Untitled Film Stills” lässt zwar schon erahnen, dass die Serie wohl erzählerischen Charakter hat, die Andeutung auf Filme täuscht hier jedoch. Tatsächlich besteht die Serie aus 90 unzusammenhängenden Bildern, die zwar mit „Film Still“ bezeichnet sind, jedoch gar keine Ausschnitte aus echten Filmen sind. Die Fotografien stellen von Sherman inszenierte Situationen dar, welche aussehen, als könnten sie aus einem ganzen Film stammen (vgl. Yanelouis 2004: 43). Dies verleitet den Betrachter dazu, den Versuch zu unternehmen, sich den Rest der Geschichte zusammenzusetzen. Dass Sherman diesen Effekt mit nur einem „Ausschnitt“ erreicht, spricht für die gelungene Verwendung von narrativen Aspekten Seite | 9

in ihren Fotografien. In der Tat sind in ihren Werken sehr viele der genannten Elemente zur Herstellung von Narration in einem Bild zu erkennen. Das am meisten herausstechende Merkmal ist jenes des Rollenspiels. Sherman verkleidet sich und verkörpert stereotype Figuren und spielt mit typischen Rollen, in welchen Frauen oft in alten Filmen dargestellt wurden. Durch die starke Anlehnung an solche bekannten Konzepte ruft sie im Betrachter sofort Assoziationen hervor und bewirkt, dass er sich den

sozialen

und

kulturellen Kontext und die

Situation

der

dargestellten

Person

vorzustellen versucht. Dies ist ein zentraler Punkt der Narration.

Desweiteren

erinnern viele der Bilder in „Untitled Film Stills“ an Szenen

aus

Theater,

Performance Art oder Abbildung 2: Cindy Sherman, Untitled Film Stills #28, 1979

Improvisationskunst, oft mit komödienhaften Elementen, was den Rezipienten vermuten lässt, dass die dargestellte Szene nicht isoliert ist von einer Handlung und durchaus ein Bestandteil einer

Geschichte

ist.

Ausserdem

könnte

man

argumentieren,

dass

die

Aneinanderreihung von Bildern in der Serie für Narrativität spricht. Dies ist ein Aspekt, mit dem Sherman bewusst spielt. Die Reihenfolge der Bilder ist nämlich willkürlich und die Bilder sind alle gänzlich unabhängig voneinander, das Sequenzielle fehlt also, es wird kein Prozess dargestellt. Auf psychologischer Ebene ist jedoch zusätzlich interessant, wie Sherman den Identitätskomplex der Gesellschaft zum Hauptthema ihrer Werke macht. Wie in Kapitel 2.1. erläutert, ist laut Geschke (2010) das identitätsstiftende

Potenzial der

Narration eine

wichtige

Komponente

des

Geschichtenerzählens. Dadurch, dass Geschichten einen sozialen und kulturellen Kontext aufweisen, thematisieren sie gesellschaftlich relevante Themen, schaffen so Verbundenheit zwischen Gesprächsteilnehmern, widerspiegeln soziale und kulturelle Besonderheiten der Zeit und ermöglichen das Reflektieren über Handlungen und Seite | 10

Probleme (vgl. Geschke 2010: 173 – 175). Bei Sherman wird genau diese Eigenheit nicht nur durch das Bild erschaffen, sondern sie wird im Bild selbst integriert und thematisiert. Cindy Sherman sagt selbst zum Entstehungsprozess von „Untitled Film Stills“: „When I moved to New York, in the summer of 1977, Robert [Longo] and I happened to stop by David Salles studio. The guys were doing their machoart-talk thing, so I got bored and started wandering around, snooping. David worked for some kind of magazine that used photographs in a storyboard format, like a photo comic book or novella, and I remember seeing piles of the photographs scattered around: I don’t know if he was doing the layout or what. They were quasi-soft porn, cheesecakey things and it was hard to figure out what was going on in any of them, they were totally ambiguous and I just loved that. This kind of imagery would solve my problem of trying to imply a story without involving other people, just suggesting them outside the frame: something clicked.” (vgl. Sherman 2003: 6) Sherman sagt also aus, dass das Erzählen einer Geschichte stets eine ihrer Hauptabsichten bei der Erstellung des Konzepts für ihre Bilder war. Die starken Aussagen in ihren Bildern sind nicht zufällig und hinter jedem Bild steckt ein grosser Aufwand, da sie sich für jede Szene das Make-Up, die Kostüme und das Setting selbst überlegt und es dann auch selbst gestaltet. Interessant ist auch, dass es ihr schon immer ein Anliegen war, nur sich selbst ins Bild zu setzen und andere für die Geschichte wichtigen Figuren aus dem Bild zu lassen und ihre Existenz nur anhand des Ausschnittes anzudeuten. Dass ihr Vorhaben erfolgreich ist, zeigt sich an den unzähligen und sehr verschiedenen Interpretationen ihrer Werke. Ihr Spiel mit Ironie und Stereotypie und die starke Verdichtetheit sorgen dafür, dass viele ihrer Bilder mehrdeutig scheinen. Das „über das Bild hinausgehen“ der Handlung, was sie anspricht, ist ein Narrativitätscharakteristikum, das sich bei den Definitionen verschiedener Autoren zur Narration im Bild ebenfalls findet (vgl. Kapitel 2.3.)

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4. Fazit In vorliegender Arbeit wurde im Rahmen des Seminars „Art & Photography“ untersucht, wie verschiedene Autoren die narrative Fotografie definieren, wie Narration konkret in den Bildern von Cindy Sherman angewendet wird und wie die Narration den künstlerischen Wert eines Bildes ausmacht. Der Text von Sandra Maria Geschke zeigt eine sehr vereinfachte Idee von der Handlung in einem Bild auf. Die Autorin behauptet, dass eine Handlung die Grundlage der Erzählung ist. In ihrer anfänglichen Definition von Narration fügt sie aber hinzu, dass Narration erst entsteht, wenn die Handlung durch Verdichtung an literarischem Wert gewinnt, weil sie interpretiert werden muss und erst in einem adäquaten sozialen und kulturellen Kontext gedeutet werden kann. In ihrem Modell lässt sie all diese Aspekte ausser Acht und beschränkt sich alleinig auf das Darstellen einer Handlung und folgert, dass so in einem Bild eine Geschichte illustriert werden kann. Bei der Analyse von den Werken von Cindy Sherman unter dem Gesichtspunkt der Narration in der Fotografie konnte gezeigt werden, wie ein Künstler sich mit der Narration befasst, welche Vorkehrungen und Ideen hinter einem erzählerischen Werk stecken und wie es auf den Betrachter wirkt. Sherman selbst erreicht es, durch ihre Werke Aussagen zu übermitteln, indem sie in verschiedene Rollen schlüpft und durch Gestik, Mimik, Verkleidung und sorgfältig ausgesuchter Umgebung Szenen schafft, die wie aus einem Film oder einer zusammenhängenden Geschichten gegriffen erscheinen. Sie deutet so einen Handlungsstrang an, auch wenn der Rezipient nur einen einzigen Ausschnitt davon zu sehen bekommt. Sherman gelingt es auf faszinierende Weise, die narrativen Elemente der Fotografie auf selbstironische und humorvolle Art einzusetzen und den Betrachter für ihre „Geschichten“ zu begeistern. Das Hinzuziehen der Bilder von Cindy Shermans „Untitled Film Stills“ erwies sich somit als optimale Wahl für die Untersuchung von narrativen Elementen in der Fotografie. Den Gegensatz zur narrativen Fotografie bildet die nicht-narrative Fotografie, welche sich durch das Fehlen eines angedeuteten Prozess auszeichnet. Dies ist zum Beispiel bei Abbildungen in einem Katalog der Fall, wo dem Bild nicht die Intention unterliegt, dem Betrachter einen Ausschnitt einer Geschichte zu liefern. Solchen Bildern wird auch höchst selten ein künstlerischer Wert nachgesagt, auch wenn dies stets subjektiv ist, Seite | 12

da – wie wir gesehen haben – die Ansichten darüber, was als Kunst bezeichnet werden kann, sehr unterschiedlich sind. Dennoch ist offensichtlich, dass die Absicht des Künstlers, anhand eines einzigen Bildes eine Geschichte zu inszenieren, bereits sehr viel dazu beiträgt, dass das Bild für den Betrachter einen künstlerischen Wert haben wird. Es kann abschliessend bemerkt werden, dass die Narrativität in der Fotografie kein zufällig entstehendes Element eines Fotos ist, sondern sie ist meist die alleinige Intention des Künstlers und beeinflusst den künstlerischen Prozess weitgehend. Die weitere Untersuchung zur Narration in Fotografien, genauere Abgrenzungen und die Suche nach klareren Definitionen sind deswegen durchaus interessante Themen für weitere Forschungen auf diesem Gebiet.

