Klaus Kellmann • Stalin

KLAUS KELLMANN

Stalin Eine Biographie

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2005 by Primus Verlag, Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt Einbandmotiv: Stalin, aufgenommen im Mai 1932, © Picture Alliance/dpa Redaktion: UNGER-KUNZ. Lektorat und Redaktionsbüro, Undorf Gestaltung und Satz: Johannes Steil, Karlsruhe Printed in Germany www.primusverlag.de isbn 3-89678-265-7

Inhalt Vorwort

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Der Priesterzögling Der Sozialdemokrat Der Bolschewist Der Verbannte Der Chefredakteur Der Volkskommissar Der Generalsekretär Der Alleinherrscher Der „Vater“ des Terrors Der Verbündete Hitlers Der Hintergangene Hitlers Der Kriegsherr Der Sieger Stalins Tod Stalins Erben

9 13 18 24 30 45 60 88 115 154 190 211 229 260 281

Anhang Chronik Abkürzungen Anmerkungen Literatur Register

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Vorwort Mit diesem Buch will ich nicht der Vielzahl wissenschaftlicher Spezialuntersuchungen zu Stalin eine weitere hinzufügen. Mein Anliegen ist es vielmehr, Politik, Person und Verbrechen des georgischen Diktators auf der Basis der seit der Zeitenwende von 1990/91 publizierten, analysierten und interpretierten jüngeren und jüngsten Quellenzeugnisse aus Moskauer Archiven im Gesamtzusammenhang der russischen, sowjetrussischen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts in der Form und im Stil des biographischen Essays griffig und lesbar darzustellen. Es wendet sich deshalb weniger an den professionellen Osteuropahistoriker, sondern vorrangig an jeden zeitgeschichtlich interessierten Menschen, Zeitzeugen wie Nachgeborene, Studierende, Schülerinnen und Schüler, aber gleichermaßen auch an die Lehrenden und Lernenden in der Erwachsenenbildung, der Volkshochschule und der politischen Bildungsarbeit in ihrer gesamten Breite. Kiel, im Januar 2005

Klaus Kellmann

Der Priesterzögling Nicht nur der Vater, auch die Mutter schlug ihn. Körperliche Misshandlungen, Jähzorn und Gewalt müssen zu den ersten Wahrnehmungen im Leben jenes Menschen gehört haben, der sich später Stalin nannte. Um der Leibeigenschaft ihrer Vorfahren zu entfliehen und ihr Glück zu finden, waren seine Eltern, der Flickschuster Wissarion Dschugaschwili und die Wäscherin Jekaterina Geladse, vom Land in die Kleinstadt Gori, fünfzig Kilometer nordwestlich der georgischen Hauptstadt Tiflis, gezogen. Erst in Gori lernten sich die beiden kennen. Als Jekaterina Wissarion heiratete, war sie gerade 15 Jahre alt, ein ehrgeiziges Mädchen, das sogar lesen und schreiben konnte. Da die ersten beiden Söhne aus der Verbindung schon im Säuglingsalter starben, betrachtete Jekaterina den am 21. Dezember 1879 geborenen Josef Wissarionowitsch als Geschenk Gottes. Er blieb ein Einzelkind in einer Zeit und Gegend, in der fünf bis zehn Kinder pro Familie keine Seltenheit waren.1 Wissarion Dschugaschwili verstand sein Handwerk, er machte sich selbstständig und strebte nach oben. Als ab 1884 jedoch die Kundschaft ausblieb, fing er an zu trinken, die Familie zog in zehn Jahren neunmal um und 1890 zerbrach die Ehe. In diesem Jahr sah der junge, ständig kränkelnde Josef seinen Vater zum letzten Mal. Wissarion ging in die Schuhfabrik nach Tiflis, kehrte aber mehrfach nach Gori zurück, um bei seiner Frau verzweifelt und vergeblich um Wiederaufnahme zu bitten. Er verlor schließlich seine Arbeit, wurde zum Landstreicher, landete im Obdachlosenasyl und starb 1909 an Leberzirrhose.2 Für Jekaterina gab es nach der Trennung von ihrem Mann nur noch den kleinen Sosso, was auf Deutsch etwa so viel heißt wie „Seppl“. Eine Kinderkrankheit nach der anderen befiel den kleinen Josef alias Sosso: Masern, Scharlach und vor allem Pocken, die in seinem Gesicht lebenslang Narben hinterließen und ihm den ersten Spottnamen, „der Pockennarbige“, eintrugen. Mehrfach verunglückte er auf der Straße, er

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wurde von Karren überfahren, brach sich die Beine und holte sich eine Blutvergiftung durch offene Wunden, die den linken Arm derartig lähmte, dass der spätere Oberbefehlshaber der Roten Armee auf Dauer wehrdienstuntauglich blieb. Mit acht Jahren war Sosso ein Straßenjunge, der immer noch nicht zur Schule ging. Erst als Jekaterina einen Priester dafür gewinnen konnte, ihm die russische Sprache beizubringen, waren die Voraussetzungen für seinen Eintritt in die „Pfarrschule“ von Gori geschaffen. Da war er zehn Jahre alt. Hier sah sich der schäbig gekleidete Junge nicht nur den Hänseleien der wohlhabenden Weinhändler- und Bauernsöhne ausgesetzt, sondern hier wurde er auch mit dem ersten großen, sein gesamtes Leben prägenden nationalen Gegensatz konfrontiert: dem sich (damals wie heute) bis zum offenen Hass steigernden Antagonismus zwischen Georgiern und Russen. Georgien, bereits von Katharina der Großen unter ihren „Schutz“ gestellt, mithin unterworfen, war 1801 als regelrechte Provinz ins russische Reich eingegliedert worden. Serien von Aufständen über das gesamte Jahrhundert hinweg bildeten die Antwort der Kaukasier auf die rigorose Russifizierungspolitik in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Als Josef Dschugaschwili die Schule besuchte, war es noch keine 15 Jahre her, dass russische Lehrer in Georgien und im angrenzenden Tschetschenien regelrecht überfallen und durchgeprügelt, ja ganze Schulen in Brand gesetzt worden waren. Josef sprach zu Hause mit seiner Mutter georgisch, genauer: ossetisch. Auf dem Schulhof in Gori unterhielten sich seine Klassenkameraden in anderen kaukasischen Dialekten, auf Armenisch und hier und da auch auf Türkisch, denn die Nordgrenze des Osmanischen Reiches war nicht weit entfernt. Im Unterricht aber wurde nur eine Sprache gesprochen: das Russische. Dschugaschwili war vom ersten Jahrgang an in jedem Fach Klassenbester, sang im Chor und las die Liturgie, dass seiner frommen Mutter, der Babuschka Keke, die Augen übergingen. Als sie so verarmte, dass sie das Schulgeld nicht mehr zahlen konnte, erhielt ihr Sohn wegen vorbildlicher Leistungen ein Stipendium. Der Russischlehrer und meistgehasste Mann der Anstalt hatte sich für ihn eingesetzt. Dass er 1894 in das theologische Seminar von Tiflis, der einzigen Hochschule weit und breit, überwechselte, war nur die Konsequenz aus dem Wandel vom

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Straßenjungen zum Bücherwurm. Im Seminar in Tiflis ging es zunächst wie gewohnt weiter. Gleich ob Russisch, Griechisch, Kirchenslawisch, Bibelkunde, Katechismus, Chorgesang, Kalligraphie, Geographie, Mathematik oder Betragen, überall lauteten die Noten „sehr gut“ oder „ausgezeichnet“. Und so waren es auch weniger die Fächer und deren Anforderungen, die den eifrigen Studiosus auf den Weg der Relegation brachten, sondern vielmehr das Leben im Seminar. Die Tifliser Hochschule, die den Ruf genoss, eine der besten Bildungseinrichtungen in Georgien und dem gesamten Kaukasus zu sein, hatte mit einer weltlichen Universität damaligen oder heutigen Zuschnitts wenig gemein. Rituelle Gebete und nicht freie Lektüre beherrschten den Lehrbetrieb, die Anwesenheit im Gebäude war bis auf einen zweistündigen Ausgang Tag und Nacht vorgeschrieben, die Buchausleihe aus öffentlichen Bibliotheken verboten und jeweils zwanzig bis dreißig Seminaristen schliefen zusammengepfercht in einem Raum. Die Zöglinge standen unter der ständigen Kontrolle orthodox-obskurantischer Mönche, die vom Statthalter des Zaren im Kaukasus persönlich ernannt und Instrumente seiner Russifizierungspolitik waren. Dschugaschwili muss das Ganze als eine Mischung aus Kloster und Kaserne, wenn nicht sogar als eine Art Gefängnis empfunden haben. Immer wieder kam es zu Unmutsbekundungen gegenüber dem russisch geprägten Lehrkörper, die sich bis zur offenen Rebellion steigerten. 1886 war der Rektor des Seminars ermordet und der Täter öffentlich hingerichtet worden. Es dauerte zwei Jahre, bis sich das Klima des unversöhnlichen Nationalitätengegensatzes und der generellen Auflehnung auch auf den Jungen aus Gori übertrug. 1896 entdeckte man bei einer der zahllosen Durchsuchungen, denen die Zöglinge ausgesetzt waren, ein Exemplar von Victor Hugos Abenteuerroman Die Sklaven der Seefahrt bei ihm, das er sich vermutlich auf einem heimlichen Stadtgang in der Leihbücherei besorgt hatte. Als der Rektor ihn daraufhin zur Strafe in die Zelle sperren ließ, begann der Wandel vom Primus zum Opponenten. Mehr als ein Dutzend Mal wurde er nun bei verbotener Lektüre erwischt, und schon vier Monate nach dem ersten Arrest erhält er die letzte Abmahnung vor seinem Hinauswurf. Die heimlichen Ausflüge in die Stadt, die er jetzt regelmäßig unternahm, formten von nun an die Überzeugung,

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dass die Probleme des Diesseits nicht von einem fernen Gott, sondern nur durch den Menschen selbst zu bewältigen seien. Obwohl ihm die sozialen Missstände in Tiflis nicht verborgen blieben, war die nationale Konfrontation einstweilen noch vorrangig, ja sie führte zu geradezu naiv-schwärmerischer Heimattümelei. Er schrieb romantisch verklärte Gedichte, die er zunächst mit „Soselo“, dann aber mit „Koba“, seinem ersten Pseudonym, unterzeichnete. Dieses Wort, ursprünglich aus einem türkischen Dialekt stammend, ist einem alten georgischen Heldenroman entlehnt und heißt so viel wie „der Unbeugsame“. Das Elend der Arbeiter, das Koba bei jeder seiner verbotenen Exkursionen aus der verhassten Klosterkaserne mehr und mehr vor Augen hatte, ließ aus der emotionalen Träumerei jedoch schnell konkrete politische Agitation werden. Koba suchte und fand Kontakt zu Kreisen, in denen relegierte Studenten aus dem Seminar keine geringe Rolle spielen. Im August 1898 trat er in eine Gruppe ein, die sich zur Unterscheidung von zwei wesensverwandten sozialistischen Vorgängern „Dritter Stand“ nannte, und kurz darauf schloss er sich der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands an, der ersten reichsweiten Partei des Landes, die im März des Jahres 1898 in Minsk gegründet worden war. Als frisch gebackener Parteiagitator erhielt er nun Schulungsaufgaben, die er in den überfüllten Wohnungen der Maurer, Eisenbahner, Tabakpflücker und Schuster von Tiflis – oft im dicksten MachorkaQualm – konspirativ und gewissenhaft ausführte. Die meisten der bei diesen Treffen versammelten waren doppelt und dreimal so alt wie er und zudem Analphabeten, doch der 19-Jährige machte hier erstmals die Erfahrung, was es bedeutete, im Mittelpunkt zu stehen, mehr zu wissen als die anderen und das Wort zu führen. Nach diesen Sitzungen schlich er jedes Mal heimlich in das Seminar zurück, spielte dort den braven Studenten, betete und sang mit den Mönchen fromme Lieder. Das Leben in völlig unterschiedlichen Identitäten und Welten, es war ihm von Anfang an vertraut. Schließlich aber flog die Doppelexistenz auf. In einem Rektoratsvermerk aus dieser Zeit heißt es: „Dschugaschwili ist im Allgemeinen respektlos und aufsässig gegen seine Vorgesetzten.“3 Und als er wieder einmal zu einer Prüfung nicht erschien, wurde er am 19. Mai 1899 wegen „politischer Verdächtigkeit“4 aus der Anstalt ausgestoßen.

Der Sozialdemokrat Zur Mutter führte nach dem Ausschluss aus dem Seminar kein Weg mehr zurück, der Mann war fast zwanzig. So streunte er durch die Stadt, erteilte von Zeit zu Zeit den Kindern betuchter Eltern Nachhilfestunden und suchte nach Verdienstmöglichkeiten. Geregelte körperliche Arbeit, selbst wenn sie sich ihm bot, mied er, wenn es ging. Die Anstellung als kleiner Schreiber im Observatorium von Tiflis, die Koba schließlich fand, musste ihm deshalb sicherlich wie ein erster Schritt in die Freiheit vorgekommen sein. Er verdiente ein wenig Geld, hatte ein eigenes, dazu noch beheizbares Zimmer und konnte in Ruhe seinen Studien nachgehen, da die eigentliche Arbeit nur den geringsten Teil des Tages in Anspruch nahm. Der Klosterzucht entronnen und nun endlich Herr seiner Schritte, intensivierte er den Kontakt zu seinen Gesinnungsgenossen so, dass er bereits um die Jahrhundertwende zu den führenden Agitatoren des „Dritten Standes“ und der Arbeiterpartei in Tiflis zählte. An den Schulungsabenden wurde begierig jede Zeile neu erschienener Literatur verschlungen, besonders wenn sie aus dem Ausland in das ‚verhasste Zarenreich‘ hineingeschmuggelt worden war. Die Druckerpressen für die Organe der russischen Untergrundbewegung standen in München, Genf und London, dem Zugriff der zaristischen Geheimpolizei Ochrana entzogen. Ende 1900 kam in Stuttgart das erste Heft einer neuen Zeitschrift heraus, deren Name das Fanal für das neue, andere Russland sein sollte. Sie nannte sich Iskra, was so viel heißt wie „Der Funke“, der das Feuer der Revolution entfachen sollte. Auf verschlungenen Pfaden gelangten einige Exemplare davon auch ins ferne Tiflis, und Dschugaschwili gehörte schon bald zu den erklärten „Iskra-Männern“, wie sie sich selbst nannten. Koba kannte die Arbeiter gut genug, um zu erkennen, dass die Texte der ‚Kathedergelehrten‘ weit über den Horizont dieser einfachen Leute

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gingen, die sich da täglich abends bei ihm versammelten. Auch waren die dort artikulierten Ideen eines übernationalen Sozialismus deren eigentlichem, auf einen demokratischen georgischen Patriotismus ausgerichtetem Denken und Tun eher untergeordnet, ein Widerstreit, der sich gleichzeitig auch in Stalins alias Kobas Kopf abspielte. Deshalb wurde ihm schnell klar, dass etwas Eigenes, Lokales und Anschauliches hermusste. Das Ergebnis war eine illegal erscheinende Zeitschrift, deren Titel kaum weniger programmatisch klang als der des Iskra-Blattes. Das neue Organ trug den Namen Der Kampf. In seiner zweiten Ausgabe vom Dezember 1901 erschien ohne Autorenangabe ein Artikel unter der Überschrift Die Sozialdemokratische Partei Russlands und ihre nächsten Aufgaben. Er ist die journalistische Feuertaufe des werdenden Berufsrevolutionärs. Koba schreibt: „Unter dem Joch des zaristischen Regimes stöhnt nicht nur die Arbeiterklasse. Die schwere Tatze der Selbstherrschaft würgt auch die unteren Klassen der Gesellschaft. Es stöhnen die durch ständigen Hunger physisch entstellten russischen Bauern. Es stöhnt der kleine Mann in der Stadt, es stöhnen die kleinen Angestellten der Staatsämter und Privatunternehmen, die kleine Beamtenschaft, überhaupt all jene zahlreichen kleinen Städter, deren Existenz ebenso wenig wie die der Arbeiterklasse gesichert ist und die Grund haben, mit ihrer gesellschaftlichen Stellung unzufrieden zu sein. Es stöhnt ein Teil der kleinen und sogar der mittleren Bourgeoisie, der sich mit der Knute und der Peitsche des Zaren nicht abfinden kann, besonders der gebildete Teil der Bourgeoisie (…). Es stöhnen die unterdrückten Nationen und Glaubensbekenntnisse in Russland, darunter die in ihren heiligen Gefühlen verletzten Polen, die von ihrem Heimatboden vertrieben werden, die Finnen, deren historisch erworbene Rechte und deren Freiheit die Selbstherrschaft frech zertreten hat. Es stöhnen die ständig verfolgten und geschmähten Juden, die sogar jener kläglichen Rechte beraubt sind, wie sie die übrigen russischen Untertanen genießen – des Rechtes, überall zu wohnen, in den Schulen zu lernen, des Rechtes, als Beamte zu dienen usw. Es stöhnen die Georgier, die Armenier und die anderen Nationen, die des Rechtes beraubt sind, ihre eigenen Schulen zu haben, in den Staatsämtern zu arbeiten, die gezwungen sind, sich jener schändlichen und knechtenden Politik der Russifizierung zu fügen, die die Selbstherrschaft mit solchem Eifer betreibt (…). [Ziel unseres Kampfes muss] eine großzügige demokratische Verfassung sein,

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die sowohl dem Arbeiter und dem niedergedrückten Bauern als auch dem Kapitalisten gleiche Rechte gewähren wird.“1

Der Text war ein flammender Appell für nationale, soziale und religiöse Grund- und Selbstbestimmungsrechte, so wie sie in dem soeben begonnenen Jahrhundert in den Verfassungen aller parlamentarischen Demokratien der westlichen Welt verankert werden sollten. Umso erstaunlicher war die jähe Wendung, die sich in der weiteren Entwicklung des gerade einmal Zwanzigjährigen von nun an vollzog und die den Großteil des hier präsentierten Rechte- und Forderungskatalogs als bloße, pathetisch aufgeladene Taktik entlarvte. Schon in der Gruppe „Dritter Stand“ hatte Koba sich durch zusehends extremere Positionen immer mehr isoliert. Von der Tifliser Arbeiterpartei wurde er mit der Organisation der Maifeier des Jahres 1900 betraut, auf der er zum ersten Mal in seinem Leben vor vierhundert Menschen sprach. Aber da die Veranstaltung, um der Polizeipräsenz zu entgehen, an einem verschlafenen See vor den Toren der Stadt stattfand, blieb ihre Massenwirksamkeit begrenzt. Das sollte sich im folgenden Jahr ändern. Die örtliche Parteileitung fühlte sich stark genug, um die offene Auseinandersetzung zu suchen. In der Zeitung Der Kampf empfahl Koba Großdemonstrationen in Tiflis, um Neugierige anzulocken, die durch die zu erwartenden Peitschenhiebe der zarentreuen Kosaken auf die eigene Seite gebracht werden sollten. Die Maifeier des Jahres 1901 sollte am Alexander-Park, mitten im Zentrum von Tiflis, stattfinden. Diese Pläne blieben der Polizei nicht verborgen und so folgte im März eine Durchsuchung von Kobas Zimmer. Einer geplanten Verhaftung entzog sich Koba durch Abwesenheit vom Arbeitsplatz. Der Weg zurück in den Dienst war damit aber unmöglich geworden. Die kurze, nur 15 Monate währende Zeit legaler, normaler Beschäftigung war vorbei. Was folgte, war bis zum Entscheidungsjahr 1917 ein Leben im Untergrund mit immer neuen Decknamen, Schlafplätzen, Verhaftungen, Verbannungen und Fluchten, ohne eine Kopeke regelmäßigen und regulären Einkommens, immer angewiesen auf Betteleien und die Gaben von Gönnern und Genossen. Diese Jahre radikalisierten und prägten ihn.

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Am Maitag 1901 versammelte sich die stattliche Anzahl von 2000 Arbeitern. Polizei und Kosaken waren ebenfalls zur Stelle. Fünfzig Personen wurden verhaftet. Dschugaschwili war nicht unter ihnen, was auf sein Geschick oder seine Fähigkeit schließen lässt, sich aus der Schusslinie zu nehmen. Unmut in den eigenen Reihen äußerte sich gegen ihn. Ihm wurde vorgeworfen, sich mehr den Führungsintrigen in den eigenen Reihen als dem Kampf gegen die zaristische Obrigkeit zu widmen. Als Ergebnis dieser Auseinandersetzungen schloss ihn Ende des Jahres ein provisorisches Parteigericht aus der lokalen Tifliser Organisation aus. Der Wanderer in Sachen Revolution packte seine Sachen und ging ins nahe Batum, das weit kleiner war, aber weit mehr soziale Brennpunkte aufwies als die georgische Metropole. Die riesigen, ergiebigen Ölfelder der 25.000-Einwohner-Stadt am Schwarzen Meer waren im Besitz eines Mannes, der mit seinem unermesslichen Reichtum bis heute als die Verkörperung des westlichen Kapitalismus gilt: Sie gehörten dem amerikanischen Baron Rothschild. Der Neuankömmling stürzte sich in die Arbeit und führte nunmehr auch parteioffiziell den Namen „Koba“, jenes Alter Ego, das ihm schon zur träumerischen Doppelexistenz seiner Kindheit verholfen hatte. Das Pseudonym wurde nun für ihn vom zweiten zum eigentlichen Ich. Das ging so weit, dass er sich bis an sein Lebensende von den engsten Getreuen nur mit diesem Namen anreden ließ. Die Raffineriearbeiter boten für ihn ein hervorragendes Agitationsfeld. Schon bald hieß es in einem vertraulichen Vermerk der örtlichen Polizeistation: „Infolge der Tätigkeit des Dschugaschwili bildeten sich in allen Fabriken Batums sozialdemokratische Organisationen.“2 Wieder stellte er eine Massendemonstration auf die Beine und wieder blieb seine Rolle im aktiven Kampf unklar. Am 9. März 1902 stürmten zweitausend Mann die Gefängnisbaracken der Stadt. Das kaukasische Schützenbataillon schoss in die Menge. 15 Menschen starben. Es ist nicht sicher, ob Koba bei der Erstürmung gewesen war, was abermals den Unmut in den eigenen Reihen weckte. Auch wenn unter den Genossen seine Rolle umstritten schien, galt er der Polizei als Rädelsführer. Am 5. April nahm man ihn fest und verurteilte ihn zu 18-monatiger Haft mit anschließender Verbannung nach Sibirien. Im November 1903 traf Koba in dem abgelegenen kleinen Ort Nowaja Uda in der Nähe von

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Irkutsk ein, aber schon am 5. Januar flüchtete er zu Fuß bei minus vierzig Grad durch das halbe Zarenreich. Im Februar war er wieder zurück in Tiflis. Mit nunmehr Anfang zwanzig stand Stalin wieder einmal an einem Wendepunkt. Sein äußeres Erscheinungsbild war aufgrund der durchlittenen Krankheiten und seiner Körpergröße von 1,65 Meter nicht von natürlicher Autorität geprägt. Um seine Größe zu kaschieren, ließ er sich später von den eigenen Geheimdienstleuten Schuhe mit Plateausohlen besorgen und bei Militärparaden musste immer ein kleiner Holzhocker bereitgestellt werden. Die wuchtige, pechschwarze Mähne, der dicht gewachsene Schnauzer, die ebenso hellwachen wie hinterlistigen Augen konnten die ‚Mängel‘ in seiner äußeren Erscheinung freilich kaum korrigieren. Entscheidender in dieser Phase aber waren die innere Unentschiedenheit und die geistige Leere. Wohin gehörte er eigentlich, ja, wer und was war er überhaupt? Familiäre Bindungen hatte er nicht – eine intakte Familie hatte er nie kennen gelernt. Die Frage der nationalen Zugehörigkeit gestaltete sich schwierig. Seine Muttersprache, das Georgische, das er akzentfrei sprach, hatte er schon vom neunten Lebensjahr an dem Russischen, das er nie so ganz richtig beherrscht haben soll, unterordnen müssen, wobei es aber um weit mehr ging als nur um linguistische Feinheiten. Der ganze Stolz der Georgier war es seit Jahrhunderten gewesen, dass sie keinerlei ethnische Verwandtschaft mit den Russen besaßen, sondern sich vielmehr wie eine vorgeschobene Insel Europas zwischen der slawischen und der osmanischen Welt verstanden. Welches war also seine nationale Identität? Am schmerzlichsten indes musste ihn der dritte Mangel getroffen haben, nämlich ein Mensch ohne Stand und Klasse zu sein. Arbeiter so wie jene, für die er sich einsetzte und kämpfte, wollte er nicht sein; das Intermezzo als Angestellter hatte mit dem Rauswurf geendet, und Akademiker, so wie die Bürgersöhne, mit denen er später das neue, andere Russland gestalten würde, war er nicht geworden. Die Suche nach sich selbst, in einem Zustand sprachlicher, nationaler und sozialer Heimatlosigkeit, fand ihr Ziel in der Partei und der zu erkämpfenden Revolution.