HAUPTSTADT DES HOLOCAUST. Orte nationalsozialistischer Rassenpolitik in Berlin

HAUPTSTADT DES HOLOCAUST Orte nationalsozialistischer Rassenpolitik in Berlin IMPRESSUM ISBN 978-3-9813154-0-0 Stadtagentur David Koser, Berlin Inha...
Author: Leonard Kruse
1 downloads 0 Views 1MB Size
HAUPTSTADT DES HOLOCAUST Orte nationalsozialistischer Rassenpolitik in Berlin

IMPRESSUM ISBN 978-3-9813154-0-0 Stadtagentur David Koser, Berlin Inhalt: David Koser und Roman Schmidt Druck: Druckerei Fruhauf, Bamberg 1. Auflage, 2009 www.stadtagentur.de

Vorwort   4 Rassenpolitik im Nationalsozialismus   5

Judenverfolgung

11



Die Verfolgung von Zigeunern und Farbigen

31



Zwangssterilisation und Krankenmord

45



Die Utopie von der Herrenrasse

61



Krieg und „Germanisierung“

77



Zwangsarbeit

97

Ereignisorte        117 Anhang        224

Verzeichnis der dargestellten Institutionen

       225

Literatur zum Thema (Auswahl)

       229

Bildnachweis

       231

... Seiten fehlen ...

JUDENVERFOLGUNG Die Juden in Deutschland konnten auf eine lange Geschichte zurückblicken, die bis in die Antike zurückreichte. Immer wieder waren sie Diskriminierungen und Verfolgungen ausgesetzt. Erst im 19. Jahrhundert erlangten sie die weitgehende rechtliche Gleichstellung. Viele konnten sich als Händler, Rechtsanwälte oder Ärzte etablieren. Andere prägten als Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler das deutsche Kultur- und Geistesleben. Zum Zentrum des deutschen Judentums entwickelte sich Berlin, wo um 1900 etwa ein Drittel aller deutschen Juden lebte. Die Jüdische Gemeinde zu Berlin ( Ort 7), in der liberale Auffassungen dominierten, besaß auch international eine herausgehobene Bedeutung. Die Funktion eines Sprachrohrs der assimilierten Juden übernahm der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens ( Ort 8), der die Treue zu Kaiser und Vaterland betonte. Ihm gegenüber stand die Zionistische Vereinigung für Deutschland ( Ort 9), die eine „Rückkehr“ der Juden nach Palästina forderte. Der wirtschaftliche Erfolg vieler Juden im 19. Jahrhundert ging mit einem neuen Antisemitismus einher, der nicht mehr – wie im Mittelalter – religiös motiviert war, sondern nationalistisch und rassistisch. Seine Propagandisten schoben „dem Juden“ die Verantwortung für Revolutionen, Wirtschaftskrisen und andere Umbrüche der modernen Welt zu. Sie unterstellten den Juden, insgeheim nach der Weltherrschaft zu streben, und sprachen ihnen jedes tiefere religiöse und kulturelle Empfinden ab. Anders als „wahre Deutsche“ liefen Juden, so behauptete man, nur den „Götzen des Geldes“ nach. Manche Rassentheoretiker

11

SA-Männer postieren sich vor jüdischen Geschäften in Berlin, 1. April 1933

sahen in den Juden auch eine eigene, minderwertige „Rasse“. Sie entwarfen Verschwörungstheorien, wonach sich diese „jüdische Rasse“ gezielt mit anderen Rassen vermische, um sie zu unterwandern und zu vernichten. Im ausgehenden 19. Jahrhundert gelang es antisemitischen Gruppierungen vereinzelt, Sitze im Reichstag zu erringen. Nach dem Ersten Weltkrieg nutzten die Nationalsozialisten die Vorurteile gegen Juden, um damit Politik zu machen. Dabei diffamierten sie sowohl ihre kommunistischen und sozialistischen Gegner als auch republiktreue Demokraten und Vertreter des Großkapitals als „Juden“. In ihrem Parteiprogramm forderten sie den sozialen Ausschluss der Juden, denen sie die Staatsbürgerschaft aberkennen wollten (Motto: „Kein Jude kann Volksgenosse sein“). Zur größten Bedrohung erklärten sie den „Bolschewismus“: die angebliche Herrschaft der Juden über die slawischen Massen in der Sowjetunion.

