Leseprobe aus: Polly Williams. Ja Nein Vielleicht. Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de

Leseprobe aus: Polly Williams Ja Nein Vielleicht Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, R...
Author: Britta Geier
2 downloads 0 Views 222KB Size
Leseprobe aus:

Polly Williams

Ja Nein Vielleicht

Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.

Copyright © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Erstes Kapitel

S

tevie Jonson schaltete ihren Laptop ein. Das Gerät schwankte auf ihren angezogenen Knien und warf einen grünlichen Schimmer auf ihr rundliches, blasses Gesicht, während der Rest des Schlafzimmers im Schatten blieb. Es war ein Uhr dreiundzwanzig. Sie wusste, was passieren würde, wenn sie die Augen schloss. Ihre Hochzeit – seit Mitternacht waren es nur noch dreizehn Tage und vierzehn Stunden bis dahin – hatte eine eigene Stimme entwickelt. Es war eine Stimme, die zunehmend lauter wurde, sobald Stevies Kopf in Richtung Kissen sank, die flüsternd Fragen stellte zur monogamen Ehe oder zur Sitzordnung der Hochzeitsgäste und die in einer Tour unerträgliche HochzeitsDiscoklassiker aus den späten achtziger Jahren summte. Sie schwebte über ihrem Kopf wie eine Wolke aus tausend winzigen schwarzen Fragezeichen. Stevie hatte schon seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Außerstande, noch einer schlaflosen Nacht ins Auge zu sehen, beschloss sie, bis zur äußersten Grenze ihrer Müdigkeit zu gehen und sich so lange wie möglich wach zu halten. Auf diese Weise würde sie bestimmt irgendwann einschlafen können, die Erschöpfung würde sie – wie Steine in den Hosentaschen – in den traumlosen Tiefen erlösenden Schlafs versinken lassen. Bis dahin würde ihr der Alkohol helfen. Sie beugte sich über das Bett, nahm sich ihr Glas vom Nachttisch und 7

trank den letzten Schluck Rotwein. Er vermischte sich durchaus nicht unangenehm mit dem Nachgeschmack von Zahnpasta in ihrem Mund. So gestärkt, warf sie einen Blick in ihre E-Mails; nichts Interessantes dabei. Sie stöberte bei eBay durch die Handtaschen; nichts Interessantes dabei. Sie klickte eine faszinierende Webseite an, bei der sie vor ein paar Tagen ein Lesezeichen gesetzt hatte: Errechnen Sie Ihr wahres biologisches Alter in zehn Minuten. Das konnte witzig sein. Der Gesundheitscheck dauerte eine Ewigkeit. Schließlich kreuzte sie das letzte Kästchen an und bestätigte die Eingabe. Das Modem surrte. Die Webseite stellte ihre Berechnungen an. Ihr biologisches Alter war … siebenunddreißig. Oh. Doch nicht so witzig. Stevie war vierunddreißig Jahre alt. Sie ließ sich schwer in die Kissen sinken, drückte sie tief in die dunkle, zugige Lücke zwischen Bett und Wand. Scheißcomputer. Jetzt fühlte sie sich älter als siebenunddreißig. Sie fühlte sich wie siebenundvierzig. Nein, wie siebenundachtzig. Sie war sterblich. Sie würde sterben – vermutlich vor ihrer Zeit. Sie überlegte, was sie so gründlich falsch gemacht hatte. Es war, als würde sie versuchen, sich am Morgen nach einer Party daran zu erinnern, was sie sich im Vollrausch so alles geleistet hatte. Okay, zugegeben, in ihren Zwanzigern hatte sie zu einer Marlboro Light nicht nein gesagt, aber hatten das nicht alle? Hautenge Jeans waren heute keine Option mehr, aber sie war mit Sicherheit nicht fett, Größe vierzig oder zweiundvierzig, je nach Kleidermarke und Jahreszeit, und sie legte sich auch nicht in die pralle Sonne – der Anreiz dafür war nicht sehr groß, denn die Sonne bewirkte bei ihr nur, dass sich die Sommersprossen in Punkt-zu-PunktBilder verwandelten. Warum sollte sie also unter Denkmalschutz gestellt werden? Stevie holte einmal tief Luft und 8

hielt den Atem an, während sie weiterlas. Okay. Tante Sues Brustkrebs; Großvaters Schlaganfall in seinen besten Jahren; Koffein- und Zuckerkonsum; ihre Abneigung gegen Fitnessstudios; unregelmäßiger Gebrauch von Zahnseide. Ach ja, und die Tatsache, dass sie kein Baby gestillt hatte. Sehr komisch. Stevie knallte den Laptop zu. Die Biologie war plump und taktlos, und das ging ihr allmählich gründlich auf den Geist. Erst im letzten Monat hatte ihr Hausarzt bei einem Routinetermin im Zusammenhang mit der Frage nach ihrem Verhütungsmittel glatt seine Manieren vergessen, als er ihr nüchtern erklärte, in «ihrem Alter» (offenbar antik) sollte sie vielleicht lieber an ihre abnehmende Fruchtbarkeit denken als an Empfängnisverhütung. Als wäre Kinderlosigkeit eine «Lifestyle-Entscheidung» und nicht etwas, was das Leben eben so mit sich brachte. Statt einer Antwort hatte sie mit den Schultern gezuckt wie ein trotziges Schulmädchen. Um schnellstmöglich der erbarmungslosen Nüchternheit der Praxis zu entkommen, hatte sie dem Arzt die Rezeptverlängerung für ihr Verhütungsmittel aus den rosa geschrubbten Händen gerissen, wobei sich ihre Finger flüchtig und etwas unschicklich berührt hatten, bevor sie voreinander zurückzuckten. Wie durch einen grausamen Zufall hatte sie an genau jenem Abend ihr erstes graues Haar entdeckt, blass und geringelt wie eine Alfalfasprosse.

9

Zweites Kapitel

G

ut geschlafen?» Poppy riss den fadenscheinigen blauen Samtvorhang schwungvoll zurück und wirbelte dabei ein Ballett aus Staubkörnchen auf. Stevie blinzelte, als Tageslicht ins Schlafzimmer flutete. «Nein.» Sie lächelte ihre jüngere Schwester schläfrig an, die schwanger und Mutter von zwei Kindern unter fünf war. «Aber ich erwarte kein Mitleid.» Gähnend kletterte sie aus dem Bett – erst der eine nackte Fuß, dann der andere – und schlurfte leise über den knarzenden Kiefernholzboden. Am Waschbecken spritzte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht und betrachtete sich in dem runden, mit Zahnpastaspritzern übersäten Spiegel: Ein Abdruck ihres Kopfkissens zog sich wie eine Narbe quer über ihre linke Wange; erschöpfte, hellbraune Augen; wirres Haar, das zerzaust vom Schlafen und Träumen war. Sie sah aus, als wäre sie die ganze Nacht auf einer Abenteuerreise gewesen und hätte es eben noch geschafft, vor dem Morgengrauen wieder ins Bett zu klettern. Was in gewisser Weise stimmte, dachte sie, während sie sich das Gesicht mit einem Handtuch trocken tupfte und wünschte, sie könnte die Reste des Traums der letzten Nacht abschütteln wie Wassertropfen von ihrem Kopf. Es war ein immer wiederkehrender, beunruhigender Traum, der sie mit einem Ruck aus dem Schlaf gerissen hatte, nur ein paar Sekunden bevor Poppy die Vorhänge zurückgezogen und damit seinen Bann gebrochen hatte. Die Hochzeit war nicht darin vorgekommen, nicht einmal die Webseite. Jez’ Lippe war darin vorgekommen. Vor allem die Art, wie seine Oberlippe morgens an seinen Schneidezähnen klebte. Und wenn er dann lächelte, dehnte sich 10

die Lippe und wurde blass. Das löste im Allgemeinen eine unverhältnismäßig heftige Reaktion bei ihr aus; sie zuckte davor zurück, als schlüge ihr ein besonders übelriechender Atem entgegen. Und jetzt war diese Lippe offenbar in ihr Unterbewusstsein eingedrungen. Wann war ihr diese Lippe zum ersten Mal aufgefallen? Irgendwann in den letzten vier, fünf Monaten vielleicht. Hatte die Lippe schon immer an den Zähnen geklebt? Es schien ihr eher unwahrscheinlich, dass es ein neues Phänomen war. Beziehungen zerbrechen an Details. Konnte die Lippe der Wendepunkt sein? «Hier, ein Tee. Tut mir leid, es war kein anderes Trinkgefäß zur Hand.» Poppy stellte einen großen, dampfenden Becher auf den Stapel vergilbender Taschenbücher neben Stevies Bett, das noch aus ihrer Kindheit stammte. Der Becher war eines der alten Lieblingsstücke ihrer Mutter, mit einem ringsum verlaufenden Zitat von Rebecca West: «Alles, was ich weiß, ist dies: Ich werde von Leuten als Feministin bezeichnet, wenn ich mich nicht mit einem Fußabtreter verwechseln lasse.» Es war ein Becher, bei dessen Anblick die beiden Schwestern im Allgemeinen die Augen verdrehten – ihnen war noch keine Frau begegnet, die weniger einem ­Fußabtreter glich als ihre Mutter –, aber Stevie war heute zu erschöpft, um mit ihrer Schwester darüber zu lästern. «Danke, Poppy.» Stevie nahm ihr den Becher ab, in dem Bewusstsein, dass ihre Schwester es weitaus mehr verdient hätte als sie, dass man ihr Tee ans Bett brachte. Sie setzte sich aufs Bett und schlürfte den Tee, spürte, wie ihr die heiße Flüssigkeit durch die Kehle rann und weiter hinunterfloss bis zu der Stelle, wo ihre Ängste rumorten. Sie rieb sich die Augen. «Ich fühle mich so, wie ich aussehe, Pops.» «Ach, keine Sorge. Hochzeiten bedeuten immer eine Katastrophe für den Schönheitsschlaf», sagte Poppy leichthin, 11

lehnte sich gegen die Heizung und presste ihr Gesäß gegen die warmen Rillen. «Ich war das reinste Nervenbündel vor meiner, weißt du noch?» «Nicht zum Aushalten.» Stevie lächelte und strich sich ihre lockige braune Mähne aus dem Gesicht. «Aber du warst wenigstens organisiert.» «Zu allem fähig, meinst du wohl? Oh, da gebe ich dir gern recht», lachte Poppy, drehte sich um und spähte durch das Schiebefenster hinaus in den Garten ihrer Eltern, den Bauch gegen die kalte Scheibe gepresst, sodass sie sich kreisförmig beschlug. Stevie betrachtete ihre Schwester liebevoll. Sie wirkte heute Morgen fruchtbarer denn je mit ihren rhabarberrosa Wangen und dem Babybauch, der sich dick und rund unter ihrem frischen weißen Nachthemd abzeichnete, wie eine riesige Puddingschüssel unter der Haut. Sie sah so glücklich aus, so leicht, fast als würde sie schweben, trotz ihres Bauchumfangs. Poppy war nie glücklicher, als wenn sie schwanger war. Und es stand ihr gut. Stevie war überzeugt, sie würde, wenn sie einmal achtzig wäre, ihre Schwester genau so in Erinnerung haben, wie sie jetzt aussah, würde das Bild hervorholen können wie ein altes Lieblingsfoto und augenblicklich an diesen seltsam berauschenden Maimorgen im Haus ihrer Eltern zurückversetzt werden, an dem ihr Hochzeitsstress und der Geruch von verbranntem Toast in der Luft lagen. Mit achtzig würde sie mit Sicherheit wissen, ob es ihr im Laufe ihres eigenen Lebens gelungen war, ebenfalls diesen Zustand zu erreichen, diese geheime Galaxie, den Bauchnabel vorgestreckt, das genetische Erbe gesichert. Der Gedanke versetzte sie in Panik und schlug ihr erst recht auf die Stimmung. «Poppy, entschuldige, wenn ich ein bisschen neurotisch 12

klinge, aber kommt dir meine Hochzeit wie eine Kata­strophe vor?», wandte sie sich jetzt an ihre Schwester, um sich zu beruhigen. «Wie ein Rummelplatz-Unfall in Zeitlupe?» «Aber nein!», lachte Poppy und warf ihr milchmädchenblondes Haar über eine Schulter zurück. «Mach dir keine Sorgen wegen der Details. Mum hat alles im Griff.» «Eben.» Aber Stevie wusste, dass sie Verantwortung übernehmen musste. Bei den Hochzeitsvorbereitungen hatte sie sich schon vor allzu vielen Verpflichtungen gedrückt und gern von den Hilfsangeboten ihrer Mutter Gebrauch gemacht – im vollen Bewusstsein der Risiken. In den letzten sechs Monaten war sie sich bei der ganzen Geschichte überraschenderweise eher wie eine Zuschauerin vorgekommen. Manchmal schien es ihr, als würde nicht sie, sondern irgendjemand anders in der Haut der Braut stecken. «Weißt du», sagte Poppy nachdenklich, während sie sich mit ihren schlanken, sonnengebräunten Fingern das Haar locker flocht und der erbsengroße Diamant auf ihrem Verlobungsring Rauten in allen Regenbogenfarben an die weiße Schlafzimmerwand warf, «mir war damals nicht bewusst, dass es erst nach der Hochzeit so richtig interessant wird.» Sie sah von ihrem Zopf auf und grinste. «Darauf, dass bei dir auch bald was Kleines unterwegs ist!» Stevie hob den Becher ihrer Mutter, um ihrer Schwester zum Spaß zuzuprosten. Nicht zum ersten Mal wünschte ein Teil von ihr, ihre Rollen wären vertauscht, dass sie nicht gegen die natürliche Geschwisterordnung verstoßen hätte, indem nicht sie das erste Enkelkind in die Welt gesetzt hatte. Es hätte ihr durchaus gefallen, ihrer jüngeren Schwester hin und wieder ein paar weise Ratschläge von Frau zu Frau zu erteilen. «Und, wann wirst du die Pille absetzen?», hakte Poppy 13

nach, während sie sich mit der flachen Hand den Bauch rieb, ohne ihn auch nur ein bisschen einzudrücken, was zeigte, dass der Bauch steinhart war. «Nach der Trauung. Jez will so bald wie möglich den Planeten bevölkern.» Jetzt hellwach, nachdem der heiße, dunkle Tee angeschlagen hatte, musste Stevie wieder an ihre Altersberechnung auf der Webseite denken. «Aber warte lieber noch ein bisschen mit der Brora-Babydecke. Ich bin sicher, es wird Jahrzehnte dauern, bis ich schwanger werde», fügte sie nüchtern hinzu. «Red keinen Unsinn! Piers musste mich kaum anrühren.» «Du warst sechsundzwanzig.» Im Nachhinein betrachtet, dachte Stevie, hatte Poppy genau das Richtige getan, auch wenn es ihr damals so öde erschienen war. Sie hatte auf die kreativen Eitelkeiten einer Karriere im Verlags- und PR-Wesen verzichtet und sich stattdessen für eine von Männern dominierte Branche entschieden – eine Buchhaltungsfirma in der City, zum völligen Unverständnis ihrer Mutter –, wo sie im Alter von dreiundzwanzig Jahren rasch den gutaussehenden, verlässlichen Firmenanwalt Piers kennengelernt hatte. Zwei Jahre später hatten sie geheiratet, in Wolken aus weißem Faltenchiffon in Piers’ kleiner Familienkirche außerhalb von Winchester. Beim Hochzeitsfrühstück, abgehalten in dem großen Landhaus von Piers’ Eltern – geographisch knapp außerhalb des Einflussbereichs ihrer Mutter, sodass Poppy ihren großen Tag ohne unerwünschte Räucherstäbchen oder Linsengerichte planen konnte –, hatte es unter anderem Lachs und ein Schokoladenfondue gegeben. Von den zweihundert Gästen hatte Stevie mit keinem einzigen knutschen können, da schon damals alle – bis auf ein paar schrullige, schlaffe 14

und einschläfernde Exemplare – paarweise gekommen waren. Poppys erstes Kind, Sophie, ein echter Wonneproppen, wurde in ihren Flitterwochen in der Toskana in einem Himmelbett gezeugt. Finn kam planmäßig genau zwei Jahre später zur Welt. Und jetzt strampelte schon wieder ein kleiner Fitzpatrick ungeduldig in Poppys Bauch, noch ein Geschwisterkind genau zum Wunschtermin. Stevie gab sich alle Mühe, nicht eifersüchtig zu sein. Es gelang ihr nicht immer. Aber sie tröstete sich damit, dass diese Erfüllung niemand mehr verdient hatte als ihre Schwester. Und damit, dass Poppy und Piers genau die Art Leute waren – gesellschaftlich verantwortungsbewusst, intelligent und finanziell abgesichert –, die sich fortpflanzen sollten. Sie hatten staatliche Unterstützung verdient – ihre Kinder würden wohl kaum zu jugendlichen Straftätern heranwachsen. Es waren artige, entzückende Kinder, die beide Poppys gutmütiges Wesen und ihre himmelblauen Augen geerbt hatten, die ungetrübt von jeder Enttäuschung in die Welt blickten, ganz im Gegensatz zu ihren eigenen seltsam gelblich braunen Augen, die, wie ihr Vater immer sagte, «viel zu wissend» blickten und die ihr in der Schule oft Ärger wegen ihrer «Dreistigkeit» eingebracht hatten. In ihrer düsteren Phase – zwischen dreißig und zweiunddreißig – nach einer besonders langen Dürrezeit in Sachen Romantik, als sie ernsthaft zu bezweifeln begann, ob sie je heiraten oder Kinder bekommen oder auch nur wieder Sex haben würde, war ihr der Gedanke durch den Kopf gegangen, dass die Evolution sie vielleicht geschickt ausgemustert hatte und sich mit dem Beitrag zufriedengab, den ihre Schwester zum Fortbestand der Familie Jonson leistete. «Der Becher Tee war leider mit einem Hintergedanken verbunden, Steve. Könntest du mir einen Gefallen tun?» 15

Poppy setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. Damit sah sie ungefähr wie fünfzehn aus. «Wir wollten ohne Tobsuchtsanfälle einen Ausflug zum Naturkundemuseum unternehmen. Und ich würde alles geben, um vorher noch duschen zu können, damit ich nicht mit einem ausgestopften prähistorischen Koloss verwechselt werde. Könntest du kurz auf Finn aufpassen?» «Scheint mir ein fairer Tausch gegen eine Tasse Tee.» «Danke, Schwesterherz.» Piers steckte den Kopf durch die Tür, ein hochgewachsener, leicht untersetzter Mittdreißiger in einer hellen GapJeans – der typische harmlose, gutaussehende Engländer, auf den Werbeagenturen gern zurückgriffen, um Kleie-Frühstücksmüsli zu verkaufen. «Poppy, Schatz, können wir dann los? Bitte.» Er klopfte auf seine klobige Taucheruhr. «Sehen wir uns in zehn Minuten unten?» «Ja, ja, na klar.» Poppy ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. «Wo zum Teufel steckt er denn? Finn!» «Der Haus- und Hofkünstler.» Stevie lachte und wies mit einem Nicken auf den Dielenanbau, den Finn mit orangefarbenem Buntstift kreativ renovierte. «O Gott.» Poppy, die nichts Witziges dabei fand, hechtete auf ihren Zweijährigen zu und raffte ihn hoch, während Finn – halb Baby, halb Kind – strotzend vor trotziger Energie mit seinen kräftigen, pummeligen Beinchen um sich trat. Sie nahm ihm den Buntstift ab. «Geh und setz dich zu Tante Stevie, Schatz.» «Will nicht.» Stevie versuchte, nicht gekränkt zu sein. Er war zwei, mein Gott. Da konnte man wohl kaum von Zurückweisung reden. Dann entdeckte Finn den Laptop seiner Tante, einge16

klemmt zwischen Bett und Wand, wo sie ihn hatte fallen lassen, als sie eingeschlafen war. Er blinkte unwiderstehlich, verlockte zum Unfugmachen. Finn tapste auf das Bett zu. «Will haben.» «Hier, Finnballs, Schatz.» Stevie schlug die Bettdecke zurück, die Decke, die sie hatte, seit sie zwölf Jahre alt war. Die Farben des Patchworkmusters waren längst verblichen, da ihre Mutter die Decke immer wieder aus Versehen in die Kochwäsche gegeben hatte. Sie schlief unter diesem zerschlissenen, verblichenen Stück Baumwolle besser als in ihrer eigenen frischen White-Company-Bettwäsche zu Hause in der Wohnung in Bayswater, die sie sich mit Jez teilte. Die Sonne warf staubige Strahlen auf ihr Gesicht, und auf einmal war sie sehr froh, übers Wochenende zu ihren Eltern gekommen zu sein, um die Hochzeitsvorbereitungen unter Dach und Fach zu bringen. Es war schön; so, als würde sich irgendwie ein Kreis schließen. Finn krabbelte unter die Decke und streckte die Hände nach seinem Preis, dem Laptop, aus, ein Geruch nach Kondensmilch drang dabei aus den Falten seines Power-Ranger-Pyjamas. «Finger weg von der Technik.» Stevie brachte den Computer außer seiner Reichweite, dann zerzauste sie Finns Locken. Der Junge, der seine Pläne durchkreuzt sah, kratzte nun schmollend an der Schlafzimmerwand, grub seine Fingernägel unter Posterstrips, an den Rändern eingerollte alte Schulfotos, sternförmig aufgeklebte, abblätternde WhamSticker und einen harten, uralten rosa Hubba-Bubba-Kaugummi, den sie als schmollende Jugendliche irgendwann Ende der achtziger Jahre dort hingeklebt hatte. «Pass auf, dass er dieses Treppentürchen nicht umreißt, ja?», rief Poppy hinter ihr, während sie die Treppe hinuntereilte. «Und gib auf dieses Fenster acht, das nicht schließt …» 17

Finn lauschte misstrauisch auf die leiser werdenden Schritte seiner Mutter. Er presste einen mit Speichel besabberten Finger auf ein altes, fleckiges Schulfoto. «Tante Stevie.» «Ja, das bin ich! Vor ungefähr hundert Jahren. Sehr gut entdeckt.» Sie küsste ihn auf den Kopf und starrte das Foto an. Ja, sie war ein linkisch aussehender Teenager gewesen, nicht annähernd selbstbewusst genug für diesen pummeligen, grobknochigen Körper. Im Laufe der Jahre hatte sie ihre Figur mit Hilfe von Fitnesskursen in eine etwas bessere Form getrimmt, hatte ihr flaches, eher kantiges Gesäß um einen Zentimeter angehoben und ihre Hausfrau-in-denFünfzigern-Taille etwas eingezwängt. Aber das Foto zeigte sie noch mit ihrer stämmigen Teenager-Figur, der Figur, die Stevies Selbstwertgefühl im leicht beeinflussbaren Alter von fünfzehn Jahren in den eiskalten Umkleideräumen von Schulturnhallen und warzenverseuchten städtischen Schwimmbädern geprägt hatte. Sie würde sich, egal, wie schlank sie inzwischen war, immer wie das Mädchen fühlen, das die Jungen in der Schule aufzogen, indem sie sie «Pudding» nannten. «Pudding» wäre ein passender Spitzname für ihren Verlobten gewesen: Er war rotblond (fast ingwerfarben), warmherzig, lebhaft und gutaussehend, auch wenn er in letzter Zeit einen kleinen Bauchansatz entwickelt hatte, der um seine Taille schwabbelte wie ein nicht lange genug pochiertes Ei. «Stevie. Jezzy. Hochzeit», sagte Finn feierlich, als würde er die Neuigkeit erst in diesem Moment begreifen. Das Wort «Hochzeit» brachte sie aus dem Gleichgewicht. Stevie spürte, wie sie sich anspannte. Finn sah auf, die blauen Augen weit aufgerissen. «Will Hochzeitstorte.» 18

Sie lächelte. «Ich würde dir ja gern Sahnebaisers zum Frühstück geben, wenn ich welche in greifbarer Nähe hätte. Aber ich habe keine. Torte, später.» «Später», plapperte Finn nach, ein bisschen traurig, als wäre «später» noch eine Ewigkeit entfernt. «Hochzeit, ­später.» Stevie biss sich eine splissige Haarspitze ab – die ihr Friseur kürzlich übersehen hatte – und versuchte angestrengt, die kitschigen, schwülstigen Gefühle des Heiratsantrags heraufzubeschwören, um ihre beunruhigenden und völlig unangemessenen negativen Gedanken zu verdrängen. Sie schloss die Augen. April. Freitagabend. Jez hatte den Großteil des Tages damit verbracht, mit seinem Vater Golf zu spielen. Als sie sich später, gegen sechs Uhr, unter einem spektakulären dunkelblaugrauen Himmel mit ihm traf, war sein Gesicht ungewöhnlich gerötet gewesen, und er hatte darauf bestanden, sie zum Essen ins Wolseley einzuladen. Zu diesem Zeitpunkt, begriff sie jetzt, hatte ihre Beziehung bereits gute Restaurants, Theater, Kino, Inszenierungen irgendwelcher Art benötigt, da sie eine Phase der Stagnation erreicht hatte; die anfängliche Aufregung des Zusammenziehens hatte sich gelegt, und die Zukunft war unbestimmt und unsicher. In dem Restaurant, zwischen Gewölbedecken und schwarzen Säulen, hatten sie wegen der schlechten Akustik mit lauten Stimmen über Jez’ kürzliche Beförderung bei YR-Brand gesprochen. Jez hatte ihr vorgehalten, sich nicht genug für ihn zu freuen. Er hatte bezahlt, was ungewöhnlich war, da er sich die Rechnung im Allgemeinen gern mit ihr teilte. Nach zwei Jahren hatten sie auch diesen Punkt erreicht. Hand in Hand waren sie danach durchs West End und über die Waterloo Bridge geschlendert. Der Wind blies 19

Suggest Documents