Katholische Kirche und Gewerkschaften

Oswald von Nell-Breuning SJ Katholische Kirche und Gewerkschaften Was haben Kirche und Gewerkschaften überhaupt miteinander zu tun? Als nach Gründun...
Author: Leopold Holtzer
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Oswald von Nell-Breuning SJ

Katholische Kirche und Gewerkschaften

Was haben Kirche und Gewerkschaften überhaupt miteinander zu tun? Als nach Gründung des DGB die Begegnungen und Aussprachen zwischen Gewerkschaftsführern und Vertretern der Kirchen anliefen, wurde diese Frage mehrfach gestellt (ein einflußreicher Gewerkschaftsführer äußerte sogar die Meinung, sie hätten rundweg nichts miteinander zu tun und daher auch nichts miteinander zu besprechen, was ihn jedoch nicht davon abhielt, sich an den Aussprachen zu beteiligen). Tatsächlich ist der Gesprächsstoff nie ausgegangen. Nichtsdestoweniger ist die Frage berechtigt: Welche Beziehungen bestehen tatsächlich zwischen Kirche und Gewerkschaften oder könnten und sollten doch vielleicht zwischen ihnen bestehen? Welche Haltung nimmt die Kirche zu den Gewerkschaften ein und wie verhalten sich diese gegenüber der Kirche? Man kann die Frage grundsätzlich stellen, man kann aber auch nach dem rein tatsächlichen Befund fragen. Grundsätzlich sind die Fragen weltweit wesentlich die gleichen, dagegen sind die geschichtliche Entwicklung und die aus ihr erwachsene Lage in jedem Land eine andere, nicht zuletzt deswegen, weil die Gewerkschaften in verschiedenen Ländern selbst sich in gewichtigen Stücken voneinander unterscheiden. Wenn ich auf Einladung der Gewerkschaftlichen Monatshefte mich hier zu diesen Fragen äußere, dann beziehen sich meine Aussagen bezüglich der Kirche immer auf diejenige Kirche, der ich selbst angehöre, d. h. auf die katholische Kirche, und beanspruchen folgerecht Gültigkeit ausschließlich für sie. Auf die anderen christlichen Kirchen, ihr zum Teil anderes Selbstverständnis und dementsprechend andere Haltung auch gegenüber den Gewerkschaften ist im Rahmen des mir gestellten Themas ohnehin nicht einzugehen. Daß ich vorzugsweise die Entwicklung bzw. die Lage in Deutschland bzw. im deutschen Sprachbereich (Österreich, deutschsprachige Schweiz) berücksichtige, dürfte sich, da mein Aufsatz in einem Organ des Deutschen Gewerkschaftsbundes erscheint, von selbst verstehen. Traditionsbelastung der Kirche Hätte die Kirche sich von Anfang an den Gewerkschaften gegenüber aufgeschlossen und verständnisvoll gezeigt, dann brauchte man über die Frage, was 421

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denn Kirche und Gewerkschaften mit einander zu tun haben, gar nicht zu reden. Ganz von selbst hätte sich — wie dies beispielsweise in den USA in begrüßenswerter Weise zutrifft — eine Zusammenarbeit oder mindestens ein Hand-inHand-Gehen entwickelt. Leider hat die katholische Kirche — bei den anderen Kirchen liegt der Fall aber kaum anders — in der Mehrzahl der Länder, ganz bestimmt bei uns, sehr lange Zeit gebraucht, um ein positives Verhältnis zu den Gewerkschaften zu finden, und tut sich damit zum Teil heute noch schwer. Der letzte und entscheidende Grund für die bedauerliche Tatsache liegt unverkennbar in der Verständnislosigkeit, mit der die Kirche — wiederum nicht die katholische Kirche allein — der Arbeiterbewegung gegenübergestanden hat. Da die Arbeiterbewegung sich, wenn auch nicht ausschließlich, so doch am deutlichsten und greifbarsten in den Gewerkschaften verkörpert, kann, wer die Arbeiterbewegung nicht versteht, unmöglich den Gewerkschaften gerecht werden. Die Kirche hat lange bestanden, bevor es den freien Lohnarbeiter und eine Arbeiterschaft im heutigen Wortsinn gab; im Vergleich zur bald zweitausendjährigen Geschichte der Kirche sind sie eine ganz junge zeitgeschichtliche Erscheinung; eine „Arbeiterfrage" im heutigen Sinn gibt es erst seit dem Aufkommen des modernen Industrialismus, der in den fortgeschrittenen Ländern mit dem 19. Jahrhundert beginnt und erst im 20. Jahrhundert sich weltweit durchsetzt. Das Elend, unter dem die neu aufkommende Industriearbeiterschaft litt, hat die Kirche selbstverständlich gesehen, aber sie begriff nicht, was da vor sich ging. In den Vorstellungen der Zeit vor der Französischen Revolution befangen sah die Kirche den Industriearbeiter — wenn man es so ausdrücken darf — als einen seinem Meister entlaufenen Handwerksgesellen an, den es in die Obhut und Zucht seines Meisters zurückzuführen gelte; dann würde wieder alles im Lot sein. Daß es sich hier nicht um den Zerfall des Handwerks, sondern um den Aufstieg von etwas unerhört Neuem, der Industrie, handele, und daß es daher auch nicht die Aufgabe sein könne, dem Handwerk seinen verlorenen goldenen Boden und seine patriarchalische Ordnung wiederzugeben, wurde völlig verkannt. Zu der Einsicht, daß hier etwas Neues, eine neue gesellschaftliche Großgruppe im Entstehen oder schon entstanden war, daß damit an die Stelle der alten geburts- und herrschaftsständischen Gesellschaftsordnung die kapitalistische Klassengesellschaft und die Klassenlage der Arbeiterschaft getreten war, zu dieser Erkenntnis der Marxschen Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik hat sich auf katholischer Seite als erster gegen Ende der 1860er Jahre der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteier mühsam durchgerungen; weitere Jahrzehnte hat es gebraucht, bis sie sich in kirchlichen Kreisen allgemein durchgesetzt hat; förmlich in die Soziallehre der katholischen Kirche ist sie erst eingegangen mit der Enzyklika Quadragesimo anno Papst Plus' XL im Jahre 1931, aber auch darüber hinaus sträubte man sich noch lange Zeit, die Arbeiterschaft als gesellschaftliche „Klasse" und deren Berechtigung, um Verbesserung ihrer Lage zu kämpfen, vorbehaltlos anzuerkennen. Typisch dafür ist, 422