12

Ausschluss der Minderheit Nach der Machtübernahme im Januar 1933 gingen die Nationalsozialisten zunächst gegen ihre politischen Gegner vor. Dabei war das Verhaftungsrisiko von Juden höher als das anderer Regimegegner. In Haft- und Folterlagern wie dem Berliner Columbia-Haus ( Ort 6) waren sie in besonderem Maß den Misshandlungen des Wachpersonals ausgesetzt. Nach den Reichstagswahlen im März 1933 weiteten die Nationalsozialisten ihren Terror auf die gesamte jüdische Bevölkerung aus. Sie verprügelten „jüdisch aussehende“ Passanten, drangen in Wohnungen von Juden ein, führten Kampagnen gegen jüdische Geschäfte durch und vertrieben jüdische Richter und Anwälte aus Gerichtsgebäuden. In Berlin führten sie Straßenrazzien gegen jüdische Einwanderer aus Osteuropa durch. Im Auftrag der Parteiführung organisierte der fanatische Antisemit und Gauleiter von Franken, Julius Streicher, zum 1. April 1933 einen reichsweiten „Boykott“ jüdischer Geschäfte, Ärzte und Anwälte. Dabei postierten sich Angehörige von Parteiorganisationen in den Einkaufs-

13

straßen der Städte und versuchten, Kunden von einem Betreten der Geschäftsräume abzuhalten. Ihr Vorgehen begründeten sie mit der kritischen Berichterstattung ausländischer Medien über die Judenverfolgung in Deutschland. Kurz darauf leitete Innenminister Wilhelm Frick ( Ort 1: Innenministerium) mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ die Verdrängung der Juden aus dem Staatsdienst ein. Im § 3 dieses Gesetzes, dem sogenannten „Arierparagraphen“, verfügte er die Entlassung „nichtarischer“ Beamter. Damit wurde der Rassismus erstmals zur Grundlage eines deutschen Gesetzes. Innerhalb kurzer Zeit setzten die Nationalsozialisten in allen gesellschaftlichen Bereichen den Ausschluss der Juden durch. Justizminister Franz Gürtner ( Ort 45: Justizministerium) ordnete an, dass Anwälten „nichtarischer Abstammung“ die Zulassung entzogen werden konnte. Landwirtschaftsminister Richard Walther Darré ( Ort 60: Landwirtschaftsministerium) schloss Juden von der Eintragung geschützter „Erbhöfe“ und der Führung der Berufsbezeichnung „Bauer“ aus. Die Reichswehr entließ alle jüdischen Offiziere und Soldaten. Städte und Gemeinden behinderten Juden bei der Ausübung ihrer Berufe und verwehrten ihnen die Nutzung kommunaler Einrichtungen. Hierbei tat sich besonders die Berliner Stadtverwaltung ( Ort 10) hervor. Immer häufiger zwangen lokale Behörden und Parteistellen jüdische Geschäftsleute zu einem Verkauf ihrer Unternehmen an Nichtjuden (sogenannte „Arisierung“). Besondere Bedeutung maßen die Nationalsozialisten der „Entjudung“ des Kultur- und Geisteslebens bei. Dabei zielten sie sowohl auf jüdische Künstler und Intellektuelle als auch auf deren Werke. Propagandaminister Joseph Goebbels ( Ort 11: Propagandaministerium) machte Juden eine journalistische Berufsausübung unmöglich. Durch den Ausschluss aus der Reichskulturkammer ( Ort 68) verbot er ihnen schließlich jede kulturelle Betätigung. Gleichzeitig verbannten die Nationalsozialisten die Werke jüdischer Autoren aus den Bibliotheken. Sie begrenzten die Zahl jüdischer Studenten an den Universitäten und entließen jüdische Lehrer, Dozenten und Professoren. An der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität ( Ort 67), der größten Hochschule des Reiches, setzten sie etwa ein Viertel des Lehrkörpers vor die Tür. Betroffen von den rassistischen Säuberungen war auch die renommierte Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ( Ort 12), die sich von vielen ihrer Wissenschaftler trennen musste.

14

... Seiten fehlen ...

