Medizin des Alterns und des Alten Menschen

Medizin des Alterns und des Alten Menschen Teil I: Grundlagen, Methodiken, Versorgungsstrukturen und Aufgaben H.F. Durwen Priv.-Doz. Dr. Herbert F. D...
Author: Jan Huber
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Medizin des Alterns und des Alten Menschen Teil I: Grundlagen, Methodiken, Versorgungsstrukturen und Aufgaben H.F. Durwen

Priv.-Doz. Dr. Herbert F. Durwen Klinik für Akut-Geriatrie St. Martinus-Krankenhaus Gladbacher Str. 26 40219 Düsseldorf

Konsequenzen der soziodemographischen Entwicklung für die Geriatrie • Zunahme der medizinischen Versorgungsnotwendigkeiten insgesamt • Zunahme chronisch-degenerativer Erkrankungen absolut und relativ (d.h. auch im Vergleich zu den Akuterkrankungen) • Zunahme der Krankheitsmanagement Aufgaben

Zielsetzung der Geriatrie • Bestmögliche Wiederherstellung bzw. nachhaltige Sicherstellung von Autonomie (Fähigkeit zur Eigenrealisation von Alltagsaktivitäten) vor dem Hintergrund eines • Biopsychosozialen Modells (Berücksichtigung von Organerkrankung und funktioneller Einschränkung vs. Biomedizinisches Modell)

Definition „Geriatrie“ Die Geriatrie stellt als Querschnittsfach einen integralen Bestandteil der somatisch und psychiatrisch orientierten Fachgebiete dar. Sie befasst sich mit den Alterungsprozessen und den diagnostischen, therapeutischen, präventiven und rehabilitativen Besonderheiten der Erkrankung von Menschen im höheren Lebensalter. Sie betrachtet den Patienten im Rahmen eines biopsychosozialen Grundkonzeptes nicht nur organspezifisch sondern auch unter ganzheitlich-integrativen Gesichtspunkten, also auch unter Einschluss von psychosozialen und sozialmedizinischen Aspekten.

Definition „Der Geriatrische Patient“ Der Geriatrische Patient ist ein biologisch älterer Patient, in der Regel 70 Jahre und älter, der bei akuter Erkrankung zusätzlich durch seine altersbedingten Funktionseinschränkungen gefährdet ist, der eine geriatrietypische Multimorbidität aufweist, und bei dem daher ein weiterführender Bedarf an rehabilitativer, somatopsychischer und psychosozialer Behandlung besteht.

Geriatrietypische Multimorbidität

• Multimorbidität • Geriatrietypische Sachverhalte

Geriatrietypische Multimorbidität

• Multimorbidität • Geriatrietypische Sachverhalte

Multimorbidität • Multiple strukturelle und funktionelle Schädigungen • Mindestens 2 behandlungsbedürftige Erkrankungen • Behandlungsbedürftigkeit (engmaschige ärztliche Überwachung und Behandlung)

I) Geriatrietypische Sachverhalte (Syndrome) A

Merkmalskomplexe (I)

• „Vier Geriatrische I`s“ Immobilität Instabilität (Sturzneigung und Schwindel) Imbezilität (Kognitive Defizite) Inkontinenz (Harn- und/oder Stuhlinkontinenz

A

Merkmalskomplexe (II)

• Dekubitalulzera • Fehl- und Mangelernährung • Störungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt • Depressionen und Angststörungen • Chronische Schmerzen • Sensibilitätsstörungen • Herabgesetzte körperliche Belastbarkeit / Gebrechlichkeit (frailty) • Sehbehinderung • Schwerhörigkeit

B

Sonstige Merkmalskomplexe

• Mehrfachmedikation • Herabgesetzte Medikamententoleranz • Häufige Krankenhausbehandlung (Drehtüreffekt)

Spezifische Risiken Einschränkung der Selbständigkeit im Alltag bis hin zur Pflegebedürftigkeit Entwicklung von Krankheitskomplikationen (Thrombosen; interkurrente Infekte; verzögerte Rekonvaleszenz – v.a. nach OP, Frakturen oder gravierenden medizinischen Maßnahmen; Komplikationen bei künstlichen Körperöffnungen, Dialysepflichtigkeit etc.)