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daß man selbst in Kreisen der Katholischen Arbeiterbewegung sich noch sehr lange von der Parole der „Standwerdung der Arbeiterschaft" nicht lösen konnte; die Arbeiterschaft sollte als „vierter Stand" am Fuß der Gesellschaftspyramide ihren Platz finden. Solange man auf katholischer Seite solchen Vorstellungen verhaftet blieb, verschloß man sich dem Verständnis der Arbeiterbewegung und vollends dem Verständnis der Gewerkschaften. Daß die Arbeitnehmerschaft eine gesellschaftliche Klasse ist, die als solche gegen ihre Klassenlage in der kapitalistischen Klassengesellschaft ankämpft, daß es in diesem Sinn einen durchaus legitimen Klassenkampf gibt, daß die Arbeiterschaft berechtigt ist, das herrschende „System" nicht nur in Frage zu stellen, daß sie sich vielmehr zum Ziele setzen darf, es zu „überwinden", diese Erkenntnis findet sich erstmalig und leider einmalig in dem bereits genannten Dokument Papst Pius' XL 1931 ausgesprochen. Frühere und spätere Dokumente enthalten schärfere Anklagen gegen verwerfliche Erscheinungen im derzeitigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben, aber keine ebenso tief dringende Analyse, die wesentliche Stücke mit der Marxschen gemein hat. Auch heute sind diese Erkenntnisse noch längst nicht Gemeingut auf katholischer Seite geworden. Man hat sich zwar inzwischen von der alten Vorstellung der geburtsund herrschaftsständischen Gesellschaftsordnung gelöst oder richtiger gesagt, sie ist, weil völlig wirklichkeitsfremd, der Vergessenheit anheimgefallen. Damit ist dieses Hemmnis, das einer klaren Erkenntnis der gesellschaftlichen Situation im Wege stand, zwar weggefallen; die Klassenlage der Arbeitnehmerschaft und die daraus sich ergebenden Folgen vorbehaltlos anzuerkennen verursacht aber immer noch Beklemmungen. Institutionelle Reformen und Gesinnungswandel Aber noch ein anderes Hindernis stand dem Verständnis der Gewerkschaften entgegen. Jahrzehntelang wurde in katholischen Kreisen eine geradezu leidenschaftliche Kontroverse geführt unter den Stichworten: Gesinnungswandel oder institutionelle Reform? Hängt nicht alles vom guten und bösen Willen der Menschen ab? Müssen wir nicht gerade als Christen uns darum bemühen, das Böse durch das Gute, den bösen Willen durch den guten zu überwinden? Ähnlich wie später in außerkirchlichen und selbst außerchristlichen Kreisen das „moral rearmament" meinte: bemühen wir uns doch, bessere Menschen zu sein; helfen wir den Arbeitgebern, bessere Arbeitgeber, und den Arbeitnehmern, bessere Arbeitnehmer zu werden; seien wir alle nett zu einander, dann regelt sich doch alles von selbst, ohne sittliche Besserung der Menschen ist ohnehin jede institutionelle Reform zum Mißerfolg verurteilt. So eine zeitweilig sehr einflußreiche Richtung innerhalb der katholischen Kirche. Die Gewerkschaften setzten sich nun aber ganz entschieden für institutionelle Reformen ein. Sie begnügten sich nicht, einzelne Verstöße zu rügen, dort, wo es an gutem Willen fehlt, den bösen Willen zu beugen und ihm das, was er 423