ZWANGSSTERILISATION UND KRANKENMORD Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertraten viele Mediziner die Ansicht, dass die Entwicklung des Menschen vor allem von seinen Erbanlagen und nur zu einem geringen Teil von Umweltfaktoren geprägt sei. Obwohl nur wenig über die Wege der Vererbung bekannt war, glaubten sie, angeborene Krankheiten und Defekte durch die Ausschaltung „schlechten Erbguts“ bekämpfen zu können. Sie propagierten die gezielte Fortpflanzung geistig und körperlich hochstehender Menschen, um die Zahl vermeintlich „wertvoller“ Individuen von Generation zu Generation zu erhöhen. Am Ende dieser Entwicklung erhoffte man sich eine reine, von Erbkrankheiten und sozialen Problemen befreite Gesellschaft: Eine medizinische Utopie, für die der britische Naturforscher und Schriftsteller Francis Galton (1822–1911) den Begriff „Eugenik“ („Wissenschaft vom guten Erbe“) prägte. Durch die Annahme, dass sich „Erbkranke“ stärker als „Erbgesunde“ vermehrten, befürchteten manche Eugeniker eine „Gegenauslese“, die zu einer schleichenden Degeneration des Volkes führen müsse. Um dies zu verhindern, wollten sie Teile der Bevölkerung von der Fortpflanzung ausschließen. Dies sollte durch die Einführung von Gesundheitszeugnissen und Ehegenehmigungen, aber auch die Sterilisation erfolgen. Zu den Fürsprechern einer solchen „negativen Eugenik“ (in Deutschland auch als „Rassenhygiene“ bezeichnet) gehörte der Mediziner Alfred Ploetz, der 1905 die „Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene“ gründete. Noch weiter als die meisten „Rassenhygieniker“ gingen einige Mediziner, die für die „Euthanasie“ plädierten: die Tötung unheilbar

45

Kranker. Hierdurch meinten sie, die Gemeinschaft von Pflegekosten entlasten zu können. Was zunächst nur eine Minderheit gefordert hatte, fand nach dem Ersten Weltkrieg größeren Widerhall. 1923 entstand in München der erste Lehrstuhl für „Rassenhygiene“ an einer deutschen Universität. 1927 eröffnete die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ( Ort 12) in Berlin ein Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik ( Ort 43). Gleichzeitig erwogen staatliche Stellen, die Sterilisation von Kranken gesetzlich zu regeln. Vorbilder hierfür waren Gesetze in den USA und in Skandinavien, die Eheverbote oder die Sterilisation für Geisteskranke vorsahen. Seit 1932 beriet der auch Preußische Landesgesundheitsrat einen Gesetzentwurf, der Geisteskranken, Epileptikern und sonstigen „Erbkranken“ die freiwillige – nur mit ihrem Einverständnis vorzunehmende – Sterilisation nahelegen sollte. „Erbkranke“ werden sterilisiert Nach der Machtübernahme ergriffen die Nationalsozialisten rasch die Gelegenheit, um weitgehende „rassenhygienische“ Maßnahmen durchzusetzen. Federführend dabei war das Innenministerium ( Ort 1), das sich von einem „Sachverständigenbeirat für Rassen- und Bevölkerungspolitik“ beraten ließ. Dem Gremium gehörten bekannte „Rassenhygieniker“ und führende Ideologen der NSDAP ( Ort 3: Verbindungsbüro) an. Bereits in der konstituierenden Sitzung beauftragte Innenminister Frick den Beirat, ein Gesetz zur Unfruchtbarmachung von „Erbkranken“ auszuarbeiten. Als Grundlage hierfür diente der Gesetzentwurf des Preußischen Landesgesundheitsrates, der um das Instrument des Zwangs verschärft wurde. Noch im Juli 1933 beschloss die Reichsregierung ein als „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ („Erbgesundheitsgesetz“) bezeichnetes Sterilisationsgesetz. Fortan konnte der Staat jeden unfruchtbar machen, dessen Nachkommen „mit großer Wahrscheinlichkeit“ an schweren „Erbschäden“ leiden würden. Als „erbkrank“ im Sinne des Gesetzes galt, wer an angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie und manisch-depressivem Irresein litt. Hinzu kamen – soweit erblich bedingt – Epilepsie, Huntington, Blindund Taubheit sowie körperliche Missbildung. Daneben konnte auch schwerer Alkoholismus eine Sterilisation begründen. Das „Erbgesundheitsgesetz“ verpflichtete Ärzte und Angehörige von Heilberufen, mut-

46

... Seiten fehlen ...

REICHSZENTRALE FÜR JÜDISCHE AUSWANDERUNG

Adolf Eichmann

Berlin-Schöneberg, Kurfürstenstraße 115–116 Das Haus des „Jüdischen Brüdervereins“ wurde in den 1960er Jahren abgebrochen und durch ein Hotel ersetzt.

