Herausgeber: Flavio Romerio, Claudio Bazzani. Interne und regulatorische Untersuchungen II

Herausgeber: Flavio Romerio, Claudio Bazzani Interne und regulatorische Untersuchungen II Herausgeber: Flavio Romerio, Claudio Bazzani Interne und...
Author: Manfred Knopp
28 downloads 1 Views 1MB Size
Herausgeber: Flavio Romerio, Claudio Bazzani

Interne und regulatorische Untersuchungen II

Herausgeber: Flavio Romerio, Claudio Bazzani

Interne und regulatorische Untersuchungen II

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, vorbehalten. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme. © Schulthess Juristische Medien AG, Zürich · Basel · Genf  2016 ISBN 978-3-7255-7597-8 www.schulthess.com

Inhaltsübersicht Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

7

Dr. Flavio Romerio, Rechtsanwalt, LL.M., Partner bei Homburger AG, Zürich, Dr. Claudio Bazzani, Rechtsanwalt, LL.M., Partner bei Homburger AG, Zürich, und Daphne Frei, MLaw, Basel

Sicht der Aufsichtsbehörde

65

Dr. David Wyss, Fürsprecher, LL.M., Mitglied der Geschäftsleitung, Leiter Geschäftsbereich Enforcement, Eidgenössische Finanzmarktaufsicht FINMA, Bern

Sicht der Strafverfolger – Chancen & Risiken

91

Dr. Olivier Thormann, Leitender Staatsanwalt des Bundes, Leiter der Abteilung Wirtschaftskriminalität, Bundesanwaltschaft BA, Bern; Lehrbeauftragter an der Universität Freiburg

Sicht der Strafverteidiger

141

Thomas Fingerhuth, Rechtsanwalt, Partner bei Meier Fingerhuth Fleisch Häberli Rechtsanwälte, Zürich

Beweismittelbeschaffung aus der Sicht des Geschädigtenvertreters

151

Dr. Andreas Rüd, Rechtsanwalt, LL.M., Partner bei Rüd Winkler Partner, Zürich, und Dr. iur. Matthias Michlig, Juristischer Mitarbeiter bei Rüd Winkler Partner, Zürich

5

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei*

Inhalt I.

Vorbemerkungen ................................................................................................ 9

II.

Informationsfluss von Beaufsichtigten an die FINMA ..................................... 10 1. Mitwirkungspflicht als rechtliche Ausgangslage ........................................ 10 a) Auskunftserteilung und Meldung an die FINMA .................................. 10 b) Auskunftserteilung an den Prüf- und Untersuchungsbeauftragten ........ 14 2. Beschränkung der Mitwirkungspflicht ........................................................ 16 a) Anwaltsgeheimnis ................................................................................. 16 b) Nemo tenetur-Grundsatz ....................................................................... 20 aa) Als Verfahrensrecht im Strafprozess ............................................ 20 bb) Anwendbarkeit gegenüber der FINMA ........................................ 20 cc) Anwendbarkeit bei interner Untersuchung ................................... 24 3. Zwischenfazit .............................................................................................. 25

III. Akteneinsicht und Information der Öffentlichkeit bei FINMA-Verfahren....... 26 1. Formlose Durchlässigkeit zwischen Enforcementverfahren ....................... 26 2. Akteneinsichtsrecht ..................................................................................... 27 a) Akteneinsichtsrecht der Verfahrensparteien .......................................... 27 b) Akteneinsichtsrecht Dritter.................................................................... 28 c) Beschränkung der Akteneinsicht ........................................................... 29 d) Rechte betroffener Dritter ..................................................................... 31 3. Information der Öffentlichkeit durch die FINMA ...................................... 32 a) In Bezug auf einzelne Verfahren ........................................................... 32 b) Im Rahmen der allgemeinen Berichterstattung ..................................... 33 4. Exkurs: Supervisory Privilege .................................................................... 34 5. Zwischenfazit .............................................................................................. 36

*

Die Autoren danken Manuel Dubach, M.A. HSG in Law and Economics, für die Kontrolle der Zitate.

7

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

IV. Informationsfluss infolge Kooperation zwischen FINMA und Strafbehörden ................................................................................................... 36 1. Informationsfluss von der FINMA an Strafbehörden ................................. 36 a) Gründe für die Information von Strafbehörden ..................................... 37 aa) Informationsfluss durch Strafanzeige ........................................... 37 bb) Informationsfluss durch Rechtshilfe ............................................. 38 b) Schranken .............................................................................................. 40 aa) Verweigerungsgründe nach Art. 40 FINMAG ............................. 40 bb) Private Geheimhaltungsinteressen als Verweigerungsgrund? ................................................................... 42 cc) Nemo tenetur-Grundsatz? ............................................................. 43 c) Rechte der Betroffenen .......................................................................... 43 aa) Bei Strafanzeige durch die FINMA .............................................. 43 bb) Bei Gewährung der Rechtshilfe durch die FINMA ...................... 44 2. Informationsfluss von Strafbehörden an die FINMA ................................. 46 3. Zwischenfazit .............................................................................................. 47 V.

Informationsfluss im Strafverfahren ................................................................. 48 1. Beweiserhebung .......................................................................................... 48 a) Dokumente und Daten ........................................................................... 48 aa) Edition .......................................................................................... 48 bb) Beschlagnahme ............................................................................. 49 cc) Schutz des Anwaltsgeheimnisses .................................................. 50 b) Einvernahmen ....................................................................................... 53 2. Verbreitung von Informationen durch Strafverfahren................................. 54 a) Akteneinsicht......................................................................................... 54 aa) Zur Akteneinsicht Berechtigte ...................................................... 54 bb) Voraussetzungen der Einschränkung der Akteneinsicht ............... 55 cc) Modalitäten der Einschränkung .................................................... 57 b) Öffentlichkeit des gerichtlichen Strafverfahrens ................................... 58 3. Zwischenfazit .............................................................................................. 59

VI. Informationsansprüche gegenüber Unternehmen ............................................. 60 VII. Schlussfolgerung .............................................................................................. 60 Literaturverzeichnis .................................................................................................. 61

8

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

I.

Vorbemerkungen

In der Unternehmenswelt und insbesondere in der Finanzindustrie ereignen sich immer wieder Skandale von regulatorischer, strafrechtlicher und zivilrechtlicher Relevanz mit einer Mehrzahl von Beteiligten. Mit der Aufarbeitung solch vielschichtiger Fälle beschäftigten sich jeweils zahlreiche Akteure: 

das Unternehmen selbst, oft mit Unterstützung spezialisierter externer Berater;



die FINMA, die Abklärungen tätigt und Enforcementverfahren gegen das Unternehmen und dessen Mitarbeitende durchführt;



die Strafbehörden, die strafrechtlich gegen Verantwortliche ermitteln, wie etwa gegen das Unternehmen, dessen Mitarbeitende oder Dritte;



die Geschädigten (oft Kunden des Unternehmens), die sich an den Verantwortlichen schadlos halten wollen;



die Medien, die öffentlich berichten; und



die Politik, sofern der Fall von politischem Interesse ist.

Den gemeinsamen Blick haben die an der Aufarbeitung beteiligten Akteure auf das, was sich tatsächlich ereignete, nämlich den Sachverhalt: Das Unternehmen will wissen, was intern vorgefallen ist, damit es die eigenen rechtlichen Risiken erfassen und kontrollieren, die Compliance-Massnahmen überprüfen und gegebenenfalls verbessern und Massnahmen gegen allfällige Verantwortliche ergreifen kann. Die FINMA interessiert sich für die regulatorischen Gesichtspunkte des Sachverhalts; die Strafbehörde für die strafrechtlichen. Die Geschädigten wollen die Verantwortlichen identifizieren und deren Haftung beweisen. Die Medien sorgen für die öffentliche Berichterstattung, teilweise beeinflusst durch einzelne Akteure. Und die Politik kümmert sich um die politische Aufarbeitung, sofern eine solche angezeigt ist. Auch wenn nicht alle Teile des Sachverhalts alle Akteure gleichermassen interessieren, ist der für die jeweiligen Akteure relevante Sachverhalt zumindest über weite Strecken deckungsgleich. Dementsprechend sind die einzel9

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

nen Akteure an Informationen interessiert, die andere bereits aufgearbeitet haben, um so die einzelnen Puzzleteile zu einem möglichst vollständigen Bild zusammenzusetzen und dieses auch belegen bzw. beweisen zu können. Nachfolgend wird dargestellt, wie und unter welchen Voraussetzungen Informationen und Unterlagen zwischen Unternehmen, der FINMA, den Strafbehörden, Mitarbeitenden des Unternehmens und Geschädigten sowie anderen Beteiligten hin und her fliessen können. Ausgangspunkt stellt der Informationsfluss von beaufsichtigten Unternehmen an die FINMA dar (Kapitel II), gefolgt von der Verbreitung der Informationen in den von der FINMA geführten Verfahren (Kapitel III) und durch deren Kooperation mit Strafbehörden (Kapitel IV). Anschliessend wird der Informationsfluss im Strafverfahren beleuchtet (Kapitel V) und auf Informationsansprüche Privater gegen das Unternehmen hingewiesen (Kapitel VI). Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich auf den Informationsfluss innerhalb der Schweiz. Nicht behandelt wird der grenzüberschreitende Informationsfluss an ausländische Behörden, die bei Skandalen mit internationalen Dimensionen oft parallel zu Schweizer Behörden ermitteln. Ebenfalls nicht adressiert werden die Informationsansprüche Privater nach ausländischem Recht, mit denen Unternehmen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten konfrontiert sein können.

II.

Informationsfluss von Beaufsichtigten an die FINMA

1.

Mitwirkungspflicht als rechtliche Ausgangslage

a)

Auskunftserteilung und Meldung an die FINMA

Bei Unternehmensskandalen in der beaufsichtigten Finanzindustrie stehen am Anfang des Informationsflusses in der Regel Informationen und Dokumente, die das beaufsichtigte Unternehmen in Nachachtung seiner Mitwirkungspflicht gemäss Art. 29 FINMAG1 an die FINMA übermittelt.

1

10

Bundesgesetz über die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (Finanzmarktaufsichtsgesetz, FINMAG) vom 22. Juni 2007, SR 956.1.

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

Die Mitwirkungspflicht von Beaufsichtigten gegenüber der FINMA kennt zwei Formen: Einerseits müssen die Beaufsichtigten selbst und ihre Prüfgesellschaften alle Informationen erteilen und Unterlagen herausgeben, die die FINMA zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt (Auskunfts- und Herausgabepflicht).2 Andererseits müssen die Beaufsichtigten und die Prüfgesellschaften der FINMA Vorkommnisse melden, die für die Aufsicht von wesentlicher Bedeutung sind (Meldepflicht).3 Während das beaufsichtigte Unternehmen die Auskunfts- und Herausgabepflicht nur auf Verlangen der FINMA wahrzunehmen hat,4 bedingt die Meldepflicht die unaufgeforderte, proaktive Information der FINMA.5 Die Gerichte legen die Auskunfts- und Herausgabepflicht weit aus.6 Nach ständiger Rechtsprechung steht die Frage, welche Informationen die FINMA „zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt“, im Ermessen der FINMA selbst.7 Die Meldepflicht betrifft Vorkommnisse, die für die Aufsicht von „wesentlicher Bedeutung“ sind. Das Element der Bedeutung für die Aufsicht schränkt die Meldepflicht per se nicht ein, da die Aufsicht im Finanzmarktbereich umfassend ist.8 Zu einer Einschränkung der Meldepflicht führt hingegen das Element der Wesentlichkeit, da nur „Änderungen der Geschäftsstrategie, welche sich wesentlich auf die Risiken ... eines Beaufsichtigten auswirken“9

2

Art. 29 Abs. 1 FINMAG.

3

Art. 29 Abs. 2 FINMAG.

4

BSK BEHG/FINMAG-TRUFFER, Art. 29 FINMAG N 14.

5

BSK BEHG/FINMAG-TRUFFER, Art. 29 FINMAG N 32 .

6

BGE 121 II 147, E. 3a; BGE 108 Ib 196, E. 2a; BVGer, 4. Dezember 2007, B-2474/2007, E. 3.5 (abgedruckt im EBK-Bulletin 51/2008, 249 ff., 261). Die Entscheide betreffen die Informationspflicht einer Bank nach dem Bankengesetz, die mit Inkrafttreten des Finanzmarktaufsichtsgesetzes durch dessen Art. 29 ersetzt wurde (vgl. Botschaft des Bundesrates vom 1. Februar 2006 zum Bundesgesetz über die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht, BBl 2006, 2829 ff., 2880 ).

7

BGE 126 II 111, E. 3b; BGE 121 II 147, E. 3a; BGE 108 Ib 196, E. 2a; BVGer, 6. Juni 2007, 2A.25/2007, E. 4.1; NOBEL, Auskunftsrechte, 55.

8

BSK BEHG/FINMAG-TRUFFER, Art. 29 FINMAG N 38.

9

BBl 2006, 2880; siehe weiter FINMA-RS 2013/03 „Prüfwesen“, N 78 betreffend die Meldepflicht von Prüfgesellschaften; FINMA-RS 2008/25 „Auskunftspflicht

11

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

oder „gravierende“10 Probleme zu melden sind. Generell sind der FINMA im Lichte der Wesentlichkeit diejenigen Ereignisse zu melden, die sie nach ihrer bisherigen Praxis zur Anordnung von Massnahmen veranlassen (Alarmsignale). Eine Meldung muss jedoch auch bei weniger gravierenden Ereignissen erfolgen, um der FINMA eine Vorbereitung zu ermöglichen, wenn Massnahmen in absehbarer Zeit ergriffen werden müssen (Warnsignale).11 Die Mitwirkungspflicht trifft in erster Linie die Organe des beaufsichtigten Unternehmens.12 Im Finanzmarktaufsichtsgesetz werden Mitarbeitende, die nicht Partei eines Verfahrens der FINMA sind, nicht explizit zur Auskunft gegenüber der FINMA verpflichtet. Mitarbeitende ohne Organstellung sind dennoch im Einzelfall faktisch zur Mitwirkung verpflichtet, da die Verweigerung einer Auskunft auf das Unternehmen selbst zurückfallen kann.13 Das beaufsichtigte Unternehmen wird deshalb in der Praxis dafür besorgt sein, dass Mitarbeitende gegenüber der FINMA Auskünfte erteilen und sie entsprechend zur Auskunft ermächtigen.14 Im Rahmen der Zeugnispflicht ist sodann jedermann, also auch Mitarbeitende, zur Aussage und Herausgabe von Unterlagen gegenüber der FINMA verpflichtet.15 Zeugen müssen aussagen, sofern sie nicht einen Zeugnisverweigerungsgrund16 geltend machen können.17

Versicherer“, N 1-5; FINMA-RS 2008/1 „Bewilligungs- und Meldepflichten Banken“, N 5 ff. 10

BBl 2006, 2880.

11

BSK BEHG/FINMAG-TRUFFER, Art. 29 FINMAG N 41.

12

BBl 2006, 2880; TERLINDEN, 308; ZULAUF et al., 121; A.A. BSK BEHG/FINMAGTRUFFER, Art. 29 FINMAG N 8, der die juristische Person als Adressatin der Auskunftspflicht sieht.

13

ZULAUF et al., 121; a.A. LÄNZLINGER, 126.

14

ZULAUF et al., 121.

15

BBl 2006, 2880; BSK BEHG/FINMAG-TRUFFER, Art. 29 FINMAG N 6 ff.; ZULAUF et al., 121.

16

Art. 16 VwVG (Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren vom 20. Dezember 1968 (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG), SR 172.021) i.V.m. Art. 42 BZP (Bundesgesetz über den Bundeszivilprozess vom 4. Dezember 1947, SR 273).

17

ZULAUF et al., 121.

12

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

Parteien, Zeugen und Dritte, die der FINMA nach den Finanzmarktgesetzen Auskünfte zu erteilen haben, müssen wahrheitsgemäss Auskunft erteilen. Falschaussagen werden mit Strafe sanktioniert.18 Das Versäumen der Meldepflicht nach Art. 29 Abs. 2 FINMAG ist hingegen nicht strafbar, kann jedoch aufsichtsrechtliche Massnahmen zur Folge haben.19 Die gehörige Kooperation mit der FINMA stellt zudem ein zentrales Kriterium für die Beurteilung des Gewährskriteriums dar.20 Um ihrer Auskunfts- und Herausgabepflicht nachzukommen, führen beaufsichtigte Unternehmen oft aus eigenem Antrieb interne Untersuchungen durch bzw. lassen diese durch externe Beauftragte durchführen.21 Die FINMA hat keine explizite gesetzliche Kompetenz, von den Beaufsichtigten die Durchführung einer internen Untersuchung zu verlangen.22 Das Bundesverwaltungsgericht leitet eine solche Befugnis aber zu Recht aus verschiedenen Normen des Aufsichtsrechts ab. Namentlich kann die Mitwirkungspflicht gegenüber der FINMA die Durchführung einer internen Untersuchung bedingen, falls Beaufsichtigte Fragen der FINMA nicht ohne derartige Nachforschungen beantworten können. Auch die gehörige Erfüllung der verwaltungsrechtlichen Pflicht, an der Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes mitzuwirken,23 kann vorab die Durchführung einer internen Untersuchung erfordern.24 Zudem ergibt sich aus den gesellschafts- und aufsichtsrechtlichen Anforderungen an eine gute Organisation und Führung, dass Verwaltungsrat und Geschäftsleitung Hinweisen auf Gesetzesverletzungen

18

Vgl. Art. 45 FINMAG; ZULAUF et al., 122.

19

Zu diskutieren wäre allenfalls eine Strafbarkeit nach Art. 49 Abs. 1 lit. b BankG; verneinend mit Blick auf das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot BSK BEHG/ FINMAG-TRUFFER, Art. 29 FINMAG N 45.

20

BERTSCHINGER, Untersuchungsbeauftragter, 29.

21

ROMERIO/BAZZANI/GROTH, 39 f. m.w.H.; FRITSCHE, 5 f.

22

BVGer, 6. Oktober 2015, B-3625/2014, E. 4.2.

23

Art. 13 Abs. 1 VwVG.

24

BVGer, 6. Oktober 2015, B-3625/2014, E. 4.2.

13

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

im Unternehmen nachgehen müssen. Auch diese Pflichten können unter Umständen die Durchführung einer internen Untersuchung erfordern.25 Die Ergebnisse einer internen Untersuchung werden regelmässig in Form eines schriftlichen Berichts festgehalten. Stellt das untersuchte Unternehmen die Resultate der internen Untersuchung der FINMA zur Verfügung, kann dies nicht nur die Herausgabe des Untersuchungsberichts umfassen, sondern auch die systematisch aufbereiteten relevanten Quelldokumente sowie Zusammenfassungen bzw. Protokolle von Mitarbeiterbefragungen. Auskünfte von beaufsichtigten Unternehmen und deren Beauftragten sind für die FINMA ein effizientes Instrument, um den aufsichtsrechtlich relevanten Sachverhalt zu erstellen.26 Es liegt im Ermessen der FINMA, ob sie für die Erstellung eines Sachverhalts auf solche Auskünfte abstellt oder selbst weitere Untersuchungshandlungen vornimmt.27 Falls Letztere angezeigt sind, kann die FINMA – zusätzlich zu den eigenen Abklärungen – Prüf- oder Untersuchungsbeauftragte mandatieren. b)

Auskunftserteilung an den Prüf- und Untersuchungsbeauftragten

Der Prüfbeauftragte ist Instrument der laufenden Aufsicht, der Untersuchungsbeauftragte Mittel des Enforcement.28 Beide Beauftragten unterstehen

25

BVGer, 6. Oktober 2015, B-3625/2014, E. 4.2. Zum Ganzen siehe ROMERIO/BAZZANI/GROTH, 28 ff.

26

ZULAUF et al., 174.

27

BVGer, 6. Oktober 2015, B-3625/2014, E. 4.2.

28

Art. 24a Abs. 1 und Art. 36 Abs. 1 FINMAG; ZULAUF et al., 146, insb. FN 489 m.w.H.

14

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

nicht dem VwVG29 und haben auch keine strafrechtlichen Zwangsbefugnisse.30 Die beaufsichtigten Unternehmen haben gegenüber den von der FINMA eingesetzten Beauftragten umfangreiche Auskunftspflichten. Namentlich haben sie die Pflicht, den Beauftragten alle Auskünfte zu erteilen und Unterlagen offenzulegen, die diese zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen.31 Die Auskunftspflicht besteht also gegenüber den Beauftragten in gleichem Masse wie gegenüber der FINMA selbst und unterliegt denselben Beschränkungen.32 Der Prüf- oder Untersuchungsbeauftragte und die FINMA können vom geprüften bzw. untersuchten Unternehmen eine sogenannte Vollständigkeitserklärung verlangen, in der dieses bescheinigt, alle relevanten Informationen an den Beauftragten herausgegeben zu haben.33 Prüf- und Untersuchungsbeauftragte können Organe und Mitarbeitende der beaufsichtigten Unternehmen formlos befragen. Falschaussagen sind grundsätzlich strafbar.34 Im Lichte von sich in der Praxis stellenden Beweisschwierigkeiten dürfte sich der Anwendungsbereich dieser Strafbestimmung allerdings auf protokollierte Befragungen und auf schriftliche Auskünfte beschränken.35

29

BGE 130 II 351, E. 3.3.2. Die Rechtsprechung, die die Nichtanwendbarkeit des VwVG auf die fehlende Verfügungsmacht und die blosse Begleitung der Geschäftstätigkeit durch den „Beobachter“ zurückführt, dürfte auch auf den Prüfbeauftragten Anwendung finden; die Nichtanwendbarkeit des VwVG als Verstoss gegen die EMRK qualifizierend STRASSER, Rechtsdurchsetzung, 25, unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR (EGMR, van Vondel vs. the Netherlands, Urteil vom 25. Oktober 2007, § 49, ECLI:CE:ECHR:2007:1025JUD003825803).

30

ZULAUF et al., 150 f.

31

Art. 25 Abs. 1 und Art. 36 Abs. 3 FINMAG.

32

TERLINDEN, 309; ZULAUF et al., 151.

33

BERTSCHINGER, Untersuchungsbeauftragter, 30; BSK BEHG/FINMAG-TRUFFER, Art. 36 FINMAG N 64; TERLINDEN, 305 und 307 f. zur eher geringen Bedeutung der Vollständigkeitserklärung.

34

Vgl. Art. 45 FINMAG.

35

TERLINDEN, 312.

15

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

Die Beauftragten berichten direkt der FINMA, ohne Zutun des Unternehmens.36 Sie müssen den geprüften bzw. untersuchten Unternehmen keine Akteneinsicht gewähren. Einsicht in den Bericht des Beauftragten und Gelegenheit zur Stellungnahme werden erst im Nachhinein durch die FINMA gewährt.37 Die Berichterstattung der Prüf- und Untersuchungsbeauftragten umfasst auf Verlangen der FINMA auch die Herausgabe der systematisch aufbereiteten Quelldokumente und Zusammenfassungen bzw. Protokolle von Mitarbeiterbefragungen, die der Prüf- oder Untersuchungsbeauftragte im Laufe seiner Prüfung bzw. Untersuchung durchgeführt hat. 2.

Beschränkung der Mitwirkungspflicht

Die gesetzlichen Mitwirkungspflichten gegenüber der FINMA bzw. deren Beauftragten bilden den Ausgangspunkt des Informationsflusses. Wie oben dargestellt, sind die Mitwirkungspflichten grundsätzlich umfassend.38 Eingeschränkt werden sie durch den Schutz des Anwaltsgeheimnisses, nicht aber durch eine umfassende Anwendung des nemo tenetur-Grundsatzes. a)

Anwaltsgeheimnis

Der Schutzbereich des Anwaltsgeheimnisses ist umfassend. Geschützt sind alle anwaltlichen Arbeitsprodukte,39 die im Rahmen der berufsspezifischen Beratungstätigkeit des Anwaltes erstellt wurden. Unter diesem Gesichts-

36

Vgl. STRASSER, Rechtsdurchsetzung, 22.

37

TERLINDEN, 320.

38

Siehe oben, II.1.a).

39

Ausführlich zum Schutzobjekt des Anwaltsgeheimnisses: ROMERIO/BAZZANI/ GROTH, 67 f. mit Hinweis auf einschlägige Rechtsprechung; ZULAUF et al., 175 f.; teilweise a.A. Arbeitsgericht Zürich, wonach das Anwaltsgeheimnis dem Einsichtsrecht eines Mitarbeiters in die Personalakten nicht entgegengehalten werden kann, sofern die Ergebnisse einer durch einen externen Anwalt durchgeführten internen Untersuchung Grund der fristlosen Kündigung sind und deshalb Teil der Personalakte des Mitarbeiters bilden, vgl. Entscheide des Arbeitsgerichts Zürich 2013, Kapitel I Nr. 16 (AH130073 vom 23. Juli 2013).

16

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

punkt ist auch ein von einem externen Anwalt verfasster interner Untersuchungsbericht vom Anwaltsgeheimnis geschützt, den dieser im Auftrag des untersuchten Unternehmens erstellte.40 Die aus dem Anwaltsgeheimnis41 fliessende Geheimhaltungspflicht findet auch gegenüber richterlichen und behördlichen Auskunfts- und Editionsbegehren Anwendung.42 In Nachachtung dieses Grundsatzes bestimmt Art. 13 Abs. 1bis VwVG,43 dass sich die verwaltungsrechtliche Mitwirkungspflicht nicht auf die Herausgabe von Gegenständen und Unterlagen erstreckt, die sich aus dem Verkehr mit einem Anwalt ergeben. Diese Beschränkung gilt auch für die spezialgesetzlichen Mitwirkungspflichten i.S.v. Art. 13 Abs. 1 lit. c VwVG. Das Anwaltsgeheimnis geht daher der Auskunftspflicht gegenüber der FINMA nach Art. 29 FINMAG vor.44 Unerheblich ist, wo die anwaltlichen Dokumente liegen und zu welchem Zeitpunkt sie erstellt wurden.45 Zu beachten ist, dass der prozessuale Schutz des Anwaltsgeheimnisses nur für Arbeitsprodukte externer Anwälte gilt, die zur Vertretung vor schweizerischen Gerichten nach dem BGFA berechtigt sind.46 So sind insbesondere Arbeitsprodukte von Anwälten, die ausserhalb des EU/EFTA-Raumes zugelassen sind,47 vom Anwendungsbereich von Art. 13 Abs. 1bis VwVG nicht

40

ROMERIO/BAZZANI/GROTH, 68; FRITSCHE, 325 f.

41

Vgl. Art. 321 StGB, Art. 13 BGFA, Art. 398 Abs. 2 OR; Art. 15 Standesregeln SAV, Art. 27 ff. ZGB.

42

NATER/ZINDEL, Art. 13 BGFA N 91.

43

In Kraft seit 1. Mai 2013. Eingefügt durch das Bundesgesetz vom 28. September 2012.

44

Botschaft des Bundesrates vom 26. Oktober 2011 zum Bundesgesetz über die Anpassung von verfahrensrechtlichen Bestimmungen zum anwaltlichen Berufsgeheimnis, BBl 2011, 8181 ff., 8185; BSK BEHG/FINMAG-TRUFFER, Art. 29 FINMAG N 29.

45

BBl 2011, 8185.

46

Art. 13 Abs. 1bis VwVG.

47

Vgl. dazu Art. 21 BGFA.

17

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

erfasst.48 Ebenfalls nicht geschützt sind grundsätzlich die Arbeitsprodukte unternehmensinterner Juristen.49 Das VwVG ist auf die Tätigkeit von Prüf- und Untersuchungsbeauftragten nicht anwendbar,50 womit nicht explizit gesetzlich geregelt ist, dass sich die Beaufsichtigten gegenüber den Beauftragten der FINMA auf das Anwaltsgeheimnis berufen können, um die Mitwirkung zu verweigern. Die Botschaft zum Bundesgesetz über die Anpassung von verfahrensrechtlichen Bestimmungen zum anwaltlichen Berufsgeheimnis spricht sich indes für die Anwendbarkeit der Regelung nach Art. 13 Abs. 1bis VwVG gegenüber dem Untersuchungsbeauftragten aus.51 Das muss auch für den Prüfbeauftragten gelten, denn das Bedürfnis auf Achtung des Anwaltsgeheimnisses besteht unabhängig davon, ob der Beauftragte der FINMA die Prüfung im Rahmen der laufenden Aufsicht oder im Rahmen eines Enforcementverfahrens durchführt. Zudem kann der Prüfbeauftragte für denselben Sachverhalt zum Untersuchungsbeauftragten werden, wenn er bei der Prüfung Missstände erkennt, die zur Einleitung eines Enforcementverfahrens führen.52 Der Herausgabeanspruch des Prüf- und Untersuchungsbeauftragten gegenüber dem geprüften bzw. untersuchten Unternehmen steht parallel auch der FINMA zu.53 Es wäre daher widersprüchlich und nicht mit dem in der Bundesverfassung verankerten Schutz des Anwaltsgeheimnisses54 vereinbar, wenn die FINMA durch den Einsatz eines Prüf- oder Untersuchungsbeauftragten den Schutz des Anwaltsgeheimnisses aushebeln und vom Anwaltsgeheimnis erfasste Informationen, auf die sie gestützt auf Art. 29 FINMAG keinen Anspruch hat, durch den Prüf- bzw. Untersuchungsbeauftragten er-

48

BURCKHARDT/RYSER, 163; FRITSCHE, 325; ROMERIO/BAZZANI/ GROTH, 72.

49

ZULAUF et al., 175 m.w.H.

50

Siehe oben II.1.b).

51

BBl 2011, 8185.

52

BERTSCHINGER, SZW 2014, 555.

53

BStGer, 9. Juni 2015, SK.2014.55, E. 2.3.4c.

54

Der verfassungsmässige Schutz des Anwaltsgeheimnisses leitet sich aus Art. 10 Abs. 2 und Art. 13 BV (Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV), SR 101) ab, vgl. dazu BGer, 20. April 2000, 2A.247/ 2000, E. 2c.

18

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

hältlich machen könnte. Analog zu Art. 13 Abs. 1bis VwVG ist die Mitwirkungspflicht von geprüften bzw. untersuchten Unternehmen gegenüber den Beauftragten der FINMA deshalb auch ohne explizite gesetzliche Regelung durch den Schutz des Anwaltsgeheimnisses beschränkt. Einem Beaufsichtigten bleibt als Geheimnisherr unbenommen, auf das Anwaltsgeheimnis zu verzichten.55 Tatsache ist, dass sich beaufsichtigte Unternehmen gegenüber der FINMA in der Praxis bislang kaum auf das Anwaltsgeheimnis berufen, um die Herausgabe von Informationen zu verweigern. Dies obwohl aus der Regelung von Art. 13 Abs. 1bis VwVG folgt, dass die FINMA eine Verweigerung der Herausgabe von geschützten Informationen nicht zu Ungunsten des beaufsichtigten Unternehmens würdigen darf.56 Beaufsichtigte Unternehmen, die interne Untersuchungen durch externe Anwälte durchführen lassen, stellen deren Untersuchungsberichte regelmässig der FINMA zur Verfügung und verzichten in diesem Umfang gegenüber der FINMA auf das Anwaltsgeheimnis. Grund dafür ist die häufige Einleitung der internen Untersuchung in Absprache mit der FINMA. Das beaufsichtigte Unternehmen würde sich in diesem Fall widersprüchlich Verhalten, wenn es im Anschluss an die Untersuchung unter Berufung auf das Anwaltsgeheimnis die Herausgabe des Untersuchungsberichts verweigert.57 Zudem kann die Verweigerung dazu führen, dass die FINMA im Gegenzug vom im Vergleich zu einer internen Untersuchung einschneidenderen Mittel des Untersuchungs- oder Prüfbeauftragten Gebrauch macht.58 Um dies abzuwenden, sind beaufsichtigte Unternehmen in der Praxis regelmässig bereit, in Bezug auf anwaltliche Untersuchungsberichte gegenüber der FINMA auf das Anwaltsgeheimnis zu verzichten. Unbesehen davon tut das untersuchte Unternehmen bei sensitiven Sachverhalten gut daran, für die Untersuchung einen spezialisierten externen BGFAAnwalt zu mandatieren, damit es den Untersuchungsbericht und andere anwaltliche Dokumente vor einer Kenntnisnahme anderer Behörden und Drit-

55

FRITSCHE, 326 f.

56

FRITSCHE, 327; ZULAUF et al., 176.

57

FRITSCHE, 327; ZULAUF et al., 176.

58

FRITSCHE, 327.

19

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

ten weitgehend schützen kann.59 Denn mit dem Verzicht auf das Anwaltsgeheimnis gegenüber der FINMA wird nicht gleichzeitig auch gegenüber Dritten auf den Schutz des Anwaltsgeheimnisses verzichtet. Vielmehr steht dem beaufsichtigten Unternehmen weiterhin das Recht zu, sich in Bezug auf den anwaltlichen Untersuchungsbericht gegenüber anderen Behörden und privaten Dritten auf den Schutz des Anwaltsgeheimnisses zu berufen. b)

Nemo tenetur-Grundsatz

aa)

Als Verfahrensrecht im Strafprozess

Der Grundsatz von nemo tenetur besagt, dass der Beschuldigte in einem Strafverfahren nicht gezwungen werden kann, sich selbst zu belasten (nemo tenetur se ipsum accusare). Der Beschuldigte kann daher die Mitwirkung und namentlich die Aussage60 und die Herausgabe von Urkunden verweigern.61 Das Recht, die Mitwirkung zu verweigern, steht auch Unternehmen zu. Das Unternehmen kann die Kooperation jedoch nur verweigern, wenn eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Unternehmens selbst in Frage kommt. 62 bb)

Anwendbarkeit gegenüber der FINMA

Der Grundsatz von nemo tenetur entspringt dem Strafrecht und soll daher in erster Linie dort Anwendung finden, wo eine strafrechtliche Anklage im

59

Vgl. FRITSCHE, 325.

60

Art. 113 Abs. 1 StPO (Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO), SR 312.0), Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), SR 0.101); Art. 14 Abs. 3 lit. g UNO-Pakt II (Internationaler Pakt vom 16. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte (UNOPakt II), SR 0.103.2); BSK BEHG/FINMAG-SCHWOB/WOHLERS, Art. 38 FINMAG N 13.

61

EGMR, Chambaz vs. Switzerland, Urteil vom 5. April 2012, § 50-58, ECLI:CE: ECHR:2012:0405JUD001166304; ROTH, Jusletter 17. Februar 2014, R 28 f.

62

Z.B. aufgrund von Art. 102 StGB oder Art. 49 FINMAG; BSK BEHG/FINMAGTRUFFER, Art. 29 FINMAG N 23.