II) Häufige Hauptdiagnosen (I) • Akuter Schlaganfall und andere akute cerebrovasculäre Erkrankungen, bzw. Z.n. • KHK und andere Herzkrankheiten mit Z.n. herzchirurgischen Eingriffen • Arterielle Verschlusskrankheiten mit Z.n. Amputationen o.a. Operationen • Diabetische Gefäßleiden • Dekompensierte Herzinsuffizienz, bzw. Z.n. • Exazerbierte chronisch-obstruktive Lungenerkrankung, bzw. Z.n.

II) Häufige Hauptdiagnosen (II) • Pneumonie und andere Infektionen der Atemwege, bzw. Z.n. • Z.n. hüftgelenksnahen Frakturen, mit Z.n. chirurgischer Versorgung • Cox- und Gonarthrose mit Z.n. Implantation einer Endoprothese • Z.n. anderen Frakturen und Verletzungen • Z.n. anderen Arthropathien • Z.n. Spondylopathien und Diskopathien, ggf. mit Z.n. Laminektomie • Extrapyramidalmotorische Erkrankungen, bzw. Z.n.

Definition „Akut-Geriatrie“ (I)

Die Akut-Geriatrie versorgt primär den akut erkrankten, konservativ zu behandelnden Geriatrischen Patienten, bei dem eine Erkrankung entweder akut neu aufgetreten ist oder bei dem sich ein bereits bekanntes, ggf. chronisches Krankheitsbild, akut verschlimmert hat.

Definition „Akut-Geriatrie“ (II) Die Geriatrie nimmt entweder Patienten direkt auf oder übernimmt Patienten aus anderen Akut-Krankenhäusern zur Weiterführung der vorherigen akutmedizinischen Versorgung nach AkutEreignis oder zur Diagnostik und Therapie nach ätiologisch noch unklaren, jedoch akut einsetzenden krankheitsverursachenden Umständen.

Definition „Akut-Geriatrie“ (III) Darüber hinaus obliegt der Akut-Geriatrie die Geriatrische Frührehabilitation im Sinne der geriatrischen Komplexbehandlung. In der Geriatrischen Frührehabilitation sind Aspekte der akutmedizinischen Behandlung und der rehabilitativen Beübung gleichermaßen relevant.

Definition „Geriatrische Rehabilitation“ (I) In der Geriatrischen Rehabilitation werden in Abgrenzung zur Akut-Geriatrie und zur indikationsspezifisch agierenden sonstigen Rehabilitation bereits rehabilitationsfähige Geriatrische Patienten indikationsübergreifend behandelt. Sie ist im wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass die funktionelle Restitution der bedrohten Selbständigkeit des Geriatrischen Patienten im Alltag , die durch die Interferenz multipler pathologischer Ursachen bedingt wird, ganz im Vordergrund der therapeutischen Bemühungen steht.

Definition „Geriatrische Rehabilitation“ (II) Voraussetzungen für die Inanspruchnahme einer geriatrischen Rehabilitation sind: Rehabilitationsbedarf, Rehabilitationsfähigkeit, positive Rehabilitationsprognose mit einem realistischen Rehabilitationsziel, Einwilligung des Patienten.

Definition „Geriatrische Tagesklinik“ Die Geriatrische Tagesklinik ist eine teilstationäre Einrichtung an der Schnittstelle zwischen stationärer und ambulanter Geriatrie. Hauptschwerpunkte der tagesklinischen Versorgung bestehen neben der Fortführung bzw. Weiterentwicklung der Pharmakotherapie und der sonstigen medizinischen Maßnahmen in der Durchführung rehabilitativer, also übendtherapeutischer Behandlungen zur Wiedererlangung bzw. Aufrechterhaltung der Autonomie und Alltagskompetenz eines geriatrischen Patienten in seiner individuellen häuslichen Lebenssituation.

Methodik der Geriatrie

Stets ganzheitliche Erfassung des Patienten • physisch • psychisch • sozial

Grundlage der ganzheitlichen Erfassung von Gesundheitsproblemen ICF = International Classification of Function

Wesentliche Betrachtungsebenen von Gesundheitsproblemen (nach ICF) • Schädigungen (impairment: Körper- / Organstrukturen und –funktionen) • Behinderung (disability: Fähigkeitsstörungen) • Beeinträchtigung der Teilhabe (participation restrictions: personal and / or environmental factors)

Prozessabläufe in der Geriatrie

• Aufnahmemanagement • Diagnostischer und therapeutischer Verlauf • Entlassungsmanagement

Aufnahmemanagement (I) • Ärztliche Anamnese (einschließlich Erfassung von Vorerkrankungen, Kommunikationserschwernissen, Vormedikation, Fremd- und Sozialanamnese) • Berufsgruppenspezifische Anamneseerhebung • Körperliche Untersuchung (internistisch, neurologisch, psychiatrisch)

Aufnahmemanagement (II) • Berufsgruppenspezifische Befunderhebung (Therapeutengruppen) • Assessments (AGAST) • Erfassung pflegerischer Standardparameter (Größe, Gewicht, BMI, Kontrolle von Essen und Trinken, RR und Puls, Temperatur, Lagerung, evtl. Antidekubitus-Hilfsmittel) • Veranlassung von Labordiagnostik • Veranlassung von apparativer Zusatzdiagnostik • Erste Zielformulierungen

Geriatrisches Assessment Nach Rubinstein ist das Geriatrische Assessment ein multidimensionaler und interdisziplinärer Prozess, der das Ziel verfolgt, die medizinischen, psychosozialen und funktionellen Probleme und Ressourcen eines Patienten mit standardisierten Verfahren systematisch und präzise zu erfassen und einen umfassenden Behandlungs- und Betreuungsplan zu entwickeln. Geriatrische Assessments dienen somit der Verbesserung der diagnostischen Präzision, der Formulierung von Therapiezielen, sowie der Verlaufsbeobachtung, und sie geben Hinweise auf prognostische Aussagen und für Ansatzpunkte von Präventionsmaßnahmen.

Geriatrisches Basisassessment (AGAST = Arbeitsgruppe Geriatrisches Basisassessment, 1995)

Barthel-Index (I)

Barthel-Index (II)

Barthel-Index (III)

Barthel-Index (IV)

Mini-Mental-Status (I)

Mini-Mental-Status (II)

Mini-Mental-Status (III)

Mini-Mental-Status (IV)

Tinetti-Test

Ziele des Geriatrischen Assessments • Multidimensionale Abbildung von Funktionalität • Optimierung von medizinischer Versorgung und Behandlung • Verbesserung der Behandlungsergebnisse • Erreichung und Erhalt größtmöglicher Selbständigkeit • Verbesserung funktioneller Fähigkeiten und von Lebensqualität • Sicherstellung optimierter Lebensbedingungen (geeigneter Ort, angemessene Versorgung) • Vermeidung unnötiger Versorgungsleistungen

Geriatrischer Status Wesentliche Dimensionen sind: • • • • • • • • • •

ADL IADL Mobilität Kognition Emotion Ernährung Pharmakotherapie Wohnsituation Soziale Unterstützung Hilfsmittelgebrauch / Pflegestufe

Verlauf des Geriatrischen Prozesses • Klinische Verlaufskontrolle • Zusatzdiagnostik (altersgemäß) • Pharmakotherapie (Überprüfung, Formulierung – altersgemäß) • Übend-therapeutische Verfahren • Angehörigengespräche Steuerung des Verlaufs: Ärztlich mit Unterstützung des Therapeutischen Teams im Rahmen der regelmäßig stattfindenden (1X / Woche) Team-Sitzungen (Besprechungen).

Definition des Therapeutischen Teams Essenzieller Bestandteil des Geriatrischen Konzeptes ist der interdisziplinäre Arbeitsansatz. In der klinischen Geriatrie ist das interdisziplinäre therapeutische Team unter ärztlicher Leitung die diagnostizierende und therapierende Einheit, in der zu jedem Patienten alle relevanten klinischen und sozialmedizinischen Facetten durchgesprochen und die daraus resultierenden individuellen therapeutischen Programme festgelegt werden. Als geriatrisches Kern-Team wird die Kombination aus ärztlichem und pflegerischem Dienst sowie Sozialdienst benannt.

Mitglieder des Geriatrischen Therapeutischen Teams (I) Kern-Team • Ärzte • Pflege • Sozialdienst / Entlassungsmanagement

Mitglieder des Geriatrischen Therapeutischen Teams (II) Weitere Team-Mitglieder • Physiotherapie • Physikalische Therapie • Ergotherapie • Logopädie (Sprach-, Sprech- und Schluckstörungen) • Neuropsychologie • Diätassistentin • Seelsorge

Entlassungsmanagement • Hilfsmittelversorgung • Wohnungsbegehung • Auswahl und Organisation adäquater Versorgungsstrukturen • Identifikation von Leistungsansprüchen • Strukturierung rechtlicher Implikationen

Entlassungsmanagement • Hilfsmittelversorgung • Wohnungsbegehung • Auswahl und Organisation adäquater Versorgungsstrukturen • Identifikation von Leistungsansprüchen • Strukturierung rechtlicher Implikationen

Hilfsmittelversorgung (Auswahl) • • • • • • • • • • •

Rollator, Gehstock, Gehbock Orthesen, orthopädisches Schuhwerk Haltegriffverdicker, angewinkeltes Besteck Segmentierte Teller, Frühstücksbrett mit Halterung Anziehhilfen für Strümpfe Haltegriffe und –stangen Toilettensitzerhöhung Badewannenlifter Pflegebett und –matratze Rollstuhl, Toilettenstuhl Notrufsystem

Entlassungsmanagement • Hilfsmittelversorgung • Wohnungsbegehung • Auswahl und Organisation adäquater Versorgungsstrukturen • Identifikation von Leistungsansprüchen • Strukturierung rechtlicher Implikationen

Versorgungsstrukturen • Ambulante Pflegedienste (Grund- und Behandlungspflege, hauswirtschaftliche Versorgung) • Teilstationäre Einrichtungen • Vollstationäre Versorgungsmöglichkeiten (Kurzzeitpflege, Pflegeheim)

Entlassungsmanagement • Hilfsmittelversorgung • Wohnungsbegehung • Auswahl und Organisation adäquater Versorgungsstrukturen • Identifikation von Leistungsansprüchen • Strukturierung rechtlicher Implikationen

Identifikation von Leistungsansprüchen • Pflegeversicherung • Sozialhilfe • Rentenversicherung

Entlassungsmanagement • Hilfsmittelversorgung • Wohnungsbegehung • Auswahl und Organisation adäquater Versorgungsstrukturen • Identifikation von Leistungsansprüchen • Strukturierung rechtlicher Implikationen

Rechtliche Implikationen • Vorausverfügungen (Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung, Betreuungsverfügung) • Einrichtung einer Betreuung • Haftungsfragen

Gesundheitsförderung in der Geriatrie Für den älteren Menschen bedeutet Gesundheitsförderung, Risikofaktoren zu vermeiden, bestehende Reserven auszubauen, verloren gegangene Fähigkeiten wieder zu gewinnen und psychosoziale Benachteiligungen durch körperliche Einschränkungen zu verhindern. Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen (Krankheits- und Ressourcen-orientierte Ansätze).

Wirkungsweise der Gesundheitsförderung im Alter