ürst

enst

raße

ran

ia

Ku r f

An

de

Plan Innenstadt, A3

rU

Im Februar 1939 richtete der Chef der Sicherheitspolizei, Heydrich ( Ort 23: SD-Hauptamt), die Reichszentrale für jüdische Auswanderung ein. Ihren Sitz erhielt sie im Haus des Jüdischen Brüdervereins in Schöneberg, das beschlagnahmt wurde. Die Reichszentrale unterstand formal dem Innenministerium ( Ort 1). Ihre Aufgabe war es, die Auswanderung der deutschen Juden zu koordinieren und zu beschleunigen. Zugleich sollte sie die Auswandernden enteignen. Unter einem Dach vereinte sie alle Behörden, die für das Auswanderungs- und Enteignungsverfahren erforderlich waren. Als Ausführungsorgan bediente sie sich der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland ( Ort 14). Im Februar 1940 ging die Reichszentrale im Referat IV D 4 („Auswanderung und Räumung“) des Reichssicherheitshauptamtes ( Ort 5) auf. Das Referat, das seinen Sitz im gleichen Gebäude hatte, leitete der „Juden-Spezialist“ Adolf Eichmann. Es überwachte die verbliebenen Juden im Reich und versuchte, sie gewaltsam außer Landes zu bringen. Für das Amt des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums ( Ort 75) schob es zudem unerwünschte Bevölkerungsgruppen aus annektierten Gebieten ab. In der Folgezeit entwickelte sich Eichmanns Dienststelle (seit März 1941: Referat IV B 4 des Reichssicherheitshauptamtes) zu einer zentralen Schaltstelle der „Endlösung“. Aus ganz Europa deportierten Eichmann und seine Mitarbeiter Juden und Zigeuner in die Vernichtungslager. Sie organisierten die Transporte, stimmten sie mit der Reichsbahn ( Ort 26: Generaldirektion) ab und versuchten, das Schicksal der Deportierten zu verschleiern. Dabei setzten sie die örtlichen Staatspolizeistellen ( Ort 19) und jüdische Organisationen für ihre Zwecke ein. Außerhalb der Reichsgrenzen kooperierten sie mit dem Auswärtigen Amt ( Ort 25).

143

24

... Seiten fehlen ...

35 BLINDENWERKSTATT OTTO WEIDT Anfang der 1940er Jahre gründete der Kleinfabrikant Otto Weidt eine Firma zur Herstellung von Besen und Bürsten. Der Betrieb befand sich in einem Hinterhof an der Rosenthaler Straße. Aufgrund von Wehrmachtsaufträgen galt er als wehrwichtige Einrichtung. Weidt, der selbst stark sehbehindert war, beschäftigte überwiegend blinde und taubstumme Menschen. Von den etwa 30 Beschäftigten waren die meisten Juden. Ihre Zuweisung erfolgte durch die Dienststelle für Juden des Berliner Arbeitsamtes ( Ort 22). In vielfältiger Weise versuchte Weidt, seinen jüdischen Mitarbeitern zu helfen. Er besorgte ihnen zusätzliche Lebensmittel und gefälschte Papiere. Entgegen den Vorschriften beschäftigte er sehfähige Juden als Bürokräfte. Durch Bestechung von Beamten des Judenreferates der Berliner Gestapo ( Ort 28) konnte er wiederholt Mitarbeiter von der Deportation zurückstellen lassen. Zuletzt gelang es ihm, seine gesamte, bereits verhaftete jüdische Belegschaft aus dem Sammellager Große Hamburger Straße ( Ort 32) freizubekommen. Während der „Fabrik-Aktion“ im Februar und März 1943 sah sich Weidt nicht mehr in der Lage, den Abtransport seiner jüdischen Mitarbeiter zu verhindern. Für mehrere von ihnen hatte er jedoch zuvor Verstecke besorgt. Die vierköpfige Familie Horn brachte er in einer fensterlosen Kammer hinter seinen Betriebsräumen unter. Seine Freundin Alice Licht und deren Eltern versteckte er in einem Lagerraum an der damaligen Neanderstraße. Nachdem die Untergetauchten einem „Greifer“ des jüdischen Fahndungsdienstes ( Ort 32) ins Netz gegangen waren, versuchte Weidt erfolglos, sie aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz herauszuholen. Licht konnte er später zur Flucht verhelfen.

154

Otto Weidt

Berlin-Mitte, Rosenthaler Straße 39 Das Gebäude an der Rosenthaler Straße blieb weitgehend in seinem originalen Zustand erhalten.

