Kann man den chinesen trauen?

Kann man den chinesen trauen? Denkhorizonte: Kann man den Chinesen wirklich trauen? Diese Frage war während der Olympischen Spiele ein mediales Dauert...
Author: Hilko Krüger
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Kann man den chinesen trauen? Denkhorizonte: Kann man den Chinesen wirklich trauen? Diese Frage war während der Olympischen Spiele ein mediales Dauerthema. Trotzdem setzen viele westliche Unternehmer Hoffnung in den chinesischen Markt. Was aber hierzulande nahezu unbekannt ist: Chinesische Führungspersönlichkeiten verfügen über drei geistige Quellen, die sie systematisch nutzen. Gegenüber “persönlich” gibt der bekannte Sinologe Harro von Senger einen Einblick in die chinesische Seelenlage. Interview: Matthias Ackeret Bilder: Exponate aus der Sammlung von Uli Sigg

Herr von Senger, überall ist vom Schlagwort die Rede, wonach sich der Westen vor China fürchten muss. Teilen Sie diese Ansicht?

“Wer für Wettbewerb eintritt, sollte einen Sys­ temwettbewerb mit der sino-marxistischen Volksrepu­ blik China nicht fürchten, sondern sich im Gegenteil darüber freuen. Denn dadurch ergeben sich enorme He­ rausforderungen, dank denen man nicht einschläft, son­ dern nach besseren Lösungen strebt. Oder glauben etwa westliche Menschen, die sich vor China fürchten, insge­ heim nicht so recht an das eigene bürgerlich-liberale Sys­tem? Haben Sie Angst, dass dieses der chinesischen Herausforderung nicht gewachsen sein wird? Fürchtet man sich dann im Westen vielleicht weniger vor Chi­ na als vor der eigenen Schwäche? Vermutlich etwas zu selbstbewusst äusserte der US-Philosoph Richard Ror­ ty: ‘Der Westen ist grundsätzlich auf dem richtigen Weg. (…) Unser Ziel sollte es sein, den Planeten zu verwest­ lichen’ (Süddeutsche Zeitung, 20. 11. 2001, S. 15). Rorty versteht unter ‘Westen’ natürlich die USA. Wenn man ‘Westen’ aber in einem geografischen Sinne auffasst und damit alle Länder und Kulturen westlich des Urals meint, dann ist die Volksrepublik China schon ‘verwest­ licht’, und dann ist in Bezug auf China Rortys Vision bereits Wirklichkeit. Denn gemäss ihrer Verfassung ist der Marxismus-Leninismus in diesem Land die allein massgebende Ideologie. Marx, Engels und Lenin wa­

ren bekanntlich keine Chinesen, sondern stammten aus Deutschland beziehungsweise Russland. Wie unglaub­ lich die Übernahme des deutschen Marxismus durch die Volksrepublik China ist, wird erkennbar, wenn man sich das Umgekehrte vorstellt: In der Schweizer Bun­ desverfassung würde stehen, der Konfuzianismus sei für die Schweiz die massgebende Doktrin! Oder die EU würde sich im Lissabonner Vertrag auf den Kon­ fuzianismus berufen!” Gibt es dann keine “Verwestlichung”?

“Die ‘Verwestlichung’ des ganzen Planeten dürfte also etwas komplizierter sein, als sich dies Herr Ror­ ty vorstellt. Rorty malt durch seine Vision einen Kon­ flikt zwischen China, das aus seiner Sicht wohl noch nicht ‘verwestlicht’, sprich ‘amerikanisiert’, ist, und den USA an die Wand. Die ganze Welt, so auch Chi­ na, soll nach seinem Willen so wie die USA werden. Diese Rechnung dürfte nicht aufgehen. Die VR Chi­ na im Verein mit der gewaltigen Mehrheit der Staaten der Dritten Welt macht schon heute den USA einen dicken Strich durch die Rechnung. Wenn beispielswei­ se im UNO-Menschenrechtsrat in Genf Resolutionen über Länder, zum Beispiel Israel, oder über Sachfra­ gen, wie zum Beispiel die Verurteilung der Diffamie­ rung von Religionen, strittig sind und es zu Kampfab­ stimmungen kommt, dann befindet sich China in über

90 Prozent der Fälle bei der siegreichen Mehrheit. Die wenigen westlichen Staaten, seit ihrer UNO-Mitglied­ schaft auch die Schweiz, werden regelmässig in die Minderheit versetzt. Die USA haben es gar nicht erst gewagt, für den Menschenrechtsrat zu kandidieren. Sie hatten Angst, in der UNO-Vollversammlung, welche die Wahl durchführt, durchzufallen. Da die Lage west­ licher Staaten im UNO-Menschenrechtsrat dermassen peinlich ist, hört man davon so gut wie nichts in der westlichen Presse. Die­se lenkt den Blick immer nur auf den wirtschaftlichen Wettbewerb mit China. Der gei­ stigen Auseinandersetzung mit diesem Land geht man aus dem Wege. Hier herrscht offenbar keine Furcht vor China, sondern es regieren bereits Resignation und Hoffnungslosigkeit.” Wodurch unterscheidet sich die chinesische Wesensart von der europäischen?

“Chinesen sind grundsätzlich Menschen wie du und ich. Es gibt also sehr viel Gemeinsames und Verbin­ dendes. Als ich mich je zwei Jahre in Taipeh und da­ nach in Beijing aufhielt, hatte ich keineswegs das Ge­ fühl, auf einem fremden Planeten zu leben. Die mich umgebenden Chinesinnen und Chinesen waren zumeist äusserst liebenswürdig, nette Leute, zu denen ich sofort einen Draht hatte. Selbst in der Menschenrechtsfrage überwiegt übrigens das Verbindende. Die meisten Re­ solutionen im UNO-Menschenrechtsrat in Genf werden einstimmig verabschiedet, also mit der Stimme der VR China und jener der Schweiz und westlicher Staaten. Davon berichtet die westliche Presse freilich nichts. Sie berichtet nur von der angeblichen fundamentalen Verschiedenheit des chinesischen und des westlichen Menschenrechtsstandpunktes. Zweifellos gibt es Ver­ schiedenheiten. Man sollte aber weder einseitig nur das allgemein Menschliche von Chinesen betonen, noch die Verschiedenheiten hervorheben. Ein konkretes Beispiel: Konfuzius propagierte die Liebe der Kinder zu den Eltern. Ich kann darin nichts spezifisch Chine­ sisches erkennen. Auch die Zehn Gebote sehen so et­ was vor. Aber Konfuzius sagte, solange die Eltern leben, solle man nicht in die Ferne reisen. Denn falls den El­ tern etwas zustosse, müsse man immer sofort zur Stelle sein. Zudem solle man sich als Kind keinen Gefahren aussetzen, zum Beispiel durch Bergsteigen oder aben­ teuerliche Unternehmungen. Denn wenn einem etwas zustosse, dann werden die Haut und die Haare und das Körperfleisch verletzt. All dies habe man von den Eltern geschenkt bekommen. Sich in eine Lage zu begeben, in denen diese von den Eltern erhaltenen Gaben gefähr­ det werden, verstosse gegen das Gebot der Kindesliebe gegenüber den Eltern. Man darf nichts, was einem die Eltern gegeben haben, schädigen. Derartige konkrete Regeln für die Umsetzung der Kindesliebe zu den El­ tern dürften spezifisch chinesisch sein. Man sollte also

immer auf ein Gemisch von Allgemeinmenschlichem und Chinesischmenschlichem gefasst sein.” Sie beschreiben die Chinesen auch als listenreich. Ist der Westen gegenüber den Chinesen nicht einfach zu naiv?

“Jesus Christus erteilte den Rat ‘Seid sanft wie die Tau­ ben und klug wie die Schlangen’. Die Schlange ist in der Bibel ein Symbol der Listkundigkeit. Indem uns Jesus, die wichtigste Person der abendländischen Kultur, zur Schlangenklugkeit ermuntert, ruft er uns dazu auf, li­ stkompetent zu sein. Nun ist das JesusZitat betreffend die Schlangenklugheit leider einer der unbekanntesten Aussprüche Jesu. Es sind praktisch nie Predigten, nie im Radio ein ‘Wort zum Tag’ darüber zu hören. Protes­ tanten und Katholiken tabuisieren in gleicher Weise eisern diesen Jesus-Rat. Unter anderem weil die abend­ ländischen Kirchen über zwei Jahrtausende hinweg den Jesus-Rat in den Wind geschlagen haben, sind Abend­ länder ziemlich listenblind geblieben und in Bezug auf Listkompetenz Chinesen weit unterlegen.” In Ihrem Buch “Moulüe” prägen Sie den Begriff “Sino-Marxismus”. Was ist das?

“Entsprechend dem Wort ‘Sinologie’ für ‘Chinawissen­ schaft’ benutze ich das Wort ‘Sino-Marxismus’ für die offiziell in der Volksrepublik China vertretene Auffas­ sung vom Mar­xismus. In Europa gab es früher einen Sowjet-Marxismus und einen Euro-Marxismus bezie­ hungsweise ‘Euro-Kommunismus’, darunter den italie­ nischen, vertreten etwa von Palmiro Togliatti, und den Titoismus, also eine jugoslawische Abart des Marxismus usw. Und so gibt es heute einen Sino-Marxismus. Inhaltlich besteht der Sino-Marxismus aus einem Dreier-Kern: Zunächst aus einem bestimmten Standort, und zwar auf der Seite der grossen Masse der Bevölkerung und nicht auf der Seite weniger reicher Leute im chinesischen Inland, und auf der Seite der grossen Masse der Ent­ wicklungsländer und nicht auf der Seite der wenigen Nato-Staaten auf internationaler Ebene. Zweitens aus einer materialistischen, also ‘gottlosen’, atheistischen Optik. Die Materie, insbesondere die Wirtschaft, ist das Entscheidende, nicht geistige Dinge. Gemäss die­ ser Optik wird beispielsweise die Menschenrechtslage nicht über Nacht durch die Verkündung fortschrittlicher Menschenrechtsgesetze, also durch die Oktroyierung von etwas Geistigem, verbessert, sondern nur allmäh­ lich als Folge der Entwicklung der wirtschaftlichen Ba­ sis. ‘Für Menschenrechte eintreten’ heisst gemäss die­ ser materialistischen Optik ‘für den Wirtschaftsaufbau eintreten’. Drittens kommt noch die dialektische Me­ thode hinzu, also das duale Denken in Widersprüchen. Was die politischen Strukturen anbelangt, so folgt die Volksrepublik China dem Leninismus. Das kommt in

Artikel 1 der derzeit gültigen Verfassung der Volksre­ publik China vom 4.12.1982 klar zum Ausdruck. Man sollte ihn gut lesen. Er lautet: ‘Die Volksrepublik China ist ein sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes, der von der Arbeiterklasse (sprich: von der Kommunistischen Partei Chinas) geführt wird und auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern beruht. Das sozialistische System ist das grundlegende System der Volksrepublik China. Die Sabotage des sozialis­ tischen Systems ist jeder Organisation und jedem In­ dividuum verboten.’ Die Wörter ‘Volk’, ‘Demokratie’ etc. sind natürlich nicht westlich-liberal, sondern marxistisch, und zwar nicht einmal sino-marxis­tisch, son­ dern orthodox marxistisch, zu verstehen. Ich verweise auf mein Buch ‘Supraplanung’, wo ich das alles im De­ tail erläutere.” Welchen Stellenwert nimmt die kommunistische Lehre im heutigen China ein?

“Der Sino-Marxismus ist die offizielle Ideo­logie der Volksrepublik China. Jede Intellektuelle und jeder Intellektuelle des Milliardenvolkes müssen obligato­ risch mehrfach Grundkenntnisse der marxistischen Philosophie erlernen und werden darin immer wieder obligatorisch geprüft. Alle Funktionäre der Volksre­ publik China sollten in der Lage sein, Probleme mar­ xistisch zu analysieren und zu lösen. Das heisst, sie sollten angesichts von Problemen den marxistischen Standort einnehmen, materialistisch an die Probleme herangehen, also von den Fakten her Probleme analy­ sieren, und sie sollten die Widersprüche in den Proble­ men erkennen, ausnützen und lösen können.” Und Mao?

“Im Rahmen der obligatorischen Ausbildung in der sino-marxistischen Philosophie müssen alle Intellektu­ ellen und Funktionäre grundlegende Aussagen Maos studieren, wie er sie insbesondere in seinen beiden Schriften ‘Über die Praxis’ und ‘Über den Widerspruch’ aus den 1930er-Jahren formuliert hat. Die ganze chi­ nesische Innen- und Aussenpolitik kreist zudem um einen bestimmten Hauptwiderspruch. Das Konzept des Hauptwiderspruchs hat Mao formuliert. Insofern dominiert Mao, was die zentrale Führungsmethode zur Bündelung aller Kräfte des Milliardenvolkes auf eine einzige Mittelpunktaufgabe anbelangt, nach wie vor die Volksrepublik China.” Welches sind die häufigsten Fehler, die wir gegenüber China machen?

“Es gibt zu viele ‘China-Experten’, die die chinesische Sprache nicht kennen, vor allem auch unter Journalisten. Solche Leute haben keinen authentischen Zugang zu Chinesen. Chinesen werden mit ihnen nie so reden, wie ihnen ‘der Schnabel gewachsen ist’. Aber auch wer glän­

zend Chinesisch beherrscht, versteht die Volksrepublik China nicht unbedingt. Man muss mehr als nur chine­ sische Wörter kennen, nämlich auch den teilweise an­ deren Bedeutungsgehalt, den die chinesischen Wörter haben. Das Wort ‘Menschenrechte’ kann man leicht ins Chinesische übersetzen. Es lautet ‘renquan’. Aber wenn man nicht weiss, was ein offizieller Chinese unter ‘Men­ schenrechte’ versteht, nützt es nichts, wenn man sich mit ihm stundenlang in fliessendem Chinesisch über ‘Men­ schenrechte’ unterhält. Man wird aneinander vorbeire­ den. Zum Beispiel gab es chinesische Versprechungen betreffend Fortschritte bei den Menschenrechten im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen in Beijing. Nun glauben westliche Menschen offensicht­ lich, dass Chinesen, die von Fortschritten hinsichtlich der Menschenrechte reden, exakt dieselbe Vorstellung von Menschenrechten haben wie westliche Menschen. Westliche Menschen stellen sich unter ‘Verbesserung der Menschenrechte in China’ etwa Folgendes vor, hier in etwas überspitzter Weise dargestellt: ‘Die Beijinger Regierung verkündet 1. die sofortige Freilassung aller politischer Gefangenen und die Zahlung von Entschädi­ gungen an sie; 2. die sofortige Entlassung Gross-Tibets in die Unabhängigkeit; 3. die Abhaltung freier Wahlen im Jahr 2009 unter der Aufsicht schweizerischer und EU-Wahlbeobachter; 4. die sofortige Freischaltung des weltweiten Internets in ganz China; 5. die sofortige Aus­ serkraftsetzung des gesamten chinesischen Rechts und die sofortige Übernahme der Schweizer Bundesverfas­ sung und des Schweizer oder deutschen Rechtssystems.’ Demgegenüber denken offizielle Chinesen, wenn sie von einer Verbesserung der Menschenrechtslage in China sprechen, an ganz andere Dinge, beispielsweise an eine strengere Kontrolle der Todesstrafe, die seit Anfang 2007 in Kraft getreten ist, an Bemühungen, das Menschenrecht auf eine gesunde Umwelt zu verbessern, das durch die olympischen Auflagen gegenüber Beijing verstärkt ins chinesische Bewusstsein gelangt ist, an das Menschenrecht auf Entwicklung usw. Ein Fehler ist also die Eurozentrik. Man glaubt, die ganze Welt denkt wie Europa. Man entbehrt jedes Einfühlungsvermögens in andere Kulturen. Ein weiterer Fehler ist die ‘Ignoranz’, auch gegenüber der eigenen europäischen Kultur, vor allem aber auch die UNO-Ignoranz. Man hat im Westen keine Ahnung von der breit gefächerten UNO-Konzep­ tion der Menschenrechte, welche die Volksrepublik Chi­ na weitgehend übernommen hat. Sie vertritt gar keine chinesischen Positionen, sondern UNO-Positionen. Man kennt im Westen nicht Artikel 2 der UNO-Satzung, auf die sich die Volksrepublik China ständig beruft. Man weiss im Westen nicht, dass England die Gültigkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention auf Hong­ kong hätte ausdehnen können, dies aber nie gemacht hat, woraus Chinesen den Schluss ziehen, dass die Euro­ päer eine kulturrelativis­tische Menschenrechtskonzepti­

