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PRESSEBILD

Visaspiele

Verbotene Früchte

Verhext

Ost-Ausschuss fordert Abschaffung der Visa.

Das restriktive Gesetz gegen homosexuelle Propaganda bewirkt das Gegenteil, meint der Journalist Ilja Klischin.

Spielplatzbauer legt sich mit den Behörden an.

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NURIJA FATYKHOWA

Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich.

Mittwoch, 6. März 2013

Ein russischer Guttenberg

Kosaken gegen Napoleon Vor 200 Jahren wurde bei Leipzig in der bis dahin größten Schlacht der Geschichte über die Freiheit Europas entschieden. 600000 Soldaten standen sich in der Völkerschlacht gegenüber: An

© RIA NOVOSTI

Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES

Er war jung, ambitioniert und ein Shootingstar der Regierungspartei Einiges Russland. Und Wladimir Burmatow hatte einen Doktortitel. Dann schauten Blogger sich seine Dissertation genauer an – und entlarvten ihn als Plagiator. Burmatow verlor den Posten des stellvertretenden Chefs des Duma-Bildungsausschusses, aber nicht seinen Doktortitel. Doch der Fall zieht Kreise: Am 7. Februar wurde in Moskau der Vorsitzende der Obersten Attestationskommission festgenommen.

der Seite der Russen kämpfte Preußen gegen den Besatzer Napoleon. Der Sieg führte zu einer Zareneuphorie – die allerdings bald ein Ende fand. SEITE 10

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Tabuthema auf der Bühne

EASTNEWS

THEMA DES MONATS

Russland im Goldrausch 205 Tonnen Gold förderte Russland im vergangenen Jahr – und stieg zum viertgrößten Goldproduzenten auf. Angesichts des beständig steigenden Goldpreises wird nun auch in Gegenden gefördert, deren Erschließung zuvor ökonomisch keinen Sinn machte. Gleichzeitig vergrößert das Land

Das russische Parlament hat in erster Lesung ein Gesetz verabschiedet, das „homosexuelle Propaganda“ unter Strafe stellen soll. Beobachter sehen darin reinen Populismus. Menschenrechtler sprechen von einem Verstoß gegen die Grundrechte. Und Homosexuelle im ganzen Land fürchten, zu „Bürgern zweiter Klasse“ zu werden. SEITEN 6 UND 7

KOMMERSANT

HOMOSEXUALITÄT PER GESETZ ZURÜCK IN DIE VERGANGENHEIT

seine eigenen Goldreserven. Die lagen im Oktober 2012 bei 933 Tonnen. Das klingt nach viel, ist aber im Vergleich zu den Vorräten der deutschen Zentralbank lachhaft: Die betrugen zum gleichen Zeitpunkt 3396 Tonnen. SEITE 4

Behinderte sieht man in Russland kaum auf der Straße. Meist werden sie weggesperrt, zu Hause oder in Heimen, weil die Verwandten sich schämen. Die deutschrussische Koproduktion in einem Moskauer Theater betritt deshalb absolutes Neuland: Auf der Bühne geben Behinderte Einblicke in ihr Seelenleben. SEITE 11

INHALT Business Deutsche in Russland optimistisch WIRTSCHAFT

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Energie ITER – ein globales Projekt

Kalaschnikow für die USA

WIRTSCHAFT

Ischewsk – das war seit dem 19. Jahrhundert die Waffenschmiede Russlands, ihr Herzstück die Fabrik Ischmasch, der weltweit der Durchbruch mit dem AK-47 gelang, besser bekannt als „Kalaschnikow“. In den 90er-Jahren ging

die Waffenproduktion jedoch stark zurück, die besten Kunden sind heute Amerikaner. Aber eine Umstrukturierung soll das Werk wieder nach vorne bringen.

Roman Das ferne, vergangene Odessa

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FEUILLETON

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Politik

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INTERVIEW RAINER LINDNER

Konjunktur – Programm zum Nulltarif

AFP/EASTNEWS

2003 versprach Romano Prodi Visafreiheit für das Jahr 2008.

EU – Russland Keine Einigkeit bei den Einreisebestimmungen

Mit dicker Brieftasche nach Europa Deutschland bremst bei der Abschaffung der Visapflicht, Innenpolitiker warnen vor einer Kriminellenflut aus dem Osten. Doch diese umgehen die Visapflicht schon heute problemlos. TINO KÜNZEL FÜR RUSSLAND HEUTE

Die Verhandlungen zwischen der EU und Russland über eine Aufhebung der Visapflicht gleichen einem Langstreckenlauf. Doch nicht der Weg sei das Ziel, meinen vor allem die Russen und werden allmählich ungeduldig. Präsident Putin erklärte beim letzten EU-Russland-Gipfel im Dezember alle technischen Fragen als „praktisch gelöst“, Außenminister Lawrow drängte in Brüssel auf eine Einigung bis zu den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi. Auf einen gemeinsamen Endspurt deutet im Moment jedoch wenig hin. Während Länder wie Italien, Spanien oder Finnland eine schnelle Einigung befürworten, nimmt speziell Deutschland immer wieder das Tempo heraus. Skeptiker argumentieren, dass eine visafreie Einreise auch Kriminellen Tür und Tor öffnen würde. Inwiefern die Visapflicht als effektiver Filter gelten darf, ist jedoch umstritten. Die jährliche Ablehnungsquote der deutschen Botschaft in Russland lag zuletzt bei drei Prozent der 250000 Visaanträge. In der Regel werden nicht „Kriminelle“ ausgesiebt, sondern Antragsteller, bei denen Zweifel an der Rückkehrwilligkeit bestehen.

jahr frei bewegen – ohne Visum. Agenturen mit schönen Namen wie „Citizen EU“ oder „Graschdanin Mira“ (Weltenbürger) haben sich darauf spezialisiert, der vermögenden Kundschaft die Lauferei abzunehmen, Immobilien und Geschäftsideen zu empfehlen. An „Russen und Chinesen“ als Investoren bestehe beispielsweise im krisengeschüttelten Spanien großes Interesse, sagt ein Agent, dessen Firma ihren Sitz in Prag hat. So öffne sich der „neue eiserne Vorhang“.

Aufenthalt für 70000 Euro Die Praxis in den einzelnen Ländern unterscheidet sich nach der Höhe des „Eintrittsgeldes“ und den Formen der Geldanlage. Während Westeuropa allgemein als schwieriges Pflaster gilt, sind die Konditionen in Osteuropa überschaubar und vergleichsweise günstig. „Die dortigen Länder versuchen auf diese Weise, ihre Wirtschaft zu stimulieren“, sagt Boris Bronstein, Mitarbeiter für Business Immigration bei der Agentur Kaiser Estate in Moskau. Zypern gewährt eine Aufenthaltserlaubnis beim Kauf einer Immobilie ab 300 000 Euro. In Malta

ZAHLEN

3 Prozent der an der Deutschen Botschaft Moskau gestellten Visaanträge wurden 2012 abgelehnt, meist wegen Zweifeln an der Rückkehrwilligkeit.

Reiche Russen willkommen Restriktive Einreisebestimmungen zu umgehen, ist für Leute mit dicker Brieftasche kein Problem. Ab einer bestimmten Investition in die Wirtschaft des jeweiligen Landes steht ihnen fast überall automatisch eine Aufenthaltserlaubnis zu. Ist das Land Schengen-Staat, können sie sich in ganz Europa bis zu 90 Tage pro Halb-

140000 Euro muss eine Wohnung in Riga mindestens kosten, damit der Käufer eine Aufenthaltserlaubnis erhält. Die gilt für den gesamten Schengen-Raum.

müssen dafür „nur“ 93 000 Euro lockergemacht werden. Besonders attraktiv ist Lettland. Die Baltenrepublik räumt Ausländern das Wohnrecht schon bei einem Immobilienkauf im Wert von 70 000 Euro ein, in der Hauptstadt Riga und Umgebung sind es 140 000 Euro. Dabei wird im Unterschied zu anderen Staaten kein jährlicher Mindestaufenthalt im Land verlangt. Die Aufenthaltserlaubnis erstreckt sich auch auf den Ehepartner und Kinder. Russische Vermittler versuchen ihren Kunden gern Länder wie Tschech ien oder Bu lga r ien schmackhaft zu machen. Die „gemeinsamen slawischen Wurzeln“ und die „verwandten Sprachen“ erleichterten die Integration, werben sie. Bulgarien knüpft seine Aufenthaltserlaubnis jedoch an die Anlage von 512 000 Euro in Obligationen oder aber den Aufbau eines Unternehmens. Tschechien stellt generell zunächst nur Visa aus, die erst nach einem Jahr in eine Aufenthaltserlaubnis umgewandelt werden können.

In Deutschland gibt es keine Einstiegssumme Unternehmensgründer sind auch in Deutschland willkommen. Die im Aufenthaltsgesetz empfohlene Einstiegssumme wurde in den vergangenen Jahren immer weiter abgesenkt – von einer Million Euro auf 250000 Euro. Seit August 2012 wird überhaupt kein Betrag mehr genannt. Weggefallen sind ebenfalls die Schaffung von fünf Arbeitsplätzen und das „übergeordnete Interesse“ an der neuen Firma. Die Entscheidung über einen Aufenthalt liegt nun im Ermessen der jeweiligen Kommune oder Behörde vor Ort. „Das heißt, dass man eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland anders als anderswo nicht kaufen kann und dass es weniger auf die Höhe des Kapitals ankommt als auf einen cleveren Businessplan“, sagt Boris Bronstein. Die Reisefreiheit gibt es gratis dazu.

In einem Interview stellte 2003 der damalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi visafreien Verkehr mit Russland „innerhalb der nächsten fünf Jahre“ in Aussicht. Warum ist es dazu nicht gekommen? Die Aussage fiel in einer Zeit, in der sich die EU und der Schengen-Raum nach Osten hin erweiterten und dafür alle neuen EUMitglieder die Visapflicht mit Russland neu einführen mussten. Vielleicht wollte Prodi den Unmut darüber dämpfen. Tatsache ist, dass in der Folge nicht genug getan wurde, um die Abgrenzung der EU nach Osten zu überwinden. Dass es möglich gewesen wäre, zeigt der sehr erfolgreiche Visaliberalisierungsprozess in Südosteuropa. Den Ost-Ausschuss als Interessenvertretung deutscher Unternehmen im östlichen Europa betrifft die Visaproblematik ganz unmittelbar. Was hören Sie von Ihren Mitgliedern? In unseren Umfragen sprechen sich 80 Prozent der Unternehmen mit Russlandgeschäft für die Abschaffung der Visapflicht aus. Jedes Jahr verursacht sie für Deutsche und Russen rund 160 Millionen Euro Bürokratiekosten. Die eingeschränkten Reisemöglichkeiten sind eine ständige Belastung für Geschäftsbeziehungen, Tourismus und zivilgesellschaftliche Kontakte. Die Abschaffung der Visapflicht wäre ein Konjunkturprogramm zum Nulltarif. Könnte man das Visaverfahren nicht weitgehend vereinfachen? Unser Ziel ist es, die Visapflicht zu überwinden, und zwar so schnell wie möglich – nicht nur mit Russland, sondern auch den übrigen europäischen Ländern. Auf EU-Ebene muss Deutschland hier zum Antreiber werden. Warum agiert ausgerechnet Russland in der Visafrage als Anwalt der Freizügigkeit, läuft damit aber im freiheitlichen Europa gegen Mauern? Es ist in der Tat paradox, dass die EU mit Ländern wie Venezuela, Honduras, Mexiko oder Nicara-

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Rainer Lindner, Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, pendelt in diesen Tagen zwischen Berlin, Moskau und Kiel. Sein Dauerthema: die Visapflicht zwischen Russland und der EU. Ihre Abschaffung steht auf der Agenda des Ost-Ausschusses ganz oben.

Für Rainer Lindner ist das Visaproblem bald gelöst.

gua visafreien Verkehr unterhält, unsere Nachbarn in Osteuropa aber unter Pauschalverdacht stellt, kriminell zu sein. Für die wirklich Kriminellen sind Visa keine Hürden. Biometrische, computerlesbare Pässe sind dagegen deutlich effektiver. Ein oft zu hörender Einwand ist, dass die EU bei Wegfall der Visa von Billigarbeitern aus Russland und ehemaligen Sowjetrepubliken überrannt wird. Die Schengen-Länder Norwegen und Polen verzichten bereits im kleinen Grenzverkehr mit Russland beziehungsweise der Ukraine auf die Visapflicht. Von massenhafter Einwanderung ist nichts bekannt. Ganz im Gegenteil: Die Grenzregionen erleben durch den Handel einen wirtschaftlichen Aufschwung. Für den Fall des Missbrauchs durch illegale Einwanderer haben Russland und die EU ein Rückführungsabkommen ausgehandelt. Nebenbei: Russland ist heute die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt. Die Arbeitslosenrate ist niedriger und die Einkommen sind höher als in so manchem EU-Land. Deutschland gilt innerhalb der EU als einer der größten „Bremser“ in der Visafrage. Wie schätzen Sie die Stimmungslage unter den Entscheidungsträgern ein? Ist ein Durchbruch auf absehbare Sicht möglich? Ich bin optimistisch, denn Visafreiheit ist keine Gnade, die wir gewähren. Sie liegt im ureigenen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Interesse der EU. Die meisten haben das inzwischen verstanden. Das Interview führte Tino Künzel

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Wirtschaft

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Energie Das internationale Projekt eines Plasmareaktors könnte das Problem der Energieversorgung lösen

Die rettende Idee kommt von der Sonne In Frankreich entsteht derzeit ein Reaktor, dessen Wirkungsweise von der Sonne abgeschaut wurde. Durch kontrollierte Kernfusion soll der Strom der Zukunft gewonnen werden.