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freiwillig nicht hergibt, abzuzwingen; sie gingen weiter, wollten an die Wurzel der Übel und Ungerechtigkeiten heran oder jedenfalls an das, was sie als deren Wurzel ansahen; das aber bedeutete mehr oder weniger weitgehende institutionelle Reformen. Für die breite Strömung unter den Katholiken, die alles vom Gesinnungswandel erwartete und sich von institutionellen Reformen nichts versprach, war damit das Urteil über die Gewerkschaften gesprochen; ohne die von den Gewerkschaften aufgestellten Forderungen in Augenschein zu nehmen und einzeln zu prüfen, konnten und mußten sie den Weg, den die Gewerkschaften gingen, pauschal als Irrweg ablehnen. Erst durch Papst Pius XI. wurde dieses Hindernis ausgeräumt, indem er dem unsinnigen Entweder-Oder das allein sinnvolle Sowohl-als-Auch entgegenstellte. Mag die Kirche sich vorzugsweise um den Gesinnungswandel bemühen, so mögen die Gewerkschaften mit aller Kraft die institutionellen Reformen betreiben. Das bedeutet aber keine strikte Arbeitsteilung; der zur Tat aufgerufene gute Wille wird sich im Kampf um die institutionellen Reformen engagieren, wie denn die Gewerkschaften selbst ihre Kraft zu diesem Kampf nicht so sehr aus den Geldleistungen derer schöpfen, die oben den Beitrag einwerfen, um unten die Lohnerhöhung zu entnehmen, als vielmehr aus der Solidarität, d. i. der ethisch begründeten Einsatzbereitschaft ihrer Mitglieder mit- und füreinander. — Inzwischen lebt kaum noch eine Erinnerung fort an die institutionelle Reformen grundsätzlich ablehnende Haltung, die damals für weite Kreise katholischer Intellektueller und des katholischen Klerus ein unübersteigliches Hindernis bildete, sich positiv zu den Gewerkschaften einzustellen; man muß aber darum wissen, um vieles, was damals geschah, nicht zuletzt auch die Hilflosigkeit dieser Kreise gegenüber dem Nationalsozialismus, verstehen zu können. Solange weder die Klassenlage der Industriearbeiterschaft begriffen war noch überhaupt der Gedanke an institutionelle Reformen Eingang gefunden hatte, fehlte offenbar der Schlüssel zum Verständnis der Gewerkschaften und war die Kirche außerstande, die Gewerkschaften als das, was sie sind und sein wollen, anzunehmen und zu bejahen. Dazu kommt aber noch etwas anderes. Eigentum und Sozialisierung In den Jahrhunderten vor der Französischen Revolution hatte die kirchliche Hierarchie mit den weltlichen Großen aufs engste zusammengelebt; als die feudale Struktur der Gesellschaft in der Revolution zusammenbrach und das Bürgertum die führende Rolle in der Gesellschaft an sich riß, setzte die kirchliche Hierarchie diese Symbiose mit diesem — man möchte sagen: unreflektiert — fort. Das Bürgertum aber erhob das Eigentum zu seinem Götzen, erklärte es für „sacre et inviolable", „heilig und unverletzlich", und — so befremdlich das auch erscheinen mag — die Kirche trat dem nicht nur nicht entgegen, sondern ließ sich von ihrer bis dahin immer sehr reserviert-kritischen Haltung gegenüber dem Eigentum, insbesondere gegenüber dem großen Eigentum, d. i. dem Reichtum, 424

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weitgehend abbringen und auf die Linie einer dem damaligen Zeitgeist konformen, uns heute kaum noch verständlichen liberal-individualistischen Eigentumsauffassung hinüberziehen. Und das geschah ausgerechnet zu der Zeit, als auf seiten der Arbeiterbewegung sich immer stärker die Überzeugung durchsetzte, die Übel, unter denen die Arbeiterschaft zu leiden habe, entsprängen dem Privateigentum an den Produktionsmitteln; die Einführung privaten Eigentums an den Produktionsmitteln sei der wahre Sündenfall der Menschheitsgeschichte; das Eigentum überhaupt oder jedenfalls das private Eigentum an den Produktionsmitteln sei zu beseitigen; damit wäre mehr oder weniger allem Übel abgeholfen. Indem die Kirche sich für die Institution des Eigentums einsetzte und weitgehend sogar deren liberal-individualistische Interpretation sich zu eigen machte, schien sie sich eindeutig auf die Seite der „Kapitalisten" zu schlagen und als Gegnerin der Arbeiterschaft zu bekennen. Wenn unter diesen Umständen die Gewerkschaften die Sozialisierung, d. i. die Überführung der Produktionsmittel aus dem privaten in das öffentliche, allgemeine oder gesellschaftliche Eigentum als die Lösung der sozialen Frage proklamierten, die Kirche dagegen glaubte, gegen diese Zielsetzung grundsätzliche Einwendungen erheben zu müssen, dann standen Kirche und Gewerkschaften miteinander im Konflikt. Seither haben beide Seiten zugelernt und umgelernt. Die Gewerkschaften sind sehr viel behutsamer geworden in dem, was sie sich von der Sozialisierung versprechen; die Kirchen — oder jedenfalls die katholische Kirche — haben sich auf ihre ureigene Haltung dem Eigentum gegenüber zurückbesonnen, betonen heute mit Nachdruck dessen Sozialgebundenheit und anerkennen, daß je nach Lage der Dinge die Überführung von privatem Eigentum in Gemeineigentum („Sozialisierung") nicht nur berechtigt, sondern um des Gemeinwohls willen sogar geboten sein kann. Auf beiden Seiten hat sich eine solche Revision vollzogen; allerdings hat sie sich bis heute auf keiner der beiden Seiten völlig durchzusetzen vermocht. Die geistig führenden Kreise auf beiden Seiten sind, wenn schon nicht völlig einer Meinung, so doch ganz nahe bei einander; auf der mittleren und unteren Ebene dagegen sind auf beiden Seiten immer wieder rückläufige Entwicklungen, ja selbst förmliche Rückfälle in die alte Haltung zu beobachten. Wie dem auch sei: grundsätzlich brauchte die Eigentumsfrage die Beziehungen zwischen Kirche und Gewerkschaften heute nicht mehr zu belasten. Bewußt oder unbewußt wirkt aber der frühere Gegensatz immer noch nach; zum mindesten besteht ein gewisses Mißtrauen noch fort, und jede unbedachte Äußerung eines Gewerkschaftsfunktionärs, jedes fehlerhafte Verhalten eines Dieners der Kirche gibt diesem Mißtrauen neue Nahrung, wobei natürlich jeder die Schuld beim anderen sucht. Besonders mißlich wirkt es sich aus, wenn Kreise, die sich gern als „die Wirtschaft" bezeichnen, es verstehen., ihre Eigentumsideologie immer wieder christlich zu verbrämen, und von kirchlicher Seite versäumt wird, ihnen für diesen Appell an das „christliche Gewissen der anderen" (!) die gebührende Abfuhr zu erteilen. 425

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Im politischen Raum spielen die Eigentumsinteressen und die sehr unterschiedliche Bereitschaft, die Sozialgebundenhe'it des Eigentums anzuerkennen, nach wie vor eine maßgebliche, um nicht zu sagen die beherrschende Rolle; für die Kirche dagegen war die Übersteigerung der Eigentumsfrage — so glaube ich heute sagen zu dürfen — eine Episode des 19. Jahrhunderts, die heute hinter ihr liegt. Interessenvertretung und Interessenkonflikt Noch keineswegs ausgestanden oder ausgetragen ist dagegen für die Kirche das Problem der Interessenvertretung und namentlich der kämpferischen Austragung von Interessenkonflikten; bis heute sind Bedenken, Zweifel und Hemmungen gegenüber Interessen und Interessenkonflikten auf kirchlicher Seite noch nicht restlos behoben. Nun sind Gewerkschaften zwar gewiß nicht die einzigen Organisationen der Interessenvertretung, auch nicht die einzigen, die gewillt und imstande sind, im Fall von Interessenkonflikten, wenn Vernunftgründe allein nicht zum Ziel führen, mit Mitteln des Druckes nachzuhelfen. Grundsätzlich müßte die Kirche daher ihre Bedenken gegen Interessen und kämpferische Austragungen von Interessenkonflikten nicht den Gewerkschaften allein, sondern allen Interessenverbänden ohne Unterschied entgegenhalten. Begreiflicherweise stoßen aber immer gerade die Interessen solcher Gruppen auf Zweifel und Bedenken, in deren Lage man sich nicht hineindenken kann und deren Interessen man daher auch nicht zutreffend zu würdigen vermag, genau das aber traf bei der Kirche in bezug auf die Lage der Arbeiterschaft zu. Solange die Kirche die Klassengesellschaft und die damit gegebene Klassenlage der Arbeiterschaft verkannte, mußten ihr die von den Gewerkschaften geltend gemachten Interessen und erst recht der Wille, ihre Forderungen zu erkämpfen, nicht nur bedenklich, sondern im tiefsten Grunde verfehlt erscheinen; in ihr statisch konzipiertes Ordnungsbild der Gesellschaft paßte das alles nicht hinein. Da aber Interessenvertretung und die Entschlossenheit, für diese Interessen notfalls zu kämpfen, konstitutive Merkmale einer Gewerkschaft sind, mußte die Kirche, um die Gewerkschaften als solche bejahen zu können, zuvor mit sich selber darüber ins reine kommen: 1. daß Interessen und folgerecht Interessenvertretung überhaupt legitim sind oder doch legitim sein können; 2. ob überhaupt und zutreffendenfalls unter welchen Voraussetzungen und in welchen Grenzen es zulässig ist, Interessenkonflikte kämpferisch auszutragen? Uns heutigen Menschen fällt es einigermaßen schwer, diese Problematik überhaupt zu verstehen. Daß es Interessen gibt, daß man Interessen hat und sie geltend macht, daß man, um sie nachdrücklicher und wirksamer geltend zu machen, eigene Einrichtungen der Interessenvertretung schafft, das alles erscheint uns heute schlechthin selbstverständlich. Immerhin sollten wir bedenken, daß es wohl nicht ganz von ungefähr ist, wenn Wörter wie „Interessent" und „Interessen(ten)haufen" auch in unserem heutigen Sprachgebrauch einen abschätzigen Klang 426

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haben, vom „Interessen(ten)klüngel" ganz zu schweigen. Gegen „Interessen" und gegen diejenigen, die „Interessen" verfechten, besteht auch heute noch, um das mindeste zu sagen, eine weitverbreitete Voreingenommenheit. Ist es nicht wirklich ein sittlicher Makel, ist es nicht Ausfluß der Selbstsucht, des Eigennutzes, auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein anstatt selbstlos und uneigennützig sich des Wohles seiner Mitmenschen und der Allgemeinheit anzunehmen? Bestätigen die Vertreter aller erdenklichen Interessen dies nicht selbst, indem sie sich ständig um den Nachweis bemühen, das, wofür sie sich einsetzen, sei gar nicht ihr Sonderinteresse, sondern liege im Interesse der Allgemeinheit, sei eine Forderung des allgemeinen Wohles? Und verlangt nicht gerade die christliche Lehre mit ihrem Gebot, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, die Interessen des anderen ganz ebenso zu gewichten und für sie ebenso entschieden einzutreten wie für die eigenen? So ganz aus der Luft gegriffen ist es also nicht, wenn die Kirche gegen Interessen und Interessenvertretung von jeher kritisch eingestellt war und ist. übte sie diese kritische Zurückhaltung allen Interessen gegenüber gleichmäßig, dann hätte niemand Anlaß, sich zu beschweren; wahrscheinlich würden wir alle das gutheißen. Daß Interessen an sich nichts Böses sind, daß es durchaus legitime, ja sogar pflichtmäßig zu vertretende Interessen gibt, war für die Kirche natürlich nie zweifelhaft. Ihr Verdacht und ihre Voreingenommenheit gegen Interessen und Interessenten haben ihren Grund in der Erfahrung, daß allzu oft die Grenze der legitimen Interessen überschritten wird, daß Eigeninteressen auch dann noch verfolgt werden, wenn das auf Kosten legitimer Interessen anderer geht und deren Rechte überfahren werden. Interessen und deren Vertretung müssen sich daher der Prüfung stellen; wer guten Gewissens überzeugt ist, diese Grenze nicht zu überschreiten, braucht die Prüfung nicht zu scheuen. Daß auch der arbeitende Mensch legitime Interessen hat, das hat die Kirche — wie schon gesagt — nie verkannt; leider nur hat sie von einem nicht mehr zutreffenden Ordnungsbild der Gesellschaft ausgehend die Lage der Arbeiterschaft falsch interpretiert und infolgedessen die Berechtigung mancher von den Gewerkschaften erhobener Forderungen, insbesondere der Forderung institutioneller Reformen, nicht oder doch nicht rechtzeitig erkannt. Daß sie gegenüber Forderungen von anderer Seite nicht immer die gleiche kritische Haltung eingenommen, daß sie vor allem eine Schlagseite zur Beharrung und eine übertriebene Scheu vor fortschrittlichen Maßnahmen gezeigt und dadurch gefehlt hat und nicht selten auch heute noch fehlt, soll weder verschwiegen noch beschönigt werden. Vielleicht ist auch ein Hinweis nicht überflüssig auf eine Selbsttäuschung, in der die Kirche befangen war. Das Bewußtsein, im Besitz der ethischen Maßstäbe zu sein, verführte die Kirche zu der irrigen Meinung, besser als die Arbeiter selbst oder deren gewerkschaftliche Vertreter beurteilen zu können, welche Forderungen berechtigt seien und welche das rechte Maß überschritten; aus diesem Grunde erachtete sie sich dazu berufen, die Arbeiter zu bevormunden. Heute 427

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weiß man auch an kirchlicher Amtsstelle, daß ethische Maßstäbe allein nicht ausreichen, daß vielmehr ein hoher Grad von Sachkunde hinzukommen muß, über die ein gewerkschaftlicher brain-trust selbstverständlich in höherem Maße verfügt als ein bischöfliches Ordinariat. Immerhin möge man nicht vergessen: als die Kirche die Sachkunde ihrer eigenen Diener so sehr überschätzte, waren die Gewerkschaften noch weit davon entfernt, brain-trusts zu haben, und waren es die von den Schlotbaronen als „Hetzkapläne" beschimpften, sozial engagierten jungen Priester, die sich der Bildungsarbeit im Katholischen Arbeiterverein annahmen, durch die ein namhafter Teil der katholischen Arbeiter überhaupt erst gewerkschaftsfähig gemacht wurde. (Noch heute erinnere ich mich sehr gut, wie Adolf Wagner in seiner Vorlesung im Wintersemester 1909/10 rühmend hervorhob, daß katholische Bischöfe ihre jungen Priester zum Studium zu ihm entsandten, und sein schmerzliches Bedauern darüber ausdrückte, daß seine eigene Kirche nicht das Gleiche tat.) Auf die Tatfrage, ob die Gewerkschaften nicht nur nach ihrer subjektiven Meinung und Absicht, sondern auch objektiv sich immer in den Grenzen der Vertretung legitimer Interessen gehalten haben und in der Zukunft halten werden, ist hier nicht einzugehen; sie läßt sich allgemeingültig überhaupt nicht beantworten; jeder einzelne Fall ist zu prüfen. Fühlte die Kirche sich früher berufen und erachtete sie sich imstande, in jedem Fall ein sicheres Urteil abzugeben, so weiß sie heute, daß, wenn überhaupt, so jedenfalls ihr die für ein sicheres Urteil erforderlichen Unterlagen nicht vorliegen; sie kann und wird nur noch in eklatanten Fällen, wo Recht und Unrecht klar zutage liegen, sich zu Worte melden. Gewerkschaft als Kampfverband Wesentlich ernstere Schwierigkeiten als die Interessenvertretung als solche bereitete und bereitet bis zu einem gewissen Grade der Kirche auch heute noch die kämpferische Durchsetzung von Interessen wie die kämpferische Austragung von Konflikten überhaupt. Auch die Rechtswissenschaft hat ja bis zur Stunde immer noch mit der Frage zu ringen, inwieweit innerhalb einer Rechtsfriedensordnung für Selbsthilfe überhaupt und insbesondere für „gewaltsame" Selbsthilfe durch Einsatz von Macht- und Druckmitteln Raum ist. Wenn schon die Rechtswissenschaft sich damit schwer tut und wenn sie sich unablässig bemüht, die zwar nicht gewalttätige, aber doch gewaltsame Selbsthilfe in Gestalt der Arbeitskämpfe nicht ausufern zu lassen, sondern tunlichst einzugrenzen, dann ist es nicht zu verwundern, daß erst recht die Kirche allem, was nach einem Bruch des Rechtsfriedens aussieht, abgeneigt ist und ihm zunächst einmal Mißtrauen entgegenbringt. Es genügt, sich zu erinnern, wie lange die Juristen den Streik mit strafrechtlichen Begriffen wie Nötigung oder gar Landfriedensbruch angingen, um zu verstehen, daß auch die Kirche ihre Zeit brauchte, bis sie erkannte, daß es Lagen gibt oder jedenfalls geben kann, in denen der Streik eine Maßnahme rechtmäßiger Selbsthilfe ist; desgleichen, daß die Kirche so wenig 428

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wie die Juristen in der Lage ist, die Grenzen der Streikfreiheit oder des Streikrechts völlig zweifelsfrei zu umschreiben. — Unzutreffend ist, was immer wieder kolportiert wird, Papst Leo XIII. habe den Streik als ein „Übel" bezeichnet und damit als etwas Böses verurteilt. Schlägt man die Stelle nach, dann stellt sich heraus, daß er den Streik nicht als ein „malum" (sittliches Übel), sondern als ein „damnum", als einen Schaden, einen volkswirtschaftlichen Verlust und damit ganz in Übereinstimmung mit dem Bundesarbeitsgericht als „unerwünscht" bezeichnet; anders jedoch als das Bundesarbeitsgericht, das nur die rechtlichen Grenzen abzustecken hat, zieht er die praktisch-politische Nutzanwendung: man soll dem Streik vorbeugen, indem man seine Ursachen ausräumt („Rerum novarum" n. 31). — Die sogenannte Pastoralkonstitution des 2. Vatikanischen Konzils anerkennt den Streik, und zwar ausdrücklich nicht nur den Verteidigungsstreik, sondern auch den Angriffsstreik, als erlaubt — selbstverständlich immer nur als „ultima ratio" („Gaudium et spes", n. 68), also in vollem Einklang mit den DGB-Gewerkschaften. „Systemüberwindende" Zielsetzungen In bezug auf Vertretung der Arbeitnehmerinteressen und Bereitschaft, notfalls für diese Interessen zu kämpfen, bestehen zwischen den Gewerkschaften im einzelnen gewichtige Unterschiede sowohl hinsichtlich der Ziele, die sie erstreben, als auch hinsichtlich der Mittel, die sie dafür einsetzen. Auch unter den nicht-kommunistischen Gewerkschaften gibt es sowohl solche mit „systemüberwindender" als auch solche mit system-immanenter Zielsetzung. Beide arbeiten auf dem Boden der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsweise, aber die einen lehnen sie oder global den „Kapitalismus" ab und erstreben eine andere gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung; andere dagegen — so insbesondere die USA-Gewerkschaften — bejahen free enterprise und free competition mit allen Konsequenzen und wollen die Lage der Arbeitnehmerschaft im Rahmen dieser Ordnung immer weitsr anheben. Mit diesem Unterschied in der Zielsetzung überschneidet sich ein anderer in der Wahl der Mittel: Die einen Gewerkschaften halten sich streng an die geltende Rechtsordnung und bedienen sich zur Verwirklichung ihrer Ziele ausschließlich der von dieser zur Verfügung gestellten Mittel; andere dagegen (darunter auch solche, die an der kapitalistischen Wirtschaftsweise gar nicht rütteln wollen) sind verhältnismäßig schnell bereit, nach den Sternen oder in die eigene Brust zu greifen, um das, was die bestehende verfassungsrechtliche Ordnung ihnen versagt, von oben herunterzuholen oder aus dem Rechtsbewußtsein im eigenen Inneren zu erheben. Unvermeidlich bestimmt diese unterschiedliche Haltung der Gewerkschaften auch die Haltung der Kirche ihnen gegenüber in entscheidender Weise. Hinsichtlich der pro- oder antikapitalistischen Zielsetzung hat die Kirche keine Stellung zu beziehen; wie die Wahl der Staatsform, so steht auch die Wahl der Wirtschaftsweise den Menschen frei; die sittliche Norm erschöpft sich in der Forderung, den Belan429

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gen und Bedürfnissen aller (!) gerecht zu werden; zu beurteilen, welche Wirtschaftsweise unter den jeweils gegebenen Umständen dazu am besten geeignet erscheint, ist Sache des Sachverstandes. Bei der Wahl der Mittel dagegen kommen rechtliche und sittliche Normen viel unmittelbarer ins Spiel; hier kann die Kirche sich sehr wohl veranlaßt sehen, sich zu äußern, wie sie es beispielsweise zur Frage der grundsätzlichen Erlaubtheit des Streiks getan hat. Über solche grundsätzliche Stellungnahmen zu Fragen der sittlichen Ordnung hinaus dürften kirchliche Stellen auf die verschiedenen gewerkschaftlichen Haltungen — von den Extremfällen „gelber" und wild revolutionärer Gewerkschaften abgesehen — im großen und ganzen wohl so reagieren: Je „zahmer" eine Gewerkschaft ist, um so geneigter wird man auf kirchlicher Seite sein, ihr Vertrauen entgegenzubringen; die Mitgliedschaft von Katholiken in einer solchen Gewerkschaft wird nicht beanstandet, vielleicht sogar der Beitritt zu ihr empfohlen werden; je härter und radikaler eine Gewerkschaft sich gebärdet, um so größerer Zurückhaltung wird die Kirche sich ihr gegenüber befleißigen; die Mitgliedschaft von Katholiken in einer solchen Gewerkschaft wird ungern gesehen, mißbilligt, unter Umständen sogar streng von ihr abgemahnt werden. Soviel zur voraussehbaren Reaktion von kirchlicher Seite auf verschiedene Arten und Weisen, wie eine Gewerkschaft sich selbst, ihre Aufgabe und ihre Ziele versteht und wie sie ihre Aufgabe erfüllt. Für die Zukunft müßte sich also zwischen Kirche und rechtsstaatlich orientierten Gewerkschaften leicht nicht nur ein gutes Verhältnis, sondern ein „arbeitsteiliges" (s. oben!) Zusammenspiel herstellen lassen in der Weise, daß die Kirche durch ihren moralischen Beschuß die Stellungen sturmreif schießt und die Gewerkschaften sie dann stürmen. Damit wäre dann auch die Frage, was Kirche und Gewerkschaften miteinander zu tun haben, auf optimale Weise beantwortet. Aber das ist leichter gesagt als getan. Von der Vergangenheit her ist das Verhältnis von Kirche und Gewerkschaften leider schwer belastet. Die Schuldfrage aufzurollen hat keinen Zweck; das, was geschehen ist, läßt sich weder ungeschehen machen noch wegdisputieren. Aber der Schutt der Vergangenheit muß weggeräumt werden, und dazu ist eine kurze Rückbesinnung unentbehrlich. Sachfremde Konfliktstoffe Das eingangs erörterte, beklagenswert langdauernde Unverständnis der Kirche für die Arbeiterbewegung und erst recht für die Gewerkschaften war ein in der Sache selbst liegendes Hindernis für ein gutes Verhältnis oder gar eine Zusammenarbeit von Kirche und Gewerkschaften. Zusätzlich hat aber noch anderes von der Frühzeit der Gewerkschaften her die Beziehungen zwischen ihnen und der Kirche belastet, das keineswegs sachnotwendig mit dem zusammenhing, was zum Wesensgehalt der Gewerkschaftsbewegung gehört. Infolge des auf kirchlicher Seite be430

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stehenden Unverständnisses für ihre Lage und ihre daraus sich ergebenden Forderungen fühlte die Arbeiterschaft sich von der Kirche verkannt und im Stich gelassen; kein Wunder, daß — jedenfalls in den kontinentaleuropäischen Ländern — nicht ein aus christlichen Quellen gespeister, sondern ein anti-christlicher, näher-hin ein marxistisch-atheistischer Sozialismus sich durchsetzte und weithin die Gewerkschaftsbewegung prägte und deren Führung übernehmen konnte. Daß die Kirche den damals bei vielen Gewerkschaften herrschenden militanten Atheismus nicht gutheißen konnte, bedarf keiner Begründung. Anstatt aber diese Einstellung der Gewerkschaften zu beklagen und um ihretwillen die Gewerkschaften zu bekämpfen und die gläubigen Christen vom Eintritt in die Gewerkschaft abzuhalten, hätte die Kirche besser daran getan, nach der Ursache zu fragen, warum breiteste Massen der Arbeiterschaft eine Wendung ihrer Lage zum Besseren nicht von der Kirche, nicht von einer aus christlichem Gedankengut gespeisten Bewegung, sondern von dem damals marxistischatheistischen Sozialismus erwarteten. Als die Kirche, d. i. die kirchliche Hierarchie, Papst und Bischöfe, sich schließlich zur klaren Erkenntnis der Situation durchrangen, war es viel zu spät; längst hatte ein Großteil der Arbeiterschaft, und gerade der aktivste Teil, sich der einzigen Bewegung angeschlossen, die ihm seine Lage deutete, sich die Folgerungen daraus zu eigen machte und die Mittel und Wege wies, um sie durchzusetzen. Christlich-nationale Gewerkschaften Daß auch aus christlichen Impulsen eine Arbeiterbewegung hervorgehen kann, haben — im deutschen Sprachbereich; in England liegen die Dinge anders — nicht kirchenamtliche Kreise erkannt und in die Tat umgesetzt, sondern katholische Arbeiter, die von dem in den damaligen „freien" Gewerkschaften herrschenden Atheismus abgestoßen zur Gründung eigener Gewerkschaften schritten, die sie „christlich-nationale Gewerkschaften" nannten; in ihnen sollten gläubige Christen, die zugleich staatstreue Bürger sein wollten, sich wohl fühlen können. Und hier beging die Kirche den noch verhängnisvolleren Fehler: Obwohl diese durch und durch christlich-gläubigen und kirchentreuen Männer sich zu dem schweren Schritt, sich von den „freien" marxistisch-sozialistischen Gewerkschaften zu trennen und eigene Gewerkschaften zu gründen, letzten Endes um ihres christlichen Glaubens willen entschlossen hatten, zeigte die Kirche ihnen die kalte Schulter und brachte gegen ihre unterschiedslos katholische und nicht-katholische Christen zusammenschließenden Gewerkschaften nur das Bedenken vor, dadurch werde die Reinheit des Glaubens der katholischen Mitglieder gefährdet und dem Interkonfessionalismus und religiösen Indifferentismus Vorschub geleistet. — Diese traurige Episode ist eine Eigentümlichkeit nur der deutschen Gewerkschaftsgeschichte; sie ist aber von solcher Bedeutung und ihre Nachwirkungen im ganzen deutschen Sprachgebiet und darüber hinaus sind auch heute — trotz des dazwischenliegenden tausendjährigen Reiches und der inzwischen vor sich gegangenen weltanschaulichen, politischen und gewerkschaftlichen Wandlungen — immer noch so gewichtig, daß die Erinnerung daran festgehalten werden muß (ausführlicher behandelt 431