on vertreten, deren Genuss sie den Hongkong-Chinesen nicht gönnten. Weitere Fehler sind: kulturelle Überheb­ lichkeit (um noch einmal den US-Philosophen Richard Rorty zu zitieren: ‘Ich glaube nicht, dass der Westen von anderen Kulturen etwas zu lernen hat’), Wunschdenken, Projektionen, Missionierungswahn, geis­tige Abschot­ tung gegenüber dem offiziellen China etc.” Welche Regeln muss man befolgen, um in China erfolgreich zu sein?

“Man sollte optimal über das Land informiert sein, ins­ besondere über dessen Rechtswesen, die offizielle sinomarxistische Ideologie und die chinesische Strategem­ kunde. Natürlich sollte man die üblichen Benimm- und Anstandsregeln kennen und einhalten.” Welche Strategieplanung wenden die Chinesen an?

“In der Wirtschaft gibt es nach wie vor Fünfjahrespla­ nungen für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ent­ wicklung. Zudem gibt es in allen möglichen Bereichen ‘strategische’ Pläne.” Der Titel Ihres neusten Buches heisst “Moulüe”. Was ist das?

“‘Moulüe’ bedeutet wörtlich so viel wie raffinierte Planung. Aber gemäss der reichhaltigen chinesischen Fachliteratur hat das Wort eine besondere Bedeutung, weswegen ich von ‘Supraplanung’ spreche. ‘Supra’ be­ deutet ‘über’. Moulüe kann meines Erachtens als ‘Su­ praplanung’ eingestuft werden, weil es 1. eine Stufe über der höchsten im Westen erreichten Planungsebene, nämlich der strategischen, steht. Al Gore zum Beispiel sagte kürzlich, zehn Jahre seien der längste Zeitraum, über den eine Nation ein Ziel stetig im Visier zu halten und zu erreichen vermöge’ (NZZ 19./20. Juli 2008, S. 3). So weit etwa reicht im Westen eine politische Strategie. In der Volksrepublik China werden derzeit aber zwei Hundertjahresziele angesteuert. Sie wurden bereits in den letzten 30 Jahren unbeirrt verfolgt. 2. Moulüe kann mit ‘Supraplanung’ wiedergegeben werden, weil es eine Planungsdimension ist, die ständig über dem ausserroutinemässig-listigen und dem routinemässigunlistigen Weg zum Ziel steht und je nach Umstän­ den bald den listigen, bald den unlistigen Weg wählt. Westliches Denken ist tendenziell nicht supraplane­ risch, da es viel zu sehr auf konventionell-routinemäs­ sige Problemlösungen fixiert ist. Das merkt man, wenn man mit westlichen Wirtschaftswissenschaftlern redet. Sie sind total auf die Spieltheorie eingeschworen. Al­ les und jedes lässt sich angeblich mit der Spieltheo­ rie, die mit mathematischen Formeln arbeitet, deuten. Die Spieltheorie ist die ökonomische Weltformel. Das erscheint aus der Sicht der chinesischen Suprapla­ nung als einseitig. Gemäss Supraplanung gibt es stets Handlungsoptionen ausserhalb des von der Spielthe­orie abgesteckten Rahmens. Gegenüber diesen spielthe­

orieexternen Handlungsoptionen spie­lt man im Westen weitgehend Blindekuh. Natürlich gibt es auch im We­ sten ausgefallene Ideen. Aber mir scheint, ihnen liegt eher die Intuition oder der Zufall zugrunde und nicht die recht systematisch ständig zwischen List und Nicht­ list wählende ‘Supraplanung’ chinesischen Zuschnitts. 3. Moulüe bezieht sich auf Planungen, die dermassen ungeheuerlich sind, dass der Durchschnittsmensch, sogar wenn man ihm reinen Wein einschenken würde, empört reagieren würde mit Worten wie: ‘Zu so etwas ist ein Mensch niemals imstande.’ Es sind also politischmilitärische Planungen, die über das hinausgehen, was der Durchschnittsmensch für menschenmöglich hält.” Nach welchen Kriterien wählen die Chinesen ihr Ziel?

“Seit 1978 kreist alles um den Widerspruch zwischen den wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnissen des Volkes und der rückständigen gesellschaftlichen Produktion. Das ist seit dreissig Jahren der Hauptwi­ derspruch und soll es noch bis 2049 bleiben. Das Krite­ rium, nach denen die Führungspersonen in der Volks­ republik China Zwischenziele festlegen, ist die Frage, ob diese der Lösung des Hauptwiderspruchs nützen oder schaden. Was als hauptwiderspruchslösungsdien­ lich angesehen wird, hat die Chance, als Ziel festgelegt zu werden. Was als hauptwiderspruchslösungsschädlich angesehen wird, wird entweder sofort oder dann – nach Gewinnung entsprechender Erkenntnisse – früher oder später verworfen. Das ist jetzt ein bisschen idealtypisch formuliert. Natürlich werden viele Ziele nach anderen Kriterien (persönliche Bereicherung von Funktionären, Gesichtsgewinn, kurzfristige Vorteile usw.) gesetzt. Aber in den grossen Linien dürfte die idealtypische Darstellung in etwa stimmen.” Ist die chinesische Strategieplanung nicht einfach pragmatisch im Sinne von “der jeweiligen Situation angepasst”?

“‘Pragmatisch’ ist ein Allerweltswort. Von allen mög­ lichen Politikern habe ich in der Presse gelesen, sie han­ delten ‘pragmatisch’, von Blair, Merkel, Sarkozy etc. Es scheint, dass aus Sicht westlicher Medien die ganze Welt ausser dem US-Präsidenten George W. Bush und dem Papst ‘pragmatisch’ handelt. Welches Erklärungspoten­ zial hat ein Wort, das auf nachgerade alles und jedes angewendet wird? In der Volksrepublik China ist ‘prag­ matisch’ geradezu ein Schimpfwort. Deng Xiaoping zum Beispiel wird in der Volksrepublik China nicht als ein Pragmatiker bezeichnet. Warum will man die Volksrepu­ blik China mit einem Wort erklären, das dort abgelehnt wird? Deng Xiaoping wird in der Volksrepublik China als Marxist gefeiert. Was hat man gewonnen, wenn man die Selbstwahrnehmung der Volksrepublik China aus­ blendet und versucht, dieses Land mit einem westlichen Modewort zu begreifen? Wenn man unter ‘pragmatisch’ ‘der jeweiligen Situation angepasst’ versteht, dann über­

sieht man die zwei Hundertjahresziele, von denen Deng Xiaoping gesagt hat, dass man daran unerschütterlich festhalten solle. Verfolgt ein ‘Pragmatiker’ ein Hundert­ jahresziel? In der Volksrepublik China gilt die Polaritäts­ norm ‘Flexibilität mit Grundsatztreue verknüpfen’. Wo zeigt die chinesische Führung in Grundsatzfragen (Ti­ bet, Taiwan etc.) ‘der jeweiligen Situation angepasstes’ Verhalten? In diesen Fragen weicht die chinesische Füh­ rung, unter welcher ‘jeweiligen Situation’ auch immer, nie auch nur ein Jota von ihrer Grundsatzposition ab. Anstatt alles mit europäischen wohlfeilen Konzepten begreifen zu wollen, sollte man sich gescheiter mit den Konzepten, die in China hochgehalten werden, beschäf­ tigen, so mit den Polaritätsnormen der Kommunistischen Partei Chinas. Diese sind völlig unbekannt im Westen. Besonders unbekannt ist die spezifische Polaritätsnorm der Verknüpfung von Unnachgiebigkeit in Grundsatz­ fragen mit Flexibilität in nicht grundsätzlichen Belangen. Wenn man natürlich ständig glaubt, mit dem Wort ‘Prag­ matismus’ habe man die Volksrepublik China begriffen, dann wird man sich nie die Mühe machen, sich näher mit diesem Land zu befassen. Man hat, so wiegt man sich in trügerische Sicherheit, mit dem Wort ‘pragmatisch’ alles verstanden, was in diesem Land abläuft.”

Wie oft sind Sie in China?

“In den letzten Jahren ein bis zwei Mal pro Jahr, biswei­ len auch in Taiwan, wo ich zwei Jahre studiert habe.” Wie wird sich China in den nächsten Jahren entwickeln?

“Wenn nichts Unvorhergesehenes geschieht, in den durch den Hauptwiderspruch vorgezeichneten Linien, also etwa so wie in den letzten 30 Jahren. Allerdings wird der Hauptwiderspruch wohl etwas anders ausge­ legt werden. Unter den ‘materiellen Bedürfnissen des Volkes’ wird beispielsweise vermehrt das Bedürfnis nach einer gesunden Umwelt verstanden werden und anderes mehr.” Was halten Sie von den Prognosen, wonach China den Westen in den nächsten fünfzig Jahren wirtschaftlich überrunden wird?

“Das ist durchaus möglich. Man sollte aber den Blick nicht ständig nur auf die Wirtschaft fixieren. China könnte den Westen auch politisch überrunden, siehe die schon jetzt be­ stehende grosse Macht Chinas in der UNO-Vollversamm­ lung und im UNO-Menschenrechtsrat in Genf.” Wie sind die chinesischen Reaktionen auf Ihre Bücher?

Welches ist für Sie persönlich die wichtigste Erkenntnis über China?

“Mich persönlich am meisten bereichert hat die Aus­ einandersetzung mit der chinesischen Strategemkunde und mit der chinesischen Supraplanungslehre. Aber das – wenn auch manchmal etwas verfremdete – Allgemein­ menschliche in der chinesischen Kultur hat mich sehr angesprochen.” Hat sich Ihre Einstellung gegenüber China in den letzten Jahren verändert?

“Nein.” Eigentlich sind Sie studierter Jurist. Wie sind auf das Thema China gestossen?

“Unmittelbar nach meiner Matura an der Stiftsschule Einsiedeln (Typus A mit Altgriechisch und Latein etc.) fiel mir bei Berliner Bekannten meiner Eltern, die diese in deren Ferienhaus am Sihlsee besuchten, ein Buch mit dem Titel ‘Chinesische Konversationsgrammatik’ in die Hände. Ich lieh es mir aus und fühlte mich durch die fremdartigen Schriftzeichen und deren Aussprache he­ rausgefordert. Um mein in den ersten Semestern ziem­ lich langweiliges, da rein historisch ausgerichtetes JusStudium an der Universiät Zürich etwas aufzulockern, studierte ich Russisch und dann mit einem Chinesen, den ich im Russischkurs traf, auch Chinesisch. Meine Beschäftigung mit China begann also zuerst mit einer puren Sprachneugierde.”

“Überwiegend positiv. Da Listkundigkeit in China zur Klugheit und Weisheit gezählt wird, gelte ich mit meinen Listbüchern als ein westlicher Autor, der die Klugheit von Chinesen weltweit bekannt gemacht hat. Nur ver­ einzelt gibt es Stimmen, die sich besorgt darüber äus­ sern, dass Chinesen in Zukunft westlichen Geschäfts­ partnern gegenüber nicht mehr so leicht Strategeme anwenden können, ‘wenn es dem Schweizer Sinologen gelingt, der westlichen Listenblindheit den Garaus zu machen’. Ich verweise auf: www.36strategeme.ch // www.supraplanung.ch.”