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MARXISMUS & GEWERKSCHAFTEN

theorie21

Die deutsche Bibliothek – CIP – Einheitsaufnahme – Marxismus und Gewerkschaften / mit Beiträgen von Nils Böhlke, Joseph Choonara, Bill Dunn, Heiner Dribbusch, Jürgen Ehlers, Frank Renken, Volkhard Mosler, et. al. / theorie21 (1/2013) / 2. Jahrgang / Nr. 3 – 1. Aufl. – Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-934536-48-7

Impressum 1. Auflage Frankfurt am Main, 2013 © Verein für Geschichte und Zeitgeschichte der Arbeiterbewegung e.V. (VGZA e.V.), Frankfurt am Main – edition aurora – Übersetzungen aus dem Englischen: Rosemarie Nünning, David Paenson, David Meienreis, Jan-Peter Herrmann Typografie, Satz und Druck: Yaak Pabst, David Paenson Umschlaggestaltung: Yaak Pabst Redaktion: Stefan Bornost, Klemens Braun, Mona Dohle, Michael Ferschke, Leandros Fischer, Jan Maas, David Meienreis, Volkhard Mosler, Rosemarie Nünning, Yaak Pabst, Frank Renken, Paul Severin, Thomas Walter, Luigi Wolf Redaktionskontakt: [email protected] Abonnement: theorie21 erscheint zwei Mal im Jahr. Das Abo kostet 6,50 Euro (Normal-Abo) bzw. 10,00 Euro (Förder-Abo) pro Ausgabe inkl. Versandkosten. Kontakt und Abonnement: [email protected] Vertrieb: VGZA e.V., Wolfsgangstraße 81, 60322 Frankfurt am Main [email protected], www.edition-aurora.de ISBN: 978-3-934536-48-7

Inhaltsverzeichnis Editorial...................................................................................................................5 Der aufhaltsame Abstieg......................................................................................7 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung ....................................................31 Von Führung und Basis......................................................................................79 Gewerkschaften bei Marx und Engels...........................................................101 Die Arbeiterklasse heute..................................................................................119 Globalisierungsmythen und die »New Economy«......................................139 Streiks in Deutschland – ein neuer Aufschwung?.......................................165 Demokratisierung von Streiks – Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit....................................................175 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse................................................191 Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit................................................................237 Die Klassenkämpfe in Europa........................................................................267 Portugal: Von der Mobilisierung zum Widerstand......................................303 Zu Theorie, Geschichte und Funktion des Rassismus...............................319 Nützt Rassismus den »weißen« Arbeitern?...................................................331 Autorenangaben................................................................................................339

Editorial Gewerkschaften am Scheideweg

Zustand, Wesen und Strategie der Gewerkschaften ist ein komplexes und vielschichtiges Thema. Deshalb hat sich die theorie21-Redaktion entschlossen, ihren Hauptbeitrag zur Gewerkschaftsfrage im Folgenden in drei Beiträge mit unterschiedlicher Fragestellung und Schwerpunktsetzung aufzuteilen. Doch es gibt ein großes verbindendes Element: Wir denken, Marx hatte Recht, als er sagte, dass Menschen ihre eigene Geschichte machen, aber nicht unter selbst gewählten Umständen. Auf unser Thema bezogen heißt das: Gewerkschaften handeln unter Rahmenbedingungen, die sie oft wenig bis gar nicht beeinflussen können – den Zustand der Weltwirtschaft etwa. Sie handeln in einem rechtlichen und politischen Rahmen, der, zum Guten wie zum Schlechten, Ergebnis vorheriger Auseinandersetzung ist und nicht einfach außer Kraft gesetzt werden kann. Das für Deutschland kennzeichnende Betriebsratswesen ist zum Beispiel eine unverrückbare Tatsache des politischen Lebens und des betrieblichen Alltags. Eine konkrete Analyse muss diese Rahmenbedingungen erfassen. Gleichzeitig sind Gewerkschaften Akteure, sie handeln innerhalb dieser Rahmenbedingungen und können sie wiederum, zum Guten wie zum Schlechten, in Teilen verändern. Die Rede von »den Gewerkschaften« ist schon viel zu ungenau – innerhalb der Gewerkschaften gibt es verschiedene Akteure: unterschiedliche Flügel der gewerkschaftlichen Führungen mit unterschiedlichen Strategien, engagierte Basisaktivisten, politische Akteure wie Parteien, die sowohl in Führungen wie an der Basis repräsentiert sind. Dieses Spannungsfeld zwischen Rahmenbedingungen, Handeln und Ändern wollen wir hier ausloten. In unserem ersten Beitrag stellt theorie21-Redakteur Volkhard Mosler den Weg in die gegenwärtige Misere dar. Der nächste Beitrag von Luigi Wolf befasst sich mit den Gegenkräften – den Potenzialen für eine gewerkschaftliche Erneuerung, wie sie jetzt schon existieren und entwickelt werden können. Zum Abschluss nähern wir uns dem Wesen der Gewerkschaften und den Möglichkeiten ihrer Veränderung auf theoretischer Ebene, in einer Darstellung von und Auseinandersetzung mit marxistischer Theorie zu den Gewerkschaften. Wir hoffen, dass diese Beiträge in Kombination einige neue Impulse zu einer dringend notwendigen Debatte geben können. In seinem Beitrag zu Gewerkschaften bei Marx und Engels arbeitet Frank Renken heraus, wie eng die Theorieentwicklung mit dem jeweiligen Zustand der Ar-

beiterbewegung verflochten ist und welche Konsequenzen dies für eine marxistische Gewerkschaftstheorie hat. Sei es nun das »Ende der Arbeitsgesellschaft« oder die Entdeckung der »Multitude« – bis jetzt hat jede Generation ihre Version des »Abschieds vom Proletariat« hervorgebracht. Nils Böhlke, Mitarbeiter im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI), macht eine Bestandsaufnahme der Arbeiterklasse heute. »Dann verlagern wir nach …« ist wohl einer der gewichtigsten Drohungen, die in den letzten 15 Jahren immer wieder in Kämpfen um Arbeitsplätze ausgesprochen wurde. Bill Dunn überprüft in seinem Beitrag gängige Mythen der Globalisierung und der New Economy. Im Interview mit der Theorie21-Redaktion geht Dr. Heiner Dribbusch, Arbeitskampfexperte des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der HansBöckler-Stiftung, der Frage nach, ob wir es mit einem neuen Aufschwung von Klassenauseinandersetzungen in Deutschland zu tun haben. Die Forderung nach Demokratisierung von Streikbewegungen erhebt Bernd Riexinger, Vorsitzender der LINKEN und ehemals Geschäftsführer bei ver.di Stuttgart. Wir dokumentieren seine Rede auf der Konferenz »Erneuerung durch Streik«, die am 1.–3. März in Stuttgart über 500, vor allem junge Aktive aus den Gewerkschaften angezogen hat. Mit der Initiative zur 30-Stundenwoche von Heinz Jürgen Bontrop und anderen wird Arbeitszeitverkürzung als gewerkschaftliche Strategie gegen die Massenarbeitslosigkeit wieder in Gewerkschaften diskutiert. Grund genug für Jürgen Ehlers, sich mit den großen Anläufen zur Einführung einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung Ende der 1970er und Mitte der 1980er Jahre zu beschäftigen. Carolin Hasenpusch und Olaf Klenke zeigen das weibliche Gesicht der jüngsten Arbeitskämpfe und zeigen auf, welches Potenzial eine Organisierung des weiblichen Teils der Arbeiterklasse entfalten könnte. Mit dem Artikel »Klassenkämpfe in Europa« von Joseph Choonara wollen wir einen Überblick über die sozialen Verwerfungen, aber auch den Widerstand in Europa geben. Catarina Principe, selbst in der Organisierung prekärer Beschäftigter in Portugal aktiv gewesen, diskutiert die strategischen Implikationen des schwierigen Verhältnisses von Gewerkschaften und »Prekären«. Schließlich sind wir als Redaktion von theorie21 sehr froh, ein erstes Feedback auf unsere Publikation abdrucken zu können. Benjamin Opratko, der zu antimuslimischem Rassismus in Österreich promoviert, kommentiert den Artikel von Volkhard Mosler aus Ausgabe Nr. 2 »Rassismus im Wandel«.

Der aufhaltsame Abstieg Die Gewerkschaften haben viel ihrer ehemaligen Kraft eingebüßt. Unvermeidlich war dies aber nicht. Volkhard Mosler skizziert, wie falsche Antworten auf geänderte Rahmenbedingungen die Gewerkschaften in die heutige Krise führten. Der Politikwissenschaftler Frank Deppe hat in seinem Buch »Gewerkschaften in der Großen Transformation« eindrucksvoll den Machtverlust der Gewerkschaften in den vergangenen Jahrzehnten dargestellt. Er spricht von einer »gewaltigen Veränderung der Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit seit den 1980er Jahren«.1 Ein Indikator des Machtverlustes sind die Mitgliederverluste der DGB-Gewerkschaften seit Beginn der 1990er Jahre. Sie fielen von 11,8 Millionen (1991) auf 6,15 Millionen (2012). Aussagekräftiger über das gesellschaftliche Gewicht der Gewerkschaften ist der Organisationsgrad, also der Anteil der im DGB organisierten Mitglieder an der Gesamtzahl der Arbeitnehmer. Er fiel im gleichen Zeitraum von 36,8 auf 16,6 Prozent. Selbst wenn man berücksichtig, dass die rasche Deindustrialisierung der ehemaligen DDR in den 1990er Jahren einen unvermeidlich hohen Einbruch bei den Mitgliederzahlen mit sich brachte, bleibt ein Verlust an Organisationsmacht von über 50 Prozent. Die Zahl der Arbeitnehmer/-innen stieg von 32 Millionen im Jahr 1991 auf 37 Ende 2012, die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder (DGB) hat sich in der gleichen Zeit nahezu halbiert! Der moderate Aufschwung von 2009 bis 2012 und die damit einhergehende Zunahme auch regulärer Beschäftigungsverhältnisse hat den Niedergang zwar verlangsamt, aber nicht aufhalten können; die DGBGewerkschaften haben in diesem Zeitraum noch einmal 110.000 Mitglieder verloren. Einen ähnlichen Einbruch haben die deutschen Gewerkschaften nur in den Jahren des ersten Weltkriegs (von 2,5 Millionen Mitgliedern 1913 auf 0,9 Millionen 1916) und dann noch einmal während der 1920er Jahre (von 8,1 Millionen Mitgliedern allein im ADGB im Jahr 1920 auf 3,8 Millionen Mitglieder im Krisenjahr 1932) erlitten. Mit der Zerschlagung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933 fiel der Organisationsgrad auf Null. Mit 6,15 Millionen Mitgliedern erreichte der DGB 2012 seinen niedrigsten Mitgliederbestand seit 1956, trotz ei-

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Deppe, Frank: Gewerkschaften in der Großen Transformation. Von den 1970er Jahren bis heute. Eine Einführung, Papyrossa, 2012, 148 Seiten, S. 4

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ner Zunahme der abhängig Beschäftigten um etwa 18 Millionen im gleichen Zeitraum. In allen drei Phasen des Niedergangs lassen sich objektive Gründe dafür angeben: Im ersten Weltkrieg war dies der Einzug der großen Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder in die Armee, in den Jahren der Weimarer Republik die große Massenarbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise, und in den letzten Jahrzehnten war dies die Deindustrialisierung in den Neuen Ländern in den 1990er Jahren und die Entstehung eines riesigen Sektors von »geringfügig Beschäftigten« in prekären Arbeitsverhältnissen von 7,3 Millionen Arbeitnehmern (2012) gegenüber 1,2 Millionen 1991 2. Andere Indikatoren des Niedergangs waren die abnehmende Bindekraft von Tarifverträgen, das Auftreten einer »negativen Lohndrift«, das heißt, das Zurückbleiben von Effektivlöhnen hinter den Tariflöhnen, und die Verlängerung der effektiv gearbeiteten Wochenstunden und ihre zunehmende Abkoppelung von tariflich vereinbarten Maximalstandards. Der Verweis auf allgemeine, vorgegebene gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Umstände, die den Rahmen gewerkschaftlichen Handelns bestimmen, kann allerdings dazu verführen, die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Gegenwehr geringer zu schätzen, als sie tatsächlich sind, und den Niedergang von Organisationsmacht der Gewerkschaften und die Verschiebung von Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen als unvermeidlich darzustellen. Solch historischer Fatalismus hat in der Geschichte der Arbeiterbewegung eine unheilvolle Rolle gespielt. In seiner optimistischen Variante hat er dazu geführt, die Zerstörungskräfte des Kapitalismus zu unterschätzen und umgekehrt hat er, in seiner pessimistischen Variante, dazu geführt, schwere Niederlagen im Nachhinein als unvermeidlich darzustellen.3 Die These von der Unvermeidlichkeit von Niederlagen erfreut sich großer Beliebtheit bei den Verfechtern des Krisenkorporatismus der Gewerkschaften, das heißt bei den Verfechtern der sozialpartnerschaftlichen Zusammenarbeit von Gewerkschaften, Staat und Kapital. Aber sie findet auch Anhänger bei einem Teil der linken Kritiker. Michael Wendl hat dies 2002 am Beispiel der Transformationsthese und der Globalisierungsthese deutlich gemacht. Von Anhängern der Transformationsthese wird behauptet, dass Umbrüche in der Organisation der gesellschaftlichen Arbeit (»Krise des Fordismus« 4) dazu geführt hätten, die 2 3

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Zahlen des statistischen Bundesamtes So hat der sozialdemokratische Wirtschaftstheoretiker Rudolf Hilferding 1927 auf einem SPDParteitag begründet, warum anders als in Italien der Faschismus in Deutschland an dessen Modernität scheitern werde, um nach dessen Sieg das Gegenteil zu behaupten, nämlich dass der Faschismus nicht zu verhindern gewesen sei. Die Anhänger der Fordismus-These bezeichnen damit eine Epoche der kapitalistischen industri ellen Massenproduktion zwischen 1920 und Mitte der 70er Jahre. Diese sei u. a. dadurch gekennzeichnet, dass es zwischen den Unternehmen der Massenproduktion eine Partnerschaft gegeben

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rechtliche Regulierung von Arbeitsverhältnissen z. B. durch Flächentarifverträge zu unterlaufen oder gar unmöglich zu machen. Die Globalisierungsthese besagt, dass mit der zunehmenden Internationalisierung der Produktion die Grenzen nationalstaatlicher Regulierung des Systems der Arbeitsbeziehungen erreicht seien. Michael Wendl sagt richtig: »Beiden Thesen ist gemeinsam, […] dass sie in der Konsequenz einen tarifpolitischen Fatalismus vorschlagen.« Die Tarifpolitik habe bis zum Preis der Selbstaufgabe das nachzuvollziehen, was aus der Transformation bzw. aus der Globalisierung für die Regelung der Arbeitsverhältnisse scheinbar zwangsläufig folgt.5 Beide Theoreme haben jedoch ein wahres Element: Der Rückgang der industriellen Arbeitsplätze und das weitgehende Verschwinden einzelner Industriezweige (z. B. des Bergbaus) mit traditionell hohem gewerkschaftlichen Organisationsgrad und das Entstehen eines großen neuen Dienstleistungssektors hat die Gewerkschaften zunächst sicher geschwächt. Auch die Liberalisierung der Finanzmärkte nach dem Zusammenbruch des Systems fester Wechselkurse 1973, die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes, die Entstehung der Eurozone und andere internationale Abkommen zur Öffnung der Weltmärkte erleichterten die Bewegung von Kapital, nicht nur von Waren. Dies trifft aber für den gesamten öffentlichen Dienst, für den Einzelhandel, für Gaststätten und viele andere Bereiche nicht zu. Auch große kapitalintensive Anlagen können nicht einfach verlagert werden – oder die Verlagerung braucht einen langen Zeitraum. 2012 hatten acht Prozent aller Unternehmen an Produktionsverlagerungen teilgenommen; bei reinen »kostenbedingten« Verlagerungen kommt es häufig zur Rückkehr. Sehr häufig wurde mit der Produktionsverlagerung gedroht, um Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften zu erpressen. Der wichtigste neue Faktor, der die Gewerkschaften in die Defensive zwang, war die Rückkehr der zyklischen Konjunkturkrisen, die über 30 Jahre lang weitgehend verschwunden waren. Mit der Rückkehr der Krisen kehrte auch die Massenarbeitslosigkeit zurück und mit den Krisen erhöhte sich der internationale Konkurrenzdruck auf die einzelnen Marktteilnehmer. Innerhalb von etwa 20 Jahren nach Ausbruch der ersten großen Nachkriegskrise 1973 setzte sich in den Gewerkschaften – sowohl auf zentraler wie auch auf betrieblicher Ebene – ein neuer Krisenkorporatismus durch. Damit ist eine weitgehende Übernahme der betriebswirtschaftlichen Argumentation der Kapitalsei-

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habe, die es den Gewerkschaften erlaubt hätte, ein hohes Lohnniveau durchzusetzen. Eine sol che Partnerschaft hat es in den 1920er und 1930er Jahren aber nirgends gegeben. Erst mit dem langen Aufschwung, der durch den zweiten Weltkrieg ausgelöst wurde, erlangten die Gewerk schaften eine größere Durchsetzungsfähigkeit. Höhere Löhne waren nicht die Ursache, sondern die Folge des langen Booms nach 1945. Michael Wendl, »Jenseits des Tarifgitters, Krise und Erosion des Flächentarifvertrags in Deutschland«, S. 545

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te gemeint, in der die Löhne als Kostenfaktor erscheinen, deren relative Höhe bestimmenden Einfluss auf die Beschäftigung habe. Karl Marx hat den Widerspruch des Lohnes als Kostenfaktor und als Nachfragefaktor aus der Sicht des Kapitalisten so wiedergegeben: »Mit Ausnahme seiner eigenen Arbeiter erscheint jedem Kapitalisten gegenüber die Gesamtmasse aller anderen Arbeiter nicht als Arbeiter, sondern als Konsumenten.« Jeder Kapitalist sieht in seinem Arbeiter nicht den Konsumenten, sondern den Produzenten »und wünscht seinen Konsum, i. e. seine Tauschfähigkeit, sein Salär (Lohn d. V.) möglichst zu beschränken. Er wünscht sich natürlich die Arbeiter der anderen Kapitalisten als möglichst große Konsumenten seiner Ware. Aber das Verhältnis jedes Kapitalisten zu seinen Arbeitern ist das Verhältnis überhaupt von Kapital und Arbeit, das wesentliche Verhältnis.«6 Solange es Vollbeschäftigung gab, erfreute sich das linkskeynesianische Argument einer den Krisen entgegenwirkenden offensiven Lohnpolitik in den Gewerkschaften großer Popularität. Das widersprüchliche Bewusstsein des Unternehmers, der sich eine möglichst hohe Kaufkraft bei allen Arbeitern außer bei seinen eigenen wünscht, findet sich auch in der wettbewerbsorientierten Tarifpolitik der IG Metall und anderer Gewerkschaften wieder. In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau wird Detlef Wetzel, stellvertretender Vorsitzender der IG Metall, mit der Forderung des Wirtschaftsweisen Peter Bofinger konfrontiert, der für 2013 eine Steigerung der Löhne um fünf Prozent »über alle Branchen« gefordert hat, um der Eurokrise entgegenzuwirken. Wetzel antwortet darauf, dass die IG Metall seit der Jahrtausendwende »keine Lohnzurückhaltung« geübt habe, dass sie vielmehr »den verteilungsneutralen Spielraum – Inflation plus Produktivitätszuwachs – seit der Jahrtausendwende mehr als ausgeschöpft« habe. Gleichwohl wünscht sich Wetzel eine Stärkung der Binnennachfrage »durch höhere Abschlüsse in binnenmarktorientierten Branchen wie […] dem Handel und dem öffentlichen Dienst«, also nicht in der Exportindustrie.7 Nach Berechnungen der IG Metall blieben die Tariflöhne in der Metall- und Elektrobranche zwischen 2000 und 2008 allerdings um 9,4 Prozent hinter dem Verteilungsspielraum zurück.8 Wetzel argumentiert hier ähnlich wie der Kapitalist, der sich eine Kaufkraftsteigerung überall wünscht, nur nicht bei den Beschäftigten seines Betriebs. 6 7

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Karl Marx, Grundrisse, S. 332 FR 16./14.2.2013. Bofinger geht davon aus, dass Deutschland über viele Jahre Lohnzurückhaltung geübt habe und dies habe mit zur Krise in Südeuropa beigetragen. Um die Eurokrise zu entschärfen, sei nun eine Anpassung nötig – auf beiden Seiten. (SZ 6.1.2013) IG Metall Hauptvorstand, Dokumentation zur Tarifrunde 2012

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Den Grund für diese Entwicklung analysiert Detlef Wetzel an anderer Stelle, wenn er sich mit der Krise des Flächentarifvertrages befasst. In einem Thesenpapier zur »Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit« 9 fasst Wetzel diese Entwicklung zusammen: »Öffnungen und Abweichungen verlagern Aushandlungsprozesse auf die einzelbetriebliche Ebene. Schon jetzt existiert etwa bei der Arbeitszeit ein wahrer Flickenteppich über Branchen, Regionen, Betriebe und Beschäftigungsgruppen.« Die leise Selbstkritik, die aus dem Begriff der »Öffnung« erahnt werden kann, lässt aufhorchen: Die »Abweichungen« waren dabei nur eine Folge der »Öffnung« der Tarifverträge. Betriebsräte, die in den letzten Jahren solche Betriebsvereinbarungen unterschrieben haben, die »Abweichungen« von Tarifverträgen nach unten zuließen, sind dazu über Jahre von der IG Metall unterstützt und ermuntert worden. Wer den heutigen Zustand des Flächentarifvertrages beklagt, sollte mit einer ehrlichen Bestandsaufnahme der Arbeitszeitpolitik der IG Metall beginnen. Genau das wollen wir im Folgenden versuchen. Arbeitszeitflexibilisierung

Abweichungen und Entgrenzungen der Arbeitszeit waren das gemeinsame Werk von IG Metall und Unternehmerverbänden. Ihren Ausgangspunkt hatte die Öffnung 1984 im Kampf um die 35-Stunden-Woche mit einem Einstieg ins »Concession Bargaining«. Der Begriff entstand in den USA in den 1980er Jahren. Unter dem Druck wachsender Massenarbeitslosigkeit tauschten die Gewerkschaften Löhne und Leistungen gegen Arbeitsplatzsicherung. In Deutschland tauschten die IG Metall und die IG Drupa Arbeitszeitflexibilisierung gegen Arbeitszeitverkürzung. Schon vor den Verhandlungen hatten die beiden Vorsitzenden der IG Metall (Mayr und Steinkühler) den Unternehmern signalisiert, dass eine Arbeitszeitverkürzung »kostenneutral« sein solle und dies mit niedrigen Lohnforderungen einerseits und mit Arbeitszeitflexibilisierung andererseits erkauft werden sollte. Nach einem sechswöchigen Streik mit Massenaussperrungen durch den Arbeitgeberverband wurde eine Arbeitszeitverkürzung um eineinhalb Stunden vereinbart, die dann in weiteren fünf Stufen (1987, 1988, 1989 , 1993, 1995) schließlich bei 35 Stunden angekommen sollte. Und anders als bei der Einführung der 40-Stunden-Woche in den 1950er und 1960er Jahren blieb das Modell der 35Stunden-Woche dieses Mal auf die Organisationsbereiche der IG Metall, der Gewerkschaft Holz, Keramik und auf die Druckindustrie beschränkt. Der damalige Betriebsratsvorsitzende von Opel-Rüsselsheim, Richard Heller, sagte auf dem IG Metall-Gewerkschaftstag 1983 in München: Wenn es die Tak9

Detelef Wetzel, Jörg Weigand, Sören Niemann-Findeisen, Thorsten Lankau »Organizing: Die mitgliederorientierte Offensivstrategie für die IG Metall. Acht Thesen zur Erneuerung der Ge werkschschaftsarbeit. Herunterzuladen unter: www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Veranstaltungen/2011/IG_Metall_Thesen_Wetzel_Organizing.pdf

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tik sei, den Arbeitgebern erst die 35-Stunden-Woche abzuringen und dann die Arbeits- und Leistungsbedingungen »nach Verhandlungen« auf betrieblicher Ebene regeln zu wollen, »dann graust mit vor dieser Auseinandersetzung.« 10 Und die 1983 noch von Franz Steinkühler geführte Bezirksleitung der IG Metall Baden Württemberg stellte auf dem Gewerkschaftstag 1983 den Antrag, die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung mit Forderungen zu verknüpfen, die »Leistungsverdichtungen« verhindern, weil diese sonst dazu führen würden, dass die Arbeitnehmer […] in »35 Stunden genauso viel leisten müssen wie in 40 Stunden.« Dem Betriebsrat müsse durch den Tarifvertrag »ein Reklamationsrecht« gegen jede Leistungsverdichtung zugestanden werden. Der Antrag fand auf Intervention des Hauptvorstandes keine Mehrheit. Der Hauptvorstand vertrat dagegen die Position, dass eine Flexibilisierung der Arbeit durch Betriebsvereinbarungen möglich sein müsse.11 Die in den folgenden Jahren dann abgeschlossenen weiteren Stufenverträge zur Arbeitszeitverkürzung führten dazu, dass die Grenzen der Flexibilisierung erweitert wurden. Die Flexibilisierung der alten Normalarbeitszeit bezog sich einmal auf die Differenzierung der Wochenarbeitszeit, nach der die vereinbarte Wochenarbeitszeit nur im Durchschnitt aller Beschäftigen, nicht aber bei jedem einzelnen zu erreichen sein muss. So können in vielen Bereichen der Metall- und der Stahlindustrie bis zu 18 Prozent der Beschäftigten auf eine 40-Stunden-Woche verpflichtet werden, die dann für die geleistete Mehrarbeit keinen Anspruch auf Überstundenzuschläge mehr haben. Sie bezog sich zweitens auf den sogenannten Arbeitszeitkorridor, innerhalb dessen die vereinbarte Wochenarbeitszeit für alle erzielt werden muss. 1985 betrug dieser Korridor für die Metallindustrie zwei Monate, für die Druckindustrie mit ihrem größeren Anteil an saisonal bedingten Aufträgen ein Jahr. Die Arbeitszeitabkommen der IG Metall und der IG Drupa von 1984 wurden damals von der Gewerkschaftsführung als großer Erfolg gefeiert. Hans Mayr, damals 1. Vorsitzender der IG Metall, sprach von einem »historischen Durchbruch«. Detlef Hensche, damals 2. Vorsitzender der IG Druck und Papier, sah in den Abschlüssen »einen Teilerfolg, aus dem die Gewerkschaften letztlich gestärkt hervorgegangen sind«. Franz Steinkühler, 2. Vorsitzender der IG Metall, sah in der Verlagerung von Kompetenzen durch die vereinbarte Fexibilisierung der Arbeitszeit auf die Betriebsräte eine »große Chance für eine Neubelebung der gewerkschaftlichen Arbeit in den Betrieben.« Andere sahen es damals schon kritischer: Hans Janssen, für Tarifpolitik zuständiges Mitglied des Vorstandes der IG Metall, sah »keinen Grund zum Jubeln«.12 10 11 12

Frankfurter Rundschau, 17.10.1983 Frankfurter Rundschau, 28.09.1983 Michael Kittner, Gewerkschaftsjahrbuch 1985, Köln 1985, S. 73

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Marxistische Kritiker sahen Verlauf und Resultat der Streikbewegung noch skeptischer. In seiner Einschätzung, dass der Kampf trotz formaler Verkürzung der Arbeitszeit auf zunächst 38,5 Stunden eine Niederlage war, verwies Horst Haenisch auf einen Zusammenhang, der sich in den Jahren danach in seiner ganzen Tragweite zeigte: »Fragen, die herkömmlich in die Tarifautonomie (der Gewerkschaften, d. V.) fallen, werden nun den Betriebsräten zugeschoben, offenbar in dem Bewusstsein, das sie dort besser aufgehoben sind. Für die Gewerkschaftsbewegung ist dies mit einer Schwächung verbunden […] Indem die Arbeitszeitregelung durch die Flexibilisierung praktisch den Betriebsräten überantwortet wird, wird sie zugleich der Friedenspflicht unterworfen. Die Gewerkschaft hat in diesem Punkt auch formell auf das Streikrecht verzichtet!« 13 Die IG-Metall-Führung hatte 1984 versucht, ihr Flexibilisierungsangebot an die Arbeitgeber den eigenen Mitgliedern unter dem Begriff der »individuellen Zeitsouveränität« schmackhaft zu machen. Flexible Arbeitszeiten seien, so ihr Argument damals, auch im Interesse der Belegschaften mit ihren sehr unterschiedlichen und individuellen Zeitbedürfnissen. Eine Untersuchung von 1997 über die »Reform des Flächentarifvertrags« beschreibt die Realität, die sich unter dem Etikett der individuellen Zeitsouveränität in den Betrieben entwickelt hatte: »Dieser Konflikt zwischen der von der IG Metall gewollten Stärkung individueller Zeitsouveränität einerseits und der von den Arbeitgebern verlangten schrankenlosen Verfügung über die Arbeitszeit andererseits bestimmte in den letzten Jahren die Umsetzung der tariflichen Arbeitszeitregelungen in den Betrieben.« Und: Dieser Konflikt sei »nicht gerade zugunsten der Arbeitnehmerinteressen entschieden worden.« Ihre Befragung unter Betriebsräten der Metallindustrie habe »nach einhelliger Auffassung aller Gesprächspartner« gezeigt, dass sich »in den Auseinandersetzungen um die Flexibilisierung der Arbeitszeit die Interessen der Unternehmer auf breiter Front durchgesetzt« hätten. 14 Arbeitszeitflexibilisierung im Sinne der Schaffung von Arbeitszeitkorridoren führte zur Einrichtung von individuellen Arbeitszeitkonten (Ausgleichszeiträume). 1999 verfügten 35 Prozent aller abhängig Beschäftigten über solche Konten, 2011 waren es bereits 54 Prozent.15 Die bereits erwähnte Studie von 1997 beschrieb die Folgen der Einrichtung solcher individueller Zeitkonten. Zum einen würden die Mitbestimmungsrechte und Eingriffsmöglichkeiten des Betriebsrates in Fragen von Überstunden und in 13

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Horst Haenisch, Klassenkampf, Zeitschrift der Sozialistischen Arbeitergruppe, Nr. 23, 8/9 1984. Die Arbeitgeberverbänge werteten das Ergebnis schon damals »nicht als Einstieg in die 35-Stun denwoche, sondern als Ausstieg aus der generellen Arbeitszeitverkürzung.« (Kittner, a.a.O.) Genauso so ist es leider eingetreten. H. Bergmann, E. Brückmann, H. Dabrowski, »Reform des Flächentarifvertrags«? Hamburg 1998, S. 27 Institut für Arbeitsmarkts- und Berufsforschung, IAB-Kurzbericht 3/2013

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allen Fällen vorübergehender Beschäftigungsprobleme weitgehend ausgedünnt. »Wesentliche interessenpolitische Druckmittel, etwa Mehrarbeitsanträge nicht oder nur gegen Zugeständnisse zu genehmigen, oder die Zustimmung zur Kurzarbeit zu verweigern, werden somit weitgehend neutralisiert, wenn nicht bedeutungslos.«16 Zum anderen sei die Folge, dass »nach Auskunft der Betriebsräte Mehrarbeitszuschläge (Überstunden, Samstagsarbeit u. a., d. V.) praktisch in der Versenkung verschwunden sind«.17 Damit sei aber das klassische Instrument der IG Metall, über die Verteuerung der Mehrarbeit Druck auf Einstellungen auszuüben, wirkungslos geworden. Durch die »lohnpolitische Neutralisierung der Überstunden« seien diese »erst recht zur hauptsächlichen Kapazitätsreserve« geworden. Und anstelle der ursprünglich einmal erhofften individuellen Arbeitszeitgestaltung nach persönlichen Bedürfnissen sei »der Druck zur Anpassung der privaten Lebensorganisation an saisonale Marktmechanismen getreten. In vielen Betrieben sei »das Thema Arbeitszeitregulierung zu einem Reizthema« geworden und die Autoren der Studie zitieren stellvertretend dazu einen Vertrauensmann: »Den Kollegen stinkt nicht nur die ständige Veränderung. Sie ärgert ganz besonders, dass immer kurzfristiger entschieden wird, ob man noch eine Stunde an die Spätschicht dranhängen muss, oder ob auch am Samstag Produktion gefahren wird. Das führt immer häufiger zu derben Auseinandersetzungen.« 18 Schließlich weisen die Autoren der Studie auf einen weiteren Trend hin, der das ganze Ausmaß der Zerstörung kollektivvertraglicher Regulierung der Arbeitszeit infolge der Verbetrieblichung der Arbeitszeitpolitik durch Öffnungsklauseln in den Manteltarifverträgen der IG Metall aufzeigt. Es dränge sich der Eindruck auf, dass durch die nach Tarifverträgen vorgesehene Arbeitszeitflexibilisierung »Tendenzen zur Entgrenzung der Arbeitszeiten naturwüchsig freigesetzt wurden«. Die »einmal losgelassene Flexibilisierungsdynamik« habe »die vergleichsweise harmlose Öffnungsoption der manteltarifvertraglichen Regelung weit überschritten«. In vielen Betrieben würde offensichtlich nach dem Motto verfahren: »Es ist alles erlaubt, was im Tarifvertrag nicht ausdrücklich verboten ist.« Offensichtlich würden in vielen Fällen die entsprechenden Vorschriften des Tarifvertrages »nur noch als unverbindliche Orientierung wahrgenommen, die zwar eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten ermöglichen, sie aber nicht eindeutig und wirksam begrenzen können.«19 Da wundert es nicht, wenn Berthold Huber auf dem IG-Metall-Gewerkschaftstag 2007 die 500 Delegierten mit der Aussage überrascht, dass im Metall16 17 18 19

Bergmann u.a., S. 31 ebda. ebda. S.32 ebda., S.34

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bereich »inzwischen durchschnittlich 39,9 Stunden gearbeitet wird, trotz tariflicher 35-Stunden-Woche.«20 Im ersten Quartal 2011 lag die geleistete Arbeitszeit in der Metall- und Elektroindustrie bei durchschnittlich 41 Stunden in der Woche.21 Eine Umfrage aus dem Jahr 2011 unter 9000 Betriebsräten der IG Metall in Baden-Württemberg bestätigt die Befunde von Bergmann u. a. aus ihrer Befragung von 1997. 66 Prozent der Befragten gaben an, dass in ihrem Betrieb »Arbeitszeit verfällt«. Das bedeutet, dass die in den Arbeitszeitkonten angesparten Überstunden teilweise überhaupt nicht mehr bezahlt oder durch Freizeit abgegolten werden, geschweige denn wie früher mit Überstundenzuschlägen von 20 bis 50 Prozent vergolten werden. Das ist ein alarmierendes Ergebnis. 22 In der Wirtschaftskrise von 1993 war es in zahlreichen Branchen zu ähnlichen und noch weitergehenden Formen der Arbeitszeitflexibilisierung gekommen. Allerdings dann schon ohne das Zugeständnis einer Absenkung der tariflichen Wochenarbeitszeit. In mehreren Tarifverträgen wurden zum ersten Mal Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich gegen Kündigungsschutz vereinbart (Steinkohle, VW, Papierindustrie, Stahl, Metall, Leder, Kautschuk, Feinkeramik u. a.). In der Chemischen Industrie wurde eine regelmäßige Wochenarbeitszeit von 37,5 Stunden bei einem Arbeitszeitkorridor von 35 bis 40 Stunden und einem Verteilzeitrahmen von 12 Monaten vereinbart. In den Aufschwungsjahren der Nachkriegszeit hatte die IG Metall immer wieder den Türöffner für bahnbrechende Erfolge gemacht. Jetzt in der Krise hat sie dem kontinuierlichen Abbau früher erkämpfter sozialer Rechte die Tür geöffnet. Betriebliche Bündnisse für Arbeit wurden allenthalben geschlossen, die das »concession bargainig« nun auf Dauer institutionalisierten. Nur waren es zumeist keine Verbesserungen gegen Verschlechterungen mehr – wie noch bei dem Einstieg in die 35-Stunden-Woche in den 1980er Jahren – sondern Verschlechterungen (Lohnabbau, Verlängerung der Arbeitszeit, Abschaffung der Überstunden- und Samstagszuschläge u. a.) gegen eine befristete Unterlassung von Massenentlassungen und betriebsbedingten Kündigungen, gegen Standortverlegungen und damit einhergehenden Schließungen oder Teilschließungen. Der Tauschhandel droht zu einer Spirale nach unten zu werden, die von Krise zu Krise immer weitere Zugeständnisse zu Lasten der Beschäftigten nach sich zieht: »concession bargaining« nach dem Modell des Märchens vom Hans im Glück, der mit einem Goldklumpen startet und mit leeren Händen endet. Das Versprechen von mehr Zeitsouveränität, wie es Steinkühler und die IG Metall 1984 einmal gegeben hatten, verwandelte sich ins Gegenteil. »Die sozialen 20 21

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Tagesspiegel, 8.11.2007 Detlef Wetzel, Helga Schnitzer, Hans-Jürgen Urban »Arbeitszeit gestalten, Fakten – Hintergründe – Vorgehen«, Themenheft der IG Metall 2011, S.9 ebda., S.11

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Intentionen gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik sind hoffnungslos unter die Räder geraten«, schreiben Bergmann u. a. »Diese bestanden aber gerade darin, in den Fragen der Arbeitszeitgestaltung den Verfügungsanspruch der Unternehmen gegenüber den Arbeitnehmern zu begrenzen. Das arbeitsfreie Wochenende, die Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf maximal acht Stunden und vor allem stabile, verlässliche Arbeitszeit- und Schichtregelung bildeten die Eckpfeiler einer interessenbezogenen Gestaltungsprogrammatik, die die Autonomieansprüche der Arbeitnehmer außerhalb der Arbeit, ihre Bedürfnisse nach gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe sichern sollten«. Von dieser Programmatik seien »heute vielfach kaum noch Spuren vorhanden« und von »planbaren, die Zeitsouveränität der Arbeitnehmer respektierenden Arbeitszeitregelungen (kann) nicht mehr die Rede sein«.23 Entscheidend für die Frage der Gewordenheit der Geschichte, für die Rolle der strategischen Entscheidung, der Alternativen, ist die Frage, ob diese Entwicklung alternativlos war. Die Erzählung von der Großen Transformation oder der Globalisierung lässt die einzelnen Kämpfe, die Alternativen verschwinden. Allerdings gab es solche Alternativen. Gerade der Kampf um die Arbeitszeitverkürzung macht dies deutlich. Anders, als es heutige Darstellungen vermuten lassen, war die neoliberale Antwort auf die Krise, also die beschriebene Politik der Anpassung und Öffnung in der Arbeiterbewegung keineswegs hegemonial. Anfangs gab es durchaus starke gewerkschaftliche Gruppen, die auf Grundlage einer langen Periode der Prosperität großes Selbstbewusstsein aufgebaut hatten und in deren Mitte viele linke betriebliche und gewerkschaftliche Funktionäre wirkten. Als nun die Rückkehr der Krisenzyklen in der Weltwirtschaft und in Deutschland seit Mitte der 1970er Jahre und in deren Folge die Verschärfung des Konkurrenzkampfes und der Massenarbeitslosigkeit die Gewerkschaften vor eine völlig neue Situation stellte, waren diese Gruppen nicht bereit, die Arbeitslosigkeit einfach hinzunehmen, sondern suchten nach Wegen, ihre betriebliche Stärke in einer gesellschaftliche Bewegung gegen Arbeitslosigkeit umwandeln zu können. Die Voraussetzungen dafür standen nicht schlecht. Die Arbeitslosigkeit vor 1933 wurde von vielen Menschen in Deutschland als zentrale Ursache für den Aufstieg des Faschismus gesehen und es gab eine breite gesellschaftliche Stimmung, eine Rückkehr in die Massenarbeitslosigkeit nicht einfach hinzunehmen. Insofern konnten betriebliche Kämpfe auf eine gesellschaftliche Resonanz hoffen. Die Zeit der Vollbeschäftigung hatte eine selbstbewusste und anspruchsvolle Arbeiterklasse hervorgebracht. Der Aufschwung der Arbeiterbewegung und der Anstieg der Gewerkschaftsmitgliedschaft in den 1970er Jahren hatten mehrere Ursachen, aber eine 23

Bergmann u. a., S. 34 f.

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entscheidende war die Erfahrung von 20 Jahren Vollbeschäftigung und Marktmacht. Als kampfstarke Teile der Klasse (Stahlarbeiter, Drucker) in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre sich dann plötzlich von Massenentlassungen und sozialem Abstieg bedroht sahen, forderten sie von ihren Gewerkschaften Schutzmaßnahmen ein. So kam es 1978/79 sowohl in der Stahlindustrie als auch in der Druckindustrie zu Streiks für die Forderung nach Einführung der 35-Stunden-Wwoche bei vollem Lohnausgleich. Beide Streiks erreichten ihr Ziel nicht; stattdessen wurden in beiden Branchen mehr Urlaub und einige Freischichten pro Jahr erkämpft, die 40-Stunden-Woche aber bis 1984 festgeschrieben. 1982/83 kam es zu einer Welle von Betriebsbesetzungen in der Metall- und in der Werftindustrie gegen Betriebsschließungen. Bei den Konflikten handelte es sich um Abwehrkämpfe gegen Massenentlassungen, Betriebsschließungen und Entqualifizierung, wovon in zunehmendem Maße auch die zentralen Facharbeitergruppen bedroht waren, die in der Vergangenheit die Strukturen der Gewerkschaften auf der unteren Ebene (Vertrauensleutekörper, Kreisverwaltungen) und die Betriebsräte dominiert hatten. Allerdings mussten sich diese Teile der Gewerkschaftsbewegung zunächst intern gegen erhebliche Widerstände durchsetzen: So wurde der Kampf um die allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall 1977 gegen den Widerstand des Hauptvorstandes beschlossen, der die Meinung vertrat, die Forderung sei unter den schwierigen Marktbedingungen nicht durchsetzbar.24 Mit dem sechswöchigen Stahlstreik war eine wesentliche Chance vertan worden, gestützt auf besonders gut organisierte, kampffreudigen und kampferprobten Belegschaften ein Exempel zu setzen. 1978 hagelte es Kritik aus den Vertrauenskörpern an der zentralen Streikführung durch die IG Metall; sie erhielt bei der Urabstimmung nach Streikende nicht mal eine Mehrheit. Auch der Druckerstreik scheiterte, auch hier wurden einige Urlaubstage und Freischichten anstelle einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit erkämpft. Das große gesellschaftliche Projekt einer Offensive gegen Massenarbeitslosigkeit war damit gescheitert. Über die Gründe des Abbruchs des Streiks durch den Vorstand der IG Metall ist viel spekuliert und gerätselt worden. Es ist jedoch eine Tatsache, dass er von Beginn an nicht hinter der Forderung stand. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen waren schon damals »Standortargumente« wichtig; der Anteil der deutschen Stahlproduktion an der Weltproduktion für Stahl war von 1970 bis 1978 von 7,5 auf 5,8 Prozent zurückgegangen. Zum anderen gab es durchaus ernst zu nehmende Überlegungen, dass der Hauptvorstand den in den vorangegangenen Jahren immer selbstbewusster agierenden Vertrauenskörpern, vor allem von 24

»IG-Metall-Chef stellt 35-Stundenwoche in Frage«, dpa 08.112007

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Hoesch und Mannesmann, aber auch von Klöckner (Bremen) und weiteren Standorten einen Dämpfer verpassen wollte. Dafür spricht, dass solche Überlegungen bereits 1971 in einer Konferenz der mächtigen IG-Metall-Arbeitsdirektoren geäußert worden waren und dass der Hauptvorstand noch während des Stahlstreiks für die Metallindustrie die Forderung nach längerem Urlaub gewissermaßen als Ersatz für die Wochenzeitverkürzung aufgestellt hatte und dass sofort nach Streikende eine Hetzkampagne gegen die aufmüpfigen Vertrauenskörper von Hoesch und Mannesmann anlief: Sie wurden verdächtigt, mit K-Gruppen zusammenzuarbeiten. Gegen einzelne Sprecher gab es eine regelrechte Treibjagd, die schließlich in einem Ausschlussverfahren aus der IG Metall (1980) gegen den Kopf der linken Opposition in den Stahlbetrieben, den Betriebsratsvorsitzenden von Mannesmann Huckingen, Herbert Knapp, gipfelte.25 Unter anderen, schon wesentlich schlechteren Vorzeichen wiederholte sich das Gleiche bei dem nächsten großen Wendepunkt, dem Streik um die 35-StundenWoche 1984. Die Arbeitslosigkeit war in der zweiten großen Krise 1981/82 auf über 2 Millionen angestiegen. 1978/79 war die Mobilisierung für den Streik in der Stahlindustrie noch problemlos und in kurzer Zeit möglich gewesen, dank der hervorragenden Vernetzung selbstbewusster Vertrauenskörper in den großen Stahlbetrieben. 1984 hatte die IG Metall zunächst große Schwierigkeiten, Mehrheiten für die gleiche Forderung zu mobilisieren. Die Niederlage 1978 und die zunächst in ihren weitreichenden Konsequenzen für die zukünftige Tarifpolitik nicht sofort spürbare Niederlage von 1984 in Kombination mit fast ausnahmslos verlorenen Kämpfen um Betriebsbesetzungen26 leiteten eine lange Phase des Niedergangs von Klassenauseinandersetzungen ein.27 Zwar hatte es auch in früheren Jahren Niederlagen gegeben (Bayernstreik in der Metallindustrie 1954, Chemietarifrunde 1971), aber es waren Niederlagen in der Offensive gewesen, die rasch überwunden werden konnten. Die Niederlagen von 1978 bis 1982 leiteten eine lange Periode des Niedergangs von Klassenkämpfen in der BRD ein, die bis heute nachwirkt. Die kampflose Hinnahme von Massenentlassungen, Betriebsschließungen und Reallohnkürzungen über drei Jahre hinweg (1981-83) durch die zentralen Gewerkschaftsführungen vertrugen keine linken Oppositionsgruppen und schon gar keine aktive kämpfe25

26 27

Angaben nach Rainer Wiedemann »Revier-aktueller betrieblicher Pressedienst« – Ein Erfahrungsbericht aus dem Stahlarbeiterstreik. Otto Jakobi u. a. , S. 157 siehe Artikel von Jürgen Ehlers: Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit in dieser Ausgabe. Alle Betriebsbesetzungen mit Ausnahme eines Autozulieferbetriebes (Rockwell Golde) endeten letztlich mit Niederlagen, nicht zuletzt weil die IG Metall sich mehr oder weniger offen gegen sie stellte, 1982 fasste der Beirat der IG Metall einen entsprechenden Beschluss. Eine Ausnahme war der damalige IGM-Bezirksleiter Franz Steinkühler von Ba.-Wü., der eine Betriebsbesetzung bei Video-Color in Ulm unterstützt hatte. Aber auch er stellte sich nachdem er 1983 zweiter Bundesvorsitzender der IGM geworden war, gegen Betriebsbesetzungen.