Hackescher Markt

Plan Innenstadt, D1 In den früheren Betriebsräumen befindet sich heute das „Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt“ (www.blindes-vertrauen.de).

... Seiten fehlen ...

ERBGESUNDHEITSGERICHT BERLIN

Berlin-Charlottenburg, Tegeler Weg 17–20 Das Justizgebäude am Tegeler Weg wird heute vom Berliner Landgericht genutzt. Jungfernheide

Spree

Tegeler We g

Plan Gesamtstadt, B2

Auf Grundlage des „Erbgesundheitsgesetzes“ vom Juli 1933 richtete das Justizministerium ( Ort 45) in über 200 deutschen Städten Erbgesundheitsgerichte ein. Ihre Funktion sollte es sein, über die Sterilisation von sogenannten „Erbkranken“ zu entscheiden. Das Berliner Erbgesundheitsgericht nahm im März 1934 seine Tätigkeit auf. Es war dem Amtsgericht Charlottenburg zugeordnet und verfügte über vier Kammern. Als höhere Instanz fungierte ein Erbgesundheitsobergericht beim Berliner Kammergericht. Die Einleitung der Verfahren erfolgte auf Antrag der Amtsärzte ( Ort 57: Berliner Gesundheitsamt) sowie der Leiter der Heil-, Pflege- und Strafanstalten ( Ort 52: Buch,  Ort 53: Wittenau,  Ort 46: Rummelsburg). Das Gericht bestand aus einem Amtsrichter und zwei Ärzten, die als beisitzende Richter fungierten. Unter den Beisitzern waren viele bekannte Wissenschaftler. Dazu gehörten Professoren der FriedrichWilhelms-Universität ( Ort 67) und Mitarbeiter des KaiserWilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik ( Ort 43). In der Regel verhandelten die Richter mehrere Fälle pro Sitzung. Bei ihren Entscheidungen stützten sie sich vor allem auf ärztliche Beurteilungen. Da die Möglichkeiten von Anwälten beschränkt waren und eine Beweislastumkehr bestand, hatten die Beklagten nur geringe Chancen, ihre Unfruchtbarmachung abzuwenden. Parteimitglieder konnten seit 1937 versuchen, über die Gauleitung der NSDAP ( Ort 18) auf das Verfahren einzuwirken. Nach Kriegsbeginn beschränkten die Erbgesundheitsgerichte ihre Tätigkeit auf „dringende Fälle“. Beim Berliner Erbgesundheitsgericht gingen bis 1945 mehr als 20.000 Sterilisationsanträge ein, von denen die meisten zu einer Unfruchtbarmachung führten.

163

44

... Seiten fehlen ...

67 FRIEDRICH-WILHELMS-UNIVERSITÄT Die Friedrich-Wilhelms-Universität war die größte Hochschule des Reiches. Zu Beginn der 1930er Jahre studierten dort etwa 8000 Studenten, von denen viele mit dem Nationalsozialismus sympathisierten. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme entließ das Bildungsministerium ( Ort 66) rund 250 Professoren und Dozenten der Hochschule. Das war fast ein Viertel des Lehrkörpers. Schrittweise schloss man Juden vom Studium aus. Seit 1938 durften sich nur noch sogenannte „Arier“ immatrikulieren. Der Forschungs- und Lehrbetrieb an der Universität diente jetzt oftmals nur noch dem Beweis eines feststehenden Weltbildes. An den neu eingerichteten Instituten für „Rassenhygiene“ und „Rassenkunde“ lehrten Fritz Lenz und Hans F. K. Günther, prominente Vertreter des wissenschaftlichen Rassismus und „Sachverständige für Rassen- und Bevölkerungspolitik“ beim Innenministerium ( Ort 1). Als Lehrkräfte wirkten dort auch Hans Reiter, Präsident des Reichsgesundheitsamtes ( Ort 58) und Walter Groß, Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP ( Ort 65). Zeitweise führte ein maßgeblicher Wegbereiter der „Rassenhygiene“ in Deutschland die Hochschule: Eugen Fischer, Direktor des Kaiser-WilhelmInstituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik ( Ort 43). Andere Einrichtungen der Hochschule unterstützten die aggressive Außenpolitik des Regimes. Das Institut für Wehrlehre erarbeitete Gutachten für das Oberkommando der Wehrmacht ( Ort 73). Der Agrarwissenschaftler Konrad Meyer, zugