Leaving Europe s Waiting Room: Overcoming the Crisis of EU Enlargement in the Western Balkans

Berichte_B1-B6_05-06-2012:1 16.01.2013 16:40 Uhr Seite 13 “Southeast European Dialogues” an der Universität Graz Leaving Europe’s Waiting Room: O...
Author: Helga Maurer
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“Southeast European Dialogues” an der Universität Graz

Leaving Europe’s Waiting Room: Overcoming the Crisis of EU Enlargement in the Western Balkans Veranstalter: Zentrum für Südosteuropastudien, Karl-Franzens-Universität Graz / SüdosteuropaGesellschaft; Graz, 9.-11. November 2012 Bericht von Stefan Graziadei, Graz

Für die hochkarätig besetzte Konferenz „Leaving Europe’s Waiting Room“, welche Teil der alljährlichen Veranstaltungsreihe der „Southeast European Dialogues“ ist, fanden sich in Graz im November 2012 ca. 100 Teilnehmer ein. Universitäts-Rektorin Christa Neuper und der Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät, Joseph Marko, unterstrichen die zentrale Rolle, welche die Südosteuropastudien an der Universität Graz einnehmen. Der mazedonische Präsident Gjorge Ivanov ging in seiner Keynote, die den Auftakt zur internationalen Konferenz gab, im Wesentlichen auf drei Punkte ein: (1.) Mazedonien erfülle bereits die in den Maastricht Kriterien festgelegten wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen EU Beitritt. Besonders erwähnenswert fand Ivanov, dass sein Land eine „Insel der Seligen“ in der europäischen Schuldenkrise darstelle und nur eine sehr geringe Schuldenlast aufweise, nämlich nur 26 % des BIP (IWF Daten für 2012). Außerdem habe Mazedonien einen der niedrigsten Steuersätze in ganz Europa; dies mache das Land für viele Firmen, auch griechische und bulgarische, attraktiv. (2.) Mazedonien erfülle ebenfalls die politischen Voraussetzungen für einen EU-Beitritt (Kopenhagener Kriterien). In vielerlei Hinsicht sei Mazedonien sogar ein Modell für andere EU-Staaten, wie man Fragen des Multikulturalismus lösen könne. Durch das Ohrid-Abkommen seien die albanischen und türkischen Minderheiten sehr gut in den Staat integriert worden. Das multinationale Umfeld sei für die Weltoffenheit der Mazedonier verantwortlich, wie man am Beispiel von herausragenden mazedonischen Persönlichkeiten (z.B. Mutter Teresa von Kalkutta) sehen könne. Ivanov wies (3.) darauf hin, dass der einzige Grund, warum Mazedonien noch nicht Mitglied der EU sei, im Namensstreit mit Griechenland begründet liege. In diesem Sinn forderte er Griechenland auf, seine irrationalen Vorbehalte in Bezug auf Mazedonien aufzugeben. Jeder habe, laut Ivanov, das Recht, sich selbst zu definieren. Daher besitze Griechenland nicht das Recht, einem anderen Land vorzuschreiben, wie es heißen solle. Dieses sehr sensible Thema der Identitätsfrage greife bis in die Antike zurück, als es keine klar definierten ethnischen Gruppen gab. Aus diesem Grund habe jeder das Recht, sich mit dem Erbe Alexander des Großen zu identifizieren; schließlich gebe es überall auf der Welt Denkmäler, die nach ihm benannt sind. Ivanov stellte auch klar, dass Mazedonien keine territorialen Ansprüche auf griechisches Territorium erhebe. Landkarten, welche ein solches Interesse nahelegten, stammten aus der Vorkriegszeit und dürften nicht ernst genommen werden. Die politischen Kontakte Mazedoniens zu Griechenland und Zypern litten unter dem Namensstreit, die Beziehungen zur Türkei seien aber exzellent, erklärte Ivanov. Die politischen Aspekte hätten aber nur einen geringen Einfluss auf das Verhältnis der mazedonischen Bevölkerung zur Bevölkerung anderer Länder. Diese seien sehr gut, auch zu Griechen und Bulgaren. Im Gegenteil haben sich laut Ivanov die Kontakte zwischen Mazedoniern und Griechen während der Krise

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sogar noch intensiviert. Ivanov forderte Griechenland auf, Mazedoniens Weg in die EU nicht weiter zu blockieren. Dejan Jovic (Universität Zagreb), Berater des ehemaligen kroatischen Präsidenten, riet Ivanov zu einer stärkeren Einbindung der USA in die Lösung des Namensstreits. Florian Bieber (Univ. Graz) ging nach der Keynote auf die Struktur der Konferenz ein: Ziel der interdisziplinären Veranstaltung sei es, einen intensiven Austausch zwischen Politikern, Experten, Practitioners, Professoren und PhD-Studenten zu ermöglichen. Die Tagung verstehe sich daher als Brücke zwischen der akademischen und der politischen Welt. Man wollte Experten aus Politik und Wissenschaft zusammenbringen, um in gegenseitiger Befruchtung neue kreative Ideen für die EU-Integration der Westbalkan-Staaten zu entwickeln. Das Thema der EU-Erweiterung auf die Westbalkan-Staaten sei daher sowohl von einem praktischen als auch von einem akademischen Blickwinkel zu beleuchten. Dieses Element spiegle sich auch in der Zusammensetzung der verschiedenen Panels wider. Bieber führte in die darauffolgenden Paneldiskussionen ein, indem er Beziehungen zwischen der EU und dem westlichen Balkan in den aktuellen politischen Kontext stellte. Bieber erklärte, dass die politische und ökonomische Krise zu einer Diskussion über die Absorptionsfähigkeit neuer Mitglieder durch die EU und daher zu einer Erweiterungsmüdigkeit („enlargement fatigue“) geführt habe. Diese „enlargement fatigue“ treffe in den Westbalkan-Staaten auf eine Beitrittsmüdigkeit („accession fatigue“), da lokale politische Eliten es zunehmend leid seien, immer höhere Anforderungen für ein immer weiter in die Ferne rückendes Ziel (EU-Beitritt) mit für sie nur unscharfen direkten Vorteilen erfüllen zu müssen. Bieber hob allerdings positiv hervor, dass diese schwierige Perspektive seiner Meinung nach bisher noch zu keiner Stärkung rechtsradikaler nationalistischer Parteien geführt habe. Enlargement fatigue

In der gegenwärtigen Krisensituation der EU ist es schwierig, über eine Erweiterung dieses Staaten(ver)bundes nachzudenken. Stefan Lehne (Carnegie Europe, Brüssel) verwendete die Metapher, dass eine Erweiterung in Krisenzeiten von vielen Beobachtern so wahrgenommen werde, als würde man „auf ein brennendes Haus noch ein Stockwerk hinzubauen“ wollen. Laut Lehne wird Erweiterungskommissar Füle in den nächsten Runden Gegenwind aus den Mitgliedstaaten zu spüren bekommen. Durch die schwere wirtschaftliche Krise in Griechenland wird, laut Franz-Lothar Altmann (Bukarest/München), das Ansehen des Balkans als ein Ort von Missmanagement und wirtschaftlicher sowie politischer Instabilität weiter erhärtet. Da die EU-Mitgliedstaaten diese Instabilitäten nicht importieren wollen, stünden sie einer EU-Erweiterung skeptisch gegenüber. Ruth Ferrero-Turrión (Univ. Complutense, Madrid) zitierte Kanzlerin Merkel, nach der man über eine nächste Erweiterungsrunde der EU erst in 10 Jahren nachdenken könne. Dejan Jović meinte, das Einzige, was die Erweiterung zurzeit am Leben halte, sei die Tatsache, dass es in den nächsten Jahren keine Erweiterungsrunden mehr geben werde. Tobias Flessenkemper von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin gab zu bedenken, dass die Balkanstaaten momentan von einer schwachen politischen Elite geführt würden. Er wies aus eigener Erfahrung darauf hin, dass Beziehungen zu der richtungsweisenden Institution der EU, dem Europäischen Rat, sehr persönlich geworden seien. Flessenkemper erklärte, dass sich die im Europäischen Rat versammelten Staats- und Regierungschefs nicht vorstellen könnten, einen Regierungschef aus einem Westbalkan-Staat als gleichwertigen Kollegen an ihrem Sitzungstisch zu akzeptieren. Hinzu komme der Druck von einigen starken Mitgliedstaaten, z.B. Deutschland, bereits akzeptierte Übereinkommen, wie die Visa-Liberalisierung, zurückzufahren. Der Präsident des Deutschen Bundestages habe sogar das Kroatien in Aussicht gestellte Beitrittsdatum, den 1. Juli 2013, in Frage gestellt.

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Accession fatigue

Die „enlargement fatigue“ der EU Staaten trifft in den Staaten des westlichen Balkans auf eine „evaluation and accession fatigue“. Die „EUphoria“ der Staaten des westlichen Balkans habe sich in einen „Eurorealismus“ (Nikolaos Tzifakis, Univ. Peloponnes) verwandelt. Die Staaten des westlichen Balkans sähen die EU also zunehmend negativ. Die Eurokrise hat, laut Jovan Teokarević (Univ. Belgrad), ebenfalls sehr negative Auswirkungen auf das Ansehen der EU in den Westbalkan-Staaten. Laut Stefan Lehne war die EU für die Bevölkerung der Balkanstaaten wie die „Stadt auf dem Hügel“ („City upon a hill“); ein gelobtes Land, in der jeder ein normales und weitgehend sorgenfreies Leben würde führen können. Diese positiven Assoziationen mit der EU seien nun vorbei. Ritsa Panagiotou (Zentrum für Planung und Wirtschaftsforschung, Athen) hob hervor, dass die negative Lage in Griechenland der Bevölkerung in den Westbalkan-Staaten vor Augen geführt habe, dass man auch als ein über 30-jähriges Mitglied der EU vor einem wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch des eigenen Staates nicht gewappnet ist. Man mag dem hinzufügen, dass internationale Firmen Investitionen in dem durch die Krise geschwächten Griechenland als unstabiler betrachten als im Bürgerkriegsland Syrien (Umfrage unter Managern durch BDO International). Die EU habe durch die Krise, laut Panagiotou und Teokarević, ihre Vorbildfunktion („role model“) für die Westbalkan-Staaten verloren. Senada Šelo Šabić (Institut für internationale Beziehungen, Zagreb) beschrieb die gegenwärtige Situation der EU zum Zeitpunkt des kroatischen Beitritts im übertragenen Sinne so: Es ist, wie wenn man um zwei Uhr morgens auf eine Party kommt, wo alle Speisen und Getränke schon konsumiert und alle Mädchen bereits einen Partner gefunden haben. Dadurch, dass es weniger zu verteilen gibt, leidet, laut Dimitar Bechev (European Council on Foreign Relations/ECR, Sofia), auch die Anziehungskraft der EU auf die Balkanstaaten. Panagiotou führte zudem aus, dass die Krise in Griechenland einen finanziellen Dominoeffekt auf die Westbalkan-Staaten gehabt habe, der durch eine Zahlungsunfähigkeit Griechenlands dramatisch verschärft worden sei. Griechenland war einer der führenden Investoren in mehreren Staaten des westlichen Balkans, unter anderem in Serbien, Mazedonien und Albanien. Griechenland war vor allem im Bankensektor dieser Staaten stark involviert. Eine Zahlungsunfähigkeit Griechenlands entfalte also auch düstere Auswirkungen auf die Nachbarstaaten. Zudem ist es laut Panagiotou nur eine Frage der Zeit, bis sich bei einer weiteren Zuspitzung der Krise das politische Stimmungsbild in der Region immer weiter nach rechts verschieben werde – wie dies in Griechenland durch den Wahlerfolg der „Goldenen Morgenröte“ bereist zum Teil geschehen ist. Die Beziehungen zwischen der EU und den Westbalkan-Staaten haben sich also bereits abgekühlt. Außerdem schwächt die Uneinigkeit der EU in den Erweiterungsfragen ihren Einfluss in der Region. Laut Tzifakis können lokale politische Akteure die unterschiedlichen Positionen der Mitgliedstaaten für ihre Zwecke nutzen, und so die (gemeinsame) Position der EU unterminieren. Aufgrund dieser Schwäche der EU stellen sich lokale politische Eliten die Frage, ob es sich für sie überhaupt lohnt, die EU-Kommission als Akteur ernst zu nehmen und ihre Vorgaben umzusetzen. In dieser Situation erstaunte es Adnan Huskić (Univ. SSST, Sarajevo; Friedrich Naumann Stiftung, Sarajevo) nicht, dass sich die Staaten des westlichen Balkans nun nach strategischen Alternativen (Türkei, Russland, China) umsehen. Mit Blick auf dieses pessimistische Szenario kann die Frage aufgeworfen werden, warum die EU-Erweiterungspolitik dennoch voranschreitet? Es wurde von Stefan Lehne erwähnt, dass die Generaldirektion Erweiterung der Europäischen Kommission einen großen Impuls dabei gebe.

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Die Mission, für die sich die Kommissionsmitglieder jeden Tag einsetzten, sei die EU-Erweiterung voranzubringen. Kommissar Štefan Füle spiele in diesem Prozess eine sehr positive Rolle. Die EU ist laut Lehne wie ein „Kreuzfahrtschiff“, welches nur schwer von einem einmal eingeschlagenen Kurs abweicht. Auch von Dimitar Bechev wurde erklärt, dass die EU-Kommission ein sehr wichtiger Akteur im Erweiterungsprozess ist. Er plädierte deshalb dafür, dass die supranationalen Institutionen, wie die EU-Kommission, in Erweiterungsfragen weiter gestärkt würden bzw. zumindest ihre Kompetenzen in diesem Bereich behalten könnten. Milada Vachudova (Univ. North Carolina in Chapel Hill, USA) erinnerte daran, dass sowohl die EU als auch die Balkanstaaten von der Erweiterung profitierten. Die EU sei nämlich an der geopolitischen Stabilität der Region interessiert. Über die Balkanroute erreichten nämlich 75 % des Heroins die EU. Außerdem erinnerte Wehrschütz daran, dass der Balkan die Eintrittspforte in die EU für Menschenhandel sei, besonders für Flüchtlinge aus Krisenländern wie Afghanistan oder Irak. Auch Huskić fürchtete, dass eine Verringerung des EU-Engagements zum Wiederaufflammen von ethnischen Konflikten führen könnte. Dies würde die EU wieder mit großen Zahlen von Migranten beunruhigen. Tobias Flessenkemper wies darauf hin, dass die deutsche Politik stark an der Errichtung der „Festung Europa“ gearbeitet habe. In diesem Sinn hat die EU auch beträchtliche Mittel investiert, um die Grenzen der EU-Nachbarstaaten zu modernisieren. Auch die EU-Polizeimission in Bosnien müsse im Licht dieser Doktrin gesehen werden. Die EU hat ein großes Interesse an der Stabilität der Balkanstaaten. Auch die Balkanstaaten haben aber ein Interesse, der EU beizutreten. Laut Bieber und Jović ist die EU „the only game in town“. Es gibt keine andere strategische Alternative für die Balkanländer. Dass Russland die Rolle der EU übernehmen könnte, ist laut Teokarević ein Mythos. Der Großteil der Investitionen in die Westbalkan-Staaten kommt, laut Jović, von der EU. Vachudova beschrieb, wie die Balkanstaaten ohne die Perspektive einer EU-Erweiterung in ein Vakuum, wie z.B. Georgien, fallen würden. In diesem Vakuum würden die Balkanstaaten unter anderem einen Teil der bilateralen und multilateralen finanziellen Hilfen verlieren. Huskić betonte, wie zentral die Rolle der EU als treibende Kraft für politische Veränderungen in den Ländern des westlichen Balkans ist. Reformprozesse würden von der EU und der Bevölkerung enorm begünstigt. Die EU übe von oben Druck auf die lokalen politischen Eliten aus und die Bevölkerung, welche die EU-Integration will, von unten („Sandwich-Theorie“). Auch trage die EU zu einer Stärkung des Rechtsstaats bei, wie dies laut Ivo Tsekov (Univ. Sofia) in Bulgarien der Fall sei. Vachudova argumentierte, dass der Erweiterungsprozess in die richtige Richtung gehe. Obschon dieser sehr langsam voranschreite, sei dies nicht zwingend ein beunruhigendes Phänomen. Wie man im Fall von Rumänien und Bulgarien sehe, wäre „weniger mehr“ gewesen: Eine weniger schnelle Erweiterung hätte zu besseren Resultaten geführt. Verschiedene Prozesse könnten den Erweiterungsprozess aber negativ beeinflussen. – Im Folgenden wird auf vier kritische Punkte eingegangen, die während der Konferenz kontrovers diskutiert wurden. Visa-Liberalisierung vs. Asylrecht? Ein viel diskutierter Punkt war der Missbrauch der Visa-Liberalisierung durch Staatsangehörige der Westbalkan-Staaten. 4000 serbische und mazedonische Staatsbürger haben allein im September 2012 in Deutschland um Asyl angefragt. Verschiedene EU-Staaten stellen aus diesem Grund die Visa-Liberalisierung zunehmend in Frage. Tobias Flessenkemper erinnerte die Westbalkan-Staaten daran, ihre Pflichten einzuhalten, um dem Zustand des Missbrauchs des Asylrechts eine Ende zu bereiten. Flessenkemper argumentierte, dass dies ein Thema sei, bei dem die Mitgliedstaaten sehr sensibel seien. Daher müssten die Balkanstaaten hier Ergebnisse liefern. Auch Dimitry Kochenov (Univ. Groningen) argumentierte, dass die Unfähigkeit, den

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Erweiterungsprozess zur Zufriedenheit der Mitgliedstaaten zu gestalten, das Vertrauen sowohl in die Westbalkan-Staaten als auch in die EU-Kommission unterminiere. Der mazedonische Präsident Gjorge Ivanov meinte dazu, dass man die Leute nicht zwingen könnte, in ihrem Land zu bleiben. Außerdem würde ein Ende der Visa-Liberalisierung auch Studenten treffen, die z.B. ein Stipendium bekommen haben, um in einem EU-Land studieren zu dürfen. Jeder habe ein Recht auf Glück, und diesem gingen die Asylsuchenden nach. Aus dem Publikum wurde ebenfalls argumentiert, dass das Problem relativ einfach zu lösen sei: Die Niederlande haben z.B. ein System eingeführt, nach dem alle Asylanträge, die von Personen aus sicheren Herkunftsländern eingereicht werden, in einem Eilverfahren abgeschlossen werden. Jene Staaten, deren Staatsbürgern die EU ein visafreies Reisen ermöglicht, werden automatisch als sichere Herkunftsländer eingestuft. Franz Lothar Altmann entgegnete, dass diese Diskussion auch in Deutschland geführt werde. Man habe sich aber entschieden, das gegenwärtige System beizubehalten, da dieses in jedem Fall eine individuelle Prüfung der Asylberechtigung garantiere. Ein Vergleich mit Österreich, wo ein Asylansturm ausblieb, legt allerdings nahe, dass es einige Staatsangehörige der Westbalkan-Staaten besonders auf diejenigen Länder abgesehen haben, deren Asylrecht besonders großzügig ist und in denen das Verfahren besonders lange dauert. Die Erfolgschancen eines Asylantrags sind gering, bis dato wurde in Deutschland keinem einzigen Angehörigen eines Westbalkan-Staates seit der Visa-Liberalisierung das Asylrecht zugestanden. Da einer 4-köpfigen Familie, die Asyl beantragt, in Deutschland mehr als tausend Euro monatlich sowie eine freie Unterkunft und freier Rücktransport in das Herkunftsland zustehen, ist der Anstieg der Asylverfahren mit Blick auf die niedrigen Löhne in den Balkanstaaten alles andere als verwunderlich. Wer hat Angst vor dem Rechtsstaat? Spannungsverhältnis: Aufbau eines Rechtsstaats vs. Interessen der Politiker Kristof Bender (European Stability Initiative/ESI, Wien) stellte die englische Version des ESIFilms „Kroatien – Heldendämmerung“ der Konferenz exklusiv vor. Der Dokumentarfilm argumentiert, dass die Perspektive der EU-Integration in Kroatien selbst Nationalisten in EUBefürworter verwandelt hat. Tim Judah (»The Economist«, London) zitierte eine langjährige Brüssel-Korrespondentin kroatischer Medien, Ines Sabalić. Diese habe gesagt, dass im letzten Jahrzehnt „der Kampf gegen die Korruption für die kroatischen Politiker zum neuen Nationalismus geworden ist“. Sie meinte damit, dass der vermeintliche Kampf gegen Korruption als populistisches Mittel im Wahlkampf aufgegriffen wurde, wie das vorher mit dem Nationalismus geschehen war. Sanader habe als Oppositionsführer noch gegen die Auslieferung von Kriegsverbrecher Ante Gotovina vehement protestiert; in seiner Amtszeit als Premierminister war es aber gerade Sanader, der Gotovina an das Haager Tribunal auslieferte. Die EU-Reformen Sanaders hätten auch zu einer Stärkung des Justizsystems geführt, welches ihn dann aber wegen Korruptionsvorwürfen ins Gefängnis gesperrt habe. Vachudova und Jović glaubten, dass der „Sanader Effekt“ fatale Auswirkungen auf die Anziehungskraft der EU für Politiker der Westbalkan-Staaten haben wird. EU-Integration würde ihnen dann nämlich keinen konkreten Vorteil mehr bringen – im Gegenteil könnten sie, wie Sanader, „Opfer“ der EU-Integration werden. Ob Kroatien eine Ausnahme zur Regel (Bulgarien, Rumänien) darstellt, wird sich, laut Kristof Bender und Milada Vachudova, am Fall von Montenegros Premierminister Milo Đjukanović zeigen. Beitritts-Regatta oder regionaler Ansatz? Ein dritter wichtiger Diskussionspunkt auf der Konferenz war die Zukunft der EU Strategie für den westlichen Balkan. Die „Western Balkans“ sind, laut Wehrschütz, nach dem Kroatien zugesicherten Beitritt, zu den „Restern Balkans“ geworden. Soll die EU nun einen regionalen Ansatz

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(„caravan principle“) verfolgen, alle Staaten des westlichen Balkans gleichzeitig in die EU aufzunehmen, oder soll sie das „Regatta-Prinzip“ weiterverwenden, nach dem der Fortschritt jedes Staates auf dem Weg zur EU ausschließlich in Anbetracht seiner eigenen Leistung erfolgt? Konferenzteilnehmer aus Staaten, die in der bisherigen Regatta weiter zurückliegen, Huskić und der Botschafter des Kosovos in Brüssel, Ilir Dugoli, argumentierten für den regionalen Ansatz. Der Präsident Mazedoniens hingegen für das Regatta-Prinzip, da dies fairer sei. Ansonsten bestünde das Risiko, dass Staaten, die wie Mazedonien und Montenegro im Beitrittsprozess schon weiter fortgeschritten sind, auf die Lösung von Streitfragen anderer Länder, wie die des Kosovo-Status, warten müssten. Eine Art Mittelweg schlägt Kristof Bender vor. Er argumentierte, die Westbalkan-Staaten sollten ihre Situation nicht der eines Warteraumes gleichsetzen, sondern eher der eines Fitness-Zentrums. Aus diesem Grund sei es wichtig, dass möglichst viele Staaten im Fitnessraum sind und nicht in der Umkleidekabine, da Konkurrenz, auch in Sachen EU-Erweiterung, motiviere. In diesem Sinn wurde auch über die Wichtigkeit von regionaler Zusammenarbeit der Westbalkan-Staaten diskutiert. Jović argumentierte, dass regionale Zusammenarbeit zwar wichtig ist, aber keine der zentralen Fragen der Region wie z.B. die des Status des Kosovos oder des mazedonisch-griechischen Namensstreits lösen werde. Senada Šelo Šabić gab ebenfalls zu bedenken, dass die Kroaten eine Unterwanderung ihrer Bevölkerungsgruppe durch Ausländer aus Drittstaaten und EU fürchteten. Zudem stünden auch verfassungsrechtliche Hürden (v.a. Artikel 142 der Verfassung) einer sehr engen Zusammenarbeit mit anderen Westbalkan-Staaten entgegen. Pëllumb Kallaba vom Institut für Sicherheitsstudien des Kosovos argumentierte für eine regionale Kooperation nach dem Vorbild der Visegrád Gruppe in Mitteleuropa, was aber laut Vachudova nicht zielführend ist. Teokarević plädierte hingegen für eine regionale Kooperation nach dem Vorbild von Norden, der Kooperationsinstitution der skandinavischen Staaten. Teokarević forderte deshalb zum Teil gemeinsame Botschaften der Balkanstaaten im Ausland sowie, der Idee einer seiner Studenten folgend, eine bis 2020 zu erstellende, länderübergreifende Kampfgruppe, die sich aus Militärs der Westbalkanstaaten zusammensetzen würde („Western Balkans Battlegroup“). Außerdem müssen die regionalen Akteure lernen, sich an die Regeln der bestehenden gemeinsamen Institutionen, wie die des Mitteleuropäischen Freihandelsabkommens (CEFTA), zu halten. Andere Versuche der regionalen Kooperation haben, laut Teokarević und Ristić, nicht funktioniert, wie z.B. der Regional Cooperation Council/RCC in Sarajevo. Dies sei laut Teokarević unter anderem durch geringe Geldmittel (3 Mio. Euro) bedingt. Irena Ristić (Institut für Sozialwissenschaften, Belgrad) sah den Fehler darin, dass die regionale Zusammenarbeit ein von oben (EU) auferlegtes Projekt ist. Die EU sollte sich laut Ristić damit begnügen, die diskursrelevanten Spielregeln für die Diskussionen festzulegen, z.B. in der Kosovo-Frage. Regionale Akteure würden dann in der Diskussion eine Lösung finden. Ein positives Beispiel einer solchen bottom-up-Initiative sei die gemeinsame Basketball-Liga (Adriatic Basketball Association), in welcher Mannschaften von fünf Nachfolgestaaten Jugoslawiens sowie Teams aus Israel und Tschechien gegeneinander antreten. “Enlargement fatigue” trifft auf “accession fatigue” – “Europäisierung des Balkans

oder Balkanisierung der EU“ (Tim Judah)? Wie geht es weiter? Die Zeiten seinen schwierig. Franz Lothar Altmann und Vladimir Gligorov (Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche) zeichneten ein sehr pessimistisches Bild in Bezug auf die wirtschaftliche Lage und Zukunft sowohl der EU als auch des westlichen Balkans. Laut Gligorov sind zehn Jahre Wirtschaftsstagnation dem Zerfall Jugoslawiens vorausgegangen; ein Szenario, welches sich wiederholen könnte. Allan Jones von der EU-Kommission sah die

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Situation aber optimistischer und betonte, dass der Erweiterungsprozess auch in diesen für die EU schwierigen Zeiten voranschreite: Kroatien werde im Juli 2013 beitreten, Serbien hat im März 2012 den Kandidatenstatus bekommen, und für Mazedonien hat die Europäische Kommission dem Rat die offizielle Eröffnung von Beitrittsverhandlungen vorgeschlagen. In den Fällen von Kosovo und Bosnien sollten, laut Jones, die EU-Mitgliedstaaten mehr dazu beitragen, dass diese Länder auf dem Pfad in die EU voranschreiten. Jones hob hervor, dass die EU sich an die mit den Balkanstaaten eingegangenen Verpflichtungen halten würde und dass es von diesen abhänge, ob sie auf dem Weg in die EU Fortschritte machen würden. Kristof Bender betonte ebenfalls, dass die Westbalkan-Staaten bereit sein müssen, ihre Identität zu ändern, wenn sie der EU beitreten wollen. Insgesamt ist, laut Jones, aber auch die EU-Kommission aufgerufen, kreative Strategien zu entwickeln, um das Feuer der EUErweiterung am Leben zu halten. Diese solle Strategien entwickeln, die auf jedes einzelne Balkanland spezifisch zugeschnitten sind. In Montenegro wolle man, so Jones, schwierige Themen, wie zum Beispiel die der Korruption und der organisierten Kriminalität, früh im Beitrittsprozess angehen. Dadurch würde man ein „kroatisches Finale“ verhindern, da im Falle Kroatiens sensible Themen wie die Auslieferung von Kriegsverbrechern nur am Ende des Beitrittsprozesses in Angriff genommen worden seien. In Mazedonien bestünden diese kreativen Strategien, erklärte Robin Liddell von der EU-Delegation in Mazedonien, unter anderem darin, dass die Delegation der EU-Kommission die Mitglieder der Zivilgesellschaft viel stärker miteinzubringen versuche. In Mazedonien würden die Diskussionen zwischen dem Beitrittskandidaten und der EU Kommission veröffentlicht und die Zivilgesellschaft eingeladen, einen Beitrag zu leisten („Civil Society Dialogue“). Außerdem gebe es zwischen Regierung und EUKommission einen „High Level Accession Dialogue“. In diesem verhandelt Mazedonien bereits über einige Kapitel der Umsetzung des Acquis communautaire, obschon noch keine formale Eröffnung der Beitrittsverhandlungen zwischen EU und Mazedonien stattgefunden hat. Sollte das griechische Veto wegfallen, hätte Mazedonien dann schon eine Vielzahl der EU-Anforderungen und Standards erfüllt. In Bosnien versucht die EU-Kommission und der European Union Special Representative/EUSR durch einen strukturierten Dialog, den Vorbehalten der serbischen Republik in Bosnien (RS) entgegenzukommen, um auf dem Weg der EU-Integration voranzuschreiten. Den Vorschlag von Tzifakis, Politiker der RS durch eine EU-Konditionalität auf ethnischer Ebene, in diesem Fall der Entitäten, zu motivieren, wies Drino Galičić (EUSR, Sarajevo) als nicht implementierbar zurück. Die Experten waren sich jedoch einige, dass der Erweiterungsprozess in kleinere Schritte unterteilt werden muss, um den Politikern einen Lohn für die oft für sie nachteiligen Reformen zu geben. Politiker denken in Wahlzyklen und sind durch langfristige Ziele, wie z.B. eine EU-Integration Bosniens in 15 Jahren, nur schwer zu motivieren. Vachudova glaubte daran, dass wegen der Ferne des Ziels der Vollmitgliedschaft die Westbalkan-Staaten vielleicht doch in Versuchung kommen könnten, ein eventuelles EU-Angebot zu einer privilegierten Partnerschaft als Ersatz für eine Vollmitgliedschaft zu akzeptieren. Die exzellent organisierte und interessante Konferenz wurde von der Südosteuropa-Gesellschaft, dem European Fund for the Balkans, der Stadt Graz und dem Land Steiermark finanziert. – Weitere Informationen zur Konferenz in Bild, Ton und Text bekommt man auf der Internetseite des Zentrums für Südosteuropastudien (www.suedosteuropa.uni-graz.at) sowie auf Twitter (#seed2012) und auf der Facebook Seite des Zentrums (https://www.facebook.com/ CSEES.Graz).

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