20

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

Raum steht.63 Die Mitwirkungspflichten der Parteien im Rahmen eines Verfahrens der FINMA können im Widerspruch zum Recht des Beschuldigten im Strafverfahren stehen, sich nicht selbst belasten zu müssen.64 Im Verwaltungsverfahren findet sich nämlich keine Bestimmung, die den Betroffenen vor einer selbstbelastenden Aussage schützt. Somit fehlt eine explizite gesetzliche Grundlage für eine Einschränkung der Auskunfts- und Meldepflicht nach Art. 29 FINMAG gestützt auf nemo tenetur. Die verwaltungsrechtlich nicht beschränkten Mitwirkungspflichten können im Verwaltungsverfahren zu einer problematischen Selbstbelastungspflicht für von FINMA-Verfahren betroffene Unternehmen und Mitarbeitende führen. Dieses Problem kann sich insbesondere bei Mitarbeitenden stellen, die im Verfahren gegen das Unternehmen gestützt auf die verwaltungsrechtliche Mitwirkungspflicht (d.h. nicht formell als Zeugen65) Aussagen gegenüber der FINMA machen, die die FINMA in einem späteren Enforcementverfahren gegen die Mitarbeitenden verwendet. In Anbetracht des in jüngerer Zeit gezielten Vorgehens der FINMA gegen Individuen66 hat die Frage nach der Anwendung des Selbstbelastungsverbots in Enforcementverfahren an Bedeutung gewonnen. Nach der Rechtsprechung zum Anwendungsbereich des in Art. 6 Ziff. 1 EMRK statuierten Selbstbelastungsverbots soll dieses auf verwaltungsrecht-

63

BGer, 25. April 2016, 2C_739/2015, E. 3.3 m.w.H.

64

BSK BEHG/FINMAG-TRUFFER, Art. 29 FINMAG N 20; vgl. dazu auch ROTH, ZStrR 129/2011, 296 ff. und SEILER, 11 ff.

65

Bei Mitarbeitenden, die vom Verfahren nicht direkt betroffen sind und von der FINMA als Zeugen einvernommen werden, stellt sich die Frage der Anwendbarkeit des strafprozessualen Grundsatzes von nemo tenetur nicht, denn diese können gestützt auf Art. 16 Abs. 1 VwVG i.V.m. Art. 42 Abs. 1 und 3 BZP das Zeugnis verweigern, wenn sie dadurch sich selbst oder eine nahestehende Person der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen würden; vgl. BSK BEHG/FINMAGTRUFFER, Art. 29 FINMAG N 23.

66

FINMA Leitlinien zum Enforcement vom 25. September 2014, 2; im Jahr 2015 hat die FINMA 26 Enforcementverfahren gegen Mitarbeitende und Organe von Bewilligungsträgern abgeschlossen, was im Vergleich zum Vorjahr einem Zuwachs von rund 50% gleichkommt. Sie hat dabei in 14 Fällen (Vorjahr: neun Fälle) Berufsbzw. Tätigkeitsverbote ausgesprochen, vgl. FINMA Enforcementbericht 2015, 51 und 58.

21

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

liche Massnahmen Anwendung finden, wenn Massnahmen aufgrund ihrer Tragweite als strafrechtliche Anklage im Sinne der EMRK zu qualifizieren sind.67 Nach der Lehre ist dies zu bejahen, wenn die FINMA selbst Massnahmen mit Strafcharakter verhängt,68 z.B. ein Berufsverbot nach Art. 33 FINMAG.69 Die Rechtsprechung ist bei der Qualifikation verwaltungsrechtlicher Massnahmen als Strafen i.S.v. Art. 6 EMRK und damit der Anwendung der strafrechtlichen Verfahrensgrundsätze in Verwaltungsverfahren jedoch zurückhaltend.70 So hat das Bundesgericht jüngst entschieden, dass das Berufsverbot nach Art. 33 FINMAG wirtschaftspolizeilicher Natur sei und das Verfahren auf Erlass eines Berufsverbots deshalb nicht als eine strafrechtliche Anklage i.S.v. Art. 6 EMRK qualifiziere.71 Die Anwendung der Verfahrensgarantien der EMRK, d.h. des Selbstbelastungsverbotes, kann sich jedoch auch unabhängig von der Qualifikation einer Massnahme der FINMA als strafrechtliche Anklage aufdrängen. Dies ist dann der Fall, wenn eine Person ernsthaft damit rechnen muss, dass ihre Mitwirkung im Verwaltungsverfahren dazu führt, auch strafrechtlich angeklagt zu werden.72 Nach der Rechtsprechung des EGMR soll eine strafrechtliche Anklage bereits bei der Verpflichtung der Verwaltungsbehörde zur Rechtshilfe drohen.73 Hinzu kommt bei der FINMA eine gesetzlich statuierte Anzeigepflicht an die Strafbehörden, falls sie Kenntnis von gemeinrechtli-

67

Vgl. die drei Kriterien in EGMR, Engel vs. The Netherlands, Urteil vom 8. Juni 1976, § 80 ff., ECLI:CE:ECHR:1976:0608JUD000510071; BGer, 25. April 2016, 2C_739/2015, E. 3.3 und 3.4; ROTH, Jusletter 17. Februar 2014, R 43 f.

68

LOMBARDINI, 413 ff.; MACALUSO, 266 ff.; WOHLERS, 64 ff.

69

Vgl. BRAIDI, 215 ff. m.w.H.; IFFLAND, 134 ff. sowie BSK BEHG/FINMAGTRUFFER, Art. 29 FINMAG N 21b.

70

Vgl. die Darstellung in ZULAUF et al., 269 ff.

71

BGer, 25. April 2016, 2C_739/2016, E. 3.4.

72

Vgl. nur EGMR, J.B. vs. Schweiz, Urteil vom 3. Mai 2001, § 47, ECLI:CE:ECHR: 2001:0503JUD003182796. ROTH, Jusletter 17. Februar 2014, R 15; BENEDICK, 173.

73

EGMR, Chambaz vs. Switzerland, Urteil vom 5. April 2012, § 50-58, ECLI:CE: ECHR:2012:0405JUD001166304.

22

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

chen Verbrechen und Vergehen sowie Widerhandlungen gegen die Finanzmarktgesetze erhält.74 Um der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Ziff. 1 EMRK Rechnung zu tragen, kann die FINMA die Strafbehörde anfragen, die Befragung an ihrer Stelle durchzuführen. Dies geschieht in der Praxis bisweilen auch.75 Überträgt die FINMA die Befragung nicht an die Strafbehörde, kann sie der befragten Partei entweder ein Aussageverweigerungsrecht einräumen oder sie stellt sicher, dass eine Aussage, die nicht unter Wahrung des Aussageverweigerungsrechts gemacht wurde, nicht in ein Strafverfahren gelangt.76 Die FINMA folgt in der Praxis ersterer Möglichkeit, indem sie Betroffene nicht zu belastenden Aussagen zwingt.77 Sie macht den Betroffenen vor der Einvernahme in der Rechtsbelehrung einerseits auf die Pflicht zur wahrheitsgemässen Aussage und die Folgen einer Falschaussage, andererseits aber auch auf sein Aussageverweigerungsrecht beim Risiko einer Strafverfolgung aufmerksam.78 Die FINMA behält sich allerdings vor, ein allfälliges Schweigen negativ zu würdigen.79 Wird die Untersuchung von der FINMA an einen Prüf- oder Untersuchungsbeauftragten delegiert, ist auch dieser verpflichtet, die Parteien auf ihr Aussageverweigerungsrecht hinzuweisen, wenn sie sich durch eine Aussage der Gefahr einer strafrechtlichen Verantwortung aussetzen würden. Wird die Aussage gegenüber einem Beauftragten verweigert, so unterliegt dies der freien Beweiswürdigung durch die FINMA.80

74

Art. 38 Abs. 3 FINMAG; siehe dazu unten, IV. 1. a) aa).

75

ZULAUF et al., 205.

76

BSK BEHG/FINMAG-TRUFFER, Art. 29 FINMAG N 21.

77

FRITSCHE, 329; ZULAUF et al., 204; bezüglich des Untersuchungsbeauftragten TERLINDEN, 311.

78

ZULAUF et al., Textbox 12 auf S. 204 f., in diesem Sinne auch SIDLER, 42.

79

FRITSCHE, 328; ZULAUF et al., 204.

80

ZULAUF et al., 151.

23

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

cc)

Anwendbarkeit bei interner Untersuchung

Ob Mitarbeitende gegenüber dem Unternehmen die Mitwirkung im Rahmen einer internen Untersuchung verweigern können, beurteilt sich nach dem Privatrecht. Eine Aussagepflicht der Mitarbeitenden folgt grundsätzlich aus der arbeitsrechtlichen Treuepflicht. Danach haben Mitarbeitende über alle ihnen während des Arbeitsverhältnisses bekannt gewordenen Tatsachen Auskunft zu geben. Entsprechend erlaubt das arbeitsrechtliche Weisungsrecht dem Arbeitgeber, den Umfang der Befragung zu bestimmen.81 In Bezug auf Dokumente trifft den Arbeitnehmer zudem eine arbeitsvertragliche Rechenschafts- und Herausgabepflicht.82 Mitarbeitende sind somit grundsätzlich verpflichtet, an der Aufklärung von Vorfällen im Unternehmen mitzuwirken.83 Fordert der Arbeitgeber die Mitarbeitenden zur Mitwirkung auf, haben diese einer solchen Weisung nach Treu und Glauben nachzukommen.84 Die Grenzen der Mitwirkungspflicht können sich einerseits aus der Drittwirkung des verfassungsrechtlich garantierten Selbstbelastungsverbots und andererseits aus dem Anspruch auf Schutz der Privatsphäre oder den arbeitsrechtlichen Schutzpflichten des Arbeitgebers ergeben.85 Ein arbeitsvertragliches Recht der Mitarbeitenden, Aussagen in einer internen Untersuchung unter Verweis auf eine allfällige Selbstbelastung zu verweigern, existiert grundsätzlich jedoch nicht.86 Der nemo tenetur-Grundsatz gilt nur im Verhältnis zu staatlichen Behörden.87 Immerhin aber sollen Aussagen, die Mitarbeitende in einer internen Untersuchung unter Missachtung des nemo tenetur-Grundsatzes gemacht haben, im Strafprozess nicht verwertbar sein.88

81

LÄNZLINGER, 114.

82

Art. 321a Abs. 1 und Art. 321b Abs. 2 OR; LÄNZLINGER, 113 m.w.H.

83

FRITSCHE, 194; LÄNZLINGER, 113 ff.

84

Art. 321d Abs. 1 und 2 OR.

85

Ausführlich dazu STRASSER, Whistleblower, 72 ff.

86

LÄNZLINGER, 118.

87

BGE 131 IV 36, E. 3.3.1.

88

FRITSCHE, 181 mit Hinweis auf BStGer, 16. Juni 2010, SK-2010.7, E. 3.1; LÄNZLINGER, 125.

24

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

3.

Zwischenfazit

Beaufsichtigte treffen gegenüber der FINMA umfassende Mitwirkungspflichten. Sie müssen der FINMA aufsichtsrechtlich relevante Sachverhalte proaktiv melden und die von der FINMA verlangten Informationen grundsätzlich herausgeben. Letzteres gilt (faktisch) auch für Mitarbeitende. Die FINMA kann Prüf- oder Untersuchungsbeauftragte einsetzen, um Sachverhalte abklären zu lassen. Auch gegenüber diesen Beauftragten sind beaufsichtigte Unternehmen zur umfassenden Mitwirkung verpflichtet. Zudem führen beaufsichtigte Unternehmen oft selbst umfangreiche interne Untersuchungen durch oder lassen solche von eigenen Beauftragten durchführen, um ihrer Mitwirkungspflicht gegenüber der FINMA nachkommen zu können. Die durch Prüfungen bzw. Untersuchungen gewonnenen Erkenntnisse werden in schriftlichen Untersuchungsberichten festgehalten und der FINMA zur Verfügung gestellt. Die Herausgabe an die FINMA umfasst darüber hinaus oft auch systematisch aufbereitete Quelldokumente und Zusammenfassungen bzw. Protokolle von Mitarbeiterbefragungen, die die Beauftragten im Laufe der Untersuchung durchgeführt haben. Hinzu kommen die Arbeitsprodukte der FINMA, die ihre Untersuchungshandlungen dokumentieren, wie beispielsweise Protokolle von eigenen (Zeugen-)Befragungen. Im Zusammenhang mit aufsichtsrechtlich relevanten Vorfällen findet so eine Fülle von systematisch aufbereiteten und dokumentierten Informationen Eingang in die Akten der FINMA. Schranken der umfassenden Mitwirkungspflicht bilden das Anwaltsgeheimnis und allenfalls der nemo tenetur-Grundsatz. Diese Schranken sind in der Praxis bisher allerdings von geringer Bedeutung, da sie gegenüber der FINMA kaum angerufen werden. Der Verzicht auf das Anwaltsgeheimnis gegenüber der FINMA bedeutet jedoch nicht, dass damit gleichzeitig auch gegenüber anderen Personen auf den Schutz des Anwaltsgeheimnisses verzichtet wird. Das Anwaltsgeheimnis ermöglicht deshalb, anwaltliche Dokumente auch nach deren Herausgabe an die FINMA vor der Kenntnisnahme durch andere Behörden und private Dritte weitgehend zu schützen. Diesem Schutz kann in der Praxis wichtige Bedeutung zukommen, denn auch andere Behörden und private Dritte haben unter Umständen die Möglichkeit, auf die bei der FINMA vorhandenen In25

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

formationen zuzugreifen: Im Vordergrund steht dabei der Beizug der Informationen in andere Enforcementverfahren und die diesbezüglichen Akteneinsichtsrechte (vgl. Kapitel III) sowie die Kooperation der FINMA mit Strafbehörden (vgl. Kapitel IV).

III. Akteneinsicht und Information der Öffentlichkeit bei FINMA-Verfahren 1.

Formlose Durchlässigkeit zwischen Enforcementverfahren

Die FINMA führt oft unterschiedliche Enforcementverfahren, die einen Bezug zu demselben Sachverhalt aufweisen. Zu denken ist etwa an ein Verfahren gegen ein beaufsichtigtes Unternehmen und separate, oft nachgelagerte Verfahren gegen einzelne Mitarbeitende des Unternehmens. In derartigen Konstellationen überführt die FINMA sachdienliche Dokumente aus dem einen in die anderen Verfahren. Diese Durchlässigkeit führt dazu, dass Informationen, die die FINMA von einem beaufsichtigten Unternehmen aufgrund dessen Mitwirkungspflicht erhält oder von Prüf- bzw. Untersuchungsbeauftragten beim Unternehmen abklären und dokumentieren lässt, nicht nur im Verfahren gegen das Unternehmen verwendet werden, sondern auch – oder zumindest teilweise – in Verfahren gegen Mitarbeitende des Unternehmens. Untersuchungsberichte, bankinterne Dokumente und Befragungsprotokolle finden auf diesem Weg Eingang in die Akten anderer Verfahren. Ein solcher Beizug von Akten von einem Verfahren in ein anderes erfolgt formlos und ohne Information des betroffenen Unternehmens und allfälliger Dritten, wie beispielsweise Kunden des Unternehmens oder Mitarbeitende, die von den laufenden Verfahren nicht betroffen sind. Das betroffene Unternehmen erfährt in der Praxis deshalb oft nicht, ob und in welchem Umfang die von ihm an die FINMA herausgegebenen Informationen Eingang in andere Verfahren der FINMA finden. Sind in den beigezogenen Akten auch Informationen über Mitarbeitende oder Kunden des Unternehmens enthalten, befinden sich auch diese Personen in einer ähnlichen Situation. Auch sie erfahren nicht, in welche Verfahren die FINMA die sie betreffenden Informationen bezieht und wer Zugang zu diesen Daten erlangt. 26

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

Zum Schutz von Geheimhaltungsinteressen des betroffenen Unternehmens oder Dritter kann die FINMA Akten aus dem gegen das Unternehmen geführten Verfahren selektiv in parallel geführte Verfahren beiziehen und Dokumente, die schützenswerte Informationen beinhalten, vor dem Beizug teilweise schwärzen. Ob und wie die FINMA im Einzelfall von diesen Möglichkeiten Gebrauch macht und vertrauliche Informationen des Unternehmens oder Dritter schützt, steht weitgehend in ihrem Ermessen und ist in der Praxis der Kontrolle durch das berechtigte Unternehmen bzw. der berechtigten Dritten entzogen. Dies ist insbesondere deshalb bedenklich, weil sich die beigezogenen Dokumente bzw. die darin enthaltenen Informationen über Akteneinsichtsrechte weiterverbreiten können. 2.

Akteneinsichtsrecht

a)

Akteneinsichtsrecht der Verfahrensparteien

Die Parteien eines Verwaltungsverfahrens haben das Recht, am Sitz der Behörde Einsicht in die Verfahrensakten zu nehmen.89 Voraussetzung für das Akteneinsichtsrecht ist somit die Parteistellung im betreffenden Verfahren. Führt die FINMA ein Verfahren gegen ein beaufsichtigtes Unternehmen, ist dieses selbst Partei.90 Organe und Mitarbeitende als Gewährsträger sowie qualifiziert beteiligte Aktionäre haben in einem solchen Verfahren nur Parteistellung, wenn ihr individuelles Fehlverhalten beurteilt werden soll und die FINMA in der Verfügung gegen das beaufsichtigte Unternehmen eine gegen diese Gewährsträger gerichtete Massnahme anordnet.91 Führt die FINMA ein Verfahren gegen Organe, Mitarbeitende oder qualifiziert beteiligte Aktionäre eines beaufsichtigten Unternehmens, so kommt diesen Personen Parteistellung zu. Das beaufsichtigte Unternehmen hat in

89

Art. 53 FINMAG i.V.m. Art. 6 und Art. 26 VwVG; Art. 29 Abs. 2 BV.

90

ZULAUF et al., 104.

91

Vgl. ZULAUF et al., 104 f.

27

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

diesen Verfahren hingegen keine Parteistellung, es sei denn, es ist ebenfalls Verfügungsadressat.92 Gewährt die FINMA den Verfahrensparteien Akteneinsicht, muss sie im Prinzip Kopien zur Verfügung stellen.93 Dabei sind die Verfahrensparteien grundsätzlich nicht verpflichtet, die eingesehenen Akten und deren Inhalt vertraulich zu behandeln.94 b)

Akteneinsichtsrecht Dritter

Voraussetzung für das Akteneinsichtsrecht Dritter ist, dass diesen Parteistellung zukommt. Damit Dritten, d.h. Personen, die nicht Adressaten der Verfügung der FINMA sind, Parteistellung zuerkannt wird, reicht gemäss Bundesgericht nicht aus, dass diese „besonders berührt“, d.h. sie vom Verfahren stärker betroffen sind als die Allgemeinheit. Die Gewährung der Parteistellung setzt vielmehr ein schutzwürdiges Interesse an der Erlangung der Parteistellung voraus.95 Die Finanzmarktaufsicht dient nicht der Durchsetzung von Individualansprüchen bzw. privaten Interessen.96 Die Anforderungen an die Bejahung eines schutzwürdigen Interesses Dritter an der Erlangung der Parteistellung in einem Verfahren der FINMA sind deshalb hoch.97 Weder die Anzeige eines aufsichtsrechtlich relevanten Sachverhalts zuhanden der FINMA noch das Interesse eines Dritten, Informationen der FINMA zur Durchsetzung eigener Ansprüche (etwa in einem Zivilprozess gegen das beaufsichtigte

92

ZULAUF et al., 39 und 104.

93

Vgl. BRUNNER, Art. 26 VwVG N 24.

94

Eine analoge Vorschrift für die Anordnung der Geheimhaltung nach Art. 73 Abs. 2 StPO gibt es im FINMAG bzw. im VwVG nicht, vgl. BGE 141 I 201, E. 4.4; BERTSCHINGER, SZW 2015, 647.

95

BGE 139 II 279, E. 2.2.

96

Vgl. Art. 5 FINMAG; BGE 139 II 279, E. 4.

97

BÜHLER/VON DER CRONE, 575.

28

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

Unternehmen) zu verwenden, begründen nach der Rechtsprechung ein schutzwürdiges Interesse an der Erlangung der Parteistellung.98 Folglich sind kaum Situationen denkbar, in denen Dritte, d.h. Personen gegen die die FINMA keine Massnahmen androht und die damit nicht Verfahrensparteien sind, Parteistellung und damit Einsicht in die Verfahrensakten erlangen können. Der Kreis der zur Akteneinsicht berechtigten Personen ist deshalb grundsätzlich auf die Parteien beschränkt, gegen die die FINMA das Verfahren führt. Dritten bleibt gegenüber der FINMA bloss ein datenschutzrechtlicher Auskunftsanspruch, der auf die sie betreffenden Personendaten beschränkt ist. c)

Beschränkung der Akteneinsicht

Die FINMA kann die Einsichtnahme in die Akten aufgrund der in Art. 27 Abs. 1 VwVG genannten Gründen, d.h. aufgrund wesentlicher öffentlicher oder privater Interessen, einschränken.99 Eine Einschränkung der Akteneinsicht kann namentlich geboten sein, wenn:100 

die Gewährung umfassender Akteneinsicht die Ziele der Finanzmarktaufsicht oder die Wahrheitsermittlung im Rahmen einer laufenden Untersuchung der FINMA oder in einem Strafverfahren beeinträchtigen könnte;101



die in den Akten enthaltenen Informationen durch das Anwaltsgeheimnis oder das Bankgeheimnis geschützt sind oder als Geschäftsgeheimnisse qualifizieren;102 oder

98

BGE 135 II 145, E. 6.1.

99

Dazu eingehend BRUNNER, Art. 27 VwVG N 4 ff.

100

ZULAUF et al., 112.

101

Vgl. Art. 27 Abs. 1 lit. a VwVG.

102

Vgl. Art. 27 Abs. 1 lit. b VwVG.

29

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei



die in den Akten enthaltenen Informationen die Interessen von Dritten tangieren, die nicht am Verfahren beteiligt sind.103

Die Verweigerung der Einsichtnahme darf sich nur auf die Aktenstücke erstrecken, für die Geheimhaltungsgründe bestehen.104 Der Entscheid über die Verweigerung der Akteinsicht bzw. den Umfang einer allfälligen Verweigerung bedingt eine Interessenabwägung im Einzelfall.105 Die Akteneinsicht darf nur beschränkt werden, wenn das Interesse an der Verweigerung die entgegenstehenden Interessen an der Gewährung überwiegen.106 Das bedeutet allerdings nicht, dass die FINMA frei entscheiden kann. Überwiegt ein Interesse, das der Akteneinsicht entgegensteht, so muss die FINMA die Einsicht einschränken.107 Dabei ist sie an das Verhältnismässigkeitsprinzip gebunden. Die Akteneinsicht ist bloss soweit einzuschränken, als dass der Schutz der für die Verweigerung angeführten Interessen dies erfordert.108 Das Verhältnismässigkeitsprinzip kann daher gebieten, anstelle einer vollständigen Verweigerung der Einsicht einzelne Passagen zu schwärzen oder die Gewährung der Einsicht vorläufig aufzuschieben.109 Berechtigten Geheimhaltungsinteressen trägt die FINMA häufig Rechnung, indem sie gewisse Informationen vor der Gewährung der Akteneinsicht anonymisiert bzw. schwärzt, wie beispielsweise Kontonummern und Kundennamen oder andere sensitive Informationen, die für den Verfahrensgegenstand nicht relevant sind. Bei Mehrparteienverfahren, in denen die eine Partei verlangt, dass einer anderen Partei gewisse Informationen nicht offenzulegen sind, kann die FINMA die gesuchstellende Partei gestützt auf die

103

BRUNNER, Art. 27 VwVG N 31.

104

Art. 27 Abs. 2 VwVG.

105

ALBERTINI, 242 ff.

106

OESCHGER/WALDMANN, Art. 27 VwVG N 3; ZULAUF et al., 112 f.

107

BRUNNER, Art. 27 VwVG N 5.

108

BRUNNER, Art. 27 VwVG N 6 ff.

109

ZULAUF et al., 113 f. m.w.H.

30

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

Mitwirkungspflicht auch auffordern, einen „geschwärzten“ Satz der fraglichen Unterlagen für die Zwecke der Akteneinsicht einzureichen.110 d)

Rechte betroffener Dritter

Tangiert die Akteneinsicht Geheimhaltungsinteressen Dritter, die selbst nicht am Verfahren vor der FINMA beteiligt sind, stellt sich die Frage, wie diese ihre Rechte wahren können. Das VwVG regelt diese Frage nicht.111 Die Geheimhaltungsinteressen Dritter beziehen sich in vielen Fällen auf Personendaten i.S. des Datenschutzgesetzes. Bei der Bearbeitung solcher Daten hat die FINMA die Bearbeitungsgrundsätze des Datenschutzgesetzes zu beachten,112 wozu auch der Grundsatz zählt, dass die Datenbearbeitung nach Treu und Glauben zu erfolgen hat.113 Ein Teil der Lehre leitet aus dem Grundsatz von Treu und Glauben die Pflicht ab, dass Behörden Dritte über die Bekanntgabe ihrer Personendaten informieren müssen,114 damit diese die Sperrung bestimmter Personendaten (Art. 20 DSG) verlangen können.115 Nach der hier vertretenen Auffassung kann aus dem datenschutzrechtlichen Grundsatz von Treu und Glauben nicht eine allgemeine Informationspflicht der FINMA abgeleitet werden, sofern diese im Rahmen ihrer Interessenabwägung zum Schluss kommt, Personendaten nicht nach Art. 27 VwVG von der Akteneinsicht auszunehmen. Hingegen sind unseres Erachtens betroffene Dritte, die durch Gewährung der Akteneinsicht besonders berührt sind und damit im Sinne von Art. 27 VwVG ein wesentliches privates Interesse an der Einschränkung der Akteneinsicht haben, in das Verfahren um Akteneinsicht 110

ZULAUF et al., 113.

111

Vgl. in diesem Zusammenhang Art. 11 ff. des Bundesgesetzs über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung vom 17. Dezember 2004 (Öffentlichkeitsgesetz, BGÖ), SR 150.3, die im Bereich der Einsichtnahme in Akten nach dem BGÖ die Rechtstellung Dritter, deren Personendaten betroffen sind, prozessual sichern.

112

Art. 2 Abs. 2 lit. c in fine i.V.m. Art. 4 ff. DSG; ferner OESCHGER/WALDMANN, Art. 27 VwVG N 30.

113

Art. 4 Abs. 2 DSG.

114

Vgl. BRUNNER, Öffentlichkeit und Datenschutz, 148; OESCHGER/WALDMANN Art. 27 VwVG N 31 m.w.H.; mit Vorbehalt EPINEY/NÜESCH, N 3.73 f.

115

OESCHGER/WALDMANN, Art. 27 VwVG N 31.

31

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

einzubeziehen. Dies ist namentlich der Fall, wenn Einsicht in Informationen gewährt werden soll, die vom Bank-, Geschäfts- oder dem Anwaltsgeheimnis (oder anderen Berufsgeheimnissen) geschützt sind. In diesen Fällen haben die betroffenen Dritten ein wesentliches Interesse an der Einschränkung der Akteneinsicht, weshalb ihnen die FINMA in Bezug auf die Akteneinsicht Parteistellung und die entsprechenden Verfahrensrechte einzuräumen hat.116 3.

Information der Öffentlichkeit durch die FINMA

a)

In Bezug auf einzelne Verfahren

Die FINMA informiert die Öffentlichkeit grundsätzlich nicht über die laufende Aufsicht. Gemäss ihrer Leitlinien zur Kommunikation soll dadurch der „Aufsichtsdialog“, der den Austausch vertraulicher und börsenrelevanter Informationen umfasst, geschützt werden.117 Die Leitlinien zur Kommunikation legen weiter fest, dass die FINMA grundsätzlich auch nicht über einzelne Enforcementverfahren informiert. Die Öffentlichkeit soll nur dann über Verfahren gegen beaufsichtigte Unternehmen oder Personen unterrichtet werden, wenn an der Mitteilung ein „ausreichendes öffentliches Interesse“ besteht.118 Art. 22 Abs. 2 FINMAG legt fest, dass die FINMA die Öffentlichkeit über einzelne laufende Verfahren nur informieren darf, wenn dafür ein „besonderes aufsichtsrechtliches Bedürfnis“ besteht. Ein solches liegt gemäss dieser Bestimmung insbesondere dann vor, wenn die Information nötig ist, um (i) Marktteilnehmer zu schützen, (ii) falsche oder irreführende Informationen zu berichtigen oder (iii) das Ansehen des Schweizer Finanzplatzes zu wahren.119 Die Botschaft zum

116

Art. 6 i.V.m. Art. 48 VwVG.

117

FINMA Leitlinien zur Kommunikation vom 25. September 2014, 8.

118

FINMA Leitlinien zur Kommunikation vom 25. September 2014, 4 und 9.

119

Art. 22 Abs. 2 lit. a-c FINMAG. Vgl. dazu BSK BEHG/FINMAG-RAYROUX/DU PASQUIER, Art. 22 FINMAG N 37, welche die Aufzählung in Art. 22 Abs. 2 FINMAG als Widerspiegelung der allgemeinen Ziele der Aufsichtstätigkeit in Art. 5 FINMAG sehen.

32

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

FINMAG bezeichnet diese Konstellationen treffend als „Ausnahmesituationen“.120 Diese Zurückhaltung in Bezug auf öffentliche Informationen ist gerechtfertigt, da sich eine Information der Öffentlichkeit reputationsschädigend auf ein Unternehmen auswirken und einer Verdachtsstrafe gleich kommen kann. In der Lehre wird daher zu Recht gefordert, die Information der Öffentlichkeit über laufende Verfahren nur zuzulassen, wenn die Voraussetzungen für die Aussprechung von vorsorglichen Massnahmen erfüllt sind. Entsprechend wird verlangt, dass die Öffentlichkeit über laufende Verfahren nur informiert wird, wenn bei fehlender Information ein schwerwiegender Nachteil droht, zeitliche Dringlichkeit besteht, die anvisierte Endverfügung wahrscheinlich rechtens und der Grundsatz der Verhältnismässigkeit gewahrt ist.121 Diese Voraussetzungen dürften zwar in den in Art. 22 Abs. 2 FINMAG erwähnten Ausnahmesituationen regelmässig erfüllt sein, doch auch in diesen Situationen ist kritisch zu prüfen, ob das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit die Interessen der Verfahrensparteien überwiegt. Entscheidet sich die FINMA zur Information der Öffentlichkeit über die Einleitung oder die Ergebnisse eines Enforcementverfahrens, ist sie bei der Wahl der Informationskanäle frei.122 In aller Regel erfolgt die Information durch Medienmitteilungen oder, bei besonders schwerwiegenden aufsichtsrechtlichen Verstössen, durch Veröffentlichung der rechtskräftigen Verfügung.123 b)

Im Rahmen der allgemeinen Berichterstattung

Die FINMA informiert die Öffentlichkeit mindestens einmal pro Jahr über ihre Aufsichtstätigkeit und -praxis.124 Diese Information erfolgt durch die Jahresberichte und seit Anfang 2015 zusätzlich durch die sogenannten Enforcementberichte. 120

BBl 2006, 2875.

121

WATTER/KÄGI, 51.

122

BSK BEHG/FINMAG-RAYROUX/DU PASQUIER, Art. 22 FINMAG N 44.

123

Art. 34 FINMAG.

124

Art. 22 Abs. 1 FINMAG.

33

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

Die Jahresberichte enthalten mehrheitlich anonymisierte Statistiken. Unternehmen werden nur vereinzelt im Zusammenhang mit Untersuchungen namentlich aufgeführt,125 sofern die FINMA die Öffentlichkeit über die betreffende Untersuchung bereits informiert hatte. Die Jahresberichte machen somit keine neuen Fakten publik.126 In den Enforcementberichten zeigt die FINMA die Schwerpunkte ihrer Enforcementtätigkeit auf. Entsprechend informieren diese Berichte umfassender über einzelne Enforcementverfahren, allerdings durch anonymisierte Kurzzusammenfassungen.127 Die mit einem Enforcementverfahren konfrontierten Parteien müssen somit nicht damit rechnen, dass ihnen zurechenbare Informationen, die bislang nicht publik waren, im Rahmen der allgemeinen Berichterstattung der FINMA publik werden. 4.

Exkurs: Supervisory Privilege

Nach dem US-amerikanischen Supervisory Privilege haben Unternehmen die Befugnis, gewisse Unterlagen aus der Interaktion mit den Aufsichtsbehörde Dritten gegenüber nicht offen legen zu müssen. In Anlehnung an dieses Supervisory Privilege verbot die FINMA in einigen Fällen den Beaufsichtigten, Verfahrensakten ohne Zustimmung der FINMA Dritten offenzulegen.128 Bis Ende 2015 bestand keine explizite gesetzliche Grundlage für solche Anordnungen. Das Vorgehen der FINMA wurde daher vom Bundesverwaltungs- und Bundesgericht kritisiert.129 Als Reaktion auf diese Kritik wurde mit Art. 42c Abs. 5 FINMAG eine gesetzliche Grundlage geschaffen (in

125

Vgl. z.B. Jahresbericht 2015, 14/15; abrufbar unter https://www.finma.ch/de/ dokumentation/finma-publikationen/geschaeftsberichte/.

126

ZULAUF et al., 305 f.

127

Zum bisher erschienenen Enforcement-Bericht 2014 vgl. .

128

ZULAUF, Kooperation, 350.

129

BGE 141 I 201, E. 4.8; BVGer, 14. Oktober 2014, B-5579/2013, E. 3.4.6.; A.A.: ZULAUF et al., 301.

34

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

Kraft seit 1. Januar 2016), die es der FINMA erlaubt, die Informationsübermittlung durch Beaufsichtigte zu beschränken.130 Gemäss dieser Bestimmung kann die FINMA nunmehr „die Übermittlung, die Veröffentlichung oder die Weitergabe von Akten aus dem Aufsichtsverhältnis von ihrer Zustimmung abhängig machen, wenn dies im Interesse der Erfüllung ihrer Aufgaben liegt und keine überwiegenden privaten oder öffentlichen Interessen entgegenstehen“. Dieses Supervisory Privilege will sicherstellen, dass die FINMA die Art, den Umfang und den Zeitpunkt der Offenlegung von Informationen, die ihre Aufsichtstätigkeit betreffen, kontrollieren kann;131 der Amtshilfeweg bei der Preisgabe von Informationen an ausländische Finanzmarktaufsichtsbehörden eingehalten wird;132 und die Rechte von Kunden und Dritten gewahrt bleiben.133 Die Bestimmung zum Supervisory Privilege ist Teil des 4. Abschnitts des FINMAG, der die Zusammenarbeit mit ausländischen Stellen regelt. In Übereinstimmung mit dieser systematischen Einordnung des Supervisory Privilege stellt sich die FINMA auf den Standpunkt, dass das Supervisory Privilege nur angerufen werden kann, um die direkte Weitergabe von Informationen an ausländische Stellen zu beschränken. Das Supervisory Privilege ist somit kein Instrument, um den Informationsfluss innerhalb der Schweiz, d.h. zum Beispiel von einem beaufsichtigten Unternehmen an Strafbehörden oder andere Dritte, einzuschränken.134

130

ZULAUF, Kooperation, 351.

131

BVGer, 14. Oktober 2014, B-5579/2013, E. 3.2.1.

132

ZULAUF, Kooperation, 352.

133

BGE 141 I 201, E. 4.2; MONSCH/VON DER CRONE, 666 f., die jedoch den Individualschutz schon durch allgemeine Informationsschranken gewährleistet sehen; ZULAUF, Kooperation, 350 f.

134

Vgl. jedoch ZULAUF, Kooperation, 351 f., wonach die von einem Supervisory Privilege betroffenen Unternehmen gut beraten seien, vor jeder Weiterleitung und Offenlegung beschränkter Informationen auch an inländische Stellen die Zustimmung der FINMA einzuholen.

35

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

5.

Zwischenfazit

Zwischen Enforcementverfahren, die von der FINMA in Bezug auf denselben Sachverhaltskomplex gegen unterschiedliche Parteien geführt werden, herrscht eine formlose Durchlässigkeit. Soweit sachdienlich, zieht die FINMA Akten aus dem einen in die anderen Verfahren bei. Ob und welche Schutzmassnahmen die FINMA dabei trifft, um Geheimhaltungsinteressen Dritter zu schützen, steht in ihrem Ermessen und entzieht sich in der Praxis der Kontrolle der Betroffenen. Über die Akteneinsicht erhalten die Verfahrensparteien Zugang zu diesen beigezogenen Akten. Interne Untersuchungsberichte, bankinterne Dokumente und Befragungsprotokolle können auf diesem Weg einzelnen von Enforcementverfahren betroffenen Mitarbeitenden zugänglich werden, die unternehmensintern keinen Zugang zu diesen Informationen hätten. Hinzu kommt, dass Kopien der Akten erstellt und die gewonnenen Informationen ohne Auflagen verwendet werden können. Überwiegenden berechtigten Geheimhaltungsinteressen (Dritter) an Informationen, die beispielsweise vom Bank-, Geschäfts- oder dem Anwaltsgeheimnis geschützt sind, kann die FINMA durch Beschränkung der Akteneinsicht Rechnung tragen. Ein in der Praxis wirksamer Rechtsbehelf, damit sich Dritte mit berechtigten Geheimhaltungsinteressen gegen die Akteneinsicht durch die Verfahrensparteien zur Wehr setzen können, existiert jedoch nicht. Ein allenfalls angeordnetes Supervisory Privilege führt zu keiner Beschränkung des Informationsflusses gegenüber Privaten und inländischen Behörden. Vielmehr ist die FINMA, wie nachfolgend gezeigt wird, berechtigt und verpflichtet mit anderen inländischen Behörden zu kooperieren. Dadurch ist einer weiteren Verbreitung der Informationen Tür und Tor geöffnet.

IV. Informationsfluss infolge Kooperation zwischen FINMA und Strafbehörden 1.

Informationsfluss von der FINMA an Strafbehörden

Vielschichtige Sachverhalte weisen nebst den regulatorischen oft auch strafrechtliche Elemente auf. Die FINMA kooperiert in der Praxis deshalb regel36

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

mässig mit anderen inländischen Behörden, namentlich den Strafbehörden: Im Vordergrund stehen die Bundesanwaltschaft, die kantonalen Strafbehörden sowie das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD), das für die Verfolgung gewisser Straftatbeständen nach den Finanzmarktgesetzen zuständig ist.135 a)

Gründe für die Information von Strafbehörden

aa)

Informationsfluss durch Strafanzeige

Ausgangspunkt eines Informationsflusses von der FINMA an Strafbehörden kann eine von der FINMA erhobene Strafanzeige bilden. Die FINMA ist gemäss Art. 38 Abs. 3 FINMAG zur Benachrichtigung der zuständigen Strafbehörden verpflichtet, wenn sie Kenntnis von gemeinrechtlichen Verbrechen und Vergehen sowie Widerhandlungen gegen das FINMAG oder andere Finanzmarktgesetze erhält. Die Anzeigepflicht verlangt, dass die FINMA bei begründetem Verdacht Strafanzeige erhebt. Gemäss der Enforcement-Policy der FINMA liegt ein solcher vor, wenn die FINMA überzeugt ist, dass der objektive Tatbestand des fraglichen Delikts mit hoher Wahrscheinlichkeit erfüllt sein dürfte.136 Auch wenn die FINMA nicht jeden Zweifel an der Strafbarkeit auszuräumen hat und sie keine Nachforschungspflicht trifft,137 hat sie leichtfertige Strafanzeigen zu vermeiden. Gelingt ihr dies nicht, setzt sie sich unter Umständen dem Vorwurf des Amtsmissbrauchs aus.138 Kommt die FINMA zur Überzeugung, dass sie aufgrund eines begründeten Verdachts auf eine strafrechtlich relevante Vorgehensweise verpflichtet ist, eine Strafanzeige zu erheben, hat sie über den Zeitpunkt der Information der Strafbehörden zu entscheiden. 139

135

Art. 50 FINMAG.

136

FINMA Enforcement-Policy, Fassung 10. November 2011, Grundsatz 11.

137

ZULAUF et al., 191.

138

ZULAUF et al., 194.

139

FINMA Enforcement-Policy, Fassung 10. November 2011, Grundsatz 11.

37

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

Gemäss ihrer Enforcement-Policy berücksichtigt die FINMA bei der Festlegung dieses Zeitpunkts folgende Gesichtspunkte:140 

Gefahr für Dritte;



Beweismittelerhebung und Beweisverwertbarkeit durch die verschiedenen Behörden;



Auswirkungen einer Strafanzeige auf die aufsichtsrechtlichen Abklärungen der FINMA (Vermeidung von unzumutbaren Verzögerungen); und



Verfahrensdauer (u.a. im Hinblick auf die strafrechtliche Verjährung).

Entscheidet sich die FINMA zum Austausch von Informationen mit Strafbehörden, ergeht zuhanden der Betroffenen keine Verfügung, d.h. die von einem solchen Informationsfluss Betroffenen haben keinen Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs durch die FINMA.141 Es liegt im Ermessen der Strafbehörde zu entscheiden, wen und wann sie über die eingegangene Anzeige informiert. bb)

Informationsfluss durch Rechtshilfe

Das Gesetz verpflichtet die FINMA und die Strafverfolgungsbehörden zur Zusammenarbeit. Nach Art. 38 Abs. 1 FINMAG haben die FINMA und die Strafverfolgungsbehörden die „im Rahmen der Zusammenarbeit und zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen Informationen“ auszutauschen; und gemäss Art. 38 Abs. 2 FINMAG müssen sie ihre Untersuchungen soweit möglich und erforderlich koordinieren. Die Koordinationspflicht macht deutlich, dass die FINMA und die Strafbehörden verpflichtet sind, permanent zu bedenken, ob die eigenen Abklärungen Auswirkungen auf die Tätigkeit der anderen Behörde zeitigen können. In der Praxis wird ein allfälliger Abstimmungsbedarf oftmals durch informellen

140

FINMA Enforcement-Policy, Fassung 10. November 2011, Grundsatz 11; ZULAUF et al., 193.

141

ZULAUF et al., 194.

38

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

Austausch eruiert.142 Dies soll sicherstellen, dass die Ermittlungen der Behörden sich nicht gegenseitig beeinträchtigen, sondern idealerweise gegenseitig fördern.143 Informationen können somit von der FINMA durch informellen Austausch oder aufgrund einer Strafanzeige zu anderen Behörden gelangen. Zu einem Informationsfluss kommt es weiter, wenn die FINMA anderen Behörden Rechtshilfe leistet. Hierzu ist sie gegenüber inländischen Behörden grundsätzlich verpflichtet.144 Informationsübermittlungen an inländische Strafbehörden umfassen grundsätzlich alle mit der (Straf-)Sache im Zusammenhang stehenden Informationen, die der FINMA vorliegen. Um gezielte Gesuche zu ermöglichen, kann die FINMA die Strafbehörde vorab informieren, über welche Unterlagen sie verfügt, damit die Strafbehörde ihre Anfrage spezifizieren kann.145 Die FINMA leistet zuhanden einer inländischen Strafbehörde in der Praxis rasch und formlos Rechtshilfe, sofern:146 

Eine faktenbezogene Anfrage erfolgt. Die FINMA lehnt es ab, in Verfahren anderer Behörden als Expertin oder Gutachterin beigezogen zu werden. Sie unterstützt ausschliesslich bei der Sachverhaltsermittlung und nicht bei der Beurteilung von Rechtsfragen; und



Die Informationen der Aufgabenerfüllung der anfragenden Behörde dienen, d.h. Grund für die Anfrage und Verwendungszweck der Informationen klar sind. Die FINMA stellt keine hohen Anforderungen an

142

ZULAUF et al., 187.

143

ZULAUF et al., 188 f.

144

Vgl. zu den Verweigerungsgründen unten, IV.1.b)aa).

145

FINMA Leitlinien zur Rechtshilfe gegenüber inländischen Strafbehörden vom 20. November 2015, 2.

146

FINMA Leitlinien zur Rechtshilfe gegenüber inländischen Strafbehörden vom 20. November 2015, 2 f.

39

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

die Nützlichkeit der zu liefernden Informationen für die Aufgabenerfüllung der ersuchenden Behörde.147 Dass die empfangende inländische Strafbehörde die Informationen auf dem Weg der Rechts- oder Amtshilfe allenfalls an andere in- oder ausländische Behörden weitergeben darf, steht der Gewährung der inländischen Rechtshilfe nicht entgegen.148 b)

Schranken

aa)

Verweigerungsgründe nach Art. 40 FINMAG

Eine Verweigerung der Rechtshilfe soll gemäss den Leitlinien der FINMA zur Rechtshilfe gegenüber inländischen Strafbehörden „nur in berechtigten Einzelfällen“ erfolgen.149 Die Gründe, die die FINMA zu einer Verweigerung der Rechtshilfe berechtigen, sind denn auch eng gefasst. Nach Art. 40 lit. a-c FINMAG kann die FINMA die Preisgabe von nicht öffentlich zugänglichen Informationen an Strafbehörden und andere inländische Behörden verweigern, wenn:150 

die verlangten Informationen und Akten ausschliesslich der internen Meinungsbildung der FINMA dienen;



die Bekannt- oder Herausgabe ein laufendes Verfahren gefährdet oder die Erfüllung der Aufsichtstätigkeit beeinträchtigt; oder



die Preisgabe der Informationen nicht mit Ziel und Zweck der Finanzmarktaufsicht vereinbar ist.

147

FINMA Leitlinien zur Rechtshilfe gegenüber inländischen Strafbehörden vom 20. November 2015, 3.

148

FINMA Leitlinien zur Rechtshilfe gegenüber inländischen Strafbehörden vom 20. November 2015, 2.

149

FINMA Leitlinien zur Rechtshilfe gegenüber inländischen Strafbehörden vom 20. November 2015, 2.

150

Aufgrund der Gesetzessystematik sollen die Verweigerungsgründe in Art. 40 FINMAG nicht nur auf die Rechtshilfe, sondern auch auf die Anzeigepflicht der FINMA (Art. 38 Abs. 3 FINMAG) Anwendung finden. Siehe auch ZANGA, 84 ff.

40

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

Die Verweigerungsgründe sollen sicherstellen, dass die grundsätzliche Pflicht zum Informationsaustausch mit inländischen Strafbehörden nicht zur Beeinträchtigung der Aufsichtstätigkeit der FINMA führt.151 So will der Schutz der Informationen und Akten, die lediglich der internen Meinungsbildung dienen, die Vertraulichkeit und Objektivität der FINMA internen Meinungsbildung gewährleisten. Mitglieder der FINMA sollen intern nicht mit Argumenten zurückhalten, weil sie deren Publizität fürchten müssen.152 Zum Schutz der Aufsichtstätigkeit bzw. eines Aufsichtsverhältnisses kann die FINMA die Informationsübermittlung etwa dann verweigern, wenn das beaufsichtigte Unternehmen die in Frage stehende Information ausserhalb seiner gesetzlichen Mitwirkungs-, Auskunfts- und Meldepflichten (z.B. vom Anwaltsgeheimnis geschützte Informationen) zur Verfügung gestellt hat, oder eine umfassende Risikoeinschätzung zuhanden der FINMA erstellte. Würden auf diese Weise erlangte Informationen anderen Behörden zur Verfügung gestellt, könnte dies Beaufsichtigte davon abhalten, derart umfassend zu kooperieren.153 Den Verweigerungsgrund nach Art. 40 lit. b FINMAG ruft die FINMA allerdings nur bei bewilligten Unternehmen an,154 und selten unter Berufung auf den Schutz von Geheimnissen zugunsten des betroffenen Unternehmens.155 Weiter kann die FINMA die Herausgabe von Informationen verweigern, wenn die Herausgabe mit den Zielen oder dem Zweck der Finanzmarktaufsicht unvereinbar ist; insbesondere falls dadurch die zukünftige Zusammenarbeit mit den Beaufsichtigten in Bezug auf die Aufsichtstätigkeit dauerhaft beeinträchtigt würde. Die FINMA ruft die Verweigerungsgründe nur sehr zurückhaltend an. Bevor sie einen Verweigerungsgrund geltend macht, prüft sie, ob eine teilweise Gewährung der Rechtshilfe möglich ist. Dies kann namentlich bedeuten,

151

NOBEL, FINMAG, 260.

152

SIDLER, 48.

153

Vgl. z.B. BGer, 30. Mai 2016, 1B_249/2015, E. 8.14.

154

FINMA Leitlinien zur Rechtshilfe gegenüber inländischen Strafbehörden vom 20. November 2015, 3.

155

ZULAUF et al., 196.

41

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

dass Informationen nur teilweise zurückgehalten oder allenfalls geschwärzt werden.156 bb)

Private Geheimhaltungsinteressen als Verweigerungsgrund?

Kein eigenständiger Verweigerungsgrund für die Herausgabe von Informationen an inländische Strafbehörden sind in der Praxis der FINMA der Schutz der Interessen des beaufsichtigten Unternehmens sowie allfällige Geheimhaltungsinteressen Dritter.157 Bei beaufsichtigten Unternehmen können Geheimhaltungsinteressen, insbesondere in Bezug auf durch das Anwaltsgeheimnis geschützte Informationen, zumindest in die Interessenabwägung der FINMA bei der Beurteilung der Verweigerungsgründe nach Art. 40 FINMAG einfliessen.158 Die FINMA kann die Rechtshilfe in Bezug auf vertrauliche Informationen bewilligter Unternehmen verweigern, sofern sie in der Weitergabe der Informationen an Strafbehörden eine Gefährdung des Aufsichtsverhältnisses erblickt.159 In der Praxis tut sie dies allerdings selten.160 Übermittelt die FINMA durch das Anwaltsgeheimnis geschützte Informationen an die Strafbehörde, können die aus dem Anwaltsgeheimnis Berechtigten den Schutz des Anwaltsgeheimnisses nach Massgabe der Strafprozessordnung im Strafverfahren geltend machen.161 Erforderlich ist dafür, dass die Berechtigten rechtzeitig von der Rechtshilfe erfahren.162

156

FINMA Leitlinien zur Rechtshilfe gegenüber inländischen Strafbehörden vom 20. November 2015, 2 f.

157

Vgl. dazu auch SIDLER, 49 f. oder SCHMID, Verhältnis, 59, der sich für die Berücksichtigung schutzwürdiger Interessen des Betroffenen ausspricht.

158

FINMA Leitlinien zur Rechtshilfe gegenüber inländischen Strafbehörden vom 20. November 2015, 2.

159

Vgl. oben, IV.1.b)aa).

160

FINMA Leitlinien zur Rechtshilfe gegenüber inländischen Strafbehörden vom 20. November 2015, 4 f.

161

Siehe dazu unten, V.1.a)cc).

162

Siehe dazu unten, V.1.a)cc).

42

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

cc)

Nemo tenetur-Grundsatz?

Der mögliche Widerspruch zwischen der Mitwirkungspflicht der Beaufsichtigten gegenüber der FINMA und dem Selbstbelastungsverbot im Strafverfahren163 kommt auch bei der Rechtshilfe von der FINMA an die Strafbehörden zum Tragen. So kann eine Information, die im Verwaltungsverfahren aufgrund der Mitwirkungspflicht preisgegeben und entsprechend protokolliert wurde, später zu einer den Beschuldigten belastenden Aussage im Strafprozess werden. Das Gesetz bietet keine Grundlage für die Verweigerung der Rechtshilfe und das Unterlassen der Anzeige durch die FINMA aufgrund des Selbstbelastungsverbotes.164 Ebenfalls fehlt eine gesetzliche Grundlage für die Siegelung vor der Informationsübermittlung an die Strafbehörde.165 Nach den Leitlinien der FINMA zur Rechtshilfe stellt das Selbstbelastungsverbot denn auch keinen Verweigerungsgrund für die Rechtshilfe dar.166 c)

Rechte der Betroffenen

aa)

Bei Strafanzeige durch die FINMA

Die Strafanzeige durch die FINMA erfolgt formlos, d.h. nicht mittels Verwaltungsverfahren. Betroffene und insbesondere Verdächtige haben keinen Anspruch auf rechtliches Gehör und werden von der FINMA auch nicht über die Strafanzeige informiert. Eine Information erfolgt erst durch die Strafbehörde.167

163

Zum Gehalt von nemo tenetur siehe oben, II.2.b).

164

Siehe dazu auch TERLINDEN, 187.

165

Siehe dazu der Vorschlag von WEBER (263): In einem neuen Abs. 5 zu Art. 38 FINMAG soll die Pflicht der FINMA zur Siegelung von unverwertbaren Beweisen vor der Rechtshilfeleistung erfolgen.

166

FINMA Leitlinien zur Rechtshilfe gegenüber inländischen Strafbehörden vom 20. November 2015, 3.

167

ZULAUF et al., 73 f. und 196.

43

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

Der Rechtsschutz der Betroffenen findet erst im Strafverfahren statt.168 Dort wird nach Massgabe der Strafprozessordnung auch dem Grundsatz von nemo tenetur Rechnung getragen.169 bb)

Bei Gewährung der Rechtshilfe durch die FINMA

Die Rechtshilfe der FINMA an inländische Strafbehörden erfolgt, wie die Strafanzeige, durch informelles Verwaltungshandeln. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts besteht kein schutzwürdiges Interesse an der Durchführung eines Verwaltungsverfahrens, „wenn der gesetzliche Informationsanspruch unbedingt gegeben ist und auch gegen den Willen des Betroffenen geltend gemacht werden kann“.170 Da die FINMA zur Leistung von Rechtshilfe grundsätzlich verpflichtet ist und Drittinteressen per se keine eigenständigen Verweigerungsgründe darstellen, entscheidet die FINMA über die Gewährung der Rechtshilfe nicht in einem Verwaltungsverfahren.171 Die Betroffenen sollen auch nicht gestützt auf Art. 25a VwVG (Gesuch um Verfügung über einen Realakt) Rechtschutz erlangen können.172 Begründet wird der Verzicht auf ein Verwaltungsverfahren bei der Gewährung der Rechtshilfe an inländische Strafbehörden damit, dass die Betroffenen ihre Rechte nötigenfalls in dem Verfahren geltend machen können, das von der um Rechtshilfe ersuchenden Behörde durchgeführt wird. Denn sofern sich diese Behörde in ihrem Entscheid auf die rechtshilfeweise erlangten Informationen stützen will, hat sie die Verfahrensparteien darüber zu informieren und ihnen Akteneinsicht zu gewähren, womit die betroffenen Personen in die Lage versetzt werden, ihre Rechte zu wahren. Auf diese Weise werde das rechtliche Gehör, das im Rechtshilfeverfahren verweigert wurde, nachträglich gewährleistet.173

168

BSK-BEHG/FINMAG-SCHWOB/WOHLERS, Art. 41 FINMAG N 5.

169

BSK-FINMAG, Art. 41 N 5.

170

BGE 124 I 176, E. 6b.

171

FINMA Leitlinien zur Rechtshilfe gegenüber inländischen Strafbehörden vom 20. November 2015, 3.

172

KIENER/RÜTSCHE/KUHN, N 1166 f.

173

KIENER/RÜTSCHE/KUHN, N 1168.

44

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

Die ersuchende Behörde hat sicherzustellen, dass allfällige Verfahrensrechte der Betroffenen gewahrt werden, da namentlich strafprozessuale Vorbehalte und Verbote der Beweisverwertung für sich alleine keine Gründe für die Verweigerung der Rechtshilfe bilden, weshalb die strafprozessualen Vorbehalte und Verbote von der FINMA auch nicht geprüft bzw. angerufen werden. Wo nach ihrer Ansicht sinnvoll, weist die FINMA die empfangende Strafbehörde aber auf mögliche Geheimhaltungsinteressen hin.174 Gerade bei Verfahren mit vielschichtigen Sachverhalten und zahlreichen betroffenen Personen kann die Gewährung von Rechtshilfe an Strafbehörden die Rechte von Personen berühren, die nicht Partei im Strafverfahren vor der um Rechtshilfe ersuchenden Strafbehörde sind. Ihre Interessen können diese Betroffenen im Strafverfahren nicht adäquat schützen. In der Lehre wird deshalb zu Recht die Auffassung vertreten, dass die FINMA über die Gewährung der Rechtshilfe eine Verfügung erlassen müsste, soweit die Rechtshilfe Rechte und Pflichten Dritter berührt.175 In Bezug auf beaufsichtigte Unternehmen kann nach der hier vertretenen Ansicht das Aufsichtsverhältnis zudem gebieten, dass die FINMA das betroffene Unternehmen über die Herausgabe von unternehmensinternen Unterlagen an Strafbehörden informiert.176 Zu denken ist etwa an von der FINMA beaufsichtigte Unternehmen, die der FINMA ausserhalb ihrer Mitwirkungspflichten Unterlagen herausgeben, die dem Schutz des Anwaltsgeheimnisses unterstehen und die nachträglich von der FINMA an Strafbehörden weitergegeben werden sollen. Zumindest wenn die FINMA weiss oder annehmen muss, dass das Unternehmen mit der Herausgabe solcher Unterlagen nicht generell, sondern nur gegenüber der FINMA auf den Schutz des Anwaltsgeheimnisses verzichtete, hat sie das Unternehmen über die geplante Rechtshilfe zu informieren. Andernfalls nimmt die FINMA dem betroffenen Unternehmen unter Umständen die Möglichkeit, bei der empfangenden Strafbehörde umgehend – und bevor die Strafbehörde den Inhalt der Doku174

FINMA Leitlinien zur Rechtshilfe gegenüber inländischen Strafbehörden vom 20. November 2015, 3.

175

KÖLZ/HÄNER/BERTSCHI, Art. 41 FINMAG N 4.

176

Zur Pflicht der FINMA, sich gegenüber den Beaufsichtigten berechenbar und verlässlich zu verhalten (Treu und Glauben, Art. 9 BV), vgl. ZULAUF et al., 110 f.

N

2092;

BSK-BEHG/FINMAG-SCHWOB/WOHLERS,

45

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

mente zu Kenntnis nimmt – das aus dem Anwaltsgeheimnis fliessende Beschlagnahmeverbot geltend machen zu können.177 Nach unserer Auffassung greift es zu kurz, wenn sich die FINMA in solchen Fällen damit begnügt, bei der Übermittlung der Dokumente die Strafbehörde auf die aus dem Anwaltsgeheimnis fliessenden Geheimhaltungsinteressen des beaufsichtigten Unternehmens hinzuweisen.178 2.

Informationsfluss von Strafbehörden an die FINMA

Nach Art. 38 Abs. 1 FINMAG trifft die Pflicht zur Leistung von Rechtshilfe auch die Strafbehörden. Sie haben mit der FINMA Informationen auszutauschen, die die FINMA zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt. Diese explizite Pflicht wurde mit Inkrafttreten des Finanzmarktinfrastrukturgesetzes statuiert. Die Möglichkeit einer spontanen, raschen und formlosen Informationsübermittlung durch die Strafverfolgungsbehörden bestand zwar schon früher, die Rechtsgrundlagen dafür waren jedoch verstreut und für die verschiedenen Strafverfolgungsbehörden offenbar nicht in gleichem Masse klar.179 Die Informationsbeschaffung und -übermittlung von der Strafbehörde an die FINMA erfolgt – wie auch der umgekehrte Informationsfluss – formlos, d.h. ohne Verfügung oder sonstige Information der Betroffenen. Beim Beizug von Informationen aus einem Strafverfahren ins Enforcementverfahren muss die FINMA die Parteien informieren und ihnen das rechtliche Gehör gewähren.180

177

Siehe dazu unten, V.1.a)cc).

178

FINMA Leitlinien zur Rechtshilfe gegenüber inländischen Strafbehörden vom 20. November 2015, 4.

179

Vgl. Botschaft des Bundesrates vom 3. September 2014 zum Finanzmarktinfrastrukturgesetz (FinfraG), BBl 2014, 7483 ff., 7609.

180

ZULAUF et al., 138.

46

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

3.

Zwischenfazit

Informationen und Unterlagen, die das beaufsichtigte Unternehmen der FINMA aufgrund seiner Mitwirkungspflicht zur Verfügung stellt und die von der FINMA durch eigene Untersuchungshandlungen bzw. durch Prüf- oder Untersuchungsbeauftrage beschafft werden, können auf dem Weg der Rechtshilfe von der FINMA an Strafbehörden gelangen. Die FINMA ist zur Rechtshilfe verpflichtet und übermittelt die Informationen in der Regel rasch und formlos. Nur in Ausnahmefällen verweigert die FINMA die Rechtshilfe gestützt auf die gesetzlichen Verweigerungsgründe, die dem Schutz der Aufsichtstätigkeit der FINMA dienen. In diesem Rahmen kann die FINMA auch Geheimhaltungsinteressen Dritter berücksichtigen, insbesondere der beaufsichtigten Unternehmen. Die Geheimhaltungsinteressen Dritter stellen allerdings keine eigenständigen Verweigerungsgründe dar. Entsprechend gewährt die FINMA den von der Rechtshilfe Betroffenen auch keinen prozessualen Schutz. Die Beaufsichtigten und in den Verfahrensakten der FINMA genannten Drittpersonen (z.B. Kunden oder Mitarbeitende) sind der Rechtshilfe in der Praxis deshalb ohne verwaltungsverfahrensrechtlichen Schutz ausgeliefert. Ihnen bleiben bloss allfällige strafprozessuale Schutzmechanismen, die sie im Strafverfahren nach Massgabe der Strafprozessordnung anrufen können. Nach der hier vertretenen Auffassung kann das zwischen der FINMA und den Beaufsichtigten bestehende Aufsichtsverhältnis gebieten, dass die FINMA das von der Herausgabe von Informationen beaufsichtigte Unternehmen über die Rechtshilfe informiert, damit die Unternehmen ihre strafprozessualen Rechte wahrnehmen können. Dies ist etwa der Fall, wenn die FINMA dem Schutz des Anwaltsgeheimnisses unterstehende Dokumente an die Strafbehörden weitergibt. Die Rechtshilfe durch die FINMA stellt für die Strafbehörden ein effizientes Mittel dar, um für ihre eigenen Ermittlungen sachdienliche Unterlagen und Informationen sicherzustellen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Verfahrensakten der FINMA umfangreiche Untersuchungsberichte, bankinterne Unterlagen und Protokolle von Mitarbeiterbefragungen enthalten. Weiter können sich Strafbehörden der strafprozessualen Möglichkeiten bedienen, um relevante Beweise zu erheben. Im Vordergrund stehen Urkundenedition und Beschlagnahme sowie Einvernahmen von Beschuldigten, Zeugen oder 47

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

Auskunftspersonen (vgl. Kapitel V.1). Die strafprozessual sichergestellten Informationen und Unterlagen fliessen – zusammen mit den von der FINMA rechtshilfeweise erhaltenen Informationen und Unterlagen – in die Strafakten ein und werden so über die Akteneinsichtsrechte der Parteien und gestützt auf das im Strafverfahren geltende Öffentlichkeitsprinzip unter Umständen einem weiten Personenkreis zugänglich (vgl. Kapitel V.2).

V.

Informationsfluss im Strafverfahren

1.

Beweiserhebung

Die Strafbehörden haben umfassende strafprozessuale Möglichkeiten, um Beweise zu erheben. Im Vordergrund stehen dabei die Sicherstellung von Dokumenten und Daten sowie die Erhebung von Informationen mittels Einvernahmen. a)

Dokumente und Daten

aa)

Edition

Die Strafprozessordnung statuiert eine grundsätzliche Herausgabepflicht in Bezug auf Dokumente und Daten.181 Ausgenommen von der Herausgabepflicht sind die beschuldigte Person und Personen, die zur Aussage- oder Zeugnisverweigerung berechtigt sind, im Umfang ihrer Verweigerungsrechte. Darüber hinaus befreit die Strafprozessordnung Unternehmen von der Herausgabepflicht, wenn sie sich durch die Herausgabe selbst derart belasten würden, dass sie strafrechtlich182 oder zivilrechtlich verantwortlich gemacht werden könnten. Die drohende Gefahr einer zivilrechtlichen Verantwortung befreit von der Herausgabepflicht jedoch nur, wenn das Schutzinteresse in Bezug auf die zivilrechtliche Verantwortung höher zu gewichten ist als das Strafverfolgungsinteresse.183 In diesen Fällen unterliegt das Unternehmen 181

Art. 265 Abs. 1 bzw. Art. 285 Abs. 1 lit. a StPO.

182

Art. 265 Abs. 2 lit. c Ziff. 1 und für Banken in Art. 285 Abs. 2 Ziff. 1 StPO.

183

Art. 265 Abs. 2 lit. c Ziff. 2 bzw. Art. 285 Abs. 2 lit. b StPO für Banken.

48

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

keiner strafbewehrten Herausgabepflicht;184 eine Editionsverfügung mit Strafandrohung ist unzulässig.185 Auf den ersten Blick scheinen diese Editionsverweigerungsrechte für Unternehmen ein probates Mittel darzustellen, um strafrechtliche und zivilrechtliche Haftungsrisiken begrenzen zu können. Zu bedenken ist allerdings, dass ein Unternehmen auch bei gegebenen Verweigerungsgründen nicht vor einer zwangsweisen Beschaffung der Dokumente und Daten durch die Strafbehörden geschützt ist.186 Der Hinweis in Editionsverfügungen, dass bei Verweigerung der Herausgabe Zwangsmassnahmen in Betracht gezogen werden, ist denn auch rechtmässig.187 Die zwangsweise Beschaffung von Dokumenten und Daten erfolgt in der Praxis mittels Beschlagnahme,188 beispielsweise im Rahmen einer Hausdurchsuchung,189 was – zumindest bei Unternehmen und Sachverhalten von öffentlichen Interessen – mediale Berichterstattung zur Folge haben kann. Ein Unternehmen, das gegenüber Strafbehörden die Herausgabe von Dokumenten und Daten verweigert, provoziert deshalb nicht nur ein resoluteres Vorgehen der Strafbehörde, sondern steigert auch das Risiko medialer Aufmerksamkeit mit negativen Auswirkungen auf die Unternehmensreputation.190 Die Wirkung der Editionsverweigerungsrechte für Unternehmen ist in der Praxis deshalb gering. bb)

Beschlagnahme

Leisten die Inhaber von Dokumenten und Daten einer Editionsverfügung keine Folge, kann die Strafbehörde Dokumente und Daten, die sie als Be-

184

BGer, 15.6.2015, 1B_125/2015, E. 3.6.

185

Art. 265 Abs. 3 StPO e contrario.

186

BGer, 30. Mai 2016, 1B_249/2015, E. 8.14; BGer, 15. Juni 2015, 1B_125/2015, E. 3.7; BGer, 11. März 2014, E. 7; ISENRING/KESSLER, 325.

187

OGer Bern, 21. Februar 2012, CAN 2012 Nr. 41, 120 ff, 122.

188

Art. 263 StPO.

189

Art. 244 Abs. 2 StPO.

190

BAUMGARTEN/BURCKHARDT/ROESCH, 179; ISENRING/KESSLER, 325.

49

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

weismittel braucht, grundsätzlich zwangsweise mittels Beschlagnahme beschaffen.191 Die zwangsweise Beschaffung hat dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu genügen.192 Sie ist nur zulässig, wenn die Herausgabe verweigert wurde oder wenn anzunehmen ist, dass die Aufforderung zur Herausgabe den Zweck der Massnahme vereiteln würde.193 Bei einer blossen Mutmassung der Verweigerung sollte die Strafbehörde zuerst eine Editionsverfügung erlassen.194 Bei der Wahl der Methode der Beweisbeschaffung kommt der Strafbehörde ein grosser Ermessensspielraum zu. So kann die Beschlagnahme als sicherstes Mittel gerechtfertigt sein, wenn ein Gefährdungsrisiko für die zu erhebenden Beweise besteht.195 Die Beschlagnahme ist ausgeschlossen, wenn ein Beschlagnahmeverbot besteht. Ein solches gilt namentlich für Unterlagen, die dem Anwaltsgeheimnis unterliegen.196 cc)

Schutz des Anwaltsgeheimnisses

Das aus dem Anwaltsgeheimnis fliessende Beschlagnahmeverbot gilt für Unterlagen der beschuldigten Person aus der Kommunikation mit ihrem Anwalt197 bzw. Verteidiger198 sowie für Unterlagen aus dem Verkehr einer

191

Art. 263 Abs. 1 StPO.

192

BGer, 15. Juni 2015, 1B_125/2015, E. 3.8; BStGer, 19. März 2014, BV.2013.19, E. 5.3.

193

Art. 265 Abs. 4 StPO.

194

Unklar BStGer, 19. März 2014, BV.2013.19, E. 5.3 und BStGer, 24. Januar 2014, BB.2013.173, E. 4.3. Im Sinne der Notwendigkeit einer vorgängigen Editionsverfügung hingegen KGer Jura, 4. Februar 2013, CPR 1/2013.

195

BStGer, 19. März 2014, BV.2013.19, E. 5.3; BStGer, 24. Januar 2014, BB.2013.173, E. 4.3.

196

Art. 264 Abs. 1 lit. c und d StPO respektive Art. 46 Abs. 3 VStrR; BGer, 20. August 2012, 1B_380/2012; OGer Bern, 21. Februar 2012, CAN 2012 Nr. 41, 120 ff., 122.

197

Art. 264 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 171 Abs. 1 StPO.

198

Art. 264 Abs. 1 lit. a StPO.

50

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

anderen als der beschuldigten Person mit ihrem Anwalt.199 Die anwaltlichen Arbeitsprodukte sind somit umfassend vor einer Beschlagnahme geschützt, und ein Unternehmen kann sich auf den Schutz des Anwaltsgeheimnisses berufen, auch wenn es im Strafverfahren nicht selbst beschuldigt ist.200 Beim Beschlagnahmeverbot von Unterlagen aus dem Verkehr einer nicht beschuldigten Person mit ihrem Anwalt gilt einschränkend zu beachten, dass der prozessuale Schutz des Anwaltsgeheimnisses nur in Bezug auf Anwälte gilt, die nach dem BGFA zur Vertretung vor schweizerischen Gerichten zugelassenen sind. Hinzu kommt die Bedingung, dass der betreffende Anwalt im selben Verfahren nicht ebenfalls beschuldigt ist.201 Das Beschlagnahmeverbot wird unabhängig vom Zeitpunkt gewährt, in dem die Unterlagen geschaffen wurden.202 Auch brauchen diese nicht im Zusammenhang mit dem laufenden Strafverfahren erstellt worden sein,203 d.h. auch vorbestehende anwaltliche Dokumente unterliegen einem Beschlagnahmeverbot.204 Ebenfalls unbeachtlich ist der Ort, an dem sich die anwaltlichen Dokumente befinden.205 Macht eine berechtigte Person ein Beschlagnahmeverbot geltend, hat die Strafbehörde nach den Vorschriften zur Siegelung vorzugehen.206 Über den Wortlaut des Gesetzes hinaus207 können sämtliche Personen, die unabhängig der Besitzverhältnisse ein rechtlich geschütztes Interesse an der Geheimhaltung der Informationen haben können, die Siegelung der Unterlagen verlan-

199

Art. 264 Abs. 1 lit. d StPO.

200

BURCKHARDT/RYSER, 164 f.

201

Art. 264 Abs. 1 lit. d StPO.

202

Art. 264 Abs. 1 Ingress StPO.

203

BURCKHARDT/RYSER, 164.

204

Statt vieler BSK StPO-BOMMER/GOLDSCHMID, Art. 264 N 27.

205

Art. 264 Abs. 1 Ingress StPO; BBl 2011, 8184.

206

Art. 264 Abs. 3 StPO.

207

Vgl. Wortlaut von Art. 248 Abs. 1 StPO bzw. Art. 50 Abs. 3 VStrR; BSK StPOTHORMANN/BRECHBÜHL, Art. 248 N 32; zum Verwaltungsstrafverfahren: Beschluss vom 4. Juli 2011, I. Beschwerdekammer, BE.2011 1.

51

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

gen.208 Legitimiert sind damit insbesondere die Adressaten der anwaltlichen Arbeitsprodukte sowie der betroffene Anwalt.209 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung obliegt es der Strafbehörde dafür zu sorgen, dass die Berechtigten ihr Siegelungsrecht auch rechtzeitig und wirksam ausüben können. Zwar hat die Strafbehörde vor einer Sicherstellung bloss den Inhaber der Unterlagen zum Inhalt und allfälligen Siegelungsgründen anzuhören.210 Nach der Entgegennahme bzw. Sicherstellung und noch vor der Durchsicht der Unterlagen hat sie aber zur Wahrung des rechtlichen Gehörs von Amtes wegen weiteren Berechtigten die Möglichkeit einzuräumen, ein Siegelungsbegehren zu stellen.211 Eine solche Pflicht besteht insbesondere dann, wenn die Berechtigten offensichtlich sind und die Strafbehörde potentielle Beschlagnahmeverbote aufgrund der tatsächlichen Umstände zu erkennen vermag.212 Dies ist ohne weiteres der Fall, wenn die Strafbehörde von der FINMA auf dem Weg der Rechtshilfe Dokumente erhält, die dem Schutz des Anwaltsgeheimnisses unterliegen, und die FINMA die Strafbehörde auf diese Geheimhaltungsinteressen aufmerksam macht 213 oder die Strafbehörde anderweitig erkennen kann, dass es sich um anwaltliche Dokumente handelt. Vor diesem Hintergrund – und mit Blick auf eine allenfalls notwendige Ausscheidung von anwaltlichen Dokumenten bei der Beschlagnahme umfangreicher Datenbestände – empfiehlt sich, anwaltliche Dokumente und Korrespondenz als „privileged and confidential“ oder „vertrauliche Anwaltskorrespondenz“ zu bezeichnen. Eine solche Bezeichnung ist jedoch weder

208

BGE 140 IV 28, E. 4.3.4; ferner BGer, 10. Januar 2013 1B_588/2012, E. 2, wonach Personen am Entsiegelungsverfahren teilnehmen können, soweit sie in ihren Rechten unmittelbar betroffen sind (vgl. Art. 105 Abs. 2 StPO); BURCKHARDT/RYSER, 165; BSK StPO-BOMMER/GOLDSCHMID Art. 264 N 58; MÜLLER/GÄUMANN, 291 f.

209

Vgl. BGer, 6. November 2012, 1B_309/2012, E. 5.11; BURCKHARDT/RYSER, 165.

210

Art. 247 Abs. 1 StPO.

211

BGE 140 IV 28, E. 4.3.5; ferner MÜLLER/GÄUMANN, 292.

212

BURCKHARDT/RYSER, 164.

213

Vgl. oben, IV.1.c)bb).

52

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

rechtlich noch tatsächlich Voraussetzung für die Beanspruchung des Schutzes durch das Anwaltsgeheimnis.214 b)

Einvernahmen

Als weitere strafprozessuale Möglichkeit der Beweiserhebung kommen Einvernahmen der beschuldigten Person oder von Dritten in Betracht. Im Falle der Unternehmensstrafbarkeit hat das Unternehmen die Stellung einer beschuldigten Person und folglich deren Verfahrensrechte. Dazu gehört insbesondere auch das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen.215 Als Ausfluss dieses Rechts wird der vom Unternehmen bestellte Vertreter216 als Auskunftsperson einvernommen und ist als solche nicht aussagepflichtig.217 Mitarbeitende werden, wenn sie selbst (mit-)beschuldigt sind, als Beschuldigte einvernommen; andernfalls als Zeugen bzw. Auskunftspersonen. Steht eine Beschuldigung des Mitarbeiters im Raum, so kann er vorerst als Auskunftsperson einvernommen werden und ist damit nicht aussagepflichtig.218 Ist die Beschuldigtenstellung des Mitarbeiters definitiv, so wird er als Beschuldigter einvernommen und hat damit ein Aussageverweigerungsrecht.219 Wird ein Mitarbeiter im Strafverfahren gegen ein Unternehmen als Zeuge einvernommen,220 hat er bloss eingeschränkte Zeugnisverweigerungsrech-

214

BURCKHARDT/RYSER, 164.

215

SCHMID, Handbuch, N 681.

216

Im Sinne von Art. 112 Abs. 1-3 StPO. Jedoch werden auch Personen, die lediglich zur Vertretung des Unternehmens befugt sind, als Auskunftspersonen einvernommen, vgl. Wortlaut von Art. 178 lit. g StPO.

217

Art. 178 lit. g i.V.m. Art. 180 Abs. 1 StPO.

218

In Anwendung von Art. 178 lit. d StPO.

219

Art. 157 Abs. 1 i.V.m. Art. 113 Abs. 1 StPO.

220

Vgl. dazu u.a. PIETH, 374.

53

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

te.221 Insbesondere der Schutz des beschuldigten Unternehmens, d.h. des eigenen Arbeitgebers, berechtigt nicht zur Zeugnisverweigerung.222 Die Einvernahmen werden protokolliert.223 Die Einvernahmeprotokolle sind Teil der Strafakten.224 2.

Verbreitung von Informationen durch Strafverfahren

Informationen, Dokumente und Daten, die die Strafbehörde auf dem Weg der Rechtshilfe von der FINMA erhält und durch selbständige Untersuchungshandlungen, wie Editionen, Beschlagnahmen oder Einvernahmen, sicherstellt, finden Eingang in die Strafakten und stehen damit einem unter Umständen grösseren Personenkreis grundsätzlich zur Einsichtnahme offen. a)

Akteneinsicht

aa)

Zur Akteneinsicht Berechtigte

Der Anspruch auf Akteneinsicht ist wie im Verwaltungsverfahren225 grundsätzlich an die Parteistellung gekoppelt.226 Die Verfahrensparteien haben einen Anspruch auf Akteneinsicht, sobald die erste Einvernahme der beschuldigten Person durch die Staatsanwaltschaft erfolgt ist und die „übrigen wichtigsten Beweise“ erhoben wurden.227 Partei im Strafverfahren und damit zur Akteneinsicht berechtigt sind in erster Linie die Beschuldigten. Geschädigte, die sich als Privatkläger an Strafver-

221

Art. 168 ff. StPO; vgl. dazu auch SCHMID, Handbuch, N 917.

222

Die Verweigerungsgründe sind im Gesetz abschliessend aufgezählt, BSK StPOKERNER N 2 zu Vorbemerkungen zu Art. 168-176 StPO.

223

Art. 78 StPO.

224

Vgl. Art. 100 Abs. 1 lit. a StPO.

225

Siehe oben III.2.

226

Art. 101 Abs. 1 StPO.

227

Art. 101 Abs. 1 StPO; Vgl. DROESE, Zivilklage, 55.

54

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

fahren beteiligen,228 sind ebenfalls Partei und damit zur Akteneinsicht berechtigt.229 Der überwiegende Teil der Lehre und die Rechtsprechung gehen davon aus, dass dem Privatkläger ein umfassendes Akteneinsichtsrecht zusteht, das nicht von einem Interessennachweis abhängig gemacht werden kann.230 Beschränkt ist die Akteneinsicht allerdings in Bezug auf die Akten zur Person des Beschuldigten und allfälliger Vorakten, die nur für die Strafzumessung von Bedeutung sind.231 Andere Behörden, wie beispielsweise die FINMA, können Strafakten einsehen, wenn dies für die Bearbeitung eines hängigen Verfahrens nötig ist und der Einsichtnahme keine überwiegenden öffentlichen oder privaten Interessen entgegenstehen.232 Andere am Strafverfahren nicht beteiligte Privatpersonen können die Akten einsehen, wenn sie dafür ein wissenschaftliches oder ein anderes schützenswertes Interesse geltend machen und der Einsichtnahme keine überwiegenden öffentlichen oder privaten Interessen entgegenstehen.233 bb)

Voraussetzungen der Einschränkung der Akteneinsicht

Die Akteneinsicht kann eingeschränkt werden, wenn der begründete Verdacht besteht, dass eine Partei ihr Akteneinsichtsrecht missbraucht,234 oder wenn dies für die Sicherheit von Personen oder zur Wahrung öffentlicher oder privater Geheimhaltungsinteressen erforderlich ist.235

228

Art. 118 Abs. 1 StPO.

229

Art. 107 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 104 Abs. 1 lit. a und b StPO.

230

OGer Zürich, 12. September 2013, UH130226, E. 3.7, ZR 113/2014 39 ff., 43; BSK-StPO-SCHMUTZ, Art. 101 N 11; GRETER, 98 f.; DROESE, Akteneinsicht, 91 f. In diesem Sinne wohl auch BGE 138 IV 78, E. 3, wo der Privatklägerschaft Einsicht in die Haftakten gewährt wurde.

231

SCHMID, Handbuch, N 622.

232

Art. 101 Abs. 2 StPO.

233

Art. 101 Abs. 3 StPO.

234

Art. 108 Abs. 1 lit. a StPO.

235

Art. 108 Abs. 1 lit. b StPO.

55

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

Rechtsmissbrauch wird generell angenommen bei zweckwidriger Verwendung eines Rechtsinstituts zur Verwirklichung von Interessen, die dieses Institut nicht schützen will.236 Als Beispiel wird in der Literatur die konkrete und begründete Befürchtung genannt, es könnten aufgrund der Akteneinsicht Verdunklungshandlungen vorgenommen werden.237 Die Einsichtnahme von Privatklägern, die in der Praxis oft ausgeübt wird, um Beweise für einen Zivilprozess zu beschaffen, stellt hingegen grundsätzlich keine Zweckentfremdung des Akteneinsichtsrechts und damit Rechtsmissbrauch dar. Denn Zweck des Strafrechts ist auch, den im Zusammenhang mit Straftaten bestehenden zivilrechtlichen Ansprüchen der Geschädigten zur Durchsetzung zu verhelfen.238 Ein Rechtsmissbrauch kann aber vorliegen, wenn konkreter Anlass zur Annahme besteht, dass ein Einsichtsberechtigter die Akteneinsicht benutzt, um Informationen aus dem Strafverfahren an Beteiligte in parallelen Straf- oder Zivilverfahren zukommen lassen zu können.239 Die Wahrung der öffentlichen Geheimhaltungsinteressen umfasst insbesondere auch das öffentliche Interesse an einer effizienten Strafverfolgung. Zu den privaten Geheimhaltungsinteressen, die eine Einschränkung des Akteneinsichtsrechts rechtfertigen, zählen etwa das Bank- und Geschäftsgeheimnis.240 Die Strafbehörde hat eine Interessenabwägung vorzunehmen. An die Interessen, die mittels Einschränkung des Akteneinsichtsrechts geschützt werden sollen, werden in der Praxis hohe Anforderungen gestellt.241 Die Geheimnisinteressen müssen schwer wiegen und der Strafbehörde substantiiert dargetan werden.242 Damit der Rechtsschutz bei drohender Verletzung von Geheimhaltungsinteressen Dritter gewährleistet werden kann, hat die Staatsanwaltschaft vor Gewährung der Akteneinsicht die betroffenen Dritten zu benachrichtigen,

236

Siehe z.B. BGE 135 III 162, E. 3.3.1.

237

BSK StPO-VEST/HORBER, Art. 108 N 5 m.w.H.; RIKLIN, Art. 108 StPO N 2.

238

Vgl. Art. 122 Abs. 1, Art. 124 Abs. 1 und 126 Abs. 1 StPO.

239

SCHMID, Handbuch, N 113.

240

SCHMID, Handbuch, N 114 m.w.H.

241

BStGer, 11. Juli 2014, BB.2014.24, E. 2.2.

242

BGer, 16. Januar 2014, 1B_194/2013, E. 4.2.2; BStGer, 17. Januar 2013, BB.2012. 72, E. 2.3.

56

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

sofern sie Grund zur Annahme hat, das geschützte Geheimhaltungsinteressen Dritter tangiert sein könnten.243 cc)

Modalitäten der Einschränkung

Ist die Akteneinsicht einzuschränken, kommt der Strafbehörde in Bezug auf die Modalitäten der Einschränkung grosses Ermessen zu.244 Gebunden ist die Strafbehörde dabei an das Verhältnismässigkeitsprinzip.245 Zur Sicherstellung einer effizienten Strafverfolgung genügt in der Regel, dass die Akteneinsicht (teilweise) aufgeschoben wird.246 Zum Schutz privater Geheimhaltungsinteressen können Unterlagen, die geheimnisgeschützte Informationen enthalten, von der Akteneinsicht ausgenommen werden,247 oder die geschützten Informationen geschwärzt oder anonymisiert werden.248 Auch kann Einsicht in die Akten gewährt werden, mit dem Verbot, Kopien anzufertigen.249 Wird die Akteneinsicht verweigert, darf die Strafbehörde ihren Entscheid nur insoweit auf die von der Einsicht ausgenommenen Akten stützen, als der betroffenen Person von deren wesentlichem Inhalt Kenntnis gegeben wurde.250 Wird die Akteneinsicht ganz oder teilweise gewährt, kann die Strafbehörde dem Einsichtsberechtigten eine Geheimhaltungspflicht mit Strafandrohung nach Art. 292 StGB auferlegen. Weiter in Betracht kommen spezifizierte Geheimhaltungspflichten. Die Strafbehörde kann beispielsweise nur dem Rechtsvertreter Akteneinsicht gewähren, mit dem Verbot, seinem Klienten

243

BGer, 16. Januar 2014, 1B_194/2013, E. 4.2.2.

244

Vgl. BStGer, 17. Januar 2013, BB.2012.72, E. 2.3; BStGer, 25. September 2013, BB.2013.82, E. 3.2.

245

BStGer, 19. November 2014, BB.2014.55, E. 3.2.3.

246

Diese Möglichkeit ist bereits angelegt in der Formulierung von Art. 101 Abs. 1 StPO.

247

BGer, 6. Januar 2014, 1B_364/2013, E. 2.2; vgl. Art. 108 Abs. 3 StPO.

248

BStGer, 19. November 2014, BB.2014.55, E. 3.2.1; BStGer, 13. September 2013, BB.2013.25, E. 3.2.

249

Siehe BStGer, 17. Januar 2013, BB.2012.72, E. 2.3.

250

Art. 108 Abs. 4 StPO.

57

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

Mitteilungen zu machen.251 Die Geheimhaltungspflicht ist jedoch zeitlich zu befristen.252 Unbefristete Geheimhaltungspflichten unter Strafandrohung zum Schutz von Geheimhaltungsinteressen Dritter kennt das Strafprozessrecht nicht. b)

Öffentlichkeit des gerichtlichen Strafverfahrens

Das Strafverfahren ist insoweit öffentlich,253 als die Verhandlungen vor dem erstinstanzlichen Gericht und dem Berufungsgericht sowie die mündliche Eröffnung von Urteilen und Beschlüssen dieser Gerichte der Öffentlichkeit zugänglich sind.254 Damit können Informationen über das Strafverfahren und den dem Strafverfahren zugrunde liegenden Sachverhalt öffentlich bekannt werden. Eine Ausnahme von der Öffentlichkeit des Verfahrens kann vom Gericht gewährt werden, wenn schutzwürdige Interessen einer beteiligten Person dies erfordern.255 Das Gericht soll nach einer Interessenabwägung die Anwesenheitsrechte von Amtes wegen verhältnismässig beschränken.256 Bei den schutzwürdigen Interessen ist vor allem an die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten und Dritter, aber auch an deren Geschäftsgeheimnisse zu denken.257 Wurden beispielsweise Bankunterlagen mit vertraulichen Daten beschlagnahmt, kann dem Eingriff in die Privatsphäre dadurch Rechnung getragen werden, dass das Verfahren nicht öffentlich geführt wird.258

251

Als problematisch angesehen in BGE 133 I 33, E. 2.5.

252

Art. 73 Abs. 2 StPO.

253

Art. 30 Abs. 3 BV; Art. 69 ff. StPO.

254

Art. 69 Abs. 1 StPO.

255

Art. 70 Abs. 1 lit. a StPO.

256

KLEINER/SCHWOB/WINZELER, Art. 47 BankG N 101.

257

BSK StPO-SAXER/THURNHEER, Art. 69 N 25.