Abbildung 3: Cindy Sherman, Untitled Film Stills #26, 1979

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5. Literatur- und Quellenverzeichnis

5.1. Bildnachweis Abbildung 0: Cindy Sherman, Untitled Film Stills #4, 1977............................................... T Gelatin silver print, 19.2 x 24 cm. The Museum of Modern Art, New York. Quelle: http://www.moma.org/collection/browse_results.php?criteria=O%3AAD%3AE%3A 5392&page_number=4&template_id=1&sort_order=1 (27.12.2012) Abbildung 1: Cindy Sherman, Untitled Film Stills #32, 1979 ............................................. 6 Gelatin silver print, 19.1 x 24 cm. The Museum of Modern Art, New York. Quelle: Sherman, Cindy (2003): The Complete Untitled Film Stills. The Museum of Modern Art, New York. Abbildung 2: Cindy Sherman, Untitled Film Stills #28, 1979 ........................................... 10 Gelatin silver print, 19.1 x 24 cm. The Museum of Modern Art, New York. Quelle: Sherman, Cindy (2003): The Complete Untitled Film Stills. The Museum of Modern Art, New York. Abbildung 3: Cindy Sherman, Untitled Film Stills #26, 1979 ........................................... 13 Gelatin silver print, 16.2 x 24 cm. The Museum of Modern Art, New York. Quelle: http://www.moma.org/interactives/exhibitions/2012/cindysherman/gallery/2/#/2 /untitled-film-still-26-1979/ (03.01.2012)

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5.2. Literatur Abell, Catharine (2012): Art: What it Is and Why it Matters. Philosophy and Phenomenological Research, 85. S. 671 – 691. Benjamin, Walter (1939): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Dritte Fassung. In: http://walterbenjamin.ominiverdi.org/wpcontent/kunstwerkbenjamin.pdf (03.01.2012) Blunck, Lars (2010): Fotografische Wirklichkeiten. In: Lars Blunck (Hg.) (2010): Die fotografische Wirklichkeit. Inszenierung, Fiktion, Narration. Bielefeld, S. 9 – 36. Crowther, Paul (2003): Cultural Exclusion, Normativity, and the Definition of Art. The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 61. S. 121 – 131. Iselin, Roland (2007): Narrative Strategien in der inszenierten Fotografie. In: http://www.rolandiselin.net/Seiten/Texte/PDF_ganz.pdf (02.01.2012) MOMA (2012): Exhibitions. Cindy Sherman, February 26 – June 11, 2012. http://www.moma.org/visit/calendar/exhibitions/1170 (26.12.2012) Moser, Natalie (2011): Gegen das Bild „anerzählen“. In: Rheinsprung 11: Der Anfang. Aporien der Bildkritik, H. 1. S. 56 – 70. Fuhs, Burkhard (2006): Narratives Bildverstehen. Plädoyer für die erzählende Dimension der Fotografie. Methodische Ansätze aus sozialwissenschaftlicher, kunst- und medienpädagogischer Perspektive. Wiesbaden. Geschke, Sandra Maria (2010): Da tut sich was! Überlegungen zum Semiotik narrativer Fotografien. In: Lars Blunck (Hg.) (2010): Die fotografische Wirklichkeit. Inszenierung, Fiktion, Narration. Bielefeld, S. 173 – 199. Giuliani, Luca (2003): Bild und Mythos: Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst. München. Sherman, Cindy (2003): The Complete Untitled Film Stills. The Museum of Modern Art, New York. Yenelouis, Bernard (2004): Reviews: Photography. The Complete Untitled Film Stills. In: The Art Book 11, H. 3. S. 42 – 43.

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