ZITAT

Jewgenij Welichow KERNPHYSIKER, VORSITZENDER DES ITER-RATS



ANDREJ RESNITSCHENKO FÜR RUSSLAND HEUTE

© ITER ORGANIZATION

Bereits Mitte des letzten Jahrhunderts kamen Physiker auf der Suche nach neuen Energiequellen auf die Idee, das Prinzip der irdischen Lebensquelle schlechthin zu nutzen, nämlich der Sonne. Seit Milliarden von Jahren läuft dort bei einer Temperatur von 20 Millionen Grad permanent eine Kernfusion leichter Elemente unter Freisetzung kolossaler Energiemengen ab. Russischen Wissenschaftlern war es gelungen, einen nahezu funktionstüchtigen Prototyp zu konstruieren. Ihr Know-how auf dem Gebiet der kontrollierten Kernfusion bildet nun die Grundlage für das gigantische Energieerzeugungsprojekt unter der Bezeichnung International Thermonuclear Experimental Reactor (ITER), das im französischen Cadarache realisiert wird. Daran beteiligen sind neben Russland die USA, die EU, die Schweiz, China, Japan, Indien und Südkorea. Der größte Vorteil des neuen Reaktors besteht darin, dass sein Brennstoffbedarf sehr gering ist und keine radioaktiven Abfälle entstehen. Das Funktionsschema des ITER kopiert die Arbeitsweise des rus-

Heute können wir feststellen, dass die russische Seite, also die Föderale Agentur für Atomenergie Rosatom und das Kurtschatow-Forschungsinstitut, ungeachtet der organisatorischen Schwierigkeiten, seine Verpflichtungen vollständig erfüllt. Wir hatten es mit ITER wegen des Erdbebens in Japan und des Reaktorunfalls in Fukushima eine Zeit lang recht schwer – die Japaner konnten damals ihre Lieferverpflichtungen nicht einhalten. Aber wir haben diesen Anteil unter den anderen Projektteilnehmern aufzuteilen. Die Situation in den USA war ebenfalls nicht einfach: Sie verließen eines schönen Tages das Projekt, und wir dachten schon, damit sei es beerdigt. Aber ITER setzte seine Arbeit fort, und die USA kehrten zurück."

März 2012: Hier wird demnächst der Tokamak-Reaktor montiert.

sischen Tokamak (Toroidale Kammer in Magnetspulen), ein Prinzip, das bereits in den Sechzigerjahren entwickelt wurde. Es unterscheidet sich von ähnlichen Konstruktionen dadurch, dass das Plasma im Reaktor nicht von den Reaktorwänden, sondern durch ein Magnetfeld gigantischer Stärke im Zaum gehalten wird. Neu am Projekt ITER sind das Reinigungssystem, das das Plasma vor

Verunreinigungen säubert, und die Verwendung von Supraleitern zur Erzeugung der Magnetfelder im Reaktor. Der ITER wird als die energetische Zukunft der Menschheit angesehen. Erstens kommt diese Technologie nahezu ohne die Verwendung natürlicher Ressourcen aus. Für den Betrieb werden Deuterium, Lithium und Wasser benötigt, deren Vorräte nach Ein-

schätzung der Wissenschaftler für mehrere 1000 Jahre ausreichen. Zum anderen fallen beim Betrieb keine radioaktiven Abfälle an, da anstelle radioaktiven Materials Plasma verwendet wird. Faktisch ist dies der erste großangelegte Versuch zur Generierung von Elektroenergie, der auf dem Prinzip von Kernfusionsreaktionen basiert, so wie sie auf der Sonne vonstattengehen.

Das Abkommen über das Projekt wurde 2006 unterzeichnet, seine Kosten liegen bei zehn Milliarden Dollar. Der Anteil jedes Projektteilnehmers beträgt etwa zehn Prozent, die EU steuert 50 Prozent der Finanzierung bei. Russland bringt seinen Anteil in Form von Hightech ein, der wichtigste Beitrag ist die Tokamak-Technologie an sich.

Ab 2050 erste Kraftwerke? Die russische Atomindustrie wird etwa 20 Prozent der Supraleiter für den ITER zur Verfügung stellen. Auch das Beryllium für die Reaktorhülle stammt aus Russland sowie insgesamt 20 verschiedene Systeme, darunter neun Diagnosesysteme. Die USA kümmern sich um die Kühleinrichtung, weitere Diagnosesysteme, die Stromnetze, unterstützende Vakuumsysteme und eine Reihe anderer Komponenten. Das erste Plasma wird in dem internationalen Versuchsreaktor voraussichtlich im November 2020 erzeugt. Verläuft der Testlauf erfolgreich, wird die Menschheit nach Einschätzung der Wissenschaftler wohl nie mehr an „Energiehunger“ leiden müssen. Das Nachfolgeprojekt DEMO (Demonstration Power Plant) soll in Japan entstehen und als erster Kernfusionsreaktor Strom über einen längeren Zeitraum erzeugen. Ab 2050 könnten dann die ersten kommerziellen Kraftwerke betrieben werden.

Geschäftsklima Stimmung der deutschen Unternehmen in Russland bleibt positiv – trotz des Reformbedarfs

Das Wetter: heiter bis leicht bewölkt nen von weit über 800 Millionen Euro in diesem Jahr, ein klares Bekenntnis zum Investitionsstandort Russland“, sagte der OstAusschuss-Geschäftsführer Rainer Lindner bei der Präsentation der Studie in Moskau. Michael Harms, Vorstandsvorsitzender der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer, betonte, „dass die Stimmung in der Wirtschaft deutlich positiver ist als erwartet und für die nähere Zukunft eine weitere dynamische Entwicklung verspricht. Allerdings dürfte die durch den WTOBeitritt erreichte Öffnung des Marktes nicht durch protektionistische Maßnahmen wieder ausgehebelt werden.“ Trotz der durchwegs positiven Stimmung sehen die deutschen

Unternehmen weiterhin Reformbedarf. Russland liegt in den großen internationalen Rankings zu Investitionsbedingungen und Transparenz immer noch auf den hinteren Plätzen. Insbesondere bürokratische Hürden und Kor-

KONFERENZ CONTAINERLINIE ROSTOCK – ST. PETERSBURG

MESSE RUSSLAND PRÄSENTIERT SICH AUF DER MESSE HANNOVER

27. MÄRZ, ST. PETERSBURG

8. BIS 12. APRIL, HANNOVER MESSE

LESEN SIE MEHR ÜBER DIE RUSSISCHE WIRTSCHAFT AUF

Zweieinhalb Tage Fahrt liegen zwischen Rostock und St. Petersburg, und Rostock plant eine direkte wöchentliche Containerlinie nach Russland. Transport-, Logistik- und Schifffahrtsmanager können sich unter [email protected] anmelden.

Die Russische Föderation ist in diesem Jahr Partnerland der wichtigsten Technologiemesse der Welt. Mit seiner Ausstellung wird das Land die globalen Interessen und die Ausrichtung seiner Hauptindustriezweige und Konzerne darstellen.

RUSSLAND-HEUTE.DE

› rostock-port.de

› hannovermesse.de

Im Januar befragten der OstAusschuss der Deutschen Wirtschaft und die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer ihre Mitglieder zum Geschäftsklima in Russland. Laut der Studie blicken deutsche Unternehmen, die in Russland angesiedelt sind, auf ein gutes Geschäftsjahr 2012 zurück und schätzen auch das laufende Jahr optimistisch ein: 50 Prozent von 135 befragten Unternehmen haben 2012 eine Verbesserung des Geschäftsklimas in Russland festgestellt. Und über 80 Prozent rechnen auch für 2013 mit einer positiven Entwicklung der russischen Wirtschaft. „Allein die befragten deutschen Unternehmen planen Investitio-

WIRTSCHAFTSKALENDER

Die 135 Unternehmen, die an der Umfrage teilnahmen, wollen 2013 weit über 800 Millionen Euro investieren. ruption machen den Unternehmern zu schaffen. Vor allem beim Zoll, bei Zertifizierungs- und Genehmigungsverfahren und der Bekämpfung des Protektionismus wünschen sie sich weitere Re-

formschritte. Wichtige Reformbaustellen haben die deutschen Unternehmen außerdem bei der Vergabe von Visa durch die Konsulate beider Länder sowie bei der Verfügbarkeit von Fachkräften ausgemacht. 80 Prozent der Befragten fordern eine zügige Abschaffung der Visapflicht zwischen der EU und Russland – ein Thema, dem auch der OstAusschuss große Aufmerksamkeit schenkt. Einen neuen Schwerpunkt der Umfrage bildete der Fachkräftemangel, der von den deutschen Unternehmen als klares Problem benannt wird. Der Herausforderung begegnen sie vor allem anderen durch die Ausbildung im eigenen Betrieb (59 Prozent), dann durch den Einsatz von Expatri-

ats (15 Prozent). 13 Prozent der Unternehmen arbeiten mit russischen Bildungseinrichtungen zusammen, weitere 13 Prozent schauen sich bei der Konkurrenz um. Der WTO-Beitritt Russlands im August 2012 hat sich für den Großteil der deutschen Unternehmen bislang noch nicht bemerkbar gemacht. Rund 80 Prozent der Befragten konnten keine Veränderungen feststellen, 20 Prozent sahen nach den ersten 100 Tagen WTO-Mitgliedschaft erste positive Auswirkungen für die Wirtschaft. Für das laufende Jahr erwarten sie allerdings spürbare Verbesserungen durch die Mitgliedschaft. Rund 76 Prozent rechnen mit leicht bis stark positiven Auswirkungen auf die eigene Unternehmensentwicklung. Die komplette Umfrage finden Sie auf www.ost-ausschuss.de

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Deutschland beteiligt sich an der Messe und bietet deutschen Firmen die Möglichkeit, im Rahmen eines Gemeinschaftsstands teilzunehmen.

Für erfolgreiche Geschäfte sind nicht nur Kompetenz und hochwertige Produkte entscheidend, sondern gegenseitiges Verständnis. Das Seminar bietet wichtige Anregungen für Personalmanagement und Verhandlungen.

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Wirtschaft

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ZAHLEN

1,1 

Kilo wog ein Goldnugget in Herzform, das letzten Sommer im Lena-WitimBezirk gefunden wurde. Sibirien verfügt über reiche Goldvorkommen.

933 

Tonnen betrugen die russischen Goldreserven im Oktober 2012. 2007 waren es nur 402 Tonnen. Die deutschen Goldreserven machen 3396 Tonnen aus. SHUTTERSTOCK/LEGION-MEDIA

Goldgewinnung Russland steigert Produktion und Verbrauch

Ein ganzes Land im Goldrausch Allerdings hat der anhaltende Preisanstieg eher spekulativen Charakter. „Und praktisch alle Industriestaaten haben ihren Verbrauch an diesem Edelmetall im vergangenen Jahr gedrosselt“, sagt Valentina Bogomolowa, Senioranalystin für Metalle und Bergbau des Unternehmens URALSIB Capital. Russland stelle da eine Ausnahme dar: Hier sei der Goldverbrauch nicht zurückgegangen, sondern im Gegenteil um einiges angestiegen. Endgültige Zahlen für das vergangene Jahr lägen zwar noch nicht vor, aber für die ersten neun Monate könne man von sieben Prozent Wachstum ausgehen, schätzt Bogomolowa. Die Situation in Russland ist insofern paradox, als Feingold hier bislang keine Rolle als Sparanlage gespielt hat. Für Privatpersonen ist es wenig lukrativ, in den

Banken vergrößern ihre Goldreserven, Bürger kaufen Schmuck. 2012 forcierte Russland seine Goldförderung und rückte weltweit auf den 4. Platz vor – nach China, Australien und den USA. WIKTOR KUSMIN FÜR RUSSLAND HEUTE

Der Goldverbrauch steigt, weil russische Anleger in unsicheren Zeiten Schmuck als Wertanlage sehen. Etwas ganz anderes ist es mit dem Kauf hochwertiger Juwelierserzeugnisse. Viele wohlhabende Privatanleger sehen wertvollen Schmuck als interessante Geldanlage in Zeiten von instabilen Dollar und Euro. Was die eigene Goldproduktion angeht, hat Russland seine Fördermengen im Jahr 2012 um ei-

Russische Goldproduktion nach Regionen

NATALIA MICHAJLENKO

Im vergangenen Sommer wurde die weltweite Sammlung einmaliger Goldklumpen um einen Fund aus Sibirien aufgestockt. Das Nugget mit einem Gewicht von über einem Kilogramm und der schmeichelhaften Form eines Herzens wurde in der Lena-Witimsker Golderzregion gefunden. Sie ist das eigentliche Eldorado des fünftgrößten Goldfördergebiets Russlands – Irkutsk. Wie die anderen Fördergebiete Krasnojarsk, Amur, der Autonome Kreis der Tschuktschen und Jakutien gehört es zu Sibirien. Ohne seine originelle Form hätte die Welt wohl nie von diesem Goldklumpen Notiz genommen. Denn es ist bei Weitem nicht das größte Exemplar, und sein Gewicht ist nichts im Vergleich zu der Masse Goldes, die jährlich in Russland gefördert wird: 2012 waren es etwa 205 Tonnen. Der Goldpreis steigt nun schon das dreizehnte Jahr in Folge – allein im vergangenen um sieben Prozent –, und es verwundert deshalb nicht, dass die russische Regierung angesichts der unübersichtlichen Lage auf den Finanzmärkten und der erheblichen Währungsschwankungen die Goldbestände in ihren internationalen Reserven kontinuierlich aufgestockt hat. Waren es Anfang 2007 noch 402 Tonnen, hatten sie sich zum 1. Oktober 2012 mehr als verdoppelt und betrugen bereits 933 Tonnen.

Kauf von Goldbarren zu investieren. Die Ausgabesteuern sind zu hoch, und der schwache Wertzuwachs kompensiert nicht die obligatorischen Fiskalabgaben an den Staat.

niges hochfahren können. Der Verband der Goldminenbesitzer der Russischen Föderation spricht von einer fünfprozentigen Steigerungsrate, die offizielle Statistik der staatlichen Behörde Rosstat verkündet sogar einen noch größeren Wert – 8,3 Prozent. Demnach wurden in den ersten elf Monaten des Jahres 2012 insgesamt 203,28 Tonnen des wertvollen Metalls abgebaut. Damit hat Russland Südafrika hinter sich gelassen und steht inzwischen weltweit auf Platz vier der Goldförderstaaten. Der Löwenanteil der russischen Goldproduktion generierte sich mit mehr als 180 Tonnen aus Lagerstätten und verzeichnet hier ein Plus von 6,3 Prozent. 14,5 Tonnen stammen aus Nebenprodukten (was einem Anstieg von 11,6 Prozent entspricht). Um ein Drittel hingegen sank der Anteil der Goldgewinnung aus Sekundärrohstoffen wie Schrott und Abfällen. Im Jahr 2013 soll der Abbau des wertvollen Metalls noch einmal gesteigert werden. Dann könnte

QUELLE: U.S. GEOLOGICAL SURVEY AND GOLD AND TECHNOLOGY MAGAZINE

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Tonnen Gold förderte Russland 2012. Das Land wurde damit zum viertgrößten Goldproduzenten der Welt.

Russland bei der Fördermenge selbst die USA überholen. „Ein Teil des geplanten Ausbaus vorhandener Goldminen und der Erschließung neuer Lagerfelder wurde bereits realisiert, andere Projekte befinden sich noch ganz in der Entwicklungsphase. Der starke Anstieg der Fördermenge im vergangenen Jahr verdankt sich aber vor allem dem Ausbau der För de rk ap a z it ät e n b e r e it s erschlossener Lagerstätten“, sagt Andrej Schenk, Analyst bei Investcafé. Bis 2014 soll das größte Goldvorkommen auf dem Territorium Russlands vollständig erschlossen sein: die Lagerstätte Natalka in Ostsibirien. Ihre Erkundung geht bi s au f d ie Z e it de s Zwe iten Weltkriegs zurück, eine systematische Förderung scheiterte bislang an der mangelnden Infrastruktur. Das Bergbau- und Aufbereitungskombinat Natalka soll jährlich zehn Millionen Tonnen Erz verarbeiten und dabei bis zu 20 Tonnen Gold gewinnen. Gleichzeitig wird die benachbarte Golderzmine Pawlik erschlossen und ausgebaut. Hier sollen noch einmal sieben Tonnen Gold pro Jahr aus dem Erz gelöst werden. Valentina Bogomolowa ist sich sicher, dass die gegenwärtige günstige Wirtschaftslage des Landes weitere Investitionen im Edelmetallsektor nach sich ziehe. Allerdings hat die instabile Lage auf den Finanzmärkten sowie die große Volatilität auf dem Goldmarkt eine Reihe großangelegter Deals in Russland bisher verhindert. So konnte die beabsichtigte Fusion von Polyus Gold und Polymetal International noch nicht realisiert werden, ebenso wenig wie einige Börsengänge in der Bergbau- und Metallurgiebranche. Auch die Versteigerung des riesigen Golderzfeldes Suchoj Log durch die Regierung lässt auf sich warten. In ihm werden bis zu 3000 Tonnen Gold und dazu Silberadern vermutet.

Reportage

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Wirtschaftsgeschichte Zu Besuch in Russlands wichtigster Waffenschmiede und der zweiten Heimat Kalaschnikows

Moderne Zeiten für Ischmasch 200 Jahre lang bestimmte die Waffenfabrik das Leben der Stadt Ischewsk. Jetzt wird das Werk modernisiert, die Ischewsker hoffen auf die Wiedergeburt einer zivilen „Kalasch“. ALEXEJ KARELSKY

Die in die Jahre gekommene Jakowlew Jak-42 braucht knapp zwei Stunden von Moskau bis nach Ischewsk, Hauptstadt Udmurtiens. Der winzige, aber gepflegte Flughafen empfängt uns fast menschenleer. Dafür steht Taxifahrer Farid im Foyer und wirbt mit einem Schild für seine Dienste. Die ganze Strecke über lasse ich mich von seinen Geschichten unterhalten. Ich erfahre, warum die Straße zum Flughafen in so tadellosem Zustand ist. Nach dem Erfolg der „Omas von Buranowo“ auf dem Eurovision Song Contest 2012 ging nämlich das Gerücht um, dass Präsident Putin persönlich die Rentnerinnen-Band besuchen werde. Umgehend wurden Sonderfahrzeuge für den Straßenbau aus der ganzen Stadt zusammengezogen. Putin kam dann doch nicht. Die Stadt sei außerdem in den letzten Jahren so rasant in die Breite gegangen, dass die Startbahn des alten Flughafens heute praktisch im Zentrum liege und die Neubauten von Ischewsk bereits bis an den Zaun seines kleinen Grundstücks herangerückt seien. Das habe früher einmal in einem Vorort gelegen. Und dann erzählt Farid noch, dass ihn in seiner Scheune regelmäßig ein Igel besuchen kommt.

Die Igel von Kalaschnikow

wittern allmählich. Angeblich gibt es Pläne, sie zu einem Einkaufs- und Vergnügungszentrum umzubauen. Im Museum „Ischmasch“ erfahren die Besucher alles über die Geschichte der Waffenfabrik. Es ist in dem ältesten Gebäude der Stadt aus dem Jahr 1804 untergebracht. Vom Hügel über dem Ufer eröffnet sich ein wundervoller Blick auf den „Teich“ und das alte Werksgebäude. Die spektakuläre Sammlung des Museums zeigt die unüberschaubare Zahl von Schusswaffen, die in den 200 Jahren Werksgeschichte gefertigt wurden: von einem Jagdkarabiner mit der Gravur „Für J. Stalin“ bis zu funktionsfähigen Souvenirmodellen (im Maßstab 1:3) von DragunowScharfschützengewehren und Kalaschnikow-Gewehren, deren letztes serienmäßig produziertes Exemplar Wladimir Putin im Oktober vergangenen Jahres zum 60. Geburtstag geschenkt wurde. Die Museumsführerin Galina erzählt, dass die hier ausgestellte Sammlung von Ischmasch-Motorrädern 2003 eine geradezu kindliche Begeisterung bei Prinz Michael von Kent ausgelöst habe, dessen Leidenschaft für Raritäten auf Rädern bekannt ist.

Modernisierungsmaßnahmen Das Werk selbst erlebt nicht die besten Zeiten: Von den einst 50000 Arbeitern sind gerade einmal 4100 geblieben. Die Produktion von Rüstungsgütern ist

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Wie sich später herausstellt, ist Farid da kein Einzelfall. Im Hof des legendären Kalaschnikow, des 93 Jahre alten Waffenkonstrukteurs, der von den Einheimischen zärtlich „unser Michail Timofejewitsch“ genannt wird, steht ein kleines Holzhäuschen. Hier überwintert eine ganze Igelfamilie. Nicht weniger respektvoll spricht man in der Stadt über Andrej Fjodorowitsch Derjabin. Er legte 1807 im Auftrag von Zar Alexander I. den Grundstein für die Erfolgsgeschichte der Waffenfabrik Ischewsk und die Entwicklung der Stadt zu einem bedeutenden Industriezentrum. Das Denkmal für Derjabin steht am Ufer des großen Stausees, den die Ischewsker heute immer noch „Teich“ nennen. Am gusseisernen Gitter neben der Uferpromenade hängen unzählige kleine Vorhängeschlösser: Das Denkmal ist obligatorisches Ausflugsziel eines jeden Hochzeitspaares. Auf der anderen Straßenseite liegen die hellrosafarbenen Gebäude der ersten Fabrik mit ihrem charakteristischen Turm, der schon früh zum Wahrzeichen der Stadt wurde. Vor einigen Jahren stellte das Stammwerk seine Produktion ein, die Gebäude selbst werden seitdem von der Republik Udmurtien verwaltet. Bislang sind sie jedoch unbewirtschaftet geblieben und ver-

Kalaschnikow-Stand (oben), gedrehte Läufe (unten)

63 Prozent der Fabrikarbeiter sind Frauen.

ALEXEJ KARELSKY (4)

RUSSLAND HEUTE

Das Denkmal vor dem „Ischmasch“-Museum zeigt die Werkarbeiter in Ehrentracht.

Das ehemalige Hauptgebäude der Waffenfabrik steht seit einigen Jahren leer. Demnächst könnte ein Shoppingzentrum einziehen.

praktisch eingestellt worden, weil in den Lagern des Verteidigungsministeriums große Mengen vollautomatischer Waffen lagern. Seit 2010 laufen nun Modernisierungsmaßnahmen, in deren Zuge die komplizierte Struktur des Unternehmens vereinfacht werden soll. Unter anderem, so erläutert Produktionsleiter Wladimir Labadin, wird künftig nur noch in einem Werksgebäude produziert: „Aufträge vom Verteidigungsministerium gibt es nicht mehr, sie sind auch nicht absehbar. Mehrere Werke auf einem angemessenen technischen Stand zu halten und weiter produzieren zu lassen, hätte sich nicht mehr rentiert.“

Populär in den USA Statt auf staatliche setzt das Werk nun auf zivile Aufträge. „Außerdem stellen wir auf mittlere und kleinere Stückzahlen um“, erläutert Pawel Kolegow, der stellvertretende kaufmännische Geschäftsführer, die Unternehmenspläne für 2013. „Das größte Potenzial hat natürlich der USamerikanische Markt, auf den 67 Prozent des weltweiten Absatzes ziviler Schusswaffen entfallen. Im Jahr 2012 konnten wir unsere Lieferungen in die USA um 15 Prozent steigern, sie liegen mittlerweile bei 80 Prozent des gesamten Produktionsvolumens. Wir haben in diesem Zeitraum Produkte im Wert von 16 Millionen

Dollar abgesetzt. Die amerikanischen Kunden nehmen uns praktisch alles ab, was wir dort auf den Markt bringen.“ Die Fertigung von Waffen ist eine mühevolle Arbeit. Jede Waffe wird mit der Hand zusammengebaut, danach der Lauf auf einem speziellen Schießstand getestet. „Schauen Sie“, – der Meister der Fertigungshalle Wiktor Dmitrijewitsch, der hier bereits seit 40 Jahren arbeitet, zeigt auf eine Reihe leerer Stellen auf dem Schießstand. „Früher hat an jedem Platz ein Schütze eine ganze Schicht durchgearbeitet.“ Dann wird die Waffe wieder auseinandergebaut, von Rückständen gereinigt, lackiert. Und erst danach werden ihre Teile zum letzten Mal zusammengesetzt, die Waffe kann abgenommen werden. 1986, als in der Montage noch 1000 Beschäftigte in zwei Schichten arbeiteten, erstreckte sich ein gesamter Produktionszyklus bis zur Verpackung über drei Tage. Heute werden sechs Tage einkalkuliert, dabei ist die Belegschaft deutlich geschrumpft und arbeitet nur noch in einer Schicht.

Jagdgewehre statt „Kalasch“ Wiktor Dmitrijewitsch erinnert sich stolz an vergangene Zeiten, als das Werk „Berge von Kalaschnikow-Maschinengewehren“ in einem Jahr fertigte. „In den turbulenten 1990er-Jahren brachen die staatlichen Aufträge dann ein.

Unsere Konstrukteure reagierten gut und entwickelten auf der Basis der Kalaschnikow eine neue Baureihe von Flinten. Das rettete uns. Heute stellen wir nur noch Jagdwaffen und Kleinkalibergewehre für den Biathlon her.“ Trotzdem sieht der heimische Markt für russische Waffenkonstrukteure nicht eben rosig aus. Die Nachfrage ist dramatisch gesunken. Kamen vor fünf Jahren noch 80 Prozent der in Russland verkauften Waffen aus Ischewsk, machen die russischen Traditionsprodukte heute gerade mal 20 Prozent des Angebots aus. Ausländische Hersteller sind mit ihren Produkten auf den Markt vorgedrungen. Der martialische „Military Style“ der Ischmasch-Waffen, von den Kalaschnikows geprägt, liegt offensichtlich nicht mehr im Trend. Das Design soll erneuert werden. Hinzu kommt, dass Tschechen und Türken mehr Zusatzausrüstung anbieten.

Konkurrenz für Beretta Für 2013 hat die Unternehmensleitung große Pläne. Das Ziel sind an die zehn neue Produkte und eine Ausweitung der Fertigungskapazitäten auf das Doppelte. Und speziell für den US-amerikanischen Markt der Bau kostengünstiger Kleinkaliberwaffen für den Amateursport. Ein eigenständiges Geschäftsfeld bildet die Premiumklasse, über die früher bei Ischmasch niemand nachgedacht hat. Künftig will Ischmasch mit den bekannten italienischen Herstellern Beretta und Benelli konkurrieren. Der erste Schritt aber müsse sein, die Waffen aus Ischewsk überhaupt erst wieder in die russischen Verkaufsregale zu bringen. In der werkseigenen, im Jahr 1896 „zur Fernhaltung der Arbeiter von unheilvollen Lastern und schädlichen Einflüssen“ eröffneten Bibliothek zeigt uns die Leiterin Ljudmila Timofejewna Schriftstücke russischer Schriftsteller. Nicht ohne Stolz sagt sie zu mir: „Stellen Sie sich vor, unsere Bibliothek wurde nie geschlossen, trotz allen Unruhen der letzten hundert Jahre.“

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Thema des Monats

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RECHT HOMOSEXUALITÄT DIE STAATSDUMA VERABSCHIEDET EIN GESETZ GEGEN „HOMOSEXUELLE PROPAGANDA“. WAS STECKT DAHINTER?

EIN GESETZ FÜRS EINFACHE VOLK 1993 schaffte Russland den Paragraph 121 ab, jetzt soll es ein Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ geben. Die Initiative ist populistisch und könnte ein Ablenkungsmanöver sein.

ZITATE

Andrej Kurajew PROTODIAKON, PROFESSOR AN DER MOSKAUER KIRCHENAKADEMIE, VERFASSER EINES LEHRBUCHS ÜBER DIE GRUNDLAGEN DER RUSSISCH-

JULIA PONOMARJEWA

Die Abschaffung des Homoparagraphen 1993 hatte nur einen Grund: den Zugang zum Europarat zu gewinnen.

ORTHODOXEN KULTUR

RUSSLAND HEUTE

Die Debatte über homosexuelle Rechte in Russland flammte auf, nachdem das Parlament in erster Lesung ein Gesetz verabschiedet hatte, das hohe Geldstrafen für Handlungen vorsieht, die „Homosexualität unter Minderjährigen propagieren“, und zwar in Höhe von 4000 Rubel (100 Euro), falls es sich um einfache Bürger handelt, und von bis zu 500 000 Rubel (12 500 Euro), wenn eine Organisation dahintersteckt. Das Gesetz, das am 25. Januar von den Abgeordneten des Parlaments mit nur einer Gegenstimme und einer Enthaltung durchgewunken wurde, hat die besten Chancen, nach der entscheidenden zweiten Lesung am 25. Mai angenommen zu werden.

Schutz von Minderjährigen Die Abgeordnete Jelena Misulina, die größte Unterstützerin des Gesetzes, stellt sich der „homosexuellen Propaganda“ als etwas entgegen, was „an Umfang zugenommen“ hat und „die Gesundheit von Kindern sowie deren moralische und geistige Entwicklung beeinträchtigen kann“. In einem Interview mit der Tageszeitung Iswestija zitierte Misulina, die dem Familienausschuss der Staatsduma vorsitzt, eine Statistik zum sexuellen Missbrauch von Kindern, die belegen sollte, dass es bereits schädliche Auswirkungen der „homosexuellen Propaganda“ gebe. „2010 waren 65 Prozent der Opfer Mädchen, 30 bis 35 Prozent waren Jungen. Ende letzten Jahres waren dagegen 60 bis 65 Prozent der Opfer Jungen und nur 30 bis 35 Prozent Mädchen. Viele Fachleute glauben, dass das mit der aggressiven Propaganda homosexuellen Verhaltens in Russland zu tun hat“, sagte Misulina.

Lackmustest der Demokratie Die Regierung solle die öffentliche Meinung zum Thema Homosexualität berücksichtigen. „In Russland ist die Bevölkerung demgegenüber intolerant“, meinte sie. Diese Forderung wird durch Meinungsumfragen gestützt: Über 60 Prozent der Russen empfinden Homosexualität als negativ, 43 Prozent sehen sie als Folge ausschweifender Lebensweise und 32 Prozent glauben, dass es sich dabei um eine psychische Störung handle. In seiner Forschungsarbeit „Lackmustest der russischen Demokratie“ spürt der bekannte Soziologe



Wir müssen verstehen, dass die Kultur der Homosexualität die Kultur des Todes ist. Weil sie eine kinderlose Welt bedeutet, eine Welt, die nur fremde Kinder rauben kann und selbst nicht dazu in der Lage ist, Leben zu gebären. Mir scheint, dass das Ansinnen und der Sinn solcher Gesetze nicht darin besteht, sie zu einem Werkzeug des direkten Einwirkens zu machen, sondern darin, dem Wunsch der Zivilgesellschaft nach einem Widerstand gegen die erstarkende homosexuelle Lobby Ausdruck zu verleihen. Zum Beispiel in den russischen Massenmedien, vor allem aber im Fernsehen."

Homosexuelle wurden zum Sündenbock für alle Probleme, ob Geburtenrate oder die Moral in der Armee.

Russlands Bürger zum Thema Homosexualität

Ljudmila Alexejewa MENSCHENRECHTLERIN, LEITERIN DER MOSKAUER HELSINKI-GRUPPE



Für eine genetische Besonderheit darf niemand bestraft werden. Das ist das Gleiche, wie wenn man Menschen für ihre Sommersprossen bestrafen würde. Sind sie denn daran schuld, dass sie Sommersprossen haben?"

Dmitrij Medwedew MINISTERPRÄSIDENT RUSSLANDS



Bei Weitem nicht alle Fragen der Moral, bei Weitem nicht alle verhaltensmäßigen Angewohnheiten, bei Weitem nicht alle Fragen der zwischenmenschlichen Kommunikation muss man in Gesetze gießen. Weil nicht alle Beziehungen zwischen den Menschen durch Gesetze geregelt werden können. Das ist meine Position."

Witalij Milonow ABGEORDNETER DER STADTVERSAMMLUNG VON ST. PETERSBURG, MITGLIED DER PARTEI EINIGES RUSSLAND, INITIATOR EINES IN ST. PETERSBURG VERABSCHIEDETEN GESETZES ÜBER DAS VERBOT DER „PROPAGANDA VON HOMOSEXUALITÄT“



Wir mischen uns nicht in den Bereich der Bürgerrechte und -freiheiten ein. Wir versuchen nicht, ein Verbot in Verbindung mit der sexuellen Orientierung der Menschen aufzustellen. Wir sprechen lediglich von Propaganda, weil die Popularitätswelle der sexuellen Abweichungen sich negativ auf unsere Kinder auswirkt."

NATALIA MICHAJLENKO

Igor Kon der Geschichte der öffentlichen Meinung zur Homosexualität nach, um etwas Licht darauf zu werfen, warum Russen diesbezüglich so wenig Toleranz zeigen. In der Sowjetunion, so Kon, wurde Homosexualität als Geisteskrankheit und Verbrechen eingestuft und mit bis zu sieben Jahren Gefängnis geahndet. Erst 1993 sei die Homosexualität entkriminalisiert worden.

In den 90ern werden Homosexuelle zu Sündenböcken „Das war nicht etwa das Ergebnis einer Erleuchtung der Regierung oder eines zunehmenden öffentlichen Drucks“, schreibt er. „Organisationen für die Bürgerrechte von Homosexuellen hatten

keinen Einfluss, und die Masse der Bevölkerung kümmerte das Thema kaum. Der einzige Grund war, Zugang zum Europarat zu gewinnen.“ Homosexualität rückte zunehmend ins Blickfeld der Öffentlichkeit und verärgerte den konservativen Teil der Gesellschaft. „Homosexuelle wurden zum Sündenbock für alle Probleme in Russland – angefangen von der Demoralisierung in der Armee bis hin zu der abnehmenden Geburtenrate“, so Kon weiter. 2002, drei Jahre nachdem Russland die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation WHO akzeptiert hatte – diese hatte gefordert, Homosexualität als normale sexuelle Orientierung anzusehen –, stellte der damalige Ab-

geordnete (und jetzige Vizepremierminister) Dmitrij Rogosin den Antrag, homosexuelle Menschen bis zu fünf Jahre ins Gefängnis zu sperren. Wäre das Gesetz angenommen worden, hätte Russland zweifellos seinen Platz im Europarat verloren.

Die Stimme der Kirche Eine führende Rolle im Kampf gegen die Rechte Homosexueller nimmt die Russisch-Orthodoxe Kirche ein, die Homosexualität offiziell als Sünde bezeichnet. „Wir sind gegen die Gleichstellung homosexueller Beziehungen und für natürliche Beziehungen zwischen Männern und Frauen“, sagte Patriarch Kyrill, der geistige Führer der russischen Orthodoxie 2009.

Thema des Monats

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MEINUNG Jelena Kurilenko

heute gläubig, der Pfarrer weiß allerdings, dass sie lesbisch ist. Wenn das Gesetz über das Verbot homosexueller Propaganda durchkommt, weiß ich nicht, wie wir unseren Kinderwunsch realisieren werden. Wie würden die

Ärzte, die Erzieherinnen im Kindergarten, die Lehrer in der Schule unser Kind behandeln? Das Gesetz verstärkt in jedem Fall die Intoleranz gegenüber Lesben und Schwulen. Viele Homosexuelle müssten befürchten, ihren Job zu verlieren, vor allem Beschäftigte staatlich finanzierter Unternehmen. Ich persönlich wurde wegen meiner sexuellen Orientierung schon mehrmals entlassen. Solche Fälle würden sich, wenn das Gesetz einmal durch ist, wahrscheinlich häufen. Ich habe mit Freunden Unterschriften gegen den Gesetzentwurf zum Verbot der Homopropaganda gesammelt. Fünfhundert habe ich zusammenbekommen. Wir haben sie mit den Unterschriften aus anderen Städten an die Staatsduma nach Moskau geschickt. Ich weiß nicht, ob sie bei den Abgeordneten angekommen sind.

derweise wurde am Tag, als sie das Gesetz verabschiedeten, eine Schwulenbar überfallen. Die Leute haben Angst vor tätlichen Angriffen. Es gibt noch eine weitere Folge dieses Gesetzes. Früher konnten LGBT-Aktivisten unbekümmert an Veranstaltungen sympathisierender

Organisationen teilnehmen. Heute fordert die Polizei sie auf, ihre Regenbogenfahnen zusammenzurollen, Plakate gegen Homophobie zu entfernen, es kommt zu Festnahmen. Nach der Verabschiedung des Gesetzes kam es auch vermehrt zu Gewalt gegen Schwule und Lesben auf Kundgebungen. Keiner dieser Vorfälle wurde strafrechtlich verfolgt. Homophobe, die Aktivisten der Allianz der Heterosexuellen für LGBTRechte angegriffen hatten, wurden nach langen Ermittlungen für unschuldig befunden. Eines der Motive dieses Gesetzes ist in dem unablässigen Wunsch der politischen Elite Russlands zu vermuten, westlichen Werten entgegenzuwirken. Ihre Logik ist: Was für Europa oder die USA gut ist, ist für Russland schlecht. Die USA proklamieren den Schutz der Rechte von LGBT, das heißt, Russland sollte das Gegenteil tun.

ein großer Erfolg. Mit 15 habe ich das erste Mal an LGBT-Aktionen teilgenommen. Wir ließen bunte Luftballons aufsteigen. Da fielen ein paar maskierte Männer über uns her und brüllten ir-

gendwelche homophoben Sprüche, einen aus unserer Gruppe schlugen sie zusammen. Überhaupt werden alle LGBT-Aktionen in Jekaterinburg brutal aufgelöst. Wenn das Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ verabschiedet ist, werden viele Organisationen ihre Arbeit ganz einstellen oder ändern müssen. In der Uni, in der ich studiere, gibt es eine psychologische Selbsthilfegruppe für Homosexuelle. Wenn das Gesetz in Kraft ist, wird sie höchstwahrscheinlich verboten werden. Dorthin kommen schließlich auch Leute, die noch keine 18 sind. Mich persönlich wird das Gesetz wohl nicht betreffen, aber ich habe Angst vor seinen Folgen. Was, wenn das nächste Gesetz Homosexuellen verbietet, in medizinischen oder pädagogischen Einrichtungen zu arbeiten?

de und Eltern änderten ihr Verhältnis zu mir nicht, als sie erfuhren, dass ich schwul bin. Das Problem haben die Herrschenden: Wenn sie unsicher werden, brauchen sie einen Feind. So entstehen Nationalismus, Xenophobie, Homophobie. Der einfachste Weg, Menschen zusammenzuschließen, ist der,

ein Feindbild aufzubauen. Ich glaube, Homosexuelle sind derzeit die nützlichsten Feinde. In Nischnij Nowgorod, wo ich wohne, veranstalten LGBT-Aktivisten keine Protestaktionen. Um dort mit einer Regenbogenfahne auf die Straße zu gehen, muss man sehr mutig sein. Alle Aktivisten vor Ort haben wohl die Geschichte aus Woronesch vor Augen, als eine Homoversammlung in eine Massenschlägerei ausartete. Wenn das Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ verabschiedet wird, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, angegriffen zu werden und eins auf die Mütze zu kriegen. Das Gesetz wird zur Folge haben, dass die Polizei Gewalttäter, die sich an Homosexuellen vergangen haben, nicht verfolgen wird, sie wird nicht einmal mehr Anzeigen von Opfern entgegen nehmen. Die Erklärung dafür wird ganz einfach sein: „Hier wird Propaganda betrieben!“

24 JAHRE, SYSTEMADMINISTRATORIN, TOMSK – 3619 KILOMETER VON MOSKAU ENTFERNT

PRIVAT

Ich hatte mein Coming-out vor zwei Jahren. Meine Großmutter sagte damals zu mir: „Sieh zu, dass du russisch-orthodox wirst, geh beichten und heirate.“ Meine Mutter glaubt, dass ich in der Spätpubertät stecken geblieben bin und bald alles vorbei ist. Ich habe eine Freundin, Mascha, wir ziehen oft in Tomsk um die Häuser, Hand in Hand. Uns hat noch nie jemand etwas getan. Manchmal kommen von Passanten grobe Bemerkungen, manchmal irgendwelche Dummheiten. Mascha habe ich kennengelernt, als ich auf der Suche nach einer Mitbewohnerin war. Wir stellten fest, dass wir als Kinder in der gleichen kirchlichen Schule waren. Mascha ist bis

Walerij Sosajew 33 JAHRE, ARBEITSLOS, ST. PETERSBURG – 708 KILOMETER VON MOSKAU ENTFERNT

Die gegenwärtige antihomosexuelle Bewegung könnte in einem komplexeren Zusammenhang mit den jüngsten Initiativen der Regierung gesehen werden, von denen Kritiker sagen, dass sie sich gegen fundamentale Grundrechte wenden. Im Laufe des letzten Jahres passierte eine Reihe von Gesetzen das Parlament, von Re-

Die Rechte Homosexueller wurden seit 1993 nicht mehr so missachtet wie in dem neuen Gesetz von 2013. gelungen für öffentliche Kundgebungen bis hin zum Adoptionsverbot russischer Waisen durch amerikanische Familien, die eine Welle der Empörung unter Regierungskritikern hervorriefen. „Die Regierung versucht, der Gesellschaft und der Opposition ihre eigene Agenda aufzuzwingen und den Diskurs von den wirklich wichtigen Problemen abzulenken“, sagt Alexej Makarkin, Vizepräsident des Zentrums für Politische Technologien. „Es ist doch so: Wenn die Opposition das Problem der Korruption aufwirft, kontert die Regierung mit der Frage des sittlichen Verhaltens. Wenn die Opposition sagt, dass die wirtschaftliche Entwicklung nur noch so vor sich hindümpele, versucht die Regierung, die Aufmerksamkeit der Opposition auf das Problem der Rechte sexueller Minderheiten zu lenken.“

20 JAHRE, STUDENTIN, JEKATERINBURG – 1755 KILOMETER VON MOSKAU ENTFERNT

Meine Mutter weiß aus meinem Tagebuch, dass ich lesbisch bin. Sie hat es heimlich gelesen und mich dann zur Rechenschaft gezogen. Damals war ich 14 Jahre alt. Ich hatte eigentlich erwartet, dass sie gelassener mit der Sache umgeht, sie ist schließlich Psychologin. Eine gewisse Zeit wartete meine Mutter ab, ob ich mich ändere, dann sagte sie: „Wenn du so leben willst, dann mach das auf deine eigenen Kosten.“ Vor Kurzem habe ich ihr meine Freundin vorgestellt, mit der ich schon seit über zwei Jahren zusammen bin. Sie kamen miteinander ins Gespräch … Für mich ist das

Wjatscheslaw Rewin 30 JAHRE, LEITER EINER NONPROFIT-MENSCHENRECHTSORGANISATION, NISCHNIJ NOWGOROD – 417 KILOMETER VON MOSKAU ENTFERNT

Seit dem 16. Juli 2007 verstecke ich meine sexuelle Orientierung vor niemandem mehr. Ich fuhr damals nach Moskau zu einer Demo gegen die Todesstrafe für Schwule und Lesben im Iran. Dort hielt ich ein Plakat in den Händen, auf dem geschrieben stand: „Iran – Hände weg von Schwulen“. Dabei wurde ich gefilmt von einem Medienteam, das etwas über die Veranstaltung bringen wollte. Alle erfuhren auf diesem Weg, dass ich schwul bin. Als Erwachsener habe ich niemals Probleme wegen meiner sexuellen Orientierung gehabt. Arbeitskollegen, Freun-

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Politikwissenschaftler sehen den Versuch, „homosexuelle Propaganda“ zu verbieten, als einen Gegenschlag des Kremls gegenüber der Mittelschicht und ihrer wachsenden Unzufriedenheit mit der Politik der Regierung. Diese Unzufriedenheit zeigte sich am eindrucksvollsten vor einem Jahr, als es in Moskau und mehreren anderen Städten zu den größten Straßenprotesten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gekommen war. „Es gibt heute zwei Tendenzen: die Unzufriedenheit mit der Regierung, gekoppelt an ihre abnehmende Legitimität, und deren scharfes Vorgehen gegen die Regimekritiker“, sagte Lew Gudkow, Direktor des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum auf der Jahreskonferenz im Januar. „Die Politiker fühlen sich beunruhigt durch die abnehmende Unterstützung in der Bevölkerung, und in einer solchen Situation fällt man leicht repressive Entscheidungen“, sagte Mark Urnow, Dekan der Fakultät für Politisches

Was bleibt: Kurs auf das konservative Lager

Jewgenija Stanina

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Eine Ablenkung der Regierung von anderen Themen?

Verhalten an der Moskauer Hochschule für Volkswirtschaft. „Sie haben die Hoffnung aufgegeben, die progressiven Gruppierungen, die Freiheit und Rechte fordern, für sich einzunehmen, und bemühen sich deshalb um das – zumal wesentlich größere – konservative Lager in der Bevölkerung“, erklärte Urnow.

PRIVAT

Kon weist darauf hin, dass die russische Kultur traditionell eher in sich geschlossen und introvertiert und die Zahl der öffentlichen Streiter für die Rechte Homosexueller äußerst gering sei. Seiner Ansicht nach sind sexuelle Minderheiten nur von marginalem Interesse für die großen politischen Parteien, und die russische LGBTGemeinschaft (Lesbian, Gay, Bisexual and Trans) sei in sich zersplittert und deshalb schlecht organisiert. Aber unabhängig davon, wie wenig Unterstützung Homosexuelle in Russland bisher auch erfahren haben mögen, ihre Rechte wurden von der Regierung und der parlamentarischen Opposition seit 1993 nie so eindeutig beschnitten wie in dem nun in erster Lesung verabschiedeten Gesetz.

KOMMERSANT

LGBT-Kundgebung: Häufig kommt es zu Konflikten zwischen Demonstranten, Gegendemonstranten und der Polizei.

Ich habe mich meiner Mutter gegenüber mit 25 Jahren geoutet. Sie kam damit anfangs nur schwer zurecht. Mittlerweile ist sie in der Elternbewegung für LGBT-Rechte aktiv. Eine offen homophobe Reaktion erlebte ich bei meinem früheren Arbeitgeber. Ich war Lehrer und beteiligte mich am Aufbau der LGBT-Organisation „Ausweg“. Als dieses Engagement bekannt wurde, regte die Schulverwaltung an, mich zu entlassen. In St. Petersburg gibt es bereits ein Gesetz, das „homosexuelle Propaganda“ verbietet. Es wirkt vor allem psychologisch: Noch mehr Schwule und Lesben in St. Petersburg sind in den Untergrund abgewandert. Bezeichnen-

Zusammengefasst von Tatjana Marschanskich

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Gesellschaft

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Plagiat Auch in Russland durchforsten nun Wissenschaftler die Dissertationen ihrer Politiker

Guttenbergen und burmatisieren Dr. Burmatow ist nicht der einzige Plagiator

Mit Guttenberg und Schavan haben hochrangige deutsche Politiker ihren Doktorgrad verloren. Auch in Russland bröckelt es. Und viele fragen sich: Wie redlich wurden die Titel erworben?

Herr – nicht mehr Doktor – Burmatow war nicht der einzige russische Politiker, der seine Seriosität mit einem akademischen Titel unterstreichen wollte, am Ende aber nur eine Welle kritischer Fragen auslöste. So wurde zum Beispiel die Dissertation des amtierenden Kulturministers Wladimir Medinskij von mehreren Kritikern in Frage gestellt. In der Kurzfassung seiner Doktorarbeit „Objektivitätsprobleme in der Beschreibung russischer Geschichte des XV. bis XVII. Jahrhunderts“ habe er Zitate anderer Forscher nicht als solche gekennzeichnet. Auch zweifeln sie grundsätzlich an den Qualitäten

SERGEJ SUMLENNY FÜR RUSSLAND HEUTE

Nicht nur deutsche Politiker schmücken sich gerne mit akademischen Titeln, auch ihre russischen Kollegen tun es. Und genau wie in Deutschland wird jetzt auch in Russland genauer hingesehen, wenn es um die Authentizität ihrer Dissertationen geht. In den letzten Monaten gerieten gleich mehrere Abgeordnete ins Kreuzfeuer der Kritik – sogar ein Minister war drunter. Und wie in Deutschland kosteten schlampige Dissertationen auch in Russland einigen der Beschuldigten ihr politisches Amt. Der stellvertretende Chef des Bildungsausschusses im russischen Parlament musste gehen, auch der Leiter der Obersten Attestationskommission.

Der Vorsitzende der Obersten Attestationskommission soll neun Millionen Euro illegal erwirtschaftet haben.

Der rasende Blogger des Titels beraubt

Der Politiker Wladimir Schirinowskij (links) hat den „kandidat nauk“ übersprungen. Einige Deputierte bestehen auf einer Untersuchung.

die Burmatow unter Studenten der Universität Tscheljabinsk in seiner Heimatregion durchgeführt hatte. Die Ergebnisse waren absolut identisch mit denen einer Studentenbefragung an einer anderen technischen Hochschule. Die ganze Erhebung stellte sich als blanker Betrug heraus. Das Ausmaß des Skandals war so groß, dass Dr. Burmatow seine Posten im Duma-Ausschuss verlor und zur Lachfigur wurde.

143 der 450 DumaMitglieder sind „Kandidat der Wissenschaften“, 71 tragen den Titel „Doktor der Wissenschaften“.

Korruption in der Obersten Prüfungskommission Am 7. Februar 2013 wurde in Moskau der Vorsitzende der Obersten Attestationskommission (OAK) Felix Schamchalow festgenommen. Der Mann soll laut Angaben der Ermittler knapp neun Millionen Euro illegal erwirtschaftet haben. Nun mehren sich die Anzeichen, dass ein Skandal um die Massenfertigung gefälschter Dissertationen der Hauptgrund für die Festnahme des Wissenschaftlers ist. Die Kommission ist die oberste akademische Stelle, die alle akademischen Titel als Erstes bestätigen muss. Angeblich sollen mehrere Dutzend Würdenträger, unter anderem Politiker wie der Nationalist Wladlen Kralin, mithilfe von Schmiergeldern in der Obersten Attestationskommission ihre Dissertationen positiv bewertet haben lassen, die gar nicht als solche hätten akzeptiert werden dürfen. So fehlten zum Beispiel in allen Fällen Zitathinweise, schlimmer noch: Zum Teil waren gefälschte Namen angegeben. Ob die weiteren Ermittlungen im Fall Schamchalow diese Verdachtsmomente erhärten werden, ist noch unklar. Die Glaubwürdigkeit des akademischen Titels – vor allem, wenn ihn ein Politiker innehat – ist in Russland aber schon jetzt stark beschädigt.

seiner wissenschaftlichen Arbeit, tat sich doch Medinskij auch als Autor historischer Romane mit stark patriotischer Ausrichtung hervor. Die Vorwürfe waren nicht ausreichend und die Position des Ministers Medinskij stark genug, um im Amt zu bleiben, doch die Glaubwürdigkeit russischer Politiker, die sich mit stolzen akademischen Titeln schmücken, hat gelitten. Von 450 Abgeordneten tragen 143 den Titel „kandidat nauk“ (vergleichbar mit einem Doktortitel in Deutschland) und 71 den Titel „doktor nauk“ (vergleichbar mit dem „Dr. habil.“). Des Weiteren haben im Föderationsrat, der oberen Kammer des russischen Parlaments, 64 Mitglieder von insgesamt 178 einen akademischen Titel. Obwohl Titel in Russland – im Gegensatz zu Deutschland – kaum in der Anrede verwendet werden, sind sie oft eine wichtige Voraussetzung zur Ausübung bestimmter Funktionen. Außerdem beeinflussen sie die Höhe der Spesen bei Beamten. Nicht umsonst schrieben zu Sowjetzeiten die Staatsdiener ihre

KOMMERSANT

Während die deutschen Politiker ihre Dissertationen „guttenbergen“, werden die Doktorarbeiten ihrer russischen Kollegen „burmatisiert“. Wladimir Burmatow, das ist der Name des im Südural geborenen Nachwuchspolitikers der Regierungspartei Einiges Russland. Und wie in Deutschland zu Guttenberg, stand dieser Name noch vor nicht allzu langer Zeit für eine atemberaubende Politkarriere ein. Vor einigen Jahren war der damals 30-jährige Lehrer den meisten Russen nur als „rasender Blogger“ bekannt, der in kontroversen Internetdiskussionen die Politik des Kremls verteidigte. 2011 schaffte Burmatow dann den Aufstieg zum Duma-Abgeordneten und zum stellvertretenden Chef des Bildungsausschusses. Aber schon wenige Monate später stießen Blogger auf verdächtige Ähnlichkeiten in längeren Passagen seiner Dissertation mit früher veröffentlichten Artikeln von Kollegen. Noch gravierender lag der Fall bei einer Umfrage,

Doktorarbeiten zu allen möglichen Fantasiethemen, nur um überhaupt eine zu haben. So verfasste beispielsweise der heutige Chef des russischen Rechnungshofes im Jahr 1986 eine Arbeit zum Thema „Parteiführung über die Feuerwehrbrigaden der Stadt Leningrad während des Großen Vaterländischen Krieges“. In den letzten Wochen mehrten sich die Stimmen, dass es sich bei den aufgedeckten Plagiatsvorwürfen nicht um Einzelfälle handelt. Außerdem wird immer wahrscheinlicher, dass dahinter ein tief verwurzeltes, korruptes System steckt: das System einer professionellen Fertigung gefälschter Dissertationen und ihrer akademischen Akzeptanz an den betreffenden Stellen.

© RUSLAN KRIVOBOK_RIA NOVOSTI

KOMMERSANT

AP (2)

© VLADIMIR FEDORENK_RIA NOVOSTI

Die Hauptdarsteller persönlich und ihre berufliche Zukunft

NAME: K.-T. ZU GUTTENBERG

NAME: ANNETTE SCHAVAN

NAME: WLADIMIR BURMATOW

NAME: WLADIMIR MEDINSKIJ

NAME: FELIX SCHAMCHALOW

POSITION: VERTEIDIGUNGSMINISTER

POSITION: BILDUNGSMINISTERIN

POSITION: ABGEORDNETER

POSITION: KULTURMINISTER

POSITION: OAK-VORSITZENDER

STATUS: AKADEMISCHER TITEL

STATUS: AKADEMISCHER TITEL

STATUS: IM AMT, AKADEMISCHER

STATUS: IM AMT, AKADEMISCHER

STATUS: IN HAFT, VORERST

ABERKANNT, ZURÜCKGETRETEN

ABERKANNT, ZURÜCKGETRETEN

TITEL NICHT ABERKANNT

TITEL NICHT ABERKANNT

BIS ZUM 24. MÄRZ

Meinung

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VERBOTE WECKEN BEGIERDEN Ilja Klischin JOURNALIST

NATALIA MIKHAJLENKO

W

ir leben in einer Gesellschaft, in der Informationen nicht nur grenzenlos verfügbar sind, sondern auch im Übermaß. Die im Laufe eines Jahres erzeugten Texte und Bilder entsprechen, ausgedrückt in Bytes, dem kulturellen Erbe mehrerer Jahrtausende. Leider handelt es sich dabei um wertlose Beliebigkeit – Shakespeare neben einem unbekannten YouTubeKommentator. Mit zunehmender Masse an Informationen sinkt ihr Wert im Einzelnen. Um in den virtuellen Wogen des Datenmeers überhaupt noch jemanden für etwas zu interessieren, muss die Information einen signifikanten „Mehrwert“ enthalten. Der kann im Merkmal des – tatsächlichen oder fiktiven – Verbotenseins liegen. Marktforscher haben schon lange erkannt, dass die Logik der verbotenen Frucht absolut zuverlässig funktioniert. Von Millionen Werbespots will der Verbraucher den sehen, der aus dem Programm gekippt oder als unmoralisch gebrandmarkt wurde. Im Westen haben Marketingexperten diese Wirkung schon vor Jahren genutzt und Werbung so konzipiert, dass mit ihrem Verbot gerechnet werden konnte. Ihre russischen Kollegen haben das Verfahren vereinfacht. Sie gingen dazu über, ihre Videoclips direkt als „verboten“ zu

Nie suchten die Internetuser so häufig nach „Lesben“, „Schwule“, und „Schwulenporno“ wie im Januar 2013. etikettieren. Unter dem Gesichtspunkt einer Werbekampagne lässt sich auch die gesetzgeberische Tätigkeit des russischen Parlaments betrachten, insbesondere der Gesetzentwurf über das Verbot homosexueller Propaganda. Auskunft über die Effektivität dieser „Kampagne“ gibt der Suchmaschi-

nen-Service Google Trends: Er macht Änderungen bei der Häufigkeit von Suchbegriffen und damit Entwicklungen des gesellschaftlichen Interesses nachvollziehbar und lässt Prognosen über zukünftige Suchtendenzen zu. So häufig wie im Januar 2013 haben die Nutzer des russischen Internets nie zuvor nach den Begriffen „Schwule“, „Lesben“ und „Schwulenporno“ gesucht. Im vergangenen halben Jahr hatten auch andere Schlüsselwörter wie „Homosexualität“, „LGBT“ und „Transgender“ Hochkonjunktur. Das Wachsen des Interesses an diesem Begriffsfeld nahm ein rapides Tempo an. Google-Progno-

sen zufolge werden alle diese Suchbegriffe 2013 weiterhin im Kurs steigen, allen voran der „Schwulenporno“ mit einer Zunahme von drei Prozent. Eine Analyse der mythisch konstruierten „Schwulenpropaganda“ und der Komponenten des im Sommer eingeführten Registers verbotener Internetseiten, die Kinderpornos, Informationen über Drogen oder Suizid enthalten, lässt den Schluss zu, dass die Hochkonjunktur des Interesses an diesen Themen zeitlich mit der gesetzgeberischen Tätigkeit der Staatsduma zusammenfällt. Ein Sonderfall sind dabei die Suchwörter „Kinderporno“ und „Drogensüchtige“. Das Suchgeschehen um den einen wie den anderen Begriff erlahmte ab Dezember 2008 bzw. Juli 2009. Nach der Einführung des Registers jedoch schlug dieser Trend für eine gewisse Zeit im Sommer bis Herbst vergangenen Jahres um. „Kinderporno“ schnellte von 40 auf 51 Prozent in die Höhe, „Drogensüchtige“ von 22 auf 29 Prozent. Dass wir es mit einem zwingenden Zusammenhang und nicht mit einer bloßen Koinzidenz zu tun haben, belegt der Fall „Kinderporno“, in dem es den Gesetzgebern gelang, einen versiegten Trend neu aufleben zu lassen. Im Jahr 1916 griff der Vorsitzende der damaligen Staatsduma Pawel Miljukow die Regierung mit den berühmt gewordenen Worten an: „Was ist das – Dummheit oder Verrat?“ Auch heute ist unklar, womit wir es zu tun haben. Mit einem abgrundtiefen Unverständnis, was die Funktionsweise der Medien betrifft, oder mit einer äußerst spitzfindigen Verschwörung. Auf Letztere jedoch brauchen wir nicht zu hoffen. Der Beitrag erschien in der Zeitung Wedomosti

DIE VOLKSERMITTLER KOMMEN Maria Eismont JOURNALISTIN

D

as Unvorstellbare ist geschehen: Ein russischer Politiker erklärte nach einem Enthüllungsskandal seinen Rücktritt. Und nicht irgendein Politiker: Wladimir Pechtin, seit 1999 DumaAbgeordneter für die Regierungspartei und zuletzt Vorsitzender der Ethikkommission. Nachdem bekannt wurde, dass er Immobilien besitzt, die er in seiner Steuererklärung nicht angegeben hatte, verkündete er den freiwilligen Verzicht auf sein Mandat. Das rief bei den einen Begeisterung, bei anderen Schadenfreude hervor. Blogger rätseln, ob hinter dem unerwarteten Schritt die persönliche Entscheidung Pechtins stand oder ob seine Parteigenossen ihm diesen Schritt eindringlich nahe-

gelegt haben. Und: Erwarten Russland weitere Rücktritte aufgrund heimlicher Immobilien oder nicht ganz ehrlich erworbener Doktortitel? Dass mit weiteren Enthüllungen zu rechnen ist, daran zweifelt niemand: Das Spiel der „Politikerjagd“ scheint immer mehr Leute anzulocken. Die Karriere Pechtins hat ein junger Physiker mit dem Pseudonym Doktor Z auf dem Gewissen, der an einer europäischen Universität arbeitet und bisher in der Öffentlichkeit vollkommen unbekannt war. In seinem Blog sucht er nach Freiwilligen, „die das Verzeichnis der Abgeordneten mit allen möglichen Schreibweisen in lateinische Buchstaben transkribieren.“ Es darf angenommen werden, dass sich diese Freiwilligen – und wahrscheinlich nicht wenige – gefunden haben. Und ebenso ist

Sagen Sie uns die Meinung: [email protected]

Für alle in Russland HEUTE veröffentlichten Kommentare, Meinungen und Zeichnungen sind ausschließlich ihre Autoren verantwortlich. Diese Beiträge stellen nicht die Meinung der Redaktion dar.

damit zu rechnen, dass wir in Kürze eine neue Charge Enthüllungsmaterial zu hochgestellten russischen Politikern zu Gesicht bekommen werden. Der an Kraft zunehmenden neuen Bewegung

Der Sieg über Pechtin ist der bisher größte und medienwirksamste Erfolg des staatsbürgerlichen Widerstands. dieser „Volksermittler“ können die Sicherheitskräfte des Landes kaum etwas entgegensetzen. Die jüngsten Reaktionen des Staates zeigen, dass sich seine Methoden nicht geändert haben: Die Machtvertikale interessiert sich für die Anführer, Organisatoren und Geldgeber der Proteste. Aber jetzt

hat sie es zu tun mit einer Graswurzelorganisation motivierter Freiwilliger, die von dem Wunsch angetrieben werden, gerechte Verhältnisse zu schaffen. Dutzende, vielleicht schon Hunderte schicken Anfragen an die Katasterämter in den USA und in Europa, gleichen die Ergebnisse mit den Steuerklärungen der Politiker ab und untersuchen ihre Dissertationen auf Plagiate. Und es werden immer mehr, denn Ermittlungsarbeit, vor allem als Gemeinschaftsarbeit, ist faszinierend! Die Entlarvung Pechtins ist der bisher größte und medienwirksamste Erfolg des staatsbürgerlichen Widerstands gegen einen Politiker. Das Kräfteverhältnis scheint sich zu ändern … Der Beitrag erschien ungekürzt auf dem Internetportal vedomosti.ru

Russland HEUTE: Die deutsche Ausgabe von Russia Beyond the Headlines erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, Ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation Tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 E-Mail [email protected] Herausgeber: Jewgenij Abow, Chefredakteur deutsche Ausgabe: Alexej Karelsky Gastredakteur: Moritz Gathmann Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast, Redaktionsassistenz: Jekaterina Iwanowa Commercial Director: Julia Golikova, Anzeigen: [email protected] Artdirector: Andrej Shimarskiy, Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung Layout: Maria Oschepkowa

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REFLEKTIERT

Virtuelle und analoge Köche Der Ulenspiegel ZEITZEUGE

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rüher wurde einem beim Erwerb seines akademischen Titels nicht so auf die Hände geschaut. Zwar durchforsteten auch in der Vor-Internet-Ära findige Journalisten die Dissertationen prominenter Doctores, aber ein Plagiat war viel schwieriger aufzudecken. Heute machen das Computer, und die eckigen Hüte purzeln nur so von den Häuptern der Betroffenen. Überhaupt ist Schummeln nicht mehr so einfach. Wer kann sich noch erinnern an die Zeiten, als man in Deutschland seine Freunde auf Spesen bewirten oder sich von Kunden teure Geschenke machen lassen konnte? Heute gibt es „Compliance“. Das bedeutet, „sich an die Regeln halten“. Die Regeln aber werden immer strenger und die Möglichkeiten, Fehlverhalten aufzudecken, immer ausgefeilter. Früher war in Deutschland Bestechung ausländischer Kunden nicht nur erlaubt, sondern steuerlich absetzbar. Heute zittern Manager davor, dass ein „Whistleblower“ Interna über Kundenakquise ins Netz stellt. Auch in Russland entstehen Initiativen gegen Betrug und Korruption, private und staatliche. Natürlich gibt es Pessimisten, die meinen, dass das nicht ernst gemeint sei oder nicht funktionieren werde. So ein Pessimist bin auch ich. Aber ich war auch ein Pessimist, was das Internet angeht. Noch in den 90er-Jahren war ich der Meinung, das Web sei in erster Linie eine Spielwiese für Spinner, Betrüger und Extremisten. Das ist zwar nicht ganz falsch, stellt aber keine erschöpfende Beschreibung des Phänomens dar. Man kann mit dem Internet, wie wir sehen, auch akademische Betrüger entlarven und Revolutionen anzetteln. Das gilt auch für Russland. Doch braucht es mehr als Onlineprotest, um eine Gesellschaft zu verändern. Auch in der realen Welt muss etwas passieren. Sonst bleibt der Cyberspace die virtuelle Küche, in der die Dissidenten von heute über die Lage im Land lamentieren. Über Korruption und Betrug ärgern sich alle Russen, auch diejenigen, die ansonsten nicht das Ziel verfolgen, eine Gesellschaft nach westlichem Vorbild aufzubauen. Kann der Funke also überspringen? Mal sehen. Meist kommt ja was ganz anderes heraus als ursprünglich erwartet, wenn digitale und analoge Köche gemeinsam am Herd stehen. Das hat man beim arabischen Frühling gesehen. Aber ich werde schon wieder pessimistisch.

Leiter Bildredaktion: Andrej Sajzew, Bildredaktion: Nikolaj Koroljow Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Karelsky, zu erreichen über MBMS, Hauptstrasse 41A, 82327 Tutzing Copyright © FGUB Rossijskaja Gaseta, 2013. Alle Rechte vorbehalten Aufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko, Geschäftsführer: Pawel Negojza Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland HEUTE veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion

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Geschichte

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Schlacht Bei Leipzig besiegte vor 200 Jahren das Zarenreich mit seinen Verbündeten Napoleon

Der Befreier aus dem Osten Die Völkerschlacht bei Leipzig brachte Napoleon die entscheidende Niederlage. Grundlage für den Sieg war, dass Preußen sich zuvor auf die Seite des Zarenreichs gestellt hatte.

In der Völkerschlacht kämpften an die 180000 Russen an Preußens Seite.

ANDRÉ BALLIN FÜR RUSSLAND HEUTE

Kurz währende Zarenliebe

© RIA NO VOSTI

PRESSEBILD

Alexander I. und Ludwig Yorck von Wartenburg (rechts). Von Wartenburg unterzeichnet die Konvention von Tauroggen am 30. Dezember 1812 (links).

PRES SEBIL D

Moskau. Lektion aus der Geschichte: Vor 200 Jahren schlossen Russland und Preußen den Militärbund von Kalisch. Nur mit Hilfe der Russen gelang der Sieg gegen den überlegenen Napoleon in den Befreiungskriegen. Bangen und Hoffen erfüllten die Deutschen Anfang 1813. Das Land war besetzt, selbst in Preußens Hauptstadt Berlin hatte sich eine französische Garnison einquartiert. Doch der Besatzer hatte auf dem Russlandfeldzug eine unerwartete und vernichtende Niederlage erlitten. Zwar waren in der Grande Armée auch viele zwangsrekrutierte Deutsche gefallen. Trotzdem weckte der Sieg der Russen auch in deutschen Landen neue Hoffnung auf die Freiheit: Napoleon hatte den Nimbus der Unbesiegbarkeit eingebüßt. Und so wagte es General Ludwig Yorck von Wartenburg kurz vor dem Neujahr 1813 eigenmächtig, ohne Zustimmung des Königs Friedrich Wilhelm II. von Preußen, einen Waffenstillstand mit den Russen zu schließen und das preußische Korps aus dem Kampf zu nehmen. Yorck hatte die Lage richtig eingeschätzt: Als die Russen die deutsche Grenze passierten, schwappte ihnen eine Welle der Begeisterung entgegen.

EASTNEWS

Kosaken in Berlin Der König reagierte, wenn auch zögerlich. Die Angst vor der Rache Napoleons war noch groß. Am 28. Februar schloss er mit Zar Alexander den Vertrag von Kalisch. Damit schlug sich Preußen auf die Seite der Russen und sagte 80 000 Mann gegen Napoleon zu. Russland verpflichtete sich, 150 000 Mann aufzustellen. Ziel war es, die Unabhängigkeit der deutschen Länder wiederherzustellen. Einige Tage zuvor hatten bereits die ersten Kosaken das französisch besetzte Berlin attackiert. Der mit ihnen reitende Freiherr Alexander von Blomberg fiel bei dem Versuch, das Königstor zu erobern. Er ging als erstes Opfer der Befreiungskriege in die Geschichte ein. Nur wenige Tage später, am 4. März 1813, vertrieben die Russen die Franzosen und wurden als Befreier umjubelt. Auch in anderen deutschen Städten wurden sie freudig empfangen. Der Bericht eines Augenzeu-

allen Seiten hin grüßten und überall mit Hurrageschrei empfangen wurden.“ Doch so leicht gab sich Napoleon nicht geschlagen. Der Korse stellte ein Heer über 200 000 Mann auf und errang damit weitere Siege in Deutschland. Auch Hamburg fiel zeitweise wieder in seine Hand. Erst als die Allianz um Großbritannien, Schweden und Österreich angewachsen war, gelang es, Napoleon endgültig zu schlagen. Die Entscheidung fiel im Herbst 1813 in der Völkerschlacht bei Leipzig.

gen aus Hamburg gibt die Stimmung wieder: „Von dem Jubel, der am 18. März in unserer Vaterstadt herrschte, will ich lieber gar nichts sagen, das haben andere euch längst besser erzählt. Zahllose Menschenmassen waren den Russen bis Hamm, bis Schiffbeck entgegengegangen, der ganze Weg war mit Frühlingsblumen bestreut, fortwährend ertönten Hurrarufe. Wer irgend sich eine Gips-

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Ein langer Zug bärtiger Kosaken grüßte nach allen Seiten hin und wurde überall mit Hurrageschrei empfangen.

büste des russischen Kaisers Alexander hatte verschaffen können, der hatte sie bekränzt und vors Fenster gestellt. Bis drei Uhr mittags musste das ungeduldige Volk warten, dann erst erschien Tettenborn, umgeben von seinen glänzenden Offizieren und gefolgt von einem langen Zuge bärtiger Kosaken, die fortwährend nach

Die Euphorie der Liberalen für den Zaren ließ indes bald nach. Neue Impulse und Ideen gingen von Moskau nicht aus. Die freiheitlichen Erwartungen, die sie mit Zar Alexander I. verknüpft hatten, erfüllten sich nicht. Er erwies sich als zunehmend reaktionär und sann vor allem darauf, den alten Zustand in Europa wiederherzustellen. Für das offizielle Verhältnis zwischen Moskau und Berlin hingegen bedeutete der gemeinsame Sieg viel. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang demonstrierten beide Mächte ihre Eintracht. „Im Jahre 1813 hatte Rußland ohne Zweifel einen Anspruch auf preußische Dankbarkeit erworben“, urteilte später der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck. Beide Seiten profitierten von der Liaison, speziell aber Preußen konnte mithilfe der Russen seinen Status deutlich ausbauen – und so schließlich auch die deutsche Einigung vollziehen.

Ende in den Schützengräben In Mitteleuropa wurde Deutschland zum wichtigsten Akteur. Gleichzeitig stiegen Berlins Ansprüche ins Maßlose. Der Wunsch des jungen Kaisers Wilhelm II., sein Reich zu einer Weltmacht zu formen, sorgte für das endgültige Ende einer fruchtbaren Kooperation. Die Folgen waren verheerend: Im Ersten Weltkrieg standen sich beide Seiten in den Schützengräben gegenüber. Am Ende zählten Moskau und Berlin zu den großen Verlierern. Heute, 200 Jahre nach dem Vertrag von Kalisch, setzen viele Politiker in Deutschland eher auf Konfrontation denn auf Kooperation mit Moskau. Kritik am Kreml mag berechtigt sein: Historisch gesehen hat Berlin aber stets gut ausgesehen, wenn es einen Partner im Osten hatte. Dies ist beleibe nicht auf das Militär beschränkt.

Das Bargusin-Tal: Land der tausend Geister

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Feuilleton

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Theater Ein russisch-deutsches Projekt beschäftigt sich mit der Weltsicht von Behinderten

„Enfernte Nähe“ setzt neue Grenzen

sagen winden sich die Schauspieler im Tanz umeinander – ein Paar geht dabei wie Stiere Stirn an Stirn aufeinander los. Der papieren wirkende Alexander Dowgan wogt wie ein Blatt im Wind um seine Tanzpartnerin. Auch Swetlana Jewseewa und Jewgenija Skokowa strahlen in ihren gemeinsamen Bewegungen aus, was der Titel verspricht: Nähe – aber zärtliche, statt entfernte. Die beiden Frauen stellen sich an den Herd und beginnen, ein Süppchen zu kochen. „Mutter stand auf der Treppe“, flüstert die eine der anderen zu. „Onkel Kolja kam nicht, um das nasse Gras zu schneiden“, antwortet die andere aufgeregt. „Am Himmel brennt ein roter Mond.“

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LESENSWERT

Odessa am Ende der Zeit

Neue Grenzen des Seins

© IWAN WODOPYANOW/GOETHE-INSTITUT

„Ich kenne den Sinn meines Lebens nicht. Das scheint vielleicht seltsam, aber es ist so. Ich weiß nicht die Antwort: Aber ich lebe weiter … mein antwortloses Leben.“ Marina Koslowa, in deren Bühnenkostüm eine Art Kissen eingenäht ist, das die Figur der Schauspielerin etwas asymmetrisch, verzerrt wirken lässt, verleiht diesen Worten eine fesselnde Eindringlichkeit. Von wem die Worte stammen, dürfen die Zuschauer jedoch nicht erfahren. Es handelt sich um Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, auf deren Texte die langjährigen Freunde Hartmann und Afonin im Laufe der achtmonatigen Arbeit an dem Stück im Internet gestoßen waren. Aus

Das Theaterstück „Entfernte Nähe“ wagt sich auf vielseitige Weise an ein Thema, dessen Enttabuisierung in Russland eben erst begonnen hat. ANGELIKA WOHLMUTH RIA NOVOSTI

„Warum lebe ich?“ – wirft eine junge Frau in einem weißen Kleid in den Zuschauerraum des Moskauer Theaters Zentrum für Dramaturgie und Regie. Auf den Rängen herrscht das, was auf Russisch „Anschlag“ heißt: Das vom deutschen Regisseur Gerd Hartmann und dem Leiter des Theaterprojekts „Krug II“ Andrej Afonin konzipierte Stück ist bis auf den letzten Platz ausverkauft. Einige haben nur noch auf den Stufen einen Platz gefunden. Der für Moskauer Verhältnisse regelrecht unheimlich freundlichen Stimmung im Saal tut das keinerlei Abbruch.

Angst vor Spott wollen die Autoren ihre Anonymität wahren, erklärt die „lenkende Kraft“ hinter Choreografie, Inszenierung, Idee und Szenario vor Beginn der Aufführung. Ein Hinweis darauf, dass noch viel zu tun ist, bis gehandicapte Künstlerinnen und Künstler ihren Platz im kulturellen Leben Russlands einnehmen können – in einem Land, in dem integratives Theater bisher nicht als Budgetposten aufschien und in dem die Sprache erst seit Kurzem auch andere Wörter als „Invalide“ kennt.

Tanz mit den „OWZ-Kids“

Die Texte sprechen laut Afonin von der „Grenze, wo ein Mensch sagen kann, dass das seine besondere Weltsicht ist“ und davon, dass jemand anderes ihn dafür einfach als krank abstempelt. „Hinter all dem kann man etwas Ungewöhnliches sehen, das uns nahe ist. Daher auch der Titel“, so Afonin. Er ist überzeugt, dass „Menschen, die an der Peripherie der Gesellschaft stehen“, die Dinge anders sehen. Grenzen zu verwischen, war zweifellos mit ein Ziel der Theaterarbeit. Nicht nur, dass sich das „Who-is-who“ auf der Bühne nicht eindeutig feststellen lässt – dieser unwillkürliche forschendsuchende Zuschauerblick selbst, mit dem man an diesem Abend nun mal gar nicht so recht weiterkommen will, regt zum Nachdenken an. Nach und nach übertüncht der Essensduft, der sich im Saal ausbreitet, die ungute Angewohnheit, physische Unterschiede automatisch zu bemerken. Zumindest jetzt und hier spielen die Kategorien behindert/nichtbehindert gar keine Rolle. Während die acht Darstellerinnen und Darsteller am Ende des Stücks eng im Kreis zusammensitzen und Suppe löffeln, schluckt bestimmt so mancher im Publikum und würde sich am liebsten dazwischenzwängen – angesteckt von einem unerklärbaren Bedürfnis nach Nähe, ausgelöst von der fantastischen Darbietung auf der Bühne. Auch aus einiger Entfernung, auf dem Heimweg und noch lange später, bleibt von „Entfernte Nähe“ dieser Nachgeschmack, und man möchte am liebsten noch einmal in Applaus ausbrechen für diese talentierte Gruppe, die grandios Theater spielt – in einer Stadt, in der Behinderte üblicherweise unsichtbar sind.

Gerd Hartmann und Wolf Iro (links), Andrej Afonin (rechts)

Die politisch korrekten Wendungen sind noch so ungewohnt, dass selbst der Initiator des Projekts, der Leiter der kulturellen Programmarbeit am Goethe-Institut Wolf Iro, in seinem russischen Videokommentar, der auf der Website des Russland-DeutschlandJahres zu sehen ist, die geläufigen Formulierungen verwendet. In den Presseberichten zu dem Spektakel geben sich hingegen „Kids mit Besonderheiten in der Entwicklung“ und „Leute mit eingeschränkten gesundheitlichen Möglichkeiten“ (die russische Abkürzung lautet OWZ) die Klinke in die Hand. Das Stück selbst hat keine lineare Handlung. Die Prosa lässt Personen entstehen, denen die Nähe zur Gesellschaft, in der sie leben, bis zur Unmöglichkeit erschwert ist. Alternierend zu den Textpas-

BUCHPRÄSENTATION MICHAIL GORBATSCHOW: „ALLES ZU SEINER ZEIT“

KUNST »VERBOTENE KUNST. EINE MOSKAUER AUSSTELLUNG«

12. MÄRZ, BERLINER ENSEMBLE

BIS 14. APRIL, BERLIN, UQBAR

ERFAHREN SIE MEHR ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUF

In keinem Land wird der ehemalige Generalsekretär der KPdSU so geschätzt wie in Deutschland: Ihm verdankt das Land seine Wiedervereinigung. In Berlin, Leipzig und Köln stellt der 82-Jährige nun seine Autobiografie „Alles zu seiner Zeit“ vor.

Die junge Künstlerin Wiktorija Lomasko ist immer dabei, wenn in Moskau etwas passiert – und zwar mit Malblock und Stift. In Berlin werden Bilder vom Prozess gegen die zwei Kunstkuratoren Andrej Jerofejew und Jurij Samodurow gezeigt.

Deutschlandweit können sich Schüler jetzt für den Bundescup „Spielend Russisch lernen“ bewerben. Das Finale findet im Europapark Rust statt, die Siegerteams dürfen nach Russland reisen. Wichtig: Das Gesamtalter eines Teams muss mindestens 26 Jahre betragen. Alle weiteren Infos unter:

RUSSLAND-HEUTE.DE

› berliner-ensemble.de

› projectspace.uqbar-ev.de

› spielendrussisch.de

Eine Gruppe, die grandios Theater spielt in einer Stadt, in der Behinderte üblicherweise unsichtbar sind.

Premiere war bereits Ende November 2012, nun ist „Entfernte Nähe“ in den regulären Spielplan aufgenommen. Erstmals wirken die Schauspieler und Schauspielerinnen aus dem 1995 gegründeten Theaterstudio „Krug“ an einer professionellen Produktion in einem „gewöhnlichen“ Moskauer Theater mit – ohne Behindertenbonus und doppelten Boden. Ein bahnbrechender Erfolg für das gemischte Ensemble, ein Plädoyer für Gleichstellung.

KULTURKALENDER

© GOETHE-INSTITUT

Ein antwortloses Leben

Dieser Beitrag erschien zuerst bei der Nachrichtenagentur RIA Novosti

WETTBEWERB SPIELEND RUSSISCH LERNEN ANMELDUNG BIS 30. APRIL

Triest und Alexandria, das sind Namen von Hafenstädten mit einer nahezu mythischen Patina. Und nehmen wir ruhig den Schwarzmeerhafen Odessa hinzu als ein Symbol multikulturellen Lebens mit starkem jüdischen Anteil. Im Zauber der Jahrhundertwende auferstehen lässt die Stadt nun die Erstübersetzung eines Romans, der 1936 auf Russisch im französischen Exil erschien: „Die Fünf“ des 1940 in New York verstorbenen Journalisten und Zionisten Vladimir Jabotinsky. Jabotinsky etabliert darin ein wehmütig grundiertes Bild des alten Odessa, das damals schon so nicht mehr existierte, einer Utopie nicht unähnlich, ohne jedoch die Schattenseiten wie die Drangsalierung der jüdischen Studentenschaft und die in der Umgebung stattfindenden Pogrome zu verschweigen. Solche Erfahrungen machten aus Jabotinsky einen überzeugten Zionisten. Mit feinem Sensorium beschreibt er die gesellschaftlichen Konflikte, die 1905 zur Revolution führen werden. Die Fünf, das sind die Kinder einer ungewöhnlichen, liberalen Kaufmannsfamilie, mit der sich der Ich-Erzähler, Alter Ego des Autors, anfreundet. Sie stehen für unterschiedliche Lebensentwürfe jener Zeit: Ihr Glück hoffen sie in einer Liebesheirat oder einer geistreichen ironischen Haltung zu finden, im revolutionären Kampf oder dem Streben nach Wissen. Mit der ältesten Schwester Marussja erschafft Jabotinsky eine der bezauberndsten Frauengestalten der Literatur seiner Zeit. „Die Fünf“ ist eine großartige literarische Entdeckung, die sich nahtlos in die Reihe kürzlich erschienener Romane einfügt wie Agejews „Roman mit Kokain“ (Manesse), Gaito Gasdanows „Das Phantom des Alexander Wolf“ (Hanser) und Wsewolod Petrows „Die Manon Lescaut von Turdej“ (Weidle Verlag). Die russische Exilliteratur des 20. Jahrhunderts, sie besteht nicht nur aus Vladimir Nabokov, sondern hat auch sonst noch einiges zu bieten. Jürgen Lentes

Vladimir Jabotinsky: „Die Fünf“. Roman, aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt und Jekatherina Lebedewa, 350 Seiten, Die Andere Bibliothek, Berlin 2013, 36 Euro

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Porträt

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Engagement Keine 08/15-Spielplätze: Wie ein Moskauer Vater den örtlichen Behörden ein Schnippchen schlug

Das Hexenhaus bleibt in Kunzewo Der Holzschnitzer Andrej Salnikow wollte den Kindern seines Viertels etwas Gutes tun. Also tat er, was er ohnehin kann: einen Spielplatz bauen. Dann traten die Beamten auf den Plan. IOLANTA KATSCHAJEWA MOSKOWSKIJE NOWOSTI

© ALEKSANDR UTKIN_RIA NOVOSTI (3)

Uliza Molodogwardejskaja, Haus 41. In Kunzewo am Westrand der russischen Hauptstadt kennen viele diese Adresse. In einem Innenhof zwischen fünfstöckigen Backsteingebäuden liegt der Spielplatz von Andrej Salnikow. Von den Kindern und ihren Eltern ist er seit Jahren stark frequentiert – weil er anders ist als die normalen Spielplätze mit ihren Rutschen und Schaukeln. Doch dann kam eine neue Stadtteilverwaltung – und die wollte die „nicht genehmigten Bauten“ entfernen lassen. Andrej suchte Unterstützung bei den Nachbarn, die sammelten Unterschriften für den Erhalt des Areals. Jetzt schleppt Salnikow, ein kräftiger Mann Anfang 50, rohe Bretter aus dem benachbarten Hof zum Spielplatz. „Die haben sie weggeworfen, für mich sind sie aber genau richtig. Ich will daraus eine Schneerutschbahn machen, so eine breite, wie ich sie in meiner Kindheit hatte. Ich bin in der Gegend von Murmansk geboren, da sind wir im Winter immer auf solchen Bahnen gerodelt.“

Für sein Engagement zeichnete die Wochenzeitung Moskowskije Nowosti Andrej Salnikow (links) im Dezember 2012 mit dem Preis „Neue Intelligenz“ aus.

Mit dem Bau des Spielplatzes begann Salnikow vor sieben Jahren, als die Bezirksverwaltung im Innenhof eine Rutsche aus Metall aufstellte. Sie hatte kein Geländer, und die Eltern standen ständig mit hochgereckten Armen da, um die Kleinen aufzufangen, wenn sie einen falschen Schritt

Die Familie von Baba Jaga An ausnahmslos allen von Salnikow gezimmerten „Stationen“ tummeln sich Kinder. Die Eltern machen Fotos von ihnen: „Mascha, stell dich an den Schiffsmast!“ „Wanja, schau etwas ängstlicher, du bist doch in der Hütte der bösen Baba Jaga!“ Letzteres Bauwerk ist besonders beliebt: Laut russischem Märchen lebt die Hexe Baba Jaga in einer Hütte, die von zwei Hühnerbeinen getragen wird. Auf die Beine hat Salnikow verzichtet. Der Statik zuliebe. „Ich weiß, dass diese Dinge illegal sind“, erklärt er. „Aber ich habe das gebaut, damit die Kinder – darunter meine eigenen – nicht im Viertel auf Abenteuersuche gehen müssen, sondern hier spielen können. Hier sind alle zusammen, die ganze Familie.“

„Leben – das ist ein Kampf um das Leben“, steht am Mast des Schiffes, ein Spruch von Salnikows Großvater. taten. Da zimmerte Salnikow ein Holzgeländer und ebnete alle Löcher. Danach nagelte er breite Bretter auf die Einfassung des Sandkastens, damit die Kinder „Kuchen“ backen konnten.

Wie der Vater, so der Sohn „Ich arbeite nicht den ganzen Tag auf dem Spielplatz. Meist nur abends und am Wochenende. Ich bin Privatunternehmer und kann mir die Zeit selbst einteilen. Ich zimmere Möbel und allerlei Gebrauchsgegenstände aus Holz. Aber das Schiff und das Hexenhäuschen – das ist meine Geschenk an die Kinder.“ Eigene Kinder hat Salnikow auch, sechs an der Zahl. Die Hälfte ist schon aus dem Haus, in dritter Ehe hat er nun noch einmal drei Nachzügler bekommen. Der neunjährige Dima werkelt gern zusammen mit ihm im Hof, hilft beim Brettertragen und berichtet seinen Spielkameraden stolz, wie er und Papa gemeinsam den Spielplatz bauen.

Lasst den Kindern ihre Ruhe Das fünf Meter lange hölzerne Schiff hat Salnikow zu Ehren seiner jüngsten Tochter „Zlata“ getauft. „Auf dem Schiff spielen die Kinder Piraten oder den Untergang der ‚Titanic‘. Ich verscheuche die Eltern immer und sage: ‚Die Kinder sollen mal vor euch ihre Ruhe haben, gebt ihnen die Freiheit, das zu tun, was sie wollen, lasst ihnen ihre Fantasie, dann entwickeln sie sich richtig. Und ihr achtet nur darauf, dass nichts passiert.“

„Vor einiger Zeit kamen zwei junge Frauen von einer Bürgerorganisation mit dem Vorschlag, ich sollte ihre Initiative anführen. Natürlich habe ich mir erst mal angehört, was sie zu sagen hatten. Und dann“, sagt Andrej lachend, „habe ich losgelegt, von mir zu erzählen.“ Von seinen Sex-Heldentaten in jungen Jahren, von dem Denkzettel, den er betrunkenen Jugendlichen, die auf den Spielplatz pinkeln, verpasst. „Die Damen hörten sich das alles an, schlackerten mit den Ohren – und weg waren sie“, sagt Andrej schmunzelnd.

Die Behörden und das Volk Er will kein Anführer sein, von Politik und Demonstrationen hält er wenig: „Ich finde es einfacher, wenn du tust, was du kannst. Man muss die Dinge einfach nur anpacken, statt mit Transparenten herumzustehen.“ Allerdings ist ihm durch den Bau des Spielplatzes auch eines klar geworden: der Zusammenhang zwischen Behörde und Volk. „Die Behörden engagieren sich, wie ich sehe, nicht für die Interessen des Volkes, sondern ausschließlich für ihre eigenen.“ Salnikow erzählt ironisch, welche Überwindung es ihn gekostet habe, sich über die Regeln eben jener Behörden hinwegzusetzen. Noch genau erinnert er sich an das Gefühl, als er zum ersten Mal einen Bordstein aus dem Boden riss, weil er hinter dem Haus eine Parkfläche für die Autos anlegen wollte. „Da war mir richtig mulmig zumute“, sagt er. Er ließ sein Auto mit offenen Türen in der Nähe abgestellt, um jederzeit die

Brechstange hineinwerfen und abhauen zu können, sollte die Miliz auftauchen. „Und was meinen Sie, welche Angst ich hatte, als ich dieses Schiff hier baute“, erzählt er. Ungefähr fünf Monate zimmerte er daran, und erst mit der Zeit wurde es etwas ruhiger: „Ich konnte sehen, dass vielen gefällt, was ich mache, dass sie mich unterstützen, die Erwachsenen wie die Kinder.“

Kein Gang durch die Instanzen Wäre er zuerst zu den Behörden gegangen, er hätte nie eine Genehmigung bekommen. Davon ist er überzeugt. Weshalb? „Weil es einfacher ist, eine ‚amtlich zugelassene‘ Spielplatzausstattung hinzustellen und dafür noch je-

Die Beamten aus der Stadtverwaltung wurden von den örtlichen Eltern so angefaucht, dass sie nie wiederkamen. mandem Geld zuzuschanzen“, schimpft er. „Leben – das ist ein Kampf um das Leben“, steht am Mast des Schiffes „Zlata“. Der Spruch stammt von Salnikows Großvater. Der hat ihn von der Front mitgebracht. Für Salnikow sind die Worte auch heute noch aktuell. „Es läuft ja darauf hinaus, dass ich den Staatsdienern Konkurrenz mache“, sagt er. Als er das Geländer für die Rutschbahn gezimmert und Bretter auf die Sandkastenränder genagelt hatte, kam eine Abordnung aus der Stadt-

verwaltung und befand: „Das muss alles wieder weg.“ Aber die Eltern aus den Häusern fauchten die Beamten so an, dass diese nie wiederkamen. „Die neue Verwaltung nun will wieder alles abreißen“, erzählt Salnikow. Derzeit ist er auf der Suche nach kreativen Leuten, die Lust haben, mit ihm zusammen das hässliche Transformatorenhäuschen anzumalen. Das ist zwar ebenfalls nicht offiziell erlaubt, sieht dafür aber schön aus. Und die Farben sollen die Enthusiasten am besten gleich selber mitbringen.

Epilog Inzwischen steht am Spielplatz ein Schild: „Der Bezirk Kunzewo informiert, dass die Objekte an der Straße Molodogwardejskaja 41 Kunstwerke sind und den Sicherheitsanforderungen nicht entsprechen. Die Nutzung dieser Objekte als Spielzeug kann Ihrer Gesundheit schaden“. Und was sagen die Behörden selbst dazu? „Niemand wollte und will diesen wundervollen Spielplatz abreißen.“ So ließ es ein Sprecher des Westlichen Verwaltungsbezirks verlauten, nachdem der Bezirk Kunzewo nicht bereit war, sich dazu zu äußern. „Alles begann damit, dass sich zwei alte Frauen beim Ordnungsamt beschwerten, auf dem Spielplatz sei es zu laut. Aber wir haben hier 262 Unterschriften von Anwohnern, die für dessen Erhalt sind. Die Meinung der Bewohner ist uns sehr wichtig. Und wir schätzen es, dass in unserem Bezirk Menschen wohnen, die bereit sind, selber Spielgeräte für ihre Kinder zu bauen.“

ITAR-TASS

Glückliche Hühner und gesundes Brot Erobert BIO auch in Russland die Supermärkte?

3. April