258

Vgl. KLEINER/SCHWOB/WINZELER, Art. 47 BankG N 101.

58

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

3.

Zwischenfazit

Die Strafbehörden haben umfassende Möglichkeiten, um den für ihre Untersuchung relevanten Sachverhalt abzuklären. Schranken bilden bloss die strafprozessualen Aussageverweigerungsrechte sowie Beschlagnahmeverbote, die insbesondere einer Beschlagnahme von durch das Anwaltsgeheimnis geschützten Dokumenten entgegenstehen. Strafakten enthalten deshalb regelmässig eine Fülle von Informationen, Dokumenten und Daten. Auf dem Weg der Akteneinsicht werden diese Informationen, Dokumente und Daten den Parteien des Strafverfahrens zugänglich. Auch Geschädigte, die sich im Strafverfahren als Privatkläger konstituiert haben, können grundsätzlich Einsicht in die Strafakten nehmen. Private Geheimhaltungsinteressen, wie das Bank- oder das Geschäftsgeheimnis, können zwar eine Einschränkung des Akteneinsichtsrechts rechtfertigen. In der Praxis werden an die zu schützenden Geheimhaltungsinteressen allerdings hohe Anforderungen gestellt, weshalb auch Informationen, an denen private Geheimhaltungsinteressen bestehen, oft Gegenstand der Akteneinsicht sind. Wird die Akteneinsicht gewährt, sind die Einsichtsberechtigten grundsätzlich frei, wie sie die erhaltenen Informationen, Dokumente und Daten verwenden. Eine Geheimhaltungspflicht kann die Strafbehörde nur zeitlich befristet verfügen. Unbefristete Geheimhaltungspflichten kennt das Strafprozessrecht nicht. Informationen aus den Strafakten finden denn auch oft Eingang in die mediale Berichterstattung, noch bevor eine allfällige gerichtliche Beurteilung des Sachverhalts in einer öffentlichen Verhandlung stattfindet. Für Geschädigte stellt die Akteneinsicht im Strafverfahren ein erfolgsversprechender Weg dar, um an Informationen, Dokumente und Daten zu gelangen. Im Visier haben Geschädigte dabei primär Unterlagen zu internen Vorgängen bei den (beaufsichtigten) Unternehmen, mit denen sich Schadenersatzansprüche gegenüber dem Unternehmen oder Dritten belegen lassen. Zu denken ist etwa an Untersuchungsberichte und unternehmensinterne Dokumente, die sich Private oft nicht direkt beim Unternehmen beschaffen können.

59

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

VI. Informationsansprüche gegenüber Unternehmen Wie ausgeführt, haben Private unter gewissen Voraussetzungen über das Akteneinsichtsrecht im Verwaltungsverfahren (vgl. Kapitel III.2.) und im Strafverfahren (vgl. Kapitel V.2.a) Zugang zu unternehmensinternen Informationen, die sie ohne Einschränkungen verwenden können. Zusätzlich haben Private auch Möglichkeiten, direkt beim Unternehmen Informationen und Dokumente herauszuverlangen. In der Praxis nehmen insbesondere Kunden und Mitarbeitende diese Möglichkeiten wahr: Geschädigte Kunden mit dem Ziel, Informationen und Beweismittel zu sammeln, um Schadenersatzansprüche gegen das Unternehmen oder Dritte zu prüfen bzw. durchzusetzen; Mitarbeitende, um ihre Rechte im Zusammenhang mit arbeitsrechtlichen Massnahmen oder regulatorischen bzw. strafrechtlichen Verfahren ausüben zu können. Im Vordergrund steht dabei das datenschutzrechtliche Auskunftsrecht. Hinzu kommen – abhängig von der vertraglichen Beziehung zwischen dem Unternehmen und der involvierten Privatperson – vertragliche Informationsansprüche. Zu denken ist etwa an die auftragsrechtliche Pflicht zur Rechenschaftsablage oder an Auskunftspflichten gestützt auf die arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht. Zudem bietet das Zivilprozessrecht Beweissicherungs- und Editionsmöglichkeiten. Für eine Darstellung der Auskunfts- und Editionsrechte aus Sicht der Geschädigten sei auf den Beitrag von MATTHIAS MICHLIG und ANDREAS RÜD in diesem Tagungsband verwiesen.

VII. Schlussfolgerung Die Aufarbeitung von Unternehmensskandalen mit regulatorischer, strafrechtlicher und zivilrechtlicher Relevanz bringt mit sich, dass Informationen – insbesondere auch unternehmensinterne Informationen, Dokumente und Daten – zwischen einzelnen Verfahren und involvierten Behörden ausgetauscht werden. Über Akteneinsichtsrechte gelangen diese Informationen an Verfahrensparteien, die sie in der Regel nach Belieben verwenden können. Unternehmensinterne Informationen verbreiten sich auf diesem Weg an Geschädigte und andere Dritte sowie an die Öffentlichkeit.

60

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

Anders als teilweise in der internationalen Rechts- und Amtshilfe erhalten Betroffene in der Praxis oft keine Kenntnis über diesen Informationsfluss bzw. erfahren erst im Nachhinein, dass sie betreffende Informationen Eingang in die Akten von Straf- und Verwaltungsverfahren gefunden haben. Abgesehen vom Anwaltsgeheimnis, das die Kenntnisnahme von Anwaltsdokumenten durch Dritte zu unterbinden vermag, lässt sich die Verbreitung von Informationen, an denen Geheimhaltungsinteressen bestehen, in der Praxis nur punktuell und in engen Banden kontrollieren bzw. verhindern. Unternehmen, die mit Sachverhalten von regulatorischer, strafrechtlicher und zivilrechtlicher Relevanz konfrontiert sind, müssen deshalb davon ausgehen, dass mit der Zeit betreffend der (internen) Informationen zum Sachverhalt zwischen den einzelnen Akteuren und insbesondere im Verhältnis zu den Geschädigten ein „level playing field“ herrschen wird. Sie haben dies und die damit verbundenen Konsequenzen zu antizipieren, damit sie ihre rechtlichen Risiken von Beginn weg adäquat erfassen und strategisch kontrollieren können.

Literaturverzeichnis ALBERTINI MICHELE, Der verfassungsmässige Anspruch auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren des modernen Staates – Eine Untersuchung über Sinn und Gehalt der Garantie unter besonderer Berücksichtigung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, Diss. Bern 2000. BAUMGARTEN MARK-OLIVER/BURCKHARDT PETER/ROESCH ALEXANDER, Gewährsverfahren im Bankenrecht und Verhältnis zum Strafverfahren, AJP/PJA 2006, 169 ff. BENEDICK GILLES, Das Aussagedilemma in parallelen Verfahren, AJP/PJA 2011, 169 ff. BERTSCHINGER URS, Das Finanzmarktaufsichtsrecht Mitte 2013 bis Mitte 2014, SZW 2014, 545 ff. (zit. BERTSCHINGER, SZW 2014).

DERS., Zur Untersuchung von Effektentransaktionen durch die Aufsichtsbehörde – ein Beitrag zum Untersuchungsbeauftragten nach den Finanzmarktaufsichtsgesetzen, in: VOGT/STUPP/DUBS (Hrsg.), Unternehmen – Transaktion – Recht: Liber Amicorum für Rolf Watter zum 50. Geburtstag, Zürich 2008, 21 ff. (zit. BERTSCHINGER, Untersuchungsbeauftragter). DERS., Das Finanzmarktaufsichtsrecht Mitte 2014 bis ins vierte Quartal 2015, SZW 2015, 630 ff. (zit. BERTSCHINGER, SZW 2015).

61

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

BRAIDI GUILLAUME, L’interdiction d’excercer selon l’art. 33 LFINMA: étendue, déliminations et qualification, SZW 2013, 204 ff. BRUNNER STEPHAN C., Kommentar zum Art. 26 und 27 VwVG, in: AUER/MÜLLER/ SCHINDLER (Hrsg.), VwVG – Kommentar zum Bundesgesetz über Verwaltungsverfahren, St. Gallen 2008 (zit. BRUNNER, Art. X N Y). DERS., Öffentlichkeit und Datenschutz im erstinstanzlichen Verwaltungsverfahren: Eine Übersicht, in: HÄNER/WALDMANN (Hrsg.), Das erstinstanzliche Verwaltungsverfahren, Zürich 2008, 137 ff. (zit. BRUNNER, Öffentlichkeit und Datenschutz). BÜHLER SIMON/VON DER CRONE HANS CASPAR, Trennung zwischen dem Zivilverfahren und dem Verfahren der Finanzmarktaufsicht, SZW 2013, 563 ff. BURCKHARDT PETER/RYSER ROLAND M., Die erweiterten Beschlagnahmeverbote zum Schutz des Anwaltsgeheimnisses insbesondere im neuen Strafverfahren, AJP/PJA 2013, 159 ff. DROESE LORENZ, Die Zivilklage nach der schweizerischen Strafprozessordnung, in: FELLMANN/WEBER (Hrsg.), Haftpflichtprozess 2011: Substanziierung, Beweismittel, Beweiserleichterung, Prozess gegen mehrere, unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsschutzversicherung: Beiträge zur Tagung vom 24. Mai 2011, 37 ff. (zit. DROESE, Zivilklage). DERS., Die Akteneinsicht des Geschädigten in der Strafuntersuchung vor dem Hintergrund zivilprozessualer Informationsinteressen, Diss. Luzern, Zürich 2008 (zit. DROESE, Akteneinsicht). EPINEY ASTRID/NÜESCH DANIELA, Allgemeine Grundsätze der Datenbearbeitung, in: PASSADELIS/ROSENTHAL/THÜR (Hrsg.), Datenschutzrecht: Beraten in Privatwirtschaft und öffentlicher Verwaltung, Basel 2015, 88 ff. FRITSCHE CLAUDIA M., Interne Untersuchungen in der Schweiz: ein Handbuch für regulierte Finanzinstitute und andere Unternehmen, Zürich 2013. GRETER JEAN-PIERRE, Die Akteneinsicht im schweizerischen Strafverfahren, Diss. Zürich 2012. IFFLAND JAQUES, Les procédures d’enforcement de la FINMA, ou de la difficulté de cordonner les procédures coercitives administratives et les procédures pénales sous l’empire du nouveau CPP et de la LFINMA, in: THÉVENOZ/BOVET (Hrsg.), Journée 2010 de droit bancaire et financier, Genf 2011, 121 ff. ISENRING BERNHARD/KESSLER MARTIN A., Strafprozessuale „Bank-Editionen“: Die Rechtlosigkeit des Kontoinhabers und der beschuldigten Person, AJP/PJA 2012, 322 ff. KIENER REGINA/RÜTSCHE BERNHARD/KUHN MATHIAS, Öffentliches Verfahrensrecht, Zürich 2012. KLEINER BEAT/SCHWOB RENATE/WINZELER CHRISTOPH, Kommentar zum Art. 47 BankG, in: ZOBL/SCHWOB/GEIGER/WINZELER/KAUFMANN/WEBER/KRAMER (Hrsg.), Kommentar zum Bundesgesetz über die Banken und Sparkassen vom

62

Informationen – Vermittlung, Verwertung und Verbreitung bei komplexen Verfahren

8. November 1934 sowie zu der Verordnung vom 17. Mai 1972 (V) und der Vollziehungsverordnung vom 30. August 1961 (VV): mit Hinweisen auf das Bankenrecht der Europäischen Union, auf das allgemeine Dienstleistungsabkommen (GATS) und mit Erläuterungen zu den Massnahmen gegen die Geldwäscherei, Zürich 2014. KÖLZ ALFRED/HÄNER ISABELLE/BERTSCHI MARTIN, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 3. Aufl., Zürich 2013. LÄNZLINGER ANDREAS D., Rechtliche Rahmenbedingungen und praktische Erfahrungen im Zusammenhang mit Mitarbeiterbefragungen, in: ROMERIO/BAZZANI (Hrsg.), Interne und regulatorische Untersuchungen, Zürich 2015, 107 ff. LOMBARDINI CARLO, La protection de l’investisseur sur le marché financier, Diss. Lausanne, Genf 2012. MACALUSO ALAIN, Vers un véritable droit pénal suisse des affaires: La nécessité d’une ap-proche centrée sur l’entreprise, SZW 2008, 248 ff. MONSCH MARTIN/VON DER CRONE HANS CASPAR: Verfassungsrechtliche Erwägungen zu Informationsverboten der Finanzmarktaufsicht, SZW 2015, 651 ff. MÜLLER THOMAS/GÄUMANN STEFAN, Siegelung nach Schweizerischer StPO, Anwaltsrevue 6-7/2012, 291 f. NATER HANS/ZINDEL GAUDENZ G., in: FELLMANN/ZINDEL (Hrsg.), Kommentar zum Anwaltsgesetz: Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (Anwaltsgesetz, BGFA), 2. Aufl., Zürich 2011. NIGGLI MARCEL ALEXANDER/HEER MARIANNE/WIPRÄCHTIGER HANS, Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung und Jugendstrafprozessordnung, 2. Aufl. Basel 2010 (zit. BSK StPO-BEARBEITER). NOBEL PETER, FINMAG – Ende der Magie?, SJZ 105/2009, Heft 11, 253 ff. (zit. NOBEL, FINMAG). DERS., Auskunftsrechte und „technisches Ermessen“ der Eidgenössischen Bankenkommission (EBK), in: recht 1985, 53 ff. (zit. NOBEL, Auskunftsrechte). OESCHGER MAGNUS/WALDMANN BERNHARD, Kommentar zum Art. 27 VwVG, in: WALDMANN/WEISSENBERGER (Hrsg.), Praxiskommentar Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVG), 2. Aufl., Zürich 2016. PIETH MARK, Die strafrechtliche Verantwortung des Unternehmens, ZStrR 121/2003, 353 ff. RIKLIN FRANZ, StPO Kommentar: Schweizerische Strafprozessordnung mit JStPO, StBOG und weiteren Erlassen, 2. Aufl., Zürich 2014. ROMERIO FLAVIO/BAZZANI CLAUDIO/GROTH STEPHAN, Interne und regulatorische Untersuchungen – Einführung und Auslegeordnung, in: ROMERIO /BAZZANI (Hrsg.), Interne und regulatorische Untersuchungen, Zürich 2015, 7 ff. ROTH SIMON, Die Geltung von nemo tenetur im Verwaltungsverfahren, Jusletter, 17. Februar 2014 (zit. ROTH, Jusletter 17. Februar 2014).

63

Flavio Romerio/Claudio Bazzani/Daphne Frei

DERS., Das Verhältnis zwischen verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflichten und dem Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“, ZStrR 129/2011, 296 ff. (zit. ROTH, ZStrR 129/2011). SCHMID NIKLAUS, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl., Zürich 2013 (zit. SCHMID, Handbuch). DERS., Strafverfahren und sein Verhältnis zu Administrativuntersuchung und Disziplinarverfahren, in: EHRENZELLER/SCHWEIZER (Hrsg.), Administrativuntersuchung in der öffentlichen Verwaltung und in privaten Grossunternehmen, St. Gallen 2004, 43 ff. (zit. SCHMID, Verhältnis). SEILER HANSJÖRG, Das (Miss-)Verhältnis zwischen strafprozessualem Schweigerecht und verwaltungsrechtlicher Mitwirkungs- und Auskunftspflicht, recht 2005, 11 ff. SIDLER RAOUL, Die Einziehung nach Art. 35 FINMAG, Zürich 2009. STRASSER OTHMAR, Zur Rechtsstellung des vom Whistleblower beschuldigten Arbeitnehmers, in: KÄNEL (Hrsg.), Whistleblowing – Multidisziplinäre Aspekte, SRP – Schriften zur Rechtspsychologie Band/Nr. 12, Bern 2014, 72 ff. (zit. STRASSER, Whistleblower). DERS., Zur Rolle der Banken bei der Rechtsdurchsetzung, SJZ 107/2011, 21 ff. (zit. STRASSER, Rechtsdurchsetzung). TERLINDEN ANDRÉ, Der Untersuchungsbeauftragte der FINMA als Instrument des Finanzmarktenforcements, Diss. St. Gallen, Zürich 2010. WATTER ROLF/KÄGI URS, Öffentliche Information über Verfahren und Entscheide in der Finanzmarktaufsicht – zwischen Transparenz und Pranger, AJP/PJA 2005, 39 ff. WATTER ROLF/VOGT NEDIM PETER, Basler Kommentar, Börsengesetz und Finanzmarktaufsichtsgesetz, 2. Aufl., Basel 2011 (zit. BSK BEHG/FINMAG-AUTOR, Art. X N Y). WEBER MARTIN KARL, Informationsmissbrauch im Finanzmarkt: eine Untersuchung des börsenrechtlichen Systems zur Ahndung und Abwehr von Informationsmissbrauch im schweizerischen Finanzmarkt, Diss. Luzern, Zürich 2013. WOHLERS WOLFGANG, Reformbedarf bei der Börsenaufsicht, in: WOHLERS (Hrsg.), Neuere Entwicklungen im schweizerischen und internationalen Wirtschaftsstrafrecht, Zürich 2007, 41 ff. ZANGA BRUNO, Strafbestimmungen der Bankenaufsicht, Diss. Zürich 1992. ZULAUF URS, Kooperation oder Obstruktion?, GesKR 2015, 336 ff. (zit. ZULAUF, Kooperation). ZULAUF URS/WYSS DAVID/TANNER KATHRIN/KÄHR MICHEL/FRITSCHE CLAUDIA M./EYMAN PATRIC/AMMANN FRITZ, Finanzmarktenforcement: Verfahren zur Durchsetzung des Schweizer Finanzmarktrechts, 2. Aufl., Bern 2014 (zit. ZULAUF et al.).

64