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in meinem Beitrag zur Festschrift für Otto Brenner [Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt, 1967]: „Der deutsche Gewerkschaftsstreit um die Jahrhundertwende", S. 19—32). In anderen Ländern ist die Entwicklung wesentlich anders verlaufen. Im angelsächsischen Bereich sind alle diese historischen Belastungen, mit denen wir im kontinental- europäischen Bereich uns herumschlagen müssen, unbekannt. Namentlich in den USA ist die Situation von allen ideologischen Auseinandersetzungen unbelastet. Der US-amerikanische Gewerkschaftsboß versteht sich und seine Gewerkschaft nicht als Kämpfer gegen ein ihm und seinen Mannen verhaßtes bösartiges System, das überwunden werden muß, sondern betätigt sich als cleverer „Unternehmer in manpower", der frei von allem ideologischem Ballast seine „Ware" ganz ebenso zum höchsten erreichbaren Preis zu verkaufen sucht wie andere Unternehmer die ihre. Trotz des manchmal sehr rabiaten Verhaltens US-amerikanischer Gewerkschaften haben zwischen ihnen und der katholischen Kirche dortselbst immer gute Beziehungen bestanden. Hält eine Gewerkschaft ihren Kongreß in einer Stadt ab, in der ein katholischer Bischof seinen Sitz hat, so versteht es sich beinahe von selbst, daß der Bischof aus diesem Anlaß einen feierlichen Gottesdienst hält und in seiner Predigt das Wirken der Gewerkschaft rühmt; noch mehr: drüben gilt es fast als ein „Kirchengebot", daß ein Arbeitnehmer der für ihn zuständigen Gewerkschaft angehört und seinen Beitrag an sie entrichtet und nicht als „Trittbrettfahrer" die von der Gewerkschaft erzielten Vorteile für sich nutzt, ohne sich entsprechend an den Lasten und Aufwendungen zu beteiligen, deren es bedurfte, um sie zu erringen. Gewerkschaften und politische Parteien Für die Lage bei uns in der BRD spielt die Tatsache eine bedeutsame Rolle, daß auf der einen Seite eine weitgehende Personalunion zwischen Gewerkschaften (Gewerkschaftsfunktionären) und der heute gewiß nicht mehr auf Marxismus und noch viel weniger auf Atheismus eingeschworenen Sozialdemokratischen Partei (Parteifunktionären) besteht, auf der anderen Seite aber es so aussieht, als erfreue sich die andere große politische Partei, die sich gerade in jüngster Zeit deutlich unternehmerfreundlich profilierte, besonderen Wohlwollens der Kirche. Es kommt nicht darauf an, ob dem wirklich so ist, sondern darauf, wie es aussieht oder noch genauer, wie es von weiten Kreisen angesehen wird. Der Verdacht, die Kirche halte es mit der sich als unternehmerfreundlich profilierenden politischen Partei, ist dazu angetan, den Verdacht zu erwecken oder, wo er besteht, zu verstärken, die Kirche halte es überhaupt „mit den Kapitalisten" und stehe damit im Verhältnis zu den Gewerkschaften auf der anderen Seite der Barrikade. Daraus entspringen dann wieder auf gewerkschaftlicher Seite unfreundliche Gefühle und unfreundliche Äußerungen gegenüber der Kirche, die natürlich auf kirchlicher Seite wieder zu verstärkter Zurückhaltung gegenüber den Gewerkschaften führen, vor allem aber die Position der gegen die Gewerkschaften kritisch oder skeptisch eingestellten Kirchenmänner stärken und die 432

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Position der den Gewerkschaften gegenüber aufgeschlossenen schwächen. Solange diese Rückkoppelung besteht, wird es schwer sein, bei uns in der BRD zwischen Kirche und Gewerkschaften ein unbefangenes Verhältnis herzustellen. Im Interessenstreit zwischen Unternehmern und Gewerkschaften kann und darf die Kirche nicht zur Parteigängerin werden. Gerade sie muß mit aller Entschiedenheit daran festhalten, daß Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Gewerkschaften und Unternehmer trotz aller Gegensätze letzten Endes aufeinander angewiesen und ihre Interessen unlösbar miteinander verknüpft sind, wie das gerade unsere deutschen Gewerkschaften im Gegensatz zu vielen anderen durch die von ihnen so nachdrücklich erhobene Forderung nach institutionalisierter, eindeutig Mitverantwortung übernehmender Mitbestimmung ins Licht stellen. — Die Kirche muß sich die Freiheit wahren, beiden Seiten, Gewerkschaften und Unternehmern, wenn es not tut, ins Gewissen zu reden. In jedem Fall muß sie sich bemühen, beiden Seiten so gut wie immer möglich gerecht zu werden. Partei nehmen kann die Kirche niemals für die einen gegen die anderen, sondern immer nur für das Recht und gegen das Unrecht oder doch für das, was sie als Recht zu erkennen glaubt, und gegen das, was ihr nach sorgfältiger Prüfung als Unrecht erscheint. Wenn Pius XL in seiner Enzyklika „Quadragesimo anno" sich veranlaßt sieht, über das rechte Maß hinausgehende Ansprüche der Arbeitnehmer in ihre Grenzen zu weisen, ist der Ton immer gütig, und verfehlt er nicht auf die Umstände hinzuweisen, die den Fehler oder Mißgriff entschuldbar erscheinen lassen; den Unternehmern gegenüber ist seine Sprache immer härter. Ebenso bedarf es keines besonders geschulten Ohres, um aus den Ansprachen, die Paul VI. an Unternehmerkreise richtet, einen kritischeren Akzent herauszuhören als aus seinen an Gewerkschaften oder deren Führer gerichteten Worten.

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