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rische Basisbewegung – sie könnte ihnen gefährlich werden. Nicht zufällig kommt es in der IG Chemie-Papier-Keramik und IG BSE Anfang der achtziger Jahre zur Ausschaltung linker Bezirke und Funktionäre, die den neuen Kurs der offenen Kapitulation in der Tarifpolitik nicht mittragen wollten und deshalb – wie Herbert Knapp – in immer schärferen Gegensatz zur Führung gerieten. Die einsetzende Resignation in den Betrieben, der Rückzug einst kämpferischer Arbeitergruppen in die Überwinterung, gab den Vorständen Auftrieb, oppositionelle Kräfte in den Gewerkschaftsapparaten, aber vor allem in den Betrieben zurückzudrängen. Sie zogen sich zurück, passten sich an oder wurden mundtot gemacht. Beschäftigungssicherung gegen Lohnabbau

Die Verbetrieblichung der Tarifpolitik blieb nicht bei der Arbeitszeit stehen. 1993 kam es in der ostdeutschen Metallindustrie zu einem Tarifvertrag, der eine so genannte Härtefallklausel für gefährdete Betriebe vorsah. Damit wurde erstmals die Unterschreitung des Tariflohns durch Betriebsvereinbarung (bei notwendiger Zustimmung der IG Metall) beschlossen. Im ersten halben Jahr kam es in 75 von 800 Metallbetrieben zu solchen Härtefallvereinbarungen. Die grundsätzliche Bedeutung dieser Vereinbarung war die erstmalige Anerkennung einer einzelbetrieblichen Sicht. Die Durchsetzung einheitlicher Mindeststandards für Löhne und Arbeitszeiten für bestimmte Berufsgruppen, Arbeitszweige und Regionen und die damit erzielte Verringerung der Konkurrenz untereinander war aber von Beginn an das Wesen der Gewerkschaftsbewegung. Die Gewerkschaften standen in Deutschland nach der Vereinigung von 1990 vor der großen Herausforderung, die Verschärfung der Konkurrenz durch ostdeutsche Niedriglöhne möglichst rasch zu beseitigen. Es wird in normalen Zeiten und besonders in Krisenphasen immer Einzelbetriebe geben, die sich solche Mindeststandards nicht »leisten« können, und es ist das Prinzip des Gewerkschaftsgedankens, solche »Schmutzkonkurrenz« durch besonders niedrige Löhne nicht zuzulassen. Die Aufgabe dieses Prinzips bedroht das Existenzprinzip von Gewerkschaften. Die weitere Entwicklung hat gezeigt, welche verheerende Auswirkung die Zulassung solcher Öffnungsklauseln im Tarifvertrag hat. Damit war das Argument etabliert, dass niedrigere Löhne Arbeitsplätze sichern helfen, ein Argument, das der betriebswirtschaftlichen Sichtweise konkurrierender Einzelunternehmen entspricht. 1995 bot die IG Metall-Führung moderate Lohnpolitik als Gegenleistung für Beschäftigungsaufbau und Verzicht auf Sozialabbau an. 28 Ende 1996 wurde auch in den 28

Bahnmüller, Reinhard/Bispinck, Reinhard/ Weiler, Anni: »Tarifpolitik und Lohnpolitik in Deutschland, WSI-Diskussionspapier Nr. 79, 1999. Die Autoren formulieren darin, wie das OstWest-Gefälle die tarifpolitische Entwicklung in ganz Deutschland beeinflusste: »Der Konflikt um das Tempo der Tarifangleichung an das westdeutsche Niveau führten zur Aufnahme von

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westlichen Tarifgebieten für Betriebe mit gravierenden Schwierigkeiten eine Sonderregelung vereinbart. Bei den getroffenen Regelungen stand das Krisenmanagement noch im Vordergrund: Erst wenn eine wirtschaftliche Gefährdung des Unternehmens bereits nachweisbar eingetroffen war, stimmte die Gewerkschaft einem Ergänzungstarifvertrag mit vom Flächentarifvertrag abweichenden Vereinbarungen zu. 1996 erfuhren die Arbeitgeber allerdings einen schweren Rückschlag in ihrem Bemühen, die Tarifverträge aufzuweichen. Nachdem die Kohl-Regierung die 1956/57 erstreikte und dann zum Gesetz erhobene Lohnfortzahlung im Krankheitsfall per Gesetz wieder aufgehoben hatte, stellten sich die Arbeitgeberverbände auf den Standpunkt, dass damit auch tarifvertragliche Regelungen zur Lohnfortzahlung hinfällig seien. Als der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall die Metallunternehmer dazu aufrief, das neue Gesetz in die Tat umzusetzen, kam es in Baden-Württemberg und in NRW zu einer spontanen Streikwelle, die dieses Mal von der IG Metall-Führung allerdings wohlwollend toleriert wurde. Die BILD-Zeitung sprach von einem »Wut-Aufstand«. Für die Arbeitgeber und die Regierung endete die Auseinandersetzung mit einer schweren Niederlage. Die Gewerkschaften gingen gestärkt aus dem Konflikt hervor. Allein die IG Metall hatte zwischen Oktober und Dezember 1996 28.000 neue Mitglieder aufgenommen. Im Lager der Unternehmerverbände kam es im Herbst 1996 zu einer Debatte über Reform oder Abschaffung des Flächentarifvertrags. Der Sieg der Arbeiter im Lohnfortzahlungskonflikt stärkte die Anhänger einer Reform, die am Flächentarifvertrag grundsätzlich festhalten wollten. 29 BDA-Chef Dieter Hundt, der zu den Befürwortern einer »Reform« gehörte, begründete seine Haltung mit dem Hinweis, dass es in Deutschland »viele starke Gewerkschaften« gäbe und zog daraus den Schluss: »Betriebliche Erfordernisse sind somit besser mit als gegen die Gewerkschaften durchzusetzen.« »Reform« des Flächentarifvertrags bedeutete aus ihrer Sicht, dass die »Verbetrieblichung« der Lohn- und Gehaltstarife« nach dem Modell der Arbeitszeitflexibilisierung weiter vorangetrieben werden müsse und die Arbeitszeit vollständig aus den Flächentarifen herausgenommen und auf die Einzelbetriebliche Ebene verlegt werden solle. Um das zu erreichen, mussten die »vielen, starken Gewerkschaften«, allen voran die IG Metall, in die Knie gezwungen werden. Die Schröder-Regierung

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Härtefall- und Öffnungsklauseln. Die in den neuen Ländern zu beobachtende Tendenz zu Tarifbruch und Tarifflucht wirkte mit zeitlicher Verzögerung auf die alten Länder zurück und beschleunigte dort die seit einiger Zeit zu beobachtende Tendenz der Erosion des Flächentarifver trags.«, S. 12 Der spätere Präsident des BDA (Bund deutscher Arbeitgeberverbände) wies damals darauf hin, dass im »Arbeitgeberlager« die Zustimmung zur Regelung wesentlicher Punkte durch Flächentarifvertrag »mit dem Streit um die Lohnfortzahlung ... nochmals gestiegen« sei. DER SPIEGEL, Nr. 50/1906

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schaffte das, woran Kohl letztlich gescheitert war: Sie schaffte es mit einer Mischung von Knüppel und Überredung. In seiner Agenda-Rede 2003 drohte SPDKanzler Gerhard Schröder den Gewerkschaften mit gesetzlichen Schritten, wenn sie die Flächentarifverträge nicht weiter öffneten: »Ich erwarte, dass sich die Tarifparteien auf betriebliche Bündnisse einigen. Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber handeln.« Die Drohung mit einer gesetzlichen Reform des Tarifvertragswesens führte schließlich zum gewünschten Erfolg: Mit dem Pforzheimer Abkommen zwischen der IG Metall und Südwestmetall Gesamtmetall aus dem Jahr 2004 wurde eine neue rechtliche Grundlage für die nun auf breiter Front einsetzende Durchlöcherung und Aufweichung des Flächentarifs geschaffen. Die wichtigsten Unterschiede zu den Vereinbarungen von 1993 und 1996 waren, dass Abweichungen vom Flächentarifvertrag jetzt auch zur Krisenprävention vorgesehen waren, das heißt zu Verbesserung der Konkurrenzsituation des Unternehmens. Sämtliche tariflichen Standards können unterschritten werden, also auch Lohn- und Gehaltszahlungen. Und das Abkommen erweiterte noch einmal den Rahmen für Arbeitszeitflexibilisierung. Die Quote der Beschäftigten, deren Arbeitszeit wöchentlich 40 statt der 35 Stunden über sechs Monate pro Woche betragen darf, wurde für Betriebe mit einem hohen Facharbeiter- und Technikeranteil von 18 auf 50 Prozent erhöht, Überstundenzuschläge werden nicht bezahlt. Die eingehandelten Zusagen der Unternehmer betrafen Beschäftigungszusagen (75,2 Prozent), Standortzusagen (52,8 Prozent) Erfolgsbeteiligung (35,4 Prozent) und Investitionszusagen (33,8 Prozent).30 Von Februar 2004 bis Juni 2008 sind auf der Grundlage des Abkommens 642 Ergänzungstarifverträge beschlossen worden, allerdings die meisten davon von tarifgebundenen Firmen, wo immerhin ein Drittel aller Firmen ein betriebliches Bündnis abgeschlossen hatte. Die Zugeständnisse der Arbeitnehmer bezogen sich zu 56 Prozent auf freiwillige übertarifliche und durch den Betriebsrat geregelte Leistungen und zu 44 Prozent auf tarifliche Normen. Bei den Zugeständnissen beim Entgelt macht der Wegfall von Mehrarbeitszuschlägen den höchsten Anteil aus (50,6 Prozent), dann kamen Kürzungen oder Streichungen von außertariflichen Sonderzahlungen (43,7 Prozent) oder des Urlaubsgelds (33,3 Prozent) und das Absenken von übertariflichen Entgeltbestandteilen (41,2 Prozent). 31 Die neue Formel heißt »Lohnverzicht gegen Arbeitsplatzsicherheit«. Nach verschiedenen Erhebungen und Untersuchungen halten sich zwischen 80 und 90 Prozent der Unternehmer an die vereinbarten Zusagen. Daraus zu schließen, dass die »Bündnisse für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit«, wie sie noch in den 1990er Jahren genannt wurden, sich bewährt und dazu beigetragen hätten, Arbeitslosigkeit einzudämmen oder zu verhindern, wäre jedoch falsch. Das Ziel der 30 31

Hagen Lesch, Betriebliche Bündnisse für Arbeit, Köln Oktober 2008. IW-Report 4/2008 Lesch, a.a.O., S. 8

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Pakte ist eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens durch Kostensenkung. Die Beschäftigungszusagen erkaufen die Zustimmung der Belegschaften und Betriebsräte. In einer Untersuchung der Standortvereinbarungen in der deutschen Automobilindustrie zwischen 1993 und 2006 weisen die Autoren nach, dass die erhoffte »Beschäftigungssicherung« in mehrfacher Weise durch die Bündnisse gefährdet und unterlaufen wurde:32 • Beschäftigungspakte führen zu gewollten Produktivitätssprüngen, die wiederum Arbeitsplätze überflüssig machen. • Die Mehrheit der Pakte waren Betriebsvereinbarungen, die nach drei Monaten kündbar sind und in mehreren Fällen auch gekündigt wurden, um neue Zugeständnisse für das gleiche Angebot einer Beschäftigungssicherung zu erzielen. • Es wurden auch in solchen Unternehmen Pakte geschlossen, die hohe Gewinne und gute Auftragslagen zu verzeichnen hatten (Daimler-Benz, Audi). • In allen Automobilwerken entstanden seit Beginn der 1990er Jahre beträchtliche »Randbelegschaften« in Form von Leiharbeitern, die die Beschäftigungssicherheit für einen Teil der Belegschaften zurücknahmen und einen »Sicherheits«-Puffer einführten. • Die Zusagen der Unternehmen variierten zwischen Garantie des Erhalts einer bestimmten Beschäftigungshöhe bis hin zu reinen Standortzusagen. Selbst diese Zusage wurde jetzt im Fall von Opel-Bochum von General Motors zurückgezogen. • Von den Vereinbarungen geht die Gefahr eines Unterbietungswettbewerbs bei Löhnen und Arbeitsbedingungen aus, der nicht auf Deutschland beschränkt ist, sondern auf die gesamte europäische Autoindustrie ausstrahlt. Trotz der Beschäftigungspakte kam es in dem Zeitraum von 1993 bis 2006 zu einem massiven Abbau von Arbeitsplätzen in mehreren Unternehmen (VW, Ford, Opel). So kommen die Autoren der Studie zu dem Ergebnis, dass die Pakte »nicht zu einer Stabilisierung der Beschäftigung geführt haben, wohl aber die Form des Arbeitsplatzabbaus bestimmt haben, indem sie betriebsbedingte Kündigungen ausschlossen«.33 Die Chefs der Konzerne haben in vielfacher Weise die verschiedenen Standorte in Europa und sogar innerhalb Deutschlands gegeneinander ausgespielt. Zu einer Bilanz einer wettbewerbsorientierten Tarifpolitik gehört auch, dass die zurückbleibende Kaufkraft auf den Konsum und damit die deutsche Binnenkonjunktur drückt, die Exportabhängigkeit weiter steigt. Unter 32

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Jürgens, Ulrich/Krzywdzinski, Martin: Globalisierungsdruck und Beschäftigungssicherung. Standortsicherungsvereinbarungen in der deutschen Automobilindustrie zwischen 1993 und 2006, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 2006 Jürgens, a.a.O, S. 54

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dem Druck der Beschäftigungspakte sind die Effektivverdienste, 34 das heißt die tatsächlich ausgezahlten Löhne, in der Metallindustrie zwischen 2000 und 2008 um 9,3 Prozent geringer angestiegen als die Tariflöhne. 35 Die Steigerung der Wettbewerbskraft des eigenen Unternehmens bringt die Beschäftigten in Konkurrenz zu anderen Unternehmern. Sie steht in einem fundamentalen Widerspruch zum Solidarprinzip der Gewerkschaftsbewegung. Jedem Sieger auf dem Markt steht ein Verlierer gegenüber. IG-Metall-Chef Huber hat sich kürzlich über zu hohe Lohnsteigerungen der spanischen Arbeiter geäußert und gab damit indirekt den spanischen Gewerkschaften Schuld an der steigenden Massenarbeitslosigkeit in ihrem Land. Das ist kein Ausrutscher gewesen, es entspricht der Logik einer wettbewerbsorientierten Tarifpolitik. Die Krise 2009: Erfolg des Krisenkorporatismus?

Die Verfechter eines Krisenkorporatismus in den Gewerkschaften sehen sich durch die Erfahrungen der Krisenjahre 2008–2009 bestätigt und gestärkt. So verteidigt der Vorsitzende der IG BCE, Michael Vassiliadis, den Beschäftigungspakt zwischen Bundesregierung, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden von 2008 mit den Worten: »Wir haben die Krise ohne Entlassungen im großen Stil durchgestanden. Das ist ein Riesenerfolg. Insgesamt wurde das gegenseitige Vertrauen neu gefestigt und die Idee der Sozialpartnerschaft gestärkt.« 36 In einer Pressemitteilung des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) war unter der Überschrift »Das Jobwunder« zu lesen: »3,1 Millionen Arbeitsplätze sind in Deutschland über die Finanz- und Wirtschaftskrise gerettet worden, weil die Arbeitszeiten reduziert wurden und Unternehmen in der Hoffnung auf eine relativ rasche wirtschaftliche Erholung Beschäftige gehalten haben.«37 Dabei spielte die Verlängerung der Bezugszeit von Kurzarbeitergeld auf 24 Monate eine entscheidende Rolle. Ein kleinerer Teil der auftragsbedingten Reduzierung der gearbeiteten Stunden pro Arbeitnehmer um 3,4 Prozent wurde durch die Entlassung von Leiharbeitern ausgeglichen; die Stammbelegschaften konnten ihre Arbeitsplätze behalten. Zum Verständnis des glimpflichen Verlaufs dieses tiefsten Konjunktureinbruchs seit den 1930er Jahren ist ein Vergleich mit der letzten Rezession interessant. Dazu schreibt das WSI: »In der langen Schwächephase 2000–2005 wurde […] Kurzarbeit kaum eingesetzt.« Die Schröder-Regierung nutzte stattdessen die Krise, um durch Abbau von Kündigungsschutz, Erleichterung von Leiharbeit 34 35 36 37

Negative Lohndrift bei Metall«, Quelle IG Metall und Statistisches Bundesamt (VGR 2009) a.a.O. Interview mit Chemie-Report, Zeitung des Verbandes der chemischen Industrie e. V.,10.06.2010 WSI Pressemitteilungen 2010, 02.11.2010

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und Minijobs und durch die Einführung des Arbeitslosengeldes II (Hartz IV) den Druck auf Arbeitslose und Beschäftigte mit dem Ziel zu erhöhen, einen riesigen Niedriglohnsektor zu schaffen und die Lohnstückkosten der gesamten Wirtschaft zu senken. Die Arbeitslosigkeit stieg um über eine Million. Warum ließen sich die Arbeitgeber 2008–2009 auf einen solchen Beschäftigungspakt ein, der auch ihre Lohnkosten kurzfristig anstiegen ließ? Entscheidend hierfür war einmal, dass sich Ende 2008, als die Verlängerung der Kurzarbeit von der Bundesregierung beschlossen wurde, nach einem drastischen Einbruch und daraus folgender Katastrophenstimmung die leichte Hoffnung regte, dass die Krise zumindest für die deutsche Wirtschaft glimpflicher verlaufen könnte als zuerst angenommen. Die Regierungen der großen Industriestaaten hatten die Finanzmärkte mit billigen Staatskrediten geflutet und diverse Konjunkturprogramme beschlossen. Das WSI schrieb: »Unternehmen haben ein Interesse, Beschäftigte zu halten, wenn sie davon ausgehen müssen, dass die Kosten für Entlassungen und für Neueinstellungen nach der Krise (durch Kosten für Anlernzeiten, d. V.) hoch ausfallen.« Außerdem übernahm die Regierung einen Teil der sogenannten Redundanzkosten, das sind Mehrkosten, die dem Unternehmer durch Beteiligung am Lohnausgleich aufbringen müssen, so dass die Kosten der Kurzarbeit 2009 und 2010 fast ausschließlich von der Arbeiterklasse und der Allgemeinheit (Steuerzahler) aufgebracht wurden. Weiterhin verzichteten die Gewerkschaften 2009 und teilweise auch 2010 auf die Erhöhung von Löhnen und Gehältern, auch dies gehört zum »concession bargaining«, des Tausches von Arbeit gegen Löhne. Die IG Metall vereinbarte 2009 eine Einmalzahlung, die das Tariflohnniveau unverändert ließ. Und schließlich war der Konkurrenzvorsprung des deutschen Kapitals (Lohnkosten pro Produktionseinheit) in den Jahren 2000 bis 2008 im internationalen Vergleich so drastisch gestiegen, dass es auf eine Neuauflage der Schröderschen Agendapolitik erst einmal verzichten konnte. Schließlich waren die Arbeitszeitkonten der großen Mehrheit der Beschäftigten mit über zwei Milliarden Stunden gut gefüllt – auch dies floss in die Rechnung der Unternehmerverbände mit ein. All diese Faktoren zusammen ergaben, dass es für die Unternehmer billiger und opportuner war, eine zeitweise Verkürzung der Arbeitszeiten einer Welle von Massenentlassungen vorzuziehen. Ob sie sich bei der nächsten Krise noch einmal kampflos bereit erklären werden, diesen Weg zu gehen, hängt davon ab, wie lang die Krise sein wird und ob die Arbeiterklasse erneut bereit ist, die Kosten der Kurzarbeit durch niedrigere Löhne und höhere Steuern und Sozialabgaben zu bezahlen. Zum politischen Preis der Krisenbewältigung gehört auch, dass durch die nochmalige Absenkung der Löhne und Gehälter die Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft weiter angewachsen ist und sich so die Krise der Eurozone weiter zugespitzt hat. Der Export von Waren ist auch ein Export von Arbeitslo-

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sigkeit. Die Krise wurde so kurzfristig nach außen verlagert, gelöst wurde sie nicht. Die Kritik Berthold Hubers an der Lohnpolitik der spanischen Gewerkschaften zeigt, dass er und wohl die Führung der IG Metall und anderer Gewerkschaften sich sehr bewusst sind, dass die Exporterfolge der deutschen Industrie mit Lohnverzicht und Niedriglöhnen »bezahlt« wurden. Hubers Kritik läuft darauf hinaus, dass die Eurokrise durch die Verallgemeinerung des deutschen Modells überwunden werden soll. Hartz IV und Niedriglohnsektor, Deregulierung der Arbeitsmärkte zur Senkung der Lohnkosten und Steigerung der Ausbeutungsraten – das ist auch die Linie, die Kanzlerin Merkel gerade in Zypern durchgesetzt hat. Der »Export« des Modells funktioniert aber nicht. Ganz Südeuropa, England und Frankreich befindet sich in der Dauerrezession mit steigender Jugendarbeitslosigkeit und sozialer Verelendung von Millionen Beschäftigten. Der angeblich funktionierende Krisenkorporatismus hat nicht zur Überwindung der Krise von 2008/2009 geführt. Die Erholung der Konjunktur, die verbesserte Auftragslage sind alleine der erfolgreichen Exportoffensive geschuldet. Doch die Krise ist durch die Flutung der Finanzmärkte mit billigen Staatskrediten nicht überwunden. Der von Merkel verordnete Austeritätspakt hat die Eurokrise nicht entschärft, sie ist eine tickende Zeitbombe. Und Daimler-Arbeiter sollten sich nicht gegen Daimler-Arbeiter ausspielen lassen, Opel-Arbeiter nicht gegen Opel-Arbeiter, aber auch nicht deutsche VW-Arbeiter gegen spanische Seat-Arbeiter. Es ist höchste Zeit, dass sich deutsche Gewerkschafter an die antikapitalistische Tradition ihrer eigenen Organisation in der Nachkriegszeit erinnern und das Prinzip von Klassensolidarität wiederentdecken, das sie einmal stark gemacht hat und ohne das sie auf Dauer nicht überleben können. Verpasste Chancen und Alternativen heute

Wir wollen nicht leugnen, dass die Rückkehr der Krisen des Kapitalismus mit Massenarbeitslosigkeit und weltweiten sozialen und politischen Krisen die Bedingungen für den »Guerrila-Krieg gegen die Übergriffe der Kapitalisten« (Marx) grundlegend verändert hat im Vergleich zu den »goldenen« Zeiten des »Wirtschaftswunders«, aber auch gegenüber der Zwischenzeit der Schmidt- und Kohlregierung, in denen Krisen und Wachstumsphasen einander abgelöst hatten. Die Maßstäbe für Erfolg und Scheitern der Gewerkschaftsbewegung haben dem Rechnung zu tragen. »Korporatismus«, das heißt die Ideen und die Praxis einer sozialpartnerschaftlichen Richtung in den Gewerkschaften gab es auch schon vor der Krise, in den Zeiten des langen Aufschwungs. Allerdings ist die Bilanz des jeweiligen Tauschgeschäfts eine gänzlich andere.

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Auf dem IG Metall Gewerkschaftstag 1960 fasste der damalige Vorsitzende Otto Brenner die Erfolge der vergangenen Jahre seit Verkündigung eines Aktionsprogramms durch den DGB zusammen. In dem Jahrzehnt von 1950 bis 1960 ergab sich »eine reale Steigerung des Stundenverdienstes des Metallarbeiters um rund 58 Prozent.« Gleichzeitig sei es der IG Metall gelungen, »die tarifliche und effektive Wochenarbeitszeit um rund vier Stunden zu verringern ... und eine weitere Kürzung der Wochenarbeitszeit bis 1965 »auf 40 Stunden mit vollem Lohnausgleich« zu vereinbaren. Weiter nannte Brenner »die Verbesserung der Frauenlöhne, die Urlaubsverlängerung und die Angleichung des Krankheitsschutzes für Arbeiter und Angestellte.« Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter wurde in einem 16 Wochen dauernden Streik in Schleswig Holsteins Werftindustrie durchgesetzt und kurze Zeit später durch die Adenauer-Regierung zum Gesetz erhoben. Otto Brenner nannte auch den allgemeinen wirtschaftlichen Hintergrund dieser Erfolge: »Wir haben die Verknappung der Arbeitskräfte, die ständig steigenden Gewinne und die wachsende Produktion in gewerkschaftliche Erfolge umgemünzt.« Wie stark die Stellung der Gewerkschaften damals war, kann man aus der Tatsache ableiten, dass das Bad Homburger Arbeitszeitabkommen von 1960 mit einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit um vier Stunden ohne einen einzigen Streiktag errungen worden war. Berthold Huber hat auf dem Gewerkschaftstag seiner Gewerkschaft 2011 keine Bilanz der Erfolge vorlegen können. Stattdessen sprach er von »Angriffen auf Tarifverträge, auf Mitbestimmung und soziale Sicherungssysteme«, von »Apartheid in den Betrieben«, von der »Spaltung der Belegschaften mit prekärer Beschäftigung«, von »zunehmendem und krankmachendem Leistungsdruck«, von der Veränderung der »Kräfteverhältnisse im Betrieb«, von der Notwendigkeit, »die Normierungskraft von Tarifverträgen zu erhalten«. In »vielen Firmen« würde die »Arbeitszeit grenzenlos ausgedehnt« und allzu oft würde »diese geleistete Arbeitszeit weder durch Freizeit noch durch Geld entgolten«. Einen Erfolg hob Huber aber doch hervor, die Krisenintervention der IG Metall 2008/2009 sei erfolgreich gewesen. Dabei erwähnte er die Verlängerung der Kurzarbeit. Aber er warnte auch: »Wer glaubt, wir hätten die Krise schon hinter uns, […] der ist jenseits von dieser Welt. Wir sind mitten in einer Banken- und Schuldenkrise.« Otto Brenner forderte eine »volkswirtschaftliche Gesamtplanung, Überführung der Schlüsselindustrie in Gemeineigentum und Mitbestimmung der Arbeitnehmer«, eine Hymne auf die Marktwirtschaft hat er nicht gesungen, obwohl der Nachkriegskapitalismus mit seinen hohen Wachstumsraten große Spielräume für die gewerkschaftliche Tagespolitik eröffnete. Hubers Rede spiegelt dagegen die hereinbrechende Krise des Kapitalismus wider und zugleich singt er ein Loblied auf die »innovativen Potenziale«, die die Märkte hervorbrächten, »die Exzesse

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entfesselter Märkte« stoßen ihn dagegen ab. Er teilt den Traum vom gezähmten Kapitalismus, von einer schiedlich-friedlichen Marktwirtschaft, in der die Gesetze von Konzentration und Zentralisation des Kapitals außer Kraft gesetzt sind. Kein Wort über die zerstörerischen Konsequenzen gerade der deutschen Exporterfolge auf die schwächere südeuropäischen Peripherie. Die Eroberung der europäischen Märkte durch die deutsche Exportindustrie – auch das ist ein »Exzess entfesselter Märkte«, aber er betrifft ja nicht unmittelbar die deutschen Metallarbeiter – obgleich die Schließung des Opelwerks in Bochum bereits eine indirekte Folge der Krise in Südeuropa ist, als wären der Erfolg von VW und die Krise von Opel voneinander zu trennen. Huber beruft sich ganz zu Unrecht auf Karl Marx, der auch schon zwischen innovativen und zerstörerischen Seiten der Märkte unterschieden habe.38 Nach Marx rufen aber die Krisen des Kapitalismus »den Konkurrenzkampf unter den Kapitalen hervor, nicht umgekehrt.« 39 Und da diese unvermeidlich sind, sind auch die von Huber beklagten »Exzesse der Märkte« unvermeidlich. Die Märkte erscheinen »produktiv« im Aufschwung, sie erscheinen zerstörerisch in der Krise. Sowenig Aufschwung und Krise im Kapitalismus voneinander zu trennen sind, so wenig können Innovations- und Zerstörungskräfte der Märkte getrennt werden. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Wo Brenner noch klagt, dass »statt sozialistischer Vorstellungen […] heute wieder die Überzeugung vertreten (werde), dass der Kapitalismus die einzig mögliche, sogar die einzig demokratische Wirtschaftsordnung sei«, 40 fordert Huber, dass »die Gesellschaft die positiven Mechanismen von Märkten nutzen« sollte. Zugleich klagt er aber, »dass der entfesselte Markt zur Gefahr der Freiheit geworden« sei. Natürlich ist Bertholt Huber mit seinem Bekenntnis zum sozialen, gezähmten Kapitalismus nicht verantwortlich für die Krisen des Kapitalismus, so wenig wie Otto Brenner etwas für den Nachkriegsboom konnte. Aber die Absage an die Kapitalismuskritik, die Verbreitung von völlig realitätsfernen sozialpazifistischen Marktideologien durch die Gewerkschaftsführungen heute, liefert die Mitglieder schutzlos den herrschenden Ideen aus, schickt sie mit Sommerkleidung in einen Schneesturm. Zwischen der Politik eines Otto Brenners und Berthold Hubers gibt es Unterschiede, aber es gibt auch wesentliche Gemeinsamkeiten. Die Trennung von politischem und ökonomischem Kampf, die Unterwerfung unter die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie und damit des bürgerlichen Staates, die Unterwerfung unter die Schillersche Konzertierte Aktion oder die Schrödersche Agen38

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Berthold Huber, Zukunftsreferat – 22. Ordentlicher Gewerkschaftstag, Karlsruhe, 12. Oktober 2011, S.20 Karl Marx, Bd. 25. S. 266 f. Otto Brenner, Durch Mitbestimmung zur sozialen Demokratie, Bochum 1960, S. 34

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da-Politik sind solche Gemeinsamkeiten. Trotzdem gibt es Unterschiede und sie sind nicht völlig unwichtig: Otto Brenners Kritik am Kapitalismus hatte es Sozialisten in den Gewerkschaften leichter gemacht als die völlig illusionäre Vorstellung eines Berthold Hubers von einer Rückkehr zur sozialen Marktwirtschaft und zu einem gezähmten, regulierten Kapitalismus. Aber auch damals gab es einen rechten Flügel im DGB, der sich schon sehr früh in den 1950er Jahren zu einem (gezähmten) Kapitalismus bekannt hat, und auch sie haben damals erfolgreiche Tarifpolitik betreiben können. Der Aufschwung des Kapitalismus vergrößerte beides: Produktionsmacht und Marktmacht der abhängig beschäftigten Klassen. Damals unterschieden linke Sozialwissenschaftler zwischen »konfliktorischen« und »kooperativen« Gewerkschaften,41 diesen Unterschied macht heute niemand mehr, und es ist interessant zu fragen, warum oder besser seit wann diese Unterscheidung sich überholt hat. Hier lässt sich ein historischer Wendepunkt ziemlich exakt benennen: der Stahlarbeiterstreik von 1978/79. In der IG Metall und in den anderen Gewerkschaften waren seit Ende der 1960er Jahre erstmals wieder klassenbewusste politische Minderheiten entstanden, die in einer Phase des Aufschwungs von Kämpfen öfter Mehrheiten für einen kämpferischen Kurs, für offensive Forderungen gewinnen konnten, und zugleich waren die Gewerkschaftsführungen – auch der linken oder konfliktorischen Gewerkschaften – unter dem politischen Druck der Sozialdemokratie zurückgewichen. So wurde der Kampf um die 35-Stundenwoche von 1978-9 zu einem Wendepunkt. Die Führung der IG Metall (und der anderen Gewerkschaften) war nicht stark genug, zu verhindern, dass eine kämpferische Basis die Forderung in den Gremien der Gewerkschaft durchsetzte, aber sie war stark genug, den Kampf so zu führen, dass er in einer Niederlage endete. Damals empfanden dies die Vertrauensleute der großen Stahlwerke als Verrat, die Streikfront stand und die Führung brach ihn ohne Not ab. Bei der Welle der Betriebsbesetzungen Anfang der 1980er wiederholte sich das Szenario: einige Dutzend größere und kleinere Betriebe wurden von den Belegschaften besetzt, weil sie Massenentlassungen und Schließungen verhindern wollten. Die Führung der IG Metall fühlte sich dieses Mal – weil es nicht die großen Bataillone waren – stark genug, den Kollegen die Unterstützung zu verweigern. Später entschied der Beirat der IG Metall, dass Betriebsbesetzungen grundsätzlich zu verwerfen seien. 1984 im zweiten großen Streik um die 35-Stundenwoche wiederholte sich das Szenario von 1979. Die Arbeitgeber hatten zur scharfen Waffe der Massenaussperrung gegriffen, die IG Metall wich vor diesem Angriff zurück – wieder ohne Not, das heißt, ohne dass eine Zwangslage durch Abbröckeln der Streikfront durch die eigene Mitgliedschaft entstanden gewesen wäre. 1979, 1982 und 1984 41

Joachim Bergmann, Otto Jacobi, Walter Müller-Jentsch, Gewerkschaften in der Bundesrepublik, Frankfurt-Köln, 1975, S. 26

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brachten Kämpfe gegen die hereinbrechende Massenarbeitslosigkeit, und diese Kämpfe hätten mit einer anderen, wirklich »konfliktorischen« Führung anders ausgehen können. Die Furcht vor einer kämpferischen Basisbewegung war größer als die Furcht vor einer Niederlage im Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit. Heute steht die Gewerkschaftsbewegung vor einem Neuanfang: Die Unterwerfung unter die angebliche Marktmacht der herrschenden Klasse hat dazu geführt, dass soziale Errungenschaften, die in »besseren« Zeiten erkämpft wurden, schrittweise auf dem Weg des »concession bargaining« wieder verloren gehen. Dieser Weg gleicht einer abschüssigen Ebene. Von Krise zu Krise werden die Zugeständnisse größer, die die andere Seite fordert, ein Ende scheint nicht in Sicht. Umso wichtiger ist es, einen Neuanfang zu wagen, nämlich im Aufbau klassenkämpferischer Minderheiten in den Betrieben und Gewerkschaftsgliederungen, deren erste Aufgabe es ist, den zerstörerischen Anforderungen des Krisenkorporatismus entgegenzutreten und Stück für Stück Kolleginnen und Kollegen zu überzeugen. Denn wenn auch die Verfechter der Sozialpartnerschaft zur Zeit in den Gewerkschaften vor Kraft kaum laufen können – ihr Ordnung ist auf Sand gebaut.

Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch (Friedrich Hölderlin) Inmitten einer tiefen Krise gewerkschaftlicher Politik zeigen sich Ansätze der Erneuerung. Luigi Wolf schreibt über demokratische Streiks, die Vergesellschaftung des Protests und den Beitrag der LINKEN. Die heutige Situation ist durch eine anhaltende Defensive der Gewerkschaftsbewegung geprägt. Immer mehr Arbeitgeber versuchen, aus dem Tarifvertrag auszutreten oder durch Privatisierungen im öffentlichen Dienst oder Ausgliederung (»Outsourcing«) einzelner Unternehmensbereiche die Tarifbindung zu unterlaufen und damit die Standards zu senken. Die Veränderung in der Bindekraft des Tarifvertragswesens ist drastisch: In Westdeutschland ist die Tarifbindung von 1998 bis 2011 von 76 auf 61 Prozent zurückgegangen.1 In Ostdeutschland hat die Tarifbindung im gleichen Zeitraum von 63 Prozent 1998 auf 49 Prozent 2011 abgenommen. Allerdings sind Unternehmen, insbesondere Großbetriebe, noch immer in ihrer überwältigenden Mehrheit tarifgebunden. Das Gleiche gilt für die Existenz von Betriebsräten. Auch hier ist eine deutliche Abnahme zu verzeichnen. Hatten 1996 noch 57 Prozent der Betriebe einen Betriebsrat, so waren es 2011 51 Prozent, wobei sich der Anteil derjenigen Betriebe ohne Betriebsrat und ohne Tarifvertrag im gleichen Zeitraum von 24 auf 36 Prozent erhöhte. Aber auch hier gilt, dass Großbetriebe davon weniger betroffen sind. So gibt es bei Betrieben mit 500 Mitarbeitern und mehr zu 88 Prozent einen Betriebsrat. Der Anteil der Beschäftigten mit Betriebsrat, die in Betrieben mit 500+ Mitarbeitern arbeiten, liegt bei 92 Prozent, im Vergleich zu 44 Prozent der Beschäftigten insgesamt, wobei es ab dieser Betriebsgröße zwischen West und Ost keinen Unterschied gibt.

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IAB-Betriebspanel zitiert aus dem Tarifhandbuch 2013 des WSI. Alle folgenden Zahlen sind, wenn nicht anders gekennzeichnet, ebenfalls dem Tarifhandbuch entnommen.

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Die Tarifabdeckung gestaltet sich je nach Sektor sehr unterschiedlich. Im Dienstleistungsgewerbe ist sie sehr niedrig. Auch im Handel und im Bereich des ehemaligen öffentlichen Dienstes sind die Entwicklungen alarmierend. Im Gegensatz dazu ist die Abdeckung in der Metall- und Elektroindustrie immer noch flächendeckend, obwohl auch hier die Zahl nicht tarifgebundener Arbeitgeber steigt. In neuen Industrien wie der Windenergiebranche gibt es keine Tarifbindung und schwache Betriebsratsstrukturen. Hinzu kommen Bereiche im öffentlichen Dienst, wo öffentliche Arbeitgeber oder die neuen privaten Arbeitgeber bewusst Absenkungstarifverträge oder tarifvertragsfreie Zonen geschaffen haben. Diese Entwicklung ist insgesamt negativ und verweist darauf, dass wichtige Kämpfe in der Vergangenheit verloren gegangen sind oder dass die Gewerkschaften dem Klassenkampf der Unternehmer nichts entgegensetzen konnten. Ein gutes Beispiel für die Entwicklung im öffentlichen Dienst, wo es eine massive Zunahme von Outsourcing und Privatisierungen gegeben hat, ist der Pflegebereich: Bis zur Verabschiedung des Pflegegesetztes 1992 war dieser Bereich komplett tarifgebunden und in der Hand von öffentlichen oder quasi-öffentlichen Anbietern. Seit der Deregulierung durch das Pflegegesetz werden nunmehr 40 Prozent der Dienste privat betrieben und die anderen Träger wie Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt sind einem Preisgestaltungssystem unterworfen, die sie in Konkurrenz zu den privaten Anbietern versetzt. Das gleiche ist etwa im Krankenhaussektor passiert, wo die Einführung des DRG-Systems 2 2003/4 zu einer durchgreifenden Konkurrenz geführt hat, die zwischen privaten, öffentlichen und sogenannten »freigemeinnützigen« (kirchlichen etc.) Arbeitgebern auf Kosten der Beschäftigten ausgetragen werden. Von 1991 bis 2009 sanken die in Vollzeit gerechneten Stellen von 334.890 auf 303.656 bei gleichzeitiger Steigerung der Fallzahlen um 25 Prozent. Die abnehmende Verweildauer kompensiert dies nicht.3 Aber auch in anderen Branchen lässt sich beobachten, dass vormals sicher geglaubte sozialpartnerschaftliche Vereinbarungen von der Kapitalseite aufgekündigt werden. Etwa indem Betriebsratsgründungen und Tarifbindung im Einzelhandel massiv unterlaufen werden, auch bei den vormals im Flächentarifvertrag gebundenen Großbetrieben. All dies bedeutet für die Beschäftigten enorme Verschlechterungen. Ausbruch aus der Tarifbindung bedeutet Lohnverluste. Aber auch die Arbeitsbedingungen 2

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Zentrales Abrechnungssystem für alle Krankenhäuser der Krankenkassen seit 2004 obligatorisch. Braun, Bernard, Sebastian Klinke, Rolf Müller und Rolf Rosenbrock, 2011: Einfluss der DRGs auf Arbeitsbedingungen und Versorgungsqualität von Pflegekräften im Krankenhaus, Universität Bremen, artec-paper Nr. 173

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haben sich massiv verschärft: Arbeitsverdichtung und offene oder versteckte Arbeitszeitverlängerung sind die Folgen. Die Veränderung wird noch dramatischer, weil gleichzeitig die Zahl der Firmentarifverträge seit 1990 von 2.550 auf heute 10.116 zugenommen hat. Das heißt auch dort, wo noch Tarifverträge existieren, gib es eine deutliche Tendenz weg von Branchentarifverträgen hin zu Firmen- und Haustarifverträgen. Dazu kommt, dass auch für bestehende Tarifverträge immer mehr Öffnungsklauseln abgeschlossen werden. Neben der Abdeckung ist auch die Laufzeit ein Indiz für die Defensive der Gewerkschaftsbewegung. Allgemein haben die Beschäftigten ein Interesse an möglichst kurzen Laufzeiten von Tarifverträgen, um möglichst oft neue Tarifsteigerungen erstreiten zu können. Während die Laufzeiten im Westen in den 1990er Jahren in der Regel bei 12 bis 14 Monaten lagen, ist seit den 2000er Jahren eine Zunahme auf etwa 22 Monate zu beobachten. Im Jahr 2012 hatten 37,6 Prozent der Abschlüsse eine Laufzeit von 24 Monaten und mehr. In einem Bilanz-Papier der tarifpolitischen Grundsatzabteilung von ver.di wird eine bemerkenswert offene Bilanz gezogen: Die Zahlen und Daten der Tarifpolitik in ver.di sprechen eine deutliche Sprache. In den Kernbranchen (Banken, Druckindustrie, Telekom, Post, Einzelhandel und ÖD) wurde zwischen 2002 und 2008 lediglich eine tabellenwirksame Tarifsteigerung von im Durchschnitt rund 1,7 % pro Jahr erreicht. Die Verbraucherpreise stiegen im gleichen Zeitraum im Durchschnitt jährlich aber schon um 1,8 %. Dabei sind Steuerund Abgabenerhöhungen noch nicht berücksichtigt. Insgesamt lag für den o. g. Zeitraum also für ver.di-Mitglieder in den Kernbranchen eine leicht negative Reallohnentwicklung vor. Dass diese Entwicklung in den schwächeren Tarifbereichen und im tariffreien Sektor vermutlich viel drastischer verlief, tröstet dabei nicht.

Viele Abschlüsse in den ver.di Tarifbereichen zwischen 2002 und 2008 weisen zudem erhebliche Verschlechterungen bei der jeweiligen Wochenarbeitszeit, bei Zeitzuschlägen und Sonderzahlungen auf. Insbesondere zu familienfeindlichen Arbeitszeiten muss wieder oft mit geringeren Zuschlägen gearbeitet werden. Mancher gerade noch akzeptable Tarifabschluss im Entgelt wurde mit solchen Zugeständnissen bei der Arbeitszeit erst möglich. Ver.di steht dabei allerdings nicht allein, insgesamt stellt das WSI diesbezüglich fest: Der jahrzehntelange Trend zu kürzeren Normalarbeitszeiten endete etwa 2003. Im Zuge der Konjunkturkrise, steigender Arbeitslosigkeit und des verschärften internationalen Wettbewerbs setzten Unternehmen und deren Verbände eine Zeitenwende durch. Seitdem stieg die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit um knapp eine

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Stunde. Trotz längerer Arbeitszeiten blieben die Einkommen häufig unverändert. Indirekt wurden so die Stundenlöhne gekürzt.'4

Gleichzeitig hat mit der Zersplitterung des Tarifwesens eine Zunahme von Konflikten stattgefunden. Hier findet eine deutliche Verschiebung der Konflikte statt. Während bis Ende der 1980er Jahre die Metallindustrie die meisten, wenn auch wenige Streiks zu verzeichnen hatte und sie meist der Taktgeber für das Tarifgeschehen in den übrigen Branchen war, hat sich nun eine massive Verlagerung der Streiks in den Dienstleistungsbereich und den öffentlichen Dienst ergeben. Seit der Gründung von ver.di gab es über 1000 Arbeiterkämpfe allein in ihrem Organisationsbereich: waren es 2004 noch 36 Streiks, so waren es im Jahr 2012 188, die von ver.di genehmigt wurden. Die Anzahl der tatsächlich stattgefundenen Streiks liegt mit 211 sogar darüber, da manche Genehmigungen im Jahr zuvor erteilt worden waren. Mit Unterbrechung der Krise 2008/9 ist die Zahl kontinuierlich angestiegen.

Streiks bei ver.di seit 2004

Quelle: Dribbusch, Heiner: Tendenzen der Streikentwicklung in Deutschland, Folienvortrag, 6.4.2013 in Düsseldorf

Besonders plastisch ist dies am Beispiel des öffentlichen Dienstes. In der Geschichte der Bundesrepublik bis in die 1990er Jahre gab es überhaupt nur zwei große Streiks im öffentlichen Dienst (1974 und 1992). Seit dem Jahr 2000 gab es 4

Tarifinitiative 2015. Tarifpolitische Kräfte in verdi gezielt nutzen und einbinden. Arbeitspapier der tarifpolitischen Grundsatzabteilung

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alleine im Krankenhausbereich, der zuvor quasi nie gestreikt hat, 90 Arbeitskämpfe. Damit hat sich im Organisationsbereich von ver.di die Anzahl seit ihrer Gründung im Durchschnitt vervierfacht, 5 allerdings ohne dass die Zahl der Streiktage gestiegen ist, da viele der Streiks von kurzer Dauer sind, bzw. oft in einzelnen Betrieben um Haustarifverträge ausgefochten werden. Zu diesen bekannten und registrierten Streiks kommen noch einmal eine Vielzahl kleiner, spontaner Streiks, die nie statistisch erfasst werden, weil es in Deutschland keine zentrale Streikerfassung gibt, weder bei der Regierung noch bei den Gewerkschaften. Auch diese können aber von großer Bedeutung sein, wie etwa die prominenten Beispiele bei Opel-Bochum 2004 oder bei Mercedes in Sindelfingen 2009 zeigen, als Belegschaften kollektiv ihr »Informationsrecht« von den Betriebsräten einforderten und auf diesem Weg de facto wild streikten. 6 Die Krise als Chance?

Paradoxerweise eröffnet die Offensive des Kapitals in der Zerstörung der Flächentarifverträge auch Chancen einer »Revitalisierung« der Gewerkschaftsbewegung, wie sie in den letzten Jahren auch immer wieder von Teilen der Gewerkschaftslinken gefordert wurde, ohne dass diese jedoch einen Weg aus der Krise weisen konnte.7 Diese zu erkennen und dementsprechende strategische Schlüsse zu ziehen, scheint uns entscheidend, statt nur den negativen Status Quo zu beklagen.8 Die Chancen bestehen darin, dass sich in den tariffreien Zonen Gewerkschafter sammeln, die um Flächentarifvertragsanerkennung oder Haustarifverträge kämpfen. Diese Kämpfe werden oft aus sehr ungünstigen Bedingungen heraus begonnen, können aber relativ schnell zu substanziellen Erfolgen führen und gewerkschaftliche Organisationsmacht neu aufbauen. In den hier zu beobachtenden Häuserkämpfen sind die Gewerkschaftsführungen unter Umständen bereit, mit kämpferischen und aktivierenden Strategien zu experimentieren, da sie weni5

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Insgesamt ist Deutschland ein streikarmes Land. So fielen im Durchschnitt der Jahre 2004-2010 laut Schätzungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) 15 Arbeitstage streikbedingt aus, während es in Frankreich 162, in Belgien 64, in Italien 40 und in Großbritannien 24 Tage waren. Siehe auch Interview mit Heiner Dribbusch in dieser Ausgabe. Der Arbeitskampfexperte Heiner Dribbusch vom WSI schätzt, dass von den 1.000 Streiks im Bereich von Verdi 80 % auf Haustarifverträge entfallen. Die Anzahl der wilden, unerfassten Streiks schätzt er auf mehrere Hundert im Jahr, wenn auch nicht so spektakuläre Fälle wie die genannten bei Opel oder Daimler. Siehe Interview in diesem Heft. Vgl. z.B. Hans-Jürgen Urban, Die Mosaiklinke, Blätter für deutsche und internationale Politik (5), S. 231-238 Vgl. Brinkmann, Ulrich/Choi, Hae-Lin/Detje, Richard/Dörre, Klaus/Holst, Hajo/Karakayali, Serhat/Schmalstieg, Catharina (2008), Strategic Unionism: Aus der Krise zur Erneuerung? Umrisse eines Forschungsprogramms, Wiesbaden.

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ger zu verlieren haben und weil sozialpartnerschaftlich eingestellte Betriebsräte oft nicht vorhanden sind, die sich gegen Unruhe im Betrieb stellen könnten. Oft ist das Kräfteverhältnis zwischen Gewerkschaftsapparaten und lokalen Aktivisten für letztere günstiger. In einem stabilen Flächenvertragssystem sind Gewerkschafter in einem ständigen Verhandlungsaustausch mit dem Arbeitgeber. Sie haben immer einen großen Informationsvorsprung vor (kämpferischen) Basis-Mitgliedern und tendieren dazu, bereits nur solche Forderungen aufzustellen, die aus ihrer Sicht auch »realistisch« sind und ohne großes Kräftemessen mit dem Arbeitgeber erfüllt werden können. Und sie sind oft das einzige Medium, durch das eine Vernetzung etwa zu anderen Betrieben hergestellt wird. In den anderen zu beobachtenden Häuserkämpfen stehen sich aktive Belegschaftskerne und das Management direkt gegenüber. Die Gewerkschaft wird dann von den kämpferischen Betriebskernen hereingerufen, um den Konflikt zu führen, und hat dabei natürlich auch einen enormen Informations- und Erfahrungsvorsprung. Gleichzeitig gibt es aber weniger etablierte Strukturen und Pfade, auf die eine sozialpartnerschaftliche Tradition zurückgreifen kann. Insofern kann die Gestaltungsfähigkeit von kämpferischen Kernen in den Betrieben gegenüber der Gewerkschaft höher sein. Betriebliche Aktiven-Kerne können die Erfahrung machen, dass ihre kämpferische Initiative unmittelbar Erfolge mit sich bringt. Dies steht durchaus im Kontrast zu den Erfahrungen in den großen Flächentarifvertragsbewegungen, wo die kämpferische oder passive Haltung der Beschäftigten einzelner Betriebe oft nur sehr mittelbar einen Effekt auf das Gesamtergebnis hat. Die Kollegen können in diesen Häuserkämpfen sehr stark beteiligt sein und in Form von betrieblichen Tarifkommissionen auch direkt sehr weitgehend das Tarifbewegungsgeschehen kontrollieren. Auf diese Weise können sie direkt den Erfolg ihrer Arbeit in einer erfolgreichen Mobilisierung und schließlich in Bezug auf materielle Durchschlagskraft ihrer Bewegung erleben. Dies kann eine sehr hohe Motivation der neuen Mitglieder und eine Positivspirale von Erfolg zu Beteiligung und Aktivität zu mehr Erfolg mit sich bringen. So kann etwa in der größten Uniklinik Europas, in der Charité, beobachtet werden, dass die Gewerkschaftsgruppe dort systematisch die Streiks nutzte, um neue Aktivisten zu gewinnen, und in der Folge diese Aktivisten auf die Listen für die Betriebsratswahlen setzte. Während normalerweise die Betriebsräte sich an enge und langjährige Kooperation mit der Geschäftsleitung gewöhnen und es dazu viele institutionelle Anreize gibt, kann hier beobachtet werden, dass eine kämpferische Basisgruppe nach den Streiks 2006 und 2011 jeweils die Betriebsratswahlen 2008 und 2012 nutze, um zentrale Streikaktive nach sehr kurzer Zeit auf die Liste für die Freistellungen zu setzen. D. h. während normalerweise die Sozialpartnerschaft und ihre Institutionen die

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Tarifbewegungen prägen und nur in Ausnahmefällen eine kämpferische Politik durchbrechen kann, kann hier ein kämpferischer Kern im Konflikt neue Aktive gewinnen und dann die Institution Betriebsrat mit diesen umbauen. 9 Allerdings ist die Voraussetzung für die Herausbildung solcher betrieblichen Kerne, dass die Beschäftigten über strukturelle Macht verfügen: entweder durch eine günstige Arbeitsmarktsituation oder durch Produktionsmacht aus dem Produktionsprozess heraus und/oder dass es ein öffentliches Interesse an dem Produkt (Altenpflege, Kitas, Reinigungskräfte) gibt. Gerade in Niedriglohnbereichen ohne größere Qualifikation kann die Zerschlagung der Tarifstrukturen Organisierung auf Dauer sehr stark behindern.10 Günstige konjunkturelle und Produktionsmacht-Konstellationen erkennen und nutzen.

Klassenbewusstsein besteht vereinfacht gesagt aus zwei Bestandteilen: einmal aus dem Selbstbewusstsein und dem Selbstvertrauen, als Klasse eine bedeutende Kraft darzustellen, zum anderen aus der radikalen und kompromisslosen Ablehnung des Kapitalismus als ökonomische und politische Ordnung. Selbstbewusstsein und Kapitalismuskritik wachsen in Zeiten großer Kämpfe, in denen die Klasse selbst Erfahrungen mit den Institutionen des Kapitals macht. Dann machen auch Interpretationsangebote von sozialistischen oder antikapitalistischen Organisationen plötzlich Sinn. Selbstbewusstsein ist also eine unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung von Klassenbewusstsein. Voraussetzung für eine kämpferische Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung jenseits der Sozialpartnerschaft ist, dass sich Kerne von klassenbewussten Lohnabhängigen neu entwickeln, und dazu bedarf es Beschäftigter, die sich mächtig fühlen, selbst etwas zu erstreiten, statt auf die stellvertreterische Aktivität anderer zu hoffen. Die Frage der objektiven, strukturellen Macht der Beschäftigten und ob sie diese auch als solche wahrnehmen, spielt dabei eine entscheidende Rolle. Im Folgenden sollen zwei Möglichkeiten der Machterschließung diskutiert werden. Eine basiert darauf, dass die Dynamik des Kapitalismus ständig die Produktion 9

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Dies ist durchaus konfliktiv. In der Charité hält die verdi-Liste knapp die absolute Mehrheit. Alle anderen Listen sind laut Aussage eines Aktivisten ehemalige verdi oder ötv-Betriebsräte, die von der Aktivistengruppe an dem einen oder anderen Punkt nicht mehr erneut aufgestellt wurden. Ein verdi-Sekretär erzählte etwa von der Situation der Volkshochschulen. Diese seien früher Teil des öffentlichen Dienstes gewesen. Heute sind sie einer privaten Konkurrenz ausgeliefert. Volkshochschulkurse verlangen keine besonders hohe Qualifikation und keine großen Produktionsabläufe. Dementsprechend kann hier ein krasser Unterbietungswettbewerb von neuen Konkurren ten stattfinden. Die Volkshochschulen sind diesem schutzlos ausgeliefert und die Beschäftigten dort sind zwar teilweise gut organisiert, können sich aber faktisch nicht wehren, weil sonst der Arbeitgeber einfach insolvent geht. Hier müsste eine politische Reregulierung erfolgen, die aber nicht in Sicht ist.

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revolutioniert und dabei alte strukturelle Arbeitermacht schwächt, aber gleichzeitig auch neue, potenzielle Machstrukturen hervorbringt. Die zweite basiert darauf, dass Produktion insbesondere von Dienstleistungen darauf beruht, dass es einen Abnehmer, einen »Kunden« gibt. Auch dieses Verhältnis ermöglicht eine Politisierung und Erschließung von Machtpotenzialen für die Beschäftigten. Aus marxistischer Perspektive sollte sich der Entwurf einer Strategie zur »Revitalisierung« der Gewerkschaften nicht an den bestehenden Gewerkschaftsstrukturen, sondern an den Machtpotenzialen von Beschäftigtengruppen und den sich daraus ergebenden Handlungsmöglichkeiten orientieren. Neben einem konjunkturellen und arbeitsmarktbedingten Machtpotenzial sind vor allem diejenigen nicht direkt konjunkturabhängigen Machtpotenziale, die sich aus der Stellung im Produktionsprozess ergeben, von großer Relevanz. 11 Erstens sind neue Industrien entstanden, bei denen Arbeitergruppen Produktionsmacht erlangen können. Beispielsweise zählt etwa die Windenergiebranche im Jahr 2012 101.000 Beschäftigten, das ist seit 2003 mehr als eine Verdoppelung. 12 Hier könnten Gewerkschaften versuchen, systematisch Fuß zu fassen, und teilweise passiert dies auch im Rahmen von Organizing-Kampagnen. 13 Zweitens gibt es Industrien und Unternehmen, die schon lange existieren, bei denen aber sozialpartnerschaftliche Traditionen der jeweiligen Gewerkschaften den Einsatz von Produktionsmacht verhindert hat. Lange haben hier Beschäftigte systematische Angriffswellen erleiden müssen, bis schließlich Gewerkschaften ihre Produktionsmacht eingesetzt haben. Die systematische Erschließung dieser Bereiche würde enorme Potenziale mit sich bringen. Hierzu zählt der gesamte Verkehrssektor, die Eisenbahnen, aber auch die Flughäfen. Wenn Globalisierung die immer größere Beschleunigung des Waren- und Kapitalumschlags bedeutet, dann setzt diese eine territorial festgesetzte Infrastruktur des Verkehrs voraus. Diejenigen Arbeitergruppen, die diese Infrastruktur in Gang halten und den Personen- und Warenverkehr organisieren, haben eine Schlüsselstellung. Die wach11

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Siehe Diskussion um Produktionsmacht bei Silver im Beitrag »Über Führung und Basis« in diesem Heft: »Produktionsmacht dagegen entwickeln Arbeiterinnen und Arbeiter in hochintegrier ten Produktionsprozessen, die durch örtlich begrenzte Arbeitsniederlegungen an Schlüsselstellen in einem Umfang gestört werden können, der weit über die Arbeitsniederlegung selbst hinausgeht. Diese Macht zeigt sich, wenn ganze Fließbänder durch Arbeitsniederlegungen gestoppt und ganze Konzerne, die von just-in-time-Zulieferung abhängen, durch Eisenbahnstreiks zum Stillstand gebracht werden.« Silver, Beverly: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Assoziation A Berlin 2003. Meldung Bundesverband Windenergie 27.3.2013 http://www.wind-energie.de/infocenter/meldungen/2012/aufwind-bei-beschaeftigtenzahl-der-windbranche. Im Jahr 2012 gab es die erste Streikbewegung aus dem Organizing-Projekt der IG Metall heraus in der Windenergiebranche. Nach zwei Warnstreiks mit großer Beteiligung kam es zu einem ersten Tarifvertrag in dieser Branche.

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senden Konflikte bei den Eisenbahnern aber auch den Flugbegleitern, die 2012 erstmalig die Lufthansa sehr effektiv bestreikten, sind dafür ein Hinweis. Dabei muss es nicht unbedingt um Transportarbeiter im engeren Sinne geben. So haben etwa die Fluglotsen oder die Vorfeldarbeiter, aber auch die Sicherheitsdienste am Flughafen die gleiche Fähigkeit, die Transportwege empfindlich zu stören. Der Streik im Wach und Sicherheitsgewerbe an den Flughäfen in NRW ist dafür ein interessantes Beispiel. Die Branche ist insgesamt sehr stark von prekärer Beschäftigung betroffen. Wenige hundert Beschäftigte im Flughafenbereich nutzten nun ihre Produktionsmacht sehr effektiv, um zu beweisen, welche Stellung sie in dem Produktionsprozess haben, in dem sie an den einzelnen Streiktagen den Flugverkehr empfindlich stören konnten. Mit einer guten Organisierung dieser Schlüsselbeschäftigten konnte wiederum der Flächentarifvertrag im Sicherheitsgewerbe in NRW mit mehreren zehntausend Beschäftigten substanziell verbessert werden, obwohl der Organisationsgrad in der Fläche sehr gering ist. Die Produktionsmacht in dem Teil der Flughäfen konnte also erfolgreich auf alle Sicherheitsbeschäftigten ausgeweitet werden. Drittens gibt es eine Entwicklung, innerhalb bestehender Industrien und Dienstleistungssektoren durch neue Produktionsketten neue potenziell mächtige Akteure herauszubilden. Hierzu zählt etwa die Entwicklung von Amazon. War der Buchhandel noch vor wenigen Jahren hauptsächlich an Buchläden, oft kleine eigenständige Buchhandlungen gebunden, so hat sich hier eine enorme Konzentration ergeben, die neue produktionsmächtige Arbeitergruppen erschaffen hat. Hatte etwa eine Angestellte in einer einzelnen Buchhandlung früher keinerlei Produktionsmacht, weil sie meist direkt von ihrem Buchladen angestellt war, so haben heute Arbeiter in den Amazon-Versandfabriken enorme Produktionsmacht erhalten. Verlief der Weg des Buches von der Herstellung zum Kunden früher über eine Ladenstruktur, in der der einzelne Beschäftigte höchstens seinen eigenen Buchladen bestreiken konnte, so verfügen heute 9000 festangestellte Arbeiter in den Versandfabriken von Amazon über die Macht, den Umsatz von 9 Milliarden Dollar jährlich zu bedrohen.14 Das gleiche gilt für enorm konzentrierte Betriebe mit Einzelhandelsfilialen. Seit 1962 die ersten Discounter aufmachten, sind sie zu riesigen Konzernen angewachsen. Zuvor war die Lebensmittelversorgung ebenso von kleinen, oft selbstständigen Märkten geprägt. Heute sieht dies anders aus: »Die Zahl der Discounter ist bis Anfang 2012 in Deutschland auf rund 16.300 Filialen gestiegen. Das Umsatzniveau erreichte dabei 60,5 Mrd. EUR. Damit gibt es inzwischen mehr Discounter als traditionelle Supermärkte (11.300 Filialen über 100 qm). Jeder Haushalt hierzulande kann inzwischen mit dem Auto im Durchschnitt 3 ver14

Amazon hat seinen Umsatz innerhalb von nur zwei Jahren um 60 Prozent gesteigert. (Quelle: »Riesige Amazon-Umsätze überraschen Analysten.«, Die Welt 5.2.2013)

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schiedene Discounter innerhalb von 10 Minuten erreichen.« 15 Der Marktanteil am Lebensmittelkonsum allein der Discounter liegt bei über 40 Prozent. Damit entsteht ein hochkomplexes System, bei dem alle Räder ineinandergreifen müssen. Jeden Tag müssen Lebensmittel frisch angeliefert werden. Die großen Ketten achten genau auf die Kundenströme und organisieren den Personalbestand dementsprechend. Auch hier haben Beschäftigte objektiv an Produktionsmacht gewonnen. Früher, meist in Familienbetrieben organisierte Beschäftigung mit direkter Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber ist Riesenkonzernen mit hunderttausenden Beschäftigten gewichen, wo insbesondere diejenigen, die die Versorgungslogistik kontrollieren (Lager, Transport, Verwaltung und Abrechnung der Warenströme) enorme Produktionsmacht besitzen. Viertens gibt es Restrukturierungen in Unternehmen, wie Privatisierungen oder die Einführung von internen Marktmechanismen, die oft bewusst dazu eingeführt wurden, um die Gewerkschaften in diesen Bereichen zu schwächen oder Konkurrenz dort einzuführen, wo zuvor ein Monopol oder ein übergreifender Flächentarifvertrag eine Konkurrenz verhinderte. Diese Restrukturierungen haben aber oft eine widersprüchliche Wirkung auf die Machtpotenziale der Beschäftigten. Früher gab es bei der Post ein Zentrallager für Pakete in Frankfurt. Wenn dieses gestreikt hat, lag alles lahm. Heute gibt es mehrere regionale Lager, die im Zweifelsfall auch untereinander aushelfen könnten, sollte eines ausfallen. Die alte Machtposition des Zentrallagers besteht also nicht mehr. Das Lager ist jetzt nur noch eines von mehreren. Allerdings ist es mittlerweile so, dass alles über ein Barcodesystem ausgeliefert wird. Wenn dieses ausfällt, etwa durch einen Streik beim IT-Service, bricht sofort das gesamte System zusammen. Solche Neuzusammensetzungen der Produktionsmacht gibt es viele, auch dort, wo man sie nicht vermutet: In Krankenhäusern gab es noch Anfang der 1990er Jahre Tagespauschalen für jeden Patienten. Die Liegezeiten waren fast doppelt so lang. Wenn Krankenhäuser bestreikt wurden, dann ist der Arbeiterbereich (Kantine, Wäscherei etc.) in den Streik getreten und die Beschäftigten in der Pflege sind auf Sonntagschicht ausgedünnt worden. Die Patienten waren da und konnten auch nicht verlegt werden. Der ökonomische Schaden für den Arbeitgeber war gleich null. Der Streik hatte eher eine politische Bedeutung. Heutzutage bedeutet das DRG-System, dass jede Leistung einzeln mit einer Fallpauschale belegt wird. Die Liegezeiten haben sich halbiert, so dass Patienten schneller entlassen werden (bis hin zur sog. »blutigen«, vorzeitigen Entlassung). Wenn jetzt aber Pflegekräfte streiken und per Notdienstvereinbarung Operationen oder Patienten(neu)belegung verhindern, dann hat dies einen enormen Ef15

Axel Springer Marktanalyse: Trend topic, September 2012. 13 Seiten, S. 5

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fekt auf die Einnahmen des jeweiligen Krankenhauses. Auf diese Weise konnten die Pflegekräfte in der Charité innerhalb von fünf Tagen Streik 1500 von 3300 Betten sperren und der Klinik einen enormen finanziellen Schaden zufügen. Nach fünf Tagen gab die Geschäftsleitung wesentlichen Forderungen nach. Das heißt, die Ökonomisierung und Veränderung der Produktionsabläufe kann neue Arbeitermacht schaffen und die Zerstörung des Flächentarifvertrages kann dazu führen, dass kämpferische Betriebskerne sich diese Macht dezentral erschließen. Sich Macht zu erschließen ist aber keineswegs ein Automatismus, der sich aus dem Potenzial einfach ableiten lässt. Ein Beispiel aus der Berliner Charité: Bei der Berliner Charité wurde der Flächentarifvertrag von der Unternehmensleitung im Jahr 2005 verlassen, ein Absenkungstarifvertrag zur Verhandlung gestellt, eine Service-Gesellschaft mit dem ehemalig kampfstarken Arbeiterbereich ausgegründet und eine Ausgründung der neu einzustellenden Pflegekräfte angestrebt. […] (d)ie Geschäftsleitung überzog ihr Handeln gerade angesichts der Schwäche gewerkschaftlicher Akteure so weit, dass sie diesen überraschende Handlungsspielräume eröffnete. Die Geschäftsleitung hatte im Vorfeld der Tarifverhandlungen das Personal der Operationssäle (OPs) so restrukturiert, dass diese nicht mehr einem OP zugeordnet, sondern übergreifend als Springer eingeteilt waren, so dass wenig hochqualifiziertes Personal quasi in permanenter Springertätigkeit die OPs am Laufen hielt. Diese Veränderung des Arbeitsprozesses rekonstituierte die strukturelle Macht der Beschäftigten. Allerdings kann daraus keine direkte Ableitung von Handlungsstrategien oder realem Handeln erfolgen. Denn die Beschäftigten erkannten zu diesem Zeitpunkt diese latente strukturelle Macht noch nicht – sie dachten eher, dass sie immer stärker überarbeitet wären.16 Erst als die Geschäftsleitung die schon sehr weitgehende Konzessionsbereitschaft von ver.di so strapazierte, dass eine kleine Gruppe von AktivistInnen aus einer der drei Kliniken sich mit einer Ablehnung der Zuge ständnisse durchsetzen konnte, eskalierte der Konflikt. Diese Gruppe setzte auf Konflikt – ebenfalls zunächst, ohne die Veränderung der Machtressourcen zu kennen. Sie argumentierten aus grundsätzlicher Perspektive, die Konzessionsbereitschaft 16

Ein gutes Bild der Situation bietet ein Interview mit einem Beschäftigten aus dem OP-Bereich im Jahre 2006 vor dem Streik: » ›Ich bin körperlich fit, laufe Marathon, aber auch ich kann bald einfach nicht mehr‹, sagt Mark (Name von der Redaktion geändert), der seit vier Jahren als OPPfleger in Europas größter Uniklinik arbeitet. Acht von 20 Kollegen hätten seither dort aufge hört, aber keine einzige Stelle sei neu besetzt worden, berichtet er. Das Arbeitsvolumen habe sich hingegen nicht reduziert. Im Gegenteil: Durch die seit dem 1.Mai geltenden neuen Dienst pläne haben sich die Bedingungen, unter denen die Bereitschaftsdienste abgeleistet werden müssen, deutlich verschlechtert. ›Während man früher zu zweit in Bereitschaft war, macht das heute einer‹, erklärt Mark. Außerdem müßten die Pfleger nun in den OPs anderer Fachgebiete aushelfen. Das führt dazu, daß während des ›Bereitschaftsdienstes‹, der zu 65 Prozent des tariflichen Stundensatzes entlohnt wird, die meiste Zeit gearbeitet wird.« (Behruzi 2006) Hier wird deutlich, dass die Beschäftigten in diesem Bereich dies zunächst einfach nur als weitere, zusätzliche Belas tung wahrgenommen haben, ohne allerdings die »revolutionäre Unterseite des Elends« – nämlich ihre gestiegene strukturelle Macht – zu erkennen.

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sei zu weit gegangen. Aber im Laufe der Streikvorbereitungen suchten sie nach Machtressourcen und fanden die OP-Kräfte und ihre besondere Situation, was ihnen einen »halbwegs erfolgreichen« Streik durch Lahmlegung der OPs ermöglichte – auch aus einer Minderheitenposition der kämpferischen Elemente innerhalb der Belegschaft und in Kontrast zur bis dato eher sozialpartnerschaftlichen vorherrschenden Tradition heraus.17

Das heißt, solche Machtzusammensetzungen führen nicht automatisch zu mehr Macht. Macht muss erkannt und systematisch erschlossen werden. Wenn dies nicht geschieht, können die immer neuen Restrukturierungen des Arbeitsprozesses auch einfach von einer demoralisierten Belegschaft erduldet werden. Streiks und Arbeitskämpfe vergesellschaften

Ein weiteres Machtpotenzial der Beschäftigten besteht darin, das Verhältnis zum Kunden bzw. zum Abnehmer der Ware zum Ausgangspunkt einer Mobilisierungsstrategie zu machen. Streiks werden einerseits durch den ökonomischen Schaden gewonnen, die ein Streik auf den Arbeitgeber ausübt. Allerdings werden sie auch in der Öffentlichkeit ausgefochten. Selbst bei Streiks etwa in der Metallund Elektroindustrie spielt das Ringen um die Öffentlichkeit, das heißt um Zustimmung oder Ablehnung eine wichtige Rolle. Sie ist ein »politisches« Element in jedem Streik, das die Entwicklung der Kräfteverhältnisse in einem Kampf mit beeinflussen kann. Ein »negatives« Beispiel aus der jüngsten Geschichte könnte der Streik um die Einführung der 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland 2003 sein. Damals ist der betriebliche Kampf um die 35-Stunden-Woche im Osten nicht als gesellschaftlicher Kampf gegen Arbeitslosigkeit und für mehr Jobs im Osten mit einer breiten Kampagne vorbereitet worden. Stattdessen hat man sich auf betriebliche Macht ohne politische Mobilisierung verlassen und wurde dann von Betriebsratsvorsitzenden der großen Automobilindustrie im Westen hängen gelassen. 18 Eine breite gesellschaftliche Kampagne mit der Aussage »die 35-Stunden-Woche schafft Jobs« wäre da eine Möglichkeit gewesen. Stattdessen gelang es dem Un17

18

Unveröffentlichtes Manuskript, Kurzfassung findet sich in: Nachtwey, Oliver/Wolf, Luigi: »Strategisches Handlungsvermögens und gewerkschaftliche Erneuerung im deutschen Modell industrieller Beziehungen« in Schmalz, Stefan/ Dörre,Klaus: Comeback der Gewerkschaften? Machtressourcen, innovative Praktiken, internationale Perspektiven, Campus-Verlag 2013 So berichtete die Welt vom 26.6.2003 über die Betriebsratsvorsitzenden der großen westdeutschen Automobilwerke: "... Schon bei der Betriebsrätekonferenz am Montag hatte der Gesamtbetriebsratschef von Daimler-Chrysler, Erich Klemm, die Streikstrategie in Ostdeutschland ungewöhnlich deutlich kritisiert. Klemm soll den für den Streik verantwortlichen zweite Vorsitzenden der IG Metall Jürgen Peters einen "tarifpolitischen Geisterfahrer" genannt haben. Um den Streik zu Ende zu bringen, hatte der Gesamtbetriebsratsvorsitzende von VW, Klaus Volkert, einen Austritt des Konzerns aus dem Arbeitgeberverband Sachsen ins Gespräch gebracht...."

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ternehmerlager und den Medien, die Interessen der Beschäftigten nach einer Verkürzung der Arbeitszeit sogar als potenzielle Gefahr für Arbeitsplätze und Investitionen in Ostdeutschland darzustellen und damit die Arbeitslosen gegen die Beschäftigten zu mobilisieren. Dass es auch anders hätte gehen können, lässt ein Blick auf das darauffolgende Jahr vermuten. Der Streik für die 35-Stunden-Woche im Osten begann im Juni 2003. Ein Jahr später, im August 2004, zeigte sich, welche Dynamik in der Bewegung der Arbeitslosen in den Hartz-IV-Demonstrationen insbesondere in Ostdeutschland steckte. Mit einer langfristig angelegten Interaktion aus politisch-gesellschaftlicher Mobilisierung gegen Arbeitslosigkeit und der betrieblichen Forderung nach einer 35-Stunden-Woche hätte die Isolierung der Streiks in der Bevölkerung verhindert werden können und wahrscheinlich wäre es den West-Betriebsräten auch schwerer gefallen, sich der Dynamik zu entziehen. Ein ungewöhnliches Beispiel, wie selbst in Bereichen von Personenbezogenen Dienstleistungen vom Gebrauchswert der Arbeit her eine gewisse Kampfperspektive abgeleitet werden kann, stellt das Beispiel der Schlecker-Frauen in Baden-Württemberg dar. Dort ist der Gebrauchswert der Dienstleistung der Schlecker-Frauen ein Ausgangspunkt für eine Weiterführung des Kampfes geworden. Nach der Pleite versuchten sie mit Hilfe eines Genossenschaftssystems die Bevölkerung und die Politik zu mobilisieren, um ihren Betrieb als Genossenschaft weiterzuführen. Systematisch organisieren die Schlecker-Frauen Solidaritätsnetzwerke und versuchen, diese für die Unterstützung ihrer Genossenschaften zu gewinnen. DER SPIEGEL beschreibt dies in der Kommune Stetten in Baden-Württemberg, einem 5000-Einwohner-Ort, wo eine Bürgerversammlung für die Gründung der Genossenschaft vor Ort stattfand: »200 Einwohner haben sich dort im Versammlungsraum eingefunden. Ein Genossenschaftsberater sagt, es sollten mindestens 200 ›Stützlis‹, sogenannte Unterstützungsmarken für die Genossenschaft verkauft werden. ›Das sind Wertmünzen zu 50 oder 100 Euro. […] Ihren Stützli können Sie dann in drei Jahren als Warengutschein einlösen.‹ Und wer Teilhaber werde, könne zum Beispiel auch einen Bringservice nutzen. ›Diese Damen verkaufen auch ein ganz großes Stück Menschlichkeit‹, sagt Gröll und deutet zu den vier Verkäuferinnen. Die Zuhörer klatschen.« Hier geht es jetzt nicht darum, wie erfolgsversprechend das Modell einer Genossenschaft ist. 19 Uns geht es an dieser Stelle darum zu zeigen, dass der Gebrauchswert der Dienstleistung für die Bewohner des Ortes – in diesem Fall des einzigen Ladens in einem Ort von 5000 Einwohnern – ein Ausgangspunkt der Netzwerk- und Organisierungsarbeit, also von Organisationsmacht in die Gesellschaft hinein sein kann. 19

Eine kritische Würdigung des Genossenschaftskonzeptes findet sich bei Jürgen Ehlers Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit in dieser Ausgabe.

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Vor allem gilt das Potenzial und die Notwendigkeit für die Politisierung von Streiks natürlich für Streiks im öffentlichen Dienst und bei personenbezogenen sozialen Dienstleistungen. Bernd Riexinger, Parteivorsitzender der LINKEN und ehemals Geschäftsführer von ver.di in Stuttgart, hat dies in seiner Rede auf der Konferenz »Erneuerung durch Streik« auf den Punkt gebracht: Wie schon erwähnt, sind Streiks im öffentlichen Dienst immer eine öffentliche Angelegenheit und damit per se eine politische Auseinandersetzung. Es geht um die Verwendung von Steuergeldern, den Stellenwert der öffentlichen Daseinsvorsorge, um die Bedeutung öffentlicher Dienstleistungen und der Beschäftigten im öffentlichen Sektor. Deshalb müssen diese Arbeitskämpfe, sollen sie erfolgreich sein, immer im öffentlichen Raum geführt werden. Streikziele und die Notwendigkeit des Streiks müssen der Bevölkerung vermittelt werden. Es schwächt den Streik, wenn Eltern über Gebühr die streikenden Erzieher/innen unter Druck setzen, sich Bürger/innen massenhaft über wachsende Müllberge beschweren oder Pflegekräfte im Krankenhaus beschuldigt werden, Leib und Leben der Patienten/innen aufs Spiel zu setzen.

Dabei geht es sowohl um die Legitimität des Streiks bei den Streikenden selbst, als auch in der Gesellschaft. Dies hängt aber gerade bei sozialen Dienstleistungen oft miteinander zusammen. Denn oft wird die Identifikation der Beschäftigten mit ihrem Beruf, also die besondere Verantwortung, der (oft) weiblichen Pflegekräfte, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer für ihre Patienten, Schüler, zu betreuenden Kinder von den jeweiligen Dienstherren ausgenutzt, um Akzeptanz bzw. Erduldung von immer schlimmeren Arbeitsbedingungen zu schaffen. Streiks können in diesen Sektoren demobilisiert werden, wenn etwa die Beschäftigten das Gefühl haben, die ihnen anvertrauten Personen im Stich zu lassen. Andererseits bieten Streiks und Arbeitskämpfe in diesen Sektoren aber auch die Möglichkeit, gewerkschaftliche Kämpfe als Kämpfe für die Interessen der Patienten, Schülerinnen und zu betreuenden Kinder in die Gesellschaft hineinzutragen und auch auf diese Weise Akzeptanz für die Ziele der Streikenden zu erreichen. Dies kann natürlich dann besonders gut gelingen, wenn die Gewerkschaft neben den Lohnforderungen etwa auch versucht, die qualitativen Forderungen der Beschäftigten aufzunehmen. Im Pflegebereich, in Krankenhäusern oder in den Kindertagesstädten ist etwa die Forderung nach einer ausreichenden Personalbesetzung eine der wichtigsten Anliegen der Beschäftigten – einerseits, weil die Arbeit in den letzten Jahren immer mehr verdichtet wurde, so dass Arbeitsunfähigkeit oder Burnout massiv zugenommen haben, und andererseits aber auch, weil die Arbeit mittlerweile so verdichtet ist, dass die Pflegekräfte oder auch Erzieherinnen das Gefühl haben, sie könnten ihren Job nicht mehr richtig im Interesse der ihnen anvertrauten Personen leisten. Eine Aufnahme dieser For-

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derungen durch die Gewerkschaft könnte eine wichtige strategische Bedeutung erhalten. Ein interessantes Beispiel für eine solche Herangehensweise ist der bevorstehende Tarifkonflikt an der Charité in Berlin. Dort hat sich die Betriebsgruppe von ver.di vorgenommen, erstmals in der Bundesrepublik eine Tarifbewegung gegen den Personalmangel in Krankenhäusern zu führen. Die Kernforderungen sind dabei feste Quoten von Beschäftigten zu Patienten für Intensiv- und Normalstationspflege. Keine Beschäftigte soll zukünftig mehr »eine Nacht allein« auf Station arbeiten. Zur Durchsetzung soll der Arbeitgeber zu drastischen Strafzahlungen an die Arbeitenden verpflichtet werden, wenn unterhalb dieser Standards gearbeitet wird. Diese qualitative Forderung hat das Potenzial, ein Bündnis von Beschäftigten und Patienten/Bürgern zu ermöglichen. Denn wenn das systematische Unterbesetzen von Pflegekräften so teuer wird, dass es für den Arbeitgeber wieder billiger wird, mehr festes Personal einzustellen, profitieren Patienten, weil die Pflegekraft wieder mehr Zeit für sie hat – sei es nun für das sichere Händewaschen oder ein beruhigendes Gespräch am Krankenbett. Wegen Personalmangel, Arbeitsverdichtung oder steigendem DRG-System-bedingtem Dokumentationsaufwand nicht mehr genügend Zeit für umfassende, ganzheitliche Pflege zu haben, wird in allen Umfragen und Untersuchungen über die Arbeitszufriedenheit als einer der Hauptgründe für Unzufriedenheit im Beruf unter Pflegekräften angegeben.20 Personalmangel zum Gegenstand einer Tarifbewegung zu machen, hat, wie wohl kaum ein anderes Thema, das Potenzial, den Arbeitsethos der Pflegekräfte anzusprechen, und könnte gleichzeitig zum Vorbild für andere sorgetätige Beschäftigte und ihre Gewerkschaften werden. Auf diese Weise in einer Tarifbewegung, im Streik den Arbeitsethos der Beschäftigten zu mobilisieren, funktioniert also nicht nur nach innen. Es kann auch zu den Patienten, den Medien – der Gesellschaft gegenüber seine Wirkung entfalten. Der ökonomische Schaden für die Klinik und die Beeinträchtigung des öffentlichen Lebens durch den Streik verschafft diesem eine sichere mediale Aufmerksamkeit und damit die Chance, diese Form der kollektiven Artikulation auf der Mikro-Ebene für einen Hegemoniekampf in der Gesellschaft zu nutzen. Dabei ist gesundheitspolitische Hegemonie keine Voraussetzung für das Verändern von Kräfteverhältnissen. Sie ist aber auch kein Reflex des ökonomischen Kampfes. Die machtvolle Selbstmobilisierung der Streikenden schafft die Arena, in der ein Wechselspiel zwischen Beschäftigten- und universellen Gesundheitsinteressen der Patienten bzw. der Gesamtgesellschaft sich langsam wechselseitig 20

Bartholomeyczik, Sabine, Elke Donath, Sascha Schmidt, Monika Rieger und Elisabeth Berger, 2008: Arbeitsbedingungen im Krankenhaus, Dortmund/Berlin/Dresden

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stützen und entfalten können. Dabei zu denken, dass sowohl Beschäftigte als auch »die Öffentlichkeit« erst in einer wohl durchdachten PR-Kampagne gewonnen werden müssten, stellt die Sache auf den Kopf. Die authentische Artikulation der Beschäftigteninteressen schafft – gerade weil den Beschäftigten ihre Arbeit und die Patienten am Herzen liegen – die Grundlage einer universellen Artikulation auch allgemeiner Bürger-, Patienten- und Betroffeneninteressen. Zumindest hatten die Streikenden der Charité im Jahr 2011 keine ausgefeilte Öffentlichkeitsstrategie, sondern überzeugten sich und die Medien, die generell sehr positiv berichteten, durch ihre authentische Selbstmobilisierung. Der Streik im Nahverkehr in Baden-Württemberg 2012 ist ein weiteres Beispiel, wie Streikmacht klug mit einer guten Öffentlichkeitsarbeit verbunden werden kann. Denn in diesem Bereich gibt es ein Problem mit der traditionellen Streikstrategie. Bernd Riexinger beschreibt das folgendermaßen: Nun sind Streiks bei der Straßenbahn einerseits sehr wirkungsvoll, weil kein Bus und keine Bahn aus den Betriebshöfen rausfährt, aber sie üben keinen ökonomischen Druck auf den Eigentümer aus. Öffentliche Verkehrsbetriebe sind in der Regel Zuschussbetriebe und der kaufmännische Direktor freut sich, dass ihm die Gewerkschaft die Gehälter bezahlt, und dauert der Konflikt länger, gibt es größeren Ärger mit den Fahrgästen, die nicht zur Arbeit oder zur Schule kommen.

Deswegen entwickelten die Straßenbahnfahrer eine neue Streiktaktik. Der Betriebsrat Wolfgang Hoepfner beschreibt diese Streiktaktik so: Die Fahrer haben nur tageweise gestreikt, obwohl die Kollegen zum wochenlangen Vollstreik bereit waren. Stattdessen haben wir Bereiche dauerhaft bestreikt, die den Verkehr nicht lahmlegen und den Arbeitgebern gleichzeitig finanziell wehtun. Dauerhaft gestreikt haben vor allem die Arbeiter in den Werkstätten und Kunden-Centern, die Fahrkartenkontrolleure und der Automatendienst. Dadurch konnten die Leute zwar fahren, aber oft keine Fahrkarten kaufen, und sie wussten, dass sie nicht kontrolliert werden. Außerdem sind die Automaten bald ausgefallen, weil die Münzspeicher voll waren und sie nicht gewartet wurden.«21

Auf diese Weise konnte die Streikmacht so entfaltet werden, dass sie einerseits dem Arbeitgeber empfindliche Gewinneinbußen einbrockte, die Streikkasse der Gewerkschaft schonte und gleichzeitig die Kunden und Bürger in diesem Fall möglichst mit einbezogen hat.

21

»Die Arbeitgeber gerieten in Panik«, Interview Wolfgang Hoepfner, Betriebsrat SSB in Stuttgart. http://marx21.de/content/view/1584/32/

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Aktivierung durch Streik – Der Nutzen demokratischer und partizipativer Streikformen

Die »Entdeckung« von Produktionsmacht im Betrieb, die Aktivierung und Politisierung der Belegschaft gegenüber der Gesellschaft und den Kunden und generell eine kämpferische und nicht sozialpartnerschaftliche Politik erfordert die Aktivierung der Mitgliedschaft für Arbeitskämpfe. Dies ist ein neuralgischer Punkt. Sozialpartnerschaftliche und stellvertreterische Gewerkschaftspolitik stützt sich bei ihren Verfechtern meist auf die Ansicht, die Basis würde gar nicht aktiviert werden wollen und deswegen sei gar keine andere Politik als die des Stellvertretertums möglich. Im Kern einer Strategiediskussion muss also die Frage stehen, wie die Basis aktiviert werden kann. Auf der Konferenz »Erneuerung durch Streik« in Stuttgart im März 2013 wurden wichtige Elemente einer solchen partizipativen Kultur dargestellt, die versucht, durch Arbeitskämpfe eine aktivierende, partizipative Gewerkschaftskultur zu schaffen. Die Studie von Catharina Schmalstieg »Partizipative Arbeitskämpfe, neue Streikformen, höhere Streikfähigkeit?« über die partizipativen Streikformen, die der Bezirk von ver.di-Stuttgart entwickelt hat, arbeitet wesentliche Elemente einer demokratischen Streikführung heraus.22 Besonders wohltuend ist dabei die Abgrenzung zur Pseudopartizipation. Denn mittlerweile ist rhetorisch jede Gewerkschaft auf große Partizipation festgelegt. Doch können darunter sehr unterschiedliche Dinge verstanden werden. So beschreibt Schmalstieg etwa, dass die Mitgliederbefragung zu abgeschlossenen Tarifergebnissen kaum als echte Partizipation behandelt werden kann, da die Mitglieder am Zustandekommen der Ergebnisse, an einer strategischen Bewertung, an der Erarbeitung möglicher Alternativen nicht beteiligt sind. Demgegenüber beschreibt sie Elemente, die bei verdi Stuttgart herausgearbeitet wurden, die einer echten Partizipation der Mitglieder näher kommen.

22

Schmalstieg, Catharina: Partizipative Arbeitskämpfe, neue Streikformen, höhere Streikfähigkeit? Rosa-Luxemburg-Stiftung, 36 S. 2013

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(i) tägliche Streikversammlungen Mit den täglichen Streikversammlungen schafft ver.di Stuttgart einen Raum, in dem Selbstbewusstsein entstehen kann: »Die Streikversammlung stärkt den Rücken, das ist einfach mal gut, wenn da drei-, vierhundert Leute im Saal sind. […] Das ist einfach ein Gemeinschaftserlebnis.« 23 Gleichzeitig ist es ein Rahmen, wo unterschiedliche Streikende zusammenkommen können und Gegensätze in einem gemeinsamen Solidaritätserlebnis und einer gemeinsamen Debatte bearbeitet werden können. Dies bedeutet durchaus eine bewusste Abgrenzung zu der Situation früher, wo alle nur auf die starken Bataillone wie die Müllwerker geguckt haben. Gerade für fragmentierte Belegschaften ohne gemeinsame Großbetriebe, wie bei den Kitas oder im Einzelhandel spielen die Streikversammlungen eine wichtige soziale und organisatorische Funktion. Vor allem ermöglichen die Streikversammlungen aber, wichtige Krisen zu überwinden. Der neunwöchige Streik gegen die Arbeitszeitverlängerung im öffentlichen Dienst im Jahr 2009 konnte laut Aussagen von Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen nur durch diese Versammlungen erfolgreich geführt werden. Hier konnten Ängste offen angesprochen werden und in dieser Versammlung konnten auch schnelle Reaktionen auf Angriffe der Arbeitgeber organisiert werden.24

(ii) aktivistische Vorbereitungskomitees für Tarifbewegungen, um den Informationsvorsprung der Hauptamtlichen abzubauen und die Ehrenamtlichen für Beweglichkeit und Strategiediskussionen einzubeziehen Neben der täglichen Streikversammlung beschreibt Schmalstieg die Streikleitungsversammlungen als entscheidendes Element »echter« Partizipation. Hier werden Ehrenamtliche und Hauptamtliche in einem Gremium von 30 Beteiligten zusammengefasst. Diese Leitung konstituiert sich schon lange vor dem Konflikt und diskutiert eigene Strategien und Handlungsideen. Auf diese Weise werden Informationsvorsprünge der Hauptamtlichen abgebaut und die ehrenamtlichen Funktionäre aus den Betrieben können rechtzeitig die strategischen Planungen nachvollziehen, mitdiskutieren und mitbestimmen. Traditionell werden in vielen anderen Bereichen Streikleitungen erst kurz vor dem ersten Warnstreik formiert, so dass es nie eine echtes Entscheidungsgremium, sondern eher ein WeitergabeGremium der aus Hauptamtlichen bestehenden Streikleitung wird. Das Gremi23 24

Schmalstieg: Partizipative Arbeitskämpfe, S. 22 Wie etwa die innerhalb von einem Tag organisierte Blockade des Heizkraftwerkes, um zu verhindern, dass Streikbrecher-Müllautos den Müll zu Müllverbrennung bringen konnten. Diese zweiwöchige Blockade gilt als Schlüssel, um die Stadt Stuttgart in die Knie gezwungen zu haben. Diese war aber nur möglich, weil auf der Streikversammlung die Tradition bestand Probleme offen zu diskutieren und dann schnell handlungsfähig zu sein.

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um in Stuttgart geht langfristig vor einer Auseinandersetzung in Klausur in einer Bildungsstätte und versetzt sich dort, manchmal unter Anleitung von Organizing-Beratern, in die Lage, Strategiediskussionen zu führen und Kampagnenelemente außerhalb des Zeitdrucks des Alltags zu diskutieren und entwickeln.

(iii) eine Kultur der Stärke und Aktivierung bei Streikversammlungen und Demonstrationen Schließlich bemüht sich der Bezirk Stuttgart in den Streikversammlungen und Demonstrationen um eine starke aktivistische Tradition und Erscheinungsbild. Die Stuttgarter Demonstrationen gleichen eher einer Blockupy-Demonstration als einem IG Metall-Warnstreik. Es gibt viele selbstgemalte Transparente und es gibt Sprechchöre, Parolen und Lieder, die von Streikenden gesungen werden. Dies mag ein Detail sein, aber es zeigt, dass die Aktiven in Stuttgart über den Streik eine aktivierende Kultur forcieren wollen, die sich bewusst von dem Stellvertretertum durch Hauptamtliche absetzt.

(iv) alle Entscheidungen müssen von den Streikenden selbst getroffen werden Ein Kernproblem ist, dass Streiks immer große Partizipationswünsche schaffen und die Gewerkschaften dann oft nicht in der Lage oder auch nicht willens sind, den Streikenden einen Rahmen für ihre Aktivität zu geben, bzw. die Aktivierung auch von einer Beteiligung zu einer aktiven, demokratischen Gestaltung zu bringen. Die Ursache hierfür liegt in der Verhandlungsfunktion, die Gewerkschaften bzw. die Hauptamtlichen Gewerkschaftssekretäre wahrnehmen. Streiks und Arbeitskämpfe werden oft von dem Verlauf der Verhandlungen und auf das herzustellende Kräfteverhältnis in diesen angeordnet, nicht aus der Perspektive, eine Aktivierung der Beschäftigten herzustellen. Ist das gewünschte Ergebnis erreicht, werden die Beschäftigten auch wieder demobilisiert. Dies ist umso schwieriger, je stärker die Aktivierung und Mobilisierung zuvor stattgefunden hat. Deswegen entwickeln Hauptamtliche oft eine Haltung, die eine zu große Aktivierung der Basis vermeiden will. Bernd Riexinger kritisiert diese Haltung sehr treffend: Nach meinem Verständnis können Streiks Emanzipationsbewegungen sein, wenn die Streikenden tatsächlich Akteure der Auseinandersetzung sind und nicht Objekte. Der so ziemlich blödeste Spruch in Tarifauseinandersetzungen ist: ›Denk daran, wenn du die Leute auf die Bäume treibst, musst du sie auch wieder herunterholen.‹ Unser Verständnis ist nicht das einer Herde von Menschen, die irgendwo hingetrieben werden können und denen nachher dann ein Ergebnis vermittelt werden muss, für das sie tatsächlich nicht auf die Bäume geklettert sind. Oder noch schlimmer, damit dieser Widerspruch erst gar nicht aufkommt, verzichten wir doch besser gleich auf eine umfassende Mobilisierung.

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Anstatt die Beschäftigten erst stellvertreterisch irgendwohin zu mobilisieren und sie dann wieder zu demobilisieren, wenn die Verhandlungen abgeschlossen sind, fordert Riexinger, die Beschäftigten in eine Diskussion und Entscheidungsfindung direkt mit einzubeziehen. Das Ergebnis muss den Streikenden schmecken, nicht der Verhandlungsführung. Es ist leider eine leidige und sich ständig wiederholende Erfahrung, dass Arbeitskämpfe selten zu Schultersiegen führen und die Streikenden mit dem Ergebnis zufrieden sind. Dafür gibt es unterschiedliche Ursachen. Zum einen kann es sein, dass die Gewerkschaft tatsächlich ihre Kampfkraft nicht ausgeschöpft hat und ein Ergebnis unter den tatsächlichen Möglichkeiten erzielt hat. Dann ist Kritik völlig berechtigt. Zum anderen ist es häufig der Fall, dass bei Flächentarifauseinandersetzungen die Kampfkraft regional sehr unterschiedlich entwickelt ist. Die einen würden weiterstreiken, den anderen geht die Luft aus und wieder andere haben erst gar nicht richtig angefangen. Besonders ärgerlich ist es, wenn diese Zusammenhänge nicht transparent sind und sich die verschiedenen Akteure kein wirkliches Bild machen können und den Behauptungen ihrer Führung glauben können oder nicht. Gerade bei ver.di ist es ein großes Problem, dass die Fähigkeit zum Streiken regional sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Das führt häufig zu Frust in den Streikhochburgen, die durchaus bereit wären, für ein besseres Ergebnis weiter zu streiken, während andere froh sind, dass es endlich vorbei ist. Wir haben daraus folgende Schlussfolgerungen gezogen: • Wir lassen unsere Streikbereitschaft davon nicht beeinflussen. Unsere Botschaft ist immer: Wer besser streiken kann, muss vorangehen und ein positives Beispiel schaffen. • Über die Verhandlungsstände und Tarifergebnisse wird offen auf den Streikversammlungen diskutiert und ein Meinungsbild hergestellt. Gibt es Kritik, wird diese formuliert und in die innergewerkschaftliche Diskussion eingebracht. Die Kollegen/innen sollen sich ihre Gewerkschaft aneignen und kein Dienstleistungsverhältnis zu ihrer Organisation entwickeln. Teilweise konnten wir sogar durchsetzen, dass nach dem Verhandlungsergebnis noch ein Tag länger gestreikt wurde, um auf der Streikversammlung über das Ergebnis diskutieren zu können. • Der Entscheidungsprozess über das Tarifergebnis muss ebenfalls demokratisiert werden. Hier hat ver.di im öffentlichen Dienst ganz gute Ansätze entwickelt. So wurden bei verschiedenen Streiks, insbesondere im Erzieher/innenstreik bundesweite Streikdelegiertentreffen organisiert. Delegierte aus den Betrieben diskutierten gemeinsam über den Verhandlungsstand und über die weitere Vorgehensweise. Es wurde vereinbart, dass die große Tarifkommission nur dann einem Verhandlungsergebnis zustimmt, wenn es vorher dafür eine Mehrheit auf der Streikdelegiertenversammlung gegeben hat. Auf diesem Weg muss weitergemacht werden. Eine Arbeitsteilung, dass die einen streiken und die anderen über das Ergebnis entscheiden, ist auf die Dauer wenig erfolgsversprechend. Diejenigen die streiken sollen auch über das Ergebnis entscheiden und die Verhandlungen mit dem Arbeitgeber führen. Widersprüche und unterschiedliche Sichtweisen müssen offen ausgetragen und demokratisch entschieden

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werden. So entstehen lebendige Gewerkschaften, die den Mitgliedern nicht fremd sind.

Diese Konzeption einer Demokratisierung von Streikbewegungen setzt sich eine maximale Aktivierung der Beteiligten zum Ziel und deutet gleichzeitig mit der Nennung der Streikdelegiertengremien auch an, dass dies sich in neuen demokratischen Strukturen niederschlagen kann, die erst durch den Streik entstehen und erst durch seine Aktivierung der Mitgliedschaft an Dynamik und Beteiligung gewinnt. An dieser Stelle drängt sich allerdings die Frage auf, wieso nicht alle verdi-Bezirke, wieso nicht auch die anderen Gewerkschaften eine solche Aktivierende Tarifpolitik betreiben. Das Problem deutete auch Bernd Riexinger in seiner Rede auf dem Kongress in Stuttgart an: Diese Konferenz, ich hoffe auch die von mir zusammengefassten Prinzipien, bieten eine Fülle von Beispielen, die zeigen, dass es möglich ist, Streikerfahrung in bisher eher unerfahrenen Bereichen zu organisieren, neue Kämpfe zu führen und dabei eine Vielzahl neuer Methoden und Streikformen zu entwickeln, die geeignet sind, die Kräfteverhältnisse zu unseren Gunsten zu verschieben. Wir sollten von unseren Gewerkschaften verlangen, dass Ehren- und Hauptamtliche ausgebildet werden, diese Methoden zu erlernen und einen großen Werkzeugkasten für die Führung von Streiks und Tarifbewegungen an der Hand zu haben.25

Im Umkehrschluss bedeutet dies ja: Die Gewerkschaften haben bis heute diesen Werkzeugkasten ihren ehrenamtlichen Funktionären und Hauptamtlichen nicht zugänglich gemacht. Sicher gilt für viele ehren- wie hauptamtliche Gewerkschafterinnen, dass sie von der langen Phase der Defensive so verunsichert sind, dass sie sich kaum kämpferische Initiativen zutrauen und auf Grund von guten Beispielen und deren systematischer Aufbereitung für eine solche Politik gewonnen werden können. Und es ist auch richtig, dass es solcher Konferenzen wie der in Stuttgart bedarf, um einen Raum zu schaffen, wo Aktivisten voneinander lernen können. Die oben beschriebenen Beispiele zeigen, dass es seit der Zunahme von Streiks, insbesondere im Organisationsbereich von ver.di eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen, aber auch von konfliktfreudigen Gewerkschaftssekretären gibt, die sich neu kämpferisch aufstellen wollen. 1000 Streiks im Organisationsbereich von Verdi seit 2001 ist eine große Zahl. In jedem dieser Streiks haben AktivistInnen wichtige Erfahrungen gemacht und gelernt, unter neuen, schwierigen Bedingungen zu streiken. Als Marxisten sollten wir nicht nur theoretisch abgeleitete Erkenntnisse präsentieren. Wir sollten auch den Anspruch haben, aus den aktuellen Kämpfen zu lernen, aus ihnen zu verallgemeinern und unsere theoretischen Diskussionen in einem solchen Lernprozess fruchtbar machen. 25

Rede Bernd Riexinger S. 8

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Marx lernte von dem Aufstand der Pariser Kommune (1871) und konkretisierte im Licht der Erfahrungen der Kommune seine Idee von einem Arbeiterstaat und einer sozialistischen Demokratie. Lenin lernte in der Revolution 1905 aus den frühen Koordinationsversuchen der Streikenden in Form von Sowjets. Anfänglich war er sogar sehr skeptisch, was diese neuen Organisationsansätze anging – später verallgemeinerte er diese dann zu einer Theorie einer rätebasierten Staatsform. Wir denken es ist heute auch an der Zeit, dass Marxisten und radikale Linke von diesen neuen Kämpfen und strategischen Ansätzen, die wir oben beschrieben haben, lernen. Insofern halten wir es für entscheidend, dass ein strategischer Suchprozess die Erfahrungen der kämpferischen Minderheit aufnimmt und durchdenkt und diesen kreativen Prozess, der über die letzten zehn Jahre stattgefunden hat, zum Ausgangspunkt einer theoretischen Reflektion macht. Allerdings besteht die Gefahr, die Durchsetzung von kämpferischen Ansätzen darauf zu reduzieren, dass die neuen Ansätze einfach vorgemacht und verbreitert werden müssen. Dies wäre eine große Unterschätzung der Gegenkräfte, die einer kämpferischen Politik entgegenstehen. Die 1970er Jahre: Laboratorium der gewerkschaftlichen Erneuerung

Ein Blick in die Geschichte der Klassenkämpfe der 1970er Jahre kann hier helfen. Die spontanen, selbständigen Streiks26 1969 und 1973, aber generell die 1970er Jahre bis zur Rückkehr der kapitalistischen Krisenzyklen und, damit einhergehend, der Rückkehr der Massenarbeitslosigkeit (1975, 1982) zeigen, wie kämpferische Ansätze sich aus betrieblichen Kämpfen heraus entwickeln und verallgemeinern können – und auf welche Herausforderungen sie dann stoßen. Der Aufschwung von Streiks und Klassenkämpfen in den Jahren von 1969 bis 1974 ist in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig. 27 Der Arbeitskampfexperte Heiner Dribbusch beschreibt: »Zwischen 1969 und 1976 lassen sich allein im erweiterten Bereich der Metall-, Elektro- und Stahlindustrie 1110 Arbeitsnie26

27

Zur Begrifflichkeit »spontane Streiks« schrieb Walter Müller-Jentsch richtig: «Wegen des negativen Beigeschmacks des Wortes »wild« wird von Arbeitern und Gewerkschaftern die Bezeichnung »spontane Streiks« bevorzugt. Freilich wissen dabei die meisten, dass spontane Streiks nicht so spontan sind, dass sie keiner Vorbereitung und Absprachen oder Organisierung bedürften.« In »Die Spontane Streikbewegung 1973«, Kritisches Jahrbuch ´74, S.44 »Zwischen 1960 und 1989 stieg die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder im DGB um ca. 1,5 Millionen, wovon mit ca. 840.000 deutlich mehr als die Hälfte allein auf die IG Metall entfielen. Der entscheidende Wachstumsschub der IG Metall fand in den sieben Jahren zwischen 1967 und 1974 statt.« Dribbusch, Heiner: Organisieren am Konflikt: Zum Verhältnis von Streik und Mitgliederentwicklung in: Dörre, Klaus/Haipeter, Thomas (Hrsg): Gewerkschaftliche Modernisierung, VS-Verlag 2011, S. 248

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derlegungen feststellen, was in etwa 80 % aller Streiks entspricht.«28 Innerhalb weniger Jahre wuchs die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder rapide an. Zwischen 1967 und 1974 wächst allein die IG Metall um 28 Prozent. Zentrum der Streikbewegungen in der IG Metall ist der Bezirk Baden-Württemberg. Hier werden auch mit der so genannten Steinkühler-Pause, einer Bandpause von fünf Minuten pro Stunde, erstmals eine qualitative Forderungen aufgestellt und in diesem Bezirk finden auch viele der spontanen Streiks statt. So ist es nicht verwunderlich, dass in dem Bezirk Baden-Württemberg die Mitgliedschaft um 58 Prozent innerhalb von nur 7 Jahren anwächst 29. Dabei treten insbesondere diejenigen, die auch die Subjekte der Streiks waren, in die Gewerkschaften ein. Im Streikjahr 1973 konnte die IG Metall mit plus 12,8 Prozent dreimal so viele weibliche Mitglieder dazu gewinnen wie insgesamt, zwischen 1969 und 1974 gewann die IG Metall fast 150.000 (27 %) weibliche Mitglieder hinzu, die ÖTV konnte in ihrem erfolgreichen Streikjahr 1974 31.000 oder 17 Prozent Frauen dazugewinnen. Insgesamt traten zwischen 1969 und 1974 300.000 Frauen den DGB-Gewerkschaften bei. Einen ähnlich rasanten Zuwachs gab es in diesen Jahren bei den Migranten, die bei den betrieblichen Kämpfen oft in der ersten Reihe standen. 30 Der Aufschwung von Streiks und Klassenkämpfen in den Jahren 1969 bis 1974 hatte wirtschaftliche und politische Ursachen. Die wirtschaftlichen Entwicklung der Jahre war einerseits durch die erste Nachkriegsrezession geprägt (1966/67) und einen sich ab Mitte 1968 anschließenden Konjunkturaufschwung, der bis zum Herbst 1974 andauerte.31 Der Wechsel von Rezession und Aufschwung, die Politisierung der Lohnkämpfe durch die Vorgabe staatlicher Lohnleitlinien, insgesamt niedrigere Produktivitätszuwachsraten als in der Nachkriegszeit – all das signalisierte eine Verhärtung und Politisierung der Verteilungskämpfe in dieser Jahren. Politisch war diese Zeit geprägt durch eine allgemein Linksentwicklung infolge der 68er Jugendrevolte, die – obwohl sie zunächst von der Mehrheit isoliert schien – in die Arbeiterjugend (Lehrlingsbewegung) 32 überschwappte und von dort in die Betriebe und Gewerkschaftsjugend eindrang. Die Linksentwicklung führte 1969 und vor allem 1972 zu Wahlsiegen der SPD unter Willy Brandt und zum 28 29 30 31

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Dribbusch, Heiner: Organisieren am Konflikt, S. 248 Dribbusch, Heiner: Organisieren am Konflikt, S. 249 Michael Kittner, Gewerkschaftsjahrbuch 1988, Köln 1988 S, 66 f. Im Jahr 1970 wurde mit 0,7 Prozent die niedrigste Arbeitslosigkeit der Geschichte der Bundesre publik erhoben. Dribbusch, Heiner: Organisieren am Konflikt, S. 248 1969 entstand eine bundesweite Lehrlingsbewegung, die eine breite Schicht der Arbeiterjugend erfasste und die Gewerkschaftsjugend bis in die 70er Jahre hinein radikalisierte. Eine weitere Nahtstelle zwischen Arbeiterbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition waren Migrantengruppen, damals vor allen die spanischen Migranten, die durch die Ereignisse in Spanien – Massenstreiks gegen die Franco Diktatur – hoch politisiert waren.

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Ende der konservativen Hegemonie, symbolisiert in der seit 1949 ununterbrochenen Ära von CDU-Bundeskanzlern. In den 1950er und frühen 1960er Jahren war die Tarifpolitik der deutschen Gewerkschaften außerordentlich erfolgreich gewesen, sie entsprach den Erwartungen der Mitglieder. Ab 1968 gingen Erwartungen von großen Teilen der Mitgliedschaft (»Basis«) und der Politik der Führung streckenweise stark auseinander. Der Grund war, dass die Gewerkschaften unter dem Druck der 1966 erstmals in die Bundesregierung eingetreten SPD auf ihre »Marktmacht« freiwillig verzichtete. Zuvor hatten die Gewerkschaften 1965 und 1966 den CDU-Kanzler Erhard scharf kritisiert, der angesichts sinkender Profitraten und steigender Lohnstückkosten die Gewerkschaften wiederholt zum »Maßhalten« aufgerufen hatte. Was Erhard nicht gelungen war, nämlich die Lohnkosten zu senken und die Profite wieder zu steigern, gelang der SPD als Regierungspartei. Ihr Wirtschaftsminister Karl Schiller griff zum Instrument staatlich verordneter Lohnleitlinien (»Konzertierte Aktion«), die nicht überschritten werden sollten. Das rechtskeynesianische Programm Schillers bestand aus Lohnabbau zur Stabilisierung der Profite, Senkung der Lohnstückkosten zur Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und in Staatsaufträgen für die Investitionsgüterindustrie zur Ankurbelung der Binnenkonjunktur. Alle Gewerkschaften des DGB unterwarfen sich Schillers Lohnleitlinien in Höhe von 3 Prozent. Die Gewerkschaften hielten sich auch dann noch an Schillers Lohnleitlinien, als Mitte 1968 ein breiter Konjunkturaufschwung einsetzte. Als die Stahlarbeiter 1969 den Aufschwung durch Neueinstellungen und Überstunden überall spürten, erkämpften sie höhere Löhne (30 Pfennig pro Stunde) an den Gewerkschaftsführungen vorbei. Der Vorgang wiederholte sich 1972/73, als sich die Gewerkschaften erneut mit niedrigen Lohnabschlüssen und langen Laufzeiten der Tarifverträge den staatlichen Lohnleitlinien unterwarfen. Es kam zu einer zweiten Welle von Streiks, die erneut die von den Gewerkschaften zunächst befolgten Lohnleitlinien durchbrach. Der Aufschwung von Klassenkämpfen entwickelte sich in zwei Phasen, die beide durch spontane Streiks ausgelöst und angestoßen wurden. Die erste Phase (1969–71) wurde ausgelöst durch spontane Streiks in der Stahlindustrie 1969 (»Septemberstreiks«) – meist getragen von deutschen, besser verdienenden Facharbeitern und organisiert durch Vertrauensleute und linke Betriebsräte. Die zweite Phase wurde wieder ausgelöst von Streiks in der Stahlindustrie, ergriff aber bald beträchtliche Teile der Automobil- und Elektroindustrie, des Öffentlichen Dienstes, des Bergbaus und weitere. Getragen wurde diese Welle von den unteren Schichten der »Massenarbeiter« 33 an den Fließbändern der Großseri33

Der Begriff wurde in den 60er Jahren von der Strömung der Operaisten in Italien geprägt und bezeichnete die damals sich rasch vermehrende Gruppe von an- und ungelernten Beschäftigten

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enproduktion (Autos, Fernseher) – von der bürgerlichen Presse wurden die Streiks auch »Ausländerstreiks« genannt, Marxisten sprachen dagegen vom »Aufstand der Angelernten.«34 Die Bezeichnung »Ausländerstreiks« hat insofern auch ein Element von Wahrheit, da in manchen Bereichen der Massenproduktion der Ausländeranteil damals bei 90 Prozent lag, in der Autozulieferer- und in der Elektroindustrie waren die Streiks beides, weiblich und migrantisch. Die Streiks der 1970er Jahre sind insgesamt durch starkes Selbstbewusstsein und hohe Mobilisierung und Aktivierung der Mitglieder gekennzeichnet. Dieses Selbstbewusstsein kam gerade auch in den spontanen Streiks des Jahres 1973 zum Ausdruck. Im Vergleich zu den Septemberstreiks 1969 waren diese breiter und erfassten vor allem die unteren Schichten der Arbeiterklasse stärker. Die Gewerkschaftsführungen und viele der Betriebsräte verhielten sich ausgesprochen feindselig. In einem Teil der Betriebe (z. B. Stahlindustrie) waren die Vertrauensleutekörper die Organisatoren und das Zentrum des Streiks, in anderen Betrieben, wo die Vertrauensleutekörper noch unter der Kontrolle rechter Betriebsräte standen, kam es zur Bildung von spontan in Massenversammlungen gewählten Streikleitungen (Hella, Pierburg). Die Entstehung solcher neuer Organisationsformen waren Ausdruck davon, dass gerade die »Massenarbeiter« mit ihrem hohen Anteil an Frauen und Ausländern sich mit ihren Interessen in den Betriebsräten und Vertrauenskörpern kaum vertreten sahen. Die anschwellenden Arbeitskämpfe ließen die offiziellen gewerkschaftlichen Organisationsformen nicht unberührt. In vielen Bereichen der IG Metall, der IG Chemie, der ÖTV entwickelten sich die Vertrauensleute zu eigenständigen, selbstbewusst handelnden Körpern. Vertrauensleute sind die unterste Vertretungsebene der Gewerkschaften in den Betrieben. Die IG Metall (und andere) waren mit der Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes 1952 aus den Betrieben bedrängt worden, der Organisationsgrad ging kontinuierlich zurück. Dadurch wurde der verstärkte Aufbau und Ausbau von gewerkschaftlichen Vertrauensleutekörpern neben den Betriebsräten für die Industriegewerkschaften zu Notwendigkeit.35 Außerdem entwickelten gerade die Betriebsräte der Großbetriebe in den 1950er und 1960 Jahren eigene Machtbastionen durch das Aushandeln von nicht tariflich gesicherten Sozialleistungen und Löhnen. Versuche der IG Metall, die übertariflichen Löhne durch eine »betriebsnahe Tarifpolitik« abzusi-

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in den Industrien mit Großserienproduktion. Die Massenarbeiter litten unter niedrigen Löhnen bei zugleich großer Entfremdung und Arbeitstempo der Fließbandarbeit. Vgl. Volkhard Mosler »Der Aufstand der Angelernten«, Klassenkampf (erste Serie), Oktober 1973 Vgl. hierzu Eberhard Schmidt, Die Auseinandersetzung um die Rolle der Vertrauensleute in der IG Metall,, Kritisches Jahrbuch ’74, S.130

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chern, konnten die Betriebsräte durch ihren bestimmenden Einfluss im Betrieb abwehren. Auch wurden den Vertrauensleutekörpern wenig Rechte eingeräumt, und so blieben sie meist eher von den Betriebsräten kontrolliert als andersherum. 36 Das änderte sich aber vielfach nach den Septemberstreiks 1969. Gerade in dieser Zeit wuchs die Anzahl der Vertrauensleute enorm an, sogar noch schneller als der sowieso rasante Anstieg der Mitgliederzahlen: allein in der IG Metall von 1967 bis 1973 von 88.001 auf 121.595, eine Steigerung um 40 %.37 Gleichzeitig stieg der Anteil der gewählten statt bloß ernannten Vertrauensleute im Metallbereich zwischen 1967 und 1973 von 72 auf 90 Prozent und der Anteil an Vertrauensleutekörperleitungen, die vom Betriebsratsvorsitzenden oder von einem anderen Betriebsrat geführt wurde, sank beträchtlich. In einigen der Streiks 1973 (Pierburg 38) gelang es den »Angelernten« während des Streiks die (deutschen) Facharbeiter für den Streik zu gewinnen. In anderen Fällen – der bekannteste war ein mehrtägiger Streik bei Ford Köln – stellten sich die Betriebsräte offen gegen die Streiks und gingen sogar zusammen mit dem Werkschutz gegen türkische und andere Streikaktivisten vor. Der Vertrauenskörper tagte kein einziges Mal während des Streiks und duldete so das Vorgehen des Betriebsrats. Generell erzwang die organisierte Macht der Vertrauensleute in den Betrieben aber eine Öffnung der Organisation nach unten. Zwar reagierten die Gewerkschaftsführungen auf beide Streikwellen widersprüchlich. 1969 duldete die IG Metall-Führung die spontanen Streiks, die IG Bergbau stellte sich offen dagegen, 1973 »griffen die Vorstandmitglieder mit aller Härte ein und versuchten, die Autorität der Gewerkschaftsführung gegenüber den Mitgliedern wiederherzustellen«.39 Als sich die Streikbewegung im Sommer 1973 auf immer mehr metallverarbeitende Betriebe ausweitete – am Höhepunkt im August streikten 90.000 Arbeiter/innen in 107 Betrieben –, sahen sie sich zu einem Kurwechsel gezwungen: »Die offene Ablehnung wich einer indifferenten Zurückhaltung.« Als die Streiks im September zuletzt auf den öffentlichen Dienst überzuspringen drohten, kündigte der Vorsitzende der ÖTV eine Lohnforderung von nicht unter 15 Prozent für das kommende Jahr an, um so der weiteren Ausdehnung der Streiks die Spitze zu nehmen. Ähnlich kündigten die Vorstände von IG Metall und anderen an, in den jeweils folgenden Tarifrunden selbst in die Offensive zu gehen, sich sozusagen nach unten zu öffnen. So kam es 1970 und 1973/4 zu 36

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Zoll, Rainer: Partizipation oder Delegation. Gewerkschaftliche Betriebspolitik in Italien und in der Bundesrepublik Deutschland, 227 Seiten, 1981. Koopmann, Klaus: Vertrauensleute. Arbeiterbewegung im Betrieb, 1981, 165 Seiten. S. 49 Zu diesem Streik gibt es eine neue Dokumentation: Dieter Braeg [Hg.]: "Wilder Streik - das ist Revolution"Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973, Die Buchmacherei 176 Seiten inklusive DVD 2012 Müller-Jentsch,1974, S.49

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großen und erfolgreichen Streikbewegungen in der Metallindustrie und im öffentlichen Dienst mit unvergleichlich hohen Lohnabschlüssen. In der Metallindustrie kam es in Nordwürttemberg unter Bezirksleiter Steinkühler sogar zu einem erfolgreichen Streik für stündliche Kurzpausen von 5 Minuten für die Massenarbeiter mit ihren elenden, Nerven und Körper zermürbenden Arbeitsbedingen. Die Vertrauensleute forderten zunehmend die Kontrolle über die Gewerkschaften ein. Dabei sind zwei Tendenzen interessant, wenn es darum geht zu beurteilen, wie eine Aktivierung und Demokratisierung der Gewerkschaften aussehen könnte. Die eine besteht darin, überbetrieblich lokale Vertrauensleute zu vernetzen, um auf diese Weise regional eine politische und gewerkschaftliche Kultur der Aktivierung und Aneignung der Gewerkschaften voranzutreiben. Dies ist beispielsweise durch einen Zentralen Vertrauensleuteausschuss (ZVA) in Frankfurt geschehen. Dieser existierte von 1971 bis 1975. In dem Ausschuss waren die Vertrauensköperleitungen aller großen Frankfurter Kommunalbetriebe vom Friedhof über die Müllabfuhr bis zu den Städtischen Bühnen vertreten. Entstanden war der ZVA aus einem spontanen Streik der kommunalen Betriebe 1971 gegen die Kürzung sogenannter Deputatsleistungen, das waren Gratisleistungen städtischer Betriebe für die Beschäftigten und ihre Familien. Der ZVA traf sich monatlich, griff mit eigenen Anträgen in Mitgliederversammlungen und Delegiertenkonferenzen ein, stellte eigene Forderungen für die jährlichen Tarifrunden und mobilisierte zu Aktionen und Demonstration wie den 1. Mai. Dem (rechten) Kreisvorstand war der (linke) ZVA von Beginn an ein Dorn im Auge, er sah in ihm eine Art Nebenregierung. 1975 löste der Kreisvorstand dann den ZVA in einem Moment auf, als dieser schon stark an Auszehrung litt. Einer der Gründe für die »Auszehrung« – es kamen gerade von den großen Arbeiterbetrieben wie Müllabfuhr oder Gartenamt keine Delegierten mehr zu den Sitzungen – war der Umstand, dass der ZVA immer mehr zu einem Diskussionsforum und auch Aktionszentrum verschiedener politischer Gruppen geworden war, für die der ZVA offen war. Zum Schluss dominierten die politischen Gäste mit ihren Debatten. Der ZVA hatte seine Bedeutung als Organisationspol aktiver Gewerkschafter längst verloren, als der Kreisvorstand ihn schließlich als »satzungswidrig« auflöste. Die zweite Tendenz im Ringen um eine Demokratisierung bestand darin, sich in einzelnen Branchen und Gewerkschaften zu vernetzen. Hier ist insbesondere die Arbeit der Vertrauensleute in der Stahlindustrie von Bedeutung. Das mit den erfolgreichen Streiks gewachsene Selbstbewusstsein der Vertrauensleutekörper führte tendenziell zu einer Umkehrung des Verhältnisses zwischen Betriebsrat und Vertrauenskörper. Der Sozialwissenschaftler Eberhard Schmidt beschrieb

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1974 dieses gewandelte Verhältnis zwischen Betriebsrat, Vertrauensleutekörper und Gewerkschaft für den Metallbereich folgendermaßen: Bis 1964 war es der IG Metall gelungen, Vertrauenskörper in über 4600 Betrieben aufzubauen. Die Betriebsräte seien dennoch »weiterhin der zentrale Bezugspunkt der Gewerkschaften im Betrieb«. In einer Arbeitsanleitung des Hauptvorstandes hieß es, dass der VK »den Betriebsrat ergänzt.« Die Betriebsräte »stellten und stellen aus der Sicht der Gewerkschaftsführung […] vor allem den verlängerten Arm der Gewerkschaft und des gewerkschaftlich organisierten Betriebsrates dar«.40 Die Vertrauensleutekörper haben »die Aufgabe, die Politik der IG Metall im Betrieb zu erläutern und zu vertreten, neue Mitglieder zu werben, die Tarifverträge zu erklären und […] Probleme an die zuständige Ortsverwaltung oder an den Betriebsrat weiterzugeben.«41 Aus der Sicht der Gewerkschaftsführung sind Mitgliederwerbung und Sicherung der Loyalität der Mitglieder zentral. Sie sind ein wichtiger Transmissionsriemen der Gewerkschaft in die Belegschaft hinein. Den Umschlag von passiver Gefolgschaft in aktive Interessenvertretung der Mitglieder gegenüber Betriebsrat und Gewerkschaftsführung sieht Schmidt dadurch verursacht, dass die Vertrauensleute selbst zunehmend unter Druck einer selbstbewussteren Mitgliedschaft geraten sind. Gerade ihre Basisnähe macht sie aber für solchen Druck viel eher empfänglich als die oberen, bürokratisch abgeschotteten gewerkschaftlichen Führungsgremien. Und so kommt Schmidt zu der Einschätzung, dass bis 1974, »eine immer größere Zahl von Vertrauensleuten den Druck, unter den sie geraten sind, nach oben weitergeben und so die auf sozialpartnerschaftliche Kooperation ausgerichtete Politik der Gewerkschaftsspitze gefährden. Die Führung der IG Metall reagierte wiederum darauf mit dem Versuch, den Spielraum der Vertrauensleute […] einzuschränken.« Die gewerkschaftspolitischen Auswirkungen waren riesig. So wurden bei den Betriebsratswahlen 1972 nach Angaben des DGB fast die Hälfte aller Betriebsräte erstmalig als neu in den Betriebsrat gewählt, eine solche Erneuerungsquote hatte es bei keiner Betriebsratswahl seit 1949 gegeben. In einer Reihe von Großbetrieben entstanden linke Listen bei den Betriebsratswahlen 1972, die aus dem Stand ein Drittel oder mehr der Sitze erobern konnten. Bei wichtigen Urabstimmungen über Tarifvereinbarungen (z. b. Stahlindustrie) empfahlen Vertrauenskörper ihren Belegschaften mit Nein abzustimmen, obwohl die Gewerkschaftsführung eine Annahme gefordert hatte. 1972 tauchte das Protokoll eines Geheimtreffens von IG Metall-Arbeitsdirektoren und Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmerseite der Stahlindustrie auf, in dem diese sich beim Vorstand beschwerten, dass Vertrauensleute »sich anmaß40 41

Eberhard Schmidt, ». 130 S.131

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ten, sie kontrollieren zu wollen und von ihnen bestimmte Informationen aus Ausschusssitzungen einforderten«. In den folgenden Jahren bildeten sich in mehreren großen Stahlbetrieben (Hoesch, Mannesmann, Thyssen, Klöckner) kämpferische Vertrauenskörper heraus, aus deren Reihen schließlich die Forderung nach der 35-Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich in die Gewerkschaften hineingetragen und erstmals auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall 1977 mehrheitlich als Forderung verabschiedet wurde – gegen die Empfehlung des Hauptvorstandes. Das war ein bis dahin und auch heute wieder undenkbarer Vorgang. Er signalisierte den partiellen Bruch der Gewerkschaften mit der Politik der Sozialpartnerschaft. Auf dem gleichen Gewerkschaftstag musste der Vorstand noch eine Abstimmungsniederlage einstecken. Der Antrag betraf die Rechte der Vertrauensleute in den Großkonzernen. In diesen sollten sich die gewerkschaftlichen Vertrauensleute mehrmals im Jahr zu überregionalen Tagungen mit den Betriebsräten treffen können, um ihre gegen die Arbeitgeber gerichteten Aktionen besser zu koordinieren.42 Während des sechswöchigen Stahlstreiks von 1978/79 um die Einführung der 35-Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich schlossen sich einflussreiche Vertrauensleute von Hoesch, Mannesmann und Thyssen zur einer »Arbeitsgemeinschaft Ruhr« zusammen, die auch die Zeitung »Revier« herausgab. »Revier – Zeitung für das Ruhrgebiet« war 1978 von einer Gruppe von Sozialisten herausgegeben worden und diente dem Kern der linken Vertrauensleute als eine politische Plattform. Die antikapitalistische Politisierung einer Minderheit von Vertrauensleuten war wiederum eine wichtige Voraussetzung für ihr entschlossenes und koordiniertes Eintreten für weitergehende Forderungen und Streiktaktiken. Der organisatorische und intellektuelle Kopf der sich radikalisierenden Vertrauensleutebewegung war Herbert Knapp, ein Marxist in der politischen Tradition von Karl Korsch und seit 1964 Betriebsratsvorsitzender des Stahlwerks Mannesmann-Huckingen (Duisburg). Knapp organisierte über ein Jahrzehnt interne politische Schulungen für Vertrauensleute in seinem Betrieb und arbeitete eng mit der Revier-Gruppe zusammen. 1980 trat er von allen Ämtern zurück und verließ die IG Metall, nachdem der Hauptvorstand über Monate eine Kampagne und schließlich ein Ausschlussverfahren gegen ihn eingeleitet hatte. Sein Rücktritt führte wiederum zur Demoralisierung seiner Anhänger. Knapps politischer Einfluss ist ein Beispiel für die Bedeutung des »subjektiven Faktors« – einzelne Persönlichkeiten und noch mehr Netzwerke von Sozialisten können unter be42

Der Spiegel, Nr. 41/1977. Im Vorspann des Artikels über den Gewerkschaftstag der IG Metall hie es: »Gewerkschaftschef Loderer hat Ärger mit der Basis. Seit dem Düsseldorfer IG-MetallKongress dringen Vertreter der harten Linie nach vorn«

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stimmten Bedingungen über Sieg oder Niederlage, Aufschwung oder Niedergang entscheiden. Der gewerkschaftspolitische Bedeutungszuwachs der Vertrauensleutekörper beschränkte sich nicht auf die Stahlwerke des Ruhrgebiets, er lässt sich auch in Teilen der Großchemie, der Automobilindustrie und der Werften nachweisen. 1979 fasste DER SPIEGEL in einem Bericht »Front im Betrieb« diese Entwicklung zusammen: »Seit sich die Tarifkonflikte verschärft haben, gewinnen die IGMetall-Vertrauensleute immer mehr innergewerkschaftliche Macht.« Betriebsräte als Verwalter der Tarifunterschreitung

Eberhard Schmidt hat in einem bemerkenswerten Aufsatz bereits 1973 die große Bedeutung der betrieblichen Interessenvertretung für die Entwicklung der Klassenkämpfe in Deutschland nach 1918 und nach 1945 aufgezeigt. Das Spannungsverhältnis von Betriebsräten und Gewerkschaften steht dabei im Zentrum seiner Analyse. Mit Zustimmung der Gewerkschaften des ADGB war 1920 eine Betriebsrätegesetz verabschiedet worden, von dem es im »Roten Gewerkschaftsbuch« heißt: »Die Betriebsrätebewegung ist ein Kind der Revolution von 1918, jedoch ein von der Konterrevolution immer mehr zum Krüppel geschlagenes Kind.«43 Das Gesetz von 1920 hatte aus den Aufstandsorganen der Revolution ein sozialpazifistisches Instrument gemacht, das »für möglichste Wirtschaftlichkeit der Betriebsleistung zu sorgen und […] den Betrieb vor Erschütterungen zu bewahren« hatte (§ 66 Weimarer Betriebsrätegesetzes). 1952 kam es zu einer Neuauflage dieses Gesetzes, das auch die Betriebsräte verpflichtet, zum Wohle des Betriebes zu arbeiten, und ihnen Streiks untersagt. Seit Ende der 1980er Jahren haben die Betriebsräte noch einmal einen Funktionswandel erfahren. Der Sozialwissenschaftler Hermann Kotthoff hat darauf hingewiesen, dass die anfänglichen Hoffnungen, dass die Betriebsräte von einem Zuwachs an Aufgaben durch die Öffnung der Flächentarifverträge einen machtpolitischen Zugewinn haben könnten, sich als großer Irrtum herausgestellt hätten.44 Kotthoff spricht von einem »Paradox«. Die Zunahme an Mitwirkungsmöglichkeiten durch die Verbetrieblichung der Tarifpolitik gehe einher mit einer Abnahme seiner interessenpolitischen Wirksamkeit als Vertreter und Beschützer der Arbeitnehmer. Schon für 1997 zeigten diverse Untersuchungen, dass auf breiter 43

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Enderle, August/Schreiner, Heinrich/Walcher, Jacob/Weckerle, Eduard: Das rote Gewerkschaftsbuch. Berlin 1932 191 Seiten Kotthoff spricht von einer »euphorischen Interpretationslinie Anfang der 90er Jahre« bei vielen kritischen Sozialwissenschaftlern in »Mitbestimmung in Zeiten interessenpolitischer Rückschritte. Betriebsräte zwischen Beteiligungsofferte und gnadenlosem Kostensenkungsdiktat«. In : Industrielle Beziehungen : Zeitschrift für Arbeit, Organisation und Management, Jg. 5,, H. 1, S.77

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Front eine »Deregulierung und Flexibilisierung« stattfand. Die Reaktion der Betriebsräte sei dabei durch drei Gesichtspunkte geprägt: 1. Durch eine »ökonomistische Sicht«, d. h. sie »halten die Entscheidungen für notwendig und alternativlos, weil der Weltmarkt, die Konkurrenz usw. sie diktiert.« 2. Durch die »sozialverträgliche Abpolsterung der Nagativmaßnahmen« 3. Durch eine »Beteiligung um der Beteiligung willen […] Schlimmer als der Misserfolg, ist für sie, nicht dabei gewesen zu sein, denn das würde die Substanz ihrer Funktion schwächen.«45 Was jahrelang den Arbeitgebern nicht gelungen sei, nämlich »ein substantieller Abbau von arbeits-, sozial- und tarifpolitischen Standards«, gelinge »neuerdings […] sozusagen durch einen Freundschaftsvertrag, genannt ›Beschäftigungssicherungsvertrag‹«. Betriebsräte schließen Betriebsvereinbarungen ab, in denen sie den Verzicht des Unternehmens auf betriebsbedingte Kündigungen für eine bestimmte Zeit mit einer Vielzahl von Verschlechterungen für die Beschäftigten »kaufen«. Typische Beispiele seien: »Streichung/Kürzung von Pausen und Erholzeiten«, »Einführung von/Zunahme von Schicht-, Nachtschicht, und Wochenendarbeit, Überschreitung von Höchstarbeitszeiten pro Tag und Woche, weitgehende Flexibilisierung von Arbeitszeiten durch Zeitkonten und mit langen Ausgleichszeiten und damit Anpassung der Arbeitszeit an die Auftragslage, dadurch Obsoletwerden des Tatbestandes »Überstunde« somit auch von Überstundenzuschlägen und Überstundengenehmigung durch den Betriebsrat, damit Preisgabe eines klassischen Machtinstruments des Betriebsrats; Anrechnung übertariflicher Lohnbestandteile, pauschale Verkürzung von Vorgabezeiten, Zustimmung des Betriebsrates zu bestimmten Kostensenkungsprogrammen und zu leistungspolitischen Deregulierungen, Senkung des Krankenstandes um eine vereinbarte Prozentzahl.«46 Vergleicht man diese Horrorliste mit den Tätigkeiten der Betriebsräte bis in die frühe 1980er Jahre, so muss man von einem Systemwechsel sprechen. Betriebsräte früher machten z. B. die Zustimmung zu Überstunden von der Gewährung von Vergünstigungen abhängig, Der angedrohte »Überstundenstreik« war ein wirksames Mittel des »concession bargaining«, des Tauschhandels zugunsten der Belegschaften. Dieses Druckmittel ist durch die Arbeitszeitflexibilisierung weitgehend abhanden, an seine Stelle ist das Druckmittel der anderen Seite durch die Drohung mit zukünftigen Entlassungen getreten. Die »Institution« der Mitbestimmung sei ungebrochen, die Betriebsräte werden mehr zu Rate gezogen als früher, aber »bei gleichzeitigem Ausverkauf von Arbeitsrechten«. So hat das Modell der Sozialpartnerschaft in der Krise ein neues Gesicht erhalten, das Gesicht 45 46

Kotthoff, S. 91 f. Kotthoff, S. 93

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eines sukzessiven Abgleitens in direktes Durchschlagen von Markt, Konkurrenz und Krise auf die betriebliche Ebene. Allerdings zeigt Hermann Kotthoff auch, dass hier neue Konfliktlinien entstehen und neue Aufgaben und Möglichkeiten für aktive Widerstandskerne in den Betrieben. Er beobachtete 1997, dass es eine wachsende Kritik an der Zugeständnisbereitschaft der Betriebsräte gebe. Kotthoff sieht tendenziell sogar das »institutionelle Gerüst« der betrieblichen Mitbestimmung in Gefahr. Diese könne »als Konsens- und Kooperationsmodell längerfristig nur überleben, wenn sie vom kämpferischen Teil des Interessenhandelns arbeitsteilig entlastet ist […] Wenn die Betriebsräte die Gewerkschaft tarifpolitisch nicht nur ergänzen, sondern ersetzen müssen – was sie selbst nicht anstreben, sondern als Last empfinden –, dann wird ein Konfliktpotential in den Betrieb zurückgetragen, vor dem ihn das duale System weitgehend beschützt hat.«47 Kotthoff sieht die Möglichkeit, dass sich oppositionelle Minderheiten gegen allzu große Zugeständnisse in den Betriebsräten bilden und dass selbst kooperative Betriebsräte so unter Druck geraten könnten. 48 An dieser Stelle ist auch eine Analyse der Verschärfung der sozialpartnerschaftlichen Integration der Betriebsräte wichtig. Im Organisationsbereich von IG Metall und Verdi gibt es 8.489 freigestellte Betriebsräte. Insbesondere unter diesen stellt die Hans-Böckler-Stiftung eine »Verberuflichung« der Interessenvertretung fest: »Routinierte, professionalisierte bzw. partizipationserfahrene Betriebsräte kennzeichnen somit die Interessenvertretungsarbeit in vielen Betrieben. Die ›Verberuflichung‹ der Interessenvertretung scheint zum institutionellen Markenzeichen betrieblicher Mitbestimmung zu werden.« Dies drücke sich unter anderem darin aus, dass, insbesondere in Großbetrieben der Betriebsrat eine eigene beruf liche »Karriere« darstellt: »In den Großbetrieben mit hochkomplexen interessenvertretungspolitischen Rahmenbedingungen ist die Betriebsrats(berufs-)karriere, hier verstanden als Betriebsratstätigkeit über mehrere Wahlperioden, ein besonders hervorzuhebendes institutionelles Strukturmerkmal der Gremien.« 49 Dies lässt sich unter anderem an den langen Amtszeiten insbesondere der Betriebsräte aus den Großbetrieben und dort noch einmal besonders der Betriebsratsvorsitzenden feststellen.50 Dies ist deswegen von Bedeutung, da die Unternehmen eine 47 48 49

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a.a.O. S. 97 a.a.O: S.95 Greifenstein, Ralph/ Kißler, Leo/ Lange, Hendrik: Trendreport Betriebsratswahlen 2010, Arbeitspapier 231, Hans-Böckler-Stiftung 2011, 73 Seiten. S.34 Während bei den Betriebsratswahlen 2002 für 44,4 % ihre erste Amtszeit antraten und für 31,1% ihre dritte, waren es 2010 nur für 32,8 % die erste und für 42,2 % die dritte. In Großbetrieben ab 1.000 Beschäftigte traten 2010 50 % der Betriebsräte ihre Amtszeit an, bei den Betriebsratsvorsitzenden stieg die Anteil der dritten Amtszeit von 2002 auf 2010 gar von 56 % auf 68 %. (Grei -

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Integrationsstrategie gegenüber den Betriebsräten fahren. Zwar dürfen Betriebsräte keine finanzielle Vergütung erhalten. D. h. ihr Verdienst soll lediglich den Verdienstausfall ihrer eigentlichen Tätigkeit ausgleichen. Allerdings soll eine normale Weiterentwicklung der Aufstiegsmöglichkeiten angenommen werden. Dies wird von vielen Großunternehmen so interpretiert, dass sie eine kontinuierliche, mehr oder weniger steile Karriere für ihre Betriebsräte annehmen und diese so – ganz legal – versuchen einzukaufen. 51 Damit sind alle illegalen Praktiken von Lustreisen, über luxuriöse Dienstwägen und Sonderboni und ähnliches noch nicht berücksichtigt.52 Wenn nun Hermann Kotthoff neues Konfliktpotenzial in den Betrieben diagnostiziert und zwar zwischen Belegschaften und dem Arbeitgeber, aber durchaus auch zwischen Belegschaften und den Betriebsräten, dann könnte dies dem Wiederaufbau von Vertrauensleuten und ihren Netzwerken eine neue Bedeutung geben. Eberhart Schmidt erhoffte sich 1974, dass die neue Rolle der Vertrauensleute, ihr gestiegenes Gewicht gegenüber den Betriebsräten, dazu beitragen könnte, »die Gewerkschaften im Betrieb wieder stärker als Kampforgan gegenwärtig« sein zu lassen. Nur gegen den Widerstand der Gewerkschaftsapparate und der Masse der Betriebsräte werde sich ein solcher Prozess der Neubestimmung betrieblicher Gewerkschaftspolitik durchsetzen lassen. Schmidt wies damals auf die Erfahrungen der Klassenkämpfe in Italien, Frankreich und Großbritannien hin, in denen nach 1968 betriebliche Kampforganisationen einen großen Einfluss gewonnen hatten, und schloss daraus für die zukünftige Entwicklung in Deutschland, dass »von sozialpartnerschaftlich angelegten Interessenvertretungsorganen im Betrieb die Initiativen für die Durchsetzung der Forderungen der Lohnabhängigen nicht ausgehen können. Dafür müssen sich ›Rätestrukturen‹ herausbilden, die nicht wie die Betriebsräte seit 1920 auf friedliche Kooperation mit den Unternehmern festgelegt sind.« 53 Der überbetriebliche zentrale Vertrauensleute-Ausschuss in Frankfurt und die branchenweiten Vernetzungsstrukturen der Vertrauensleute in der Stahlindustrie zeigen Konturen einer 51

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fenstein u.a.: Trenreport S. 52) BASF z.b. hatte die Verdienste ihrer Betriebsräte offengelegt: Drei der insgesamt 53 Betriebsräte verdienen den Angaben zufolge 100.000 bis 150.000 Euro im Jahr. Der Schnitt liegt bei 60.000 Euro jährlich. (Quelle Focus xx) Das Kapital ist sich seiner Integrationsbemühungen durchaus sehr bewusst: »Klaus Volkert, ExBetriebsratschef von VW, erinnert sich: >Klaus, wenn du nicht im Betriebsrat wärst, dann wärst du bei uns im TopmanagementDa das aber nicht so ist, gucken wir, wie wir das im Rahmen unserer Möglichkeiten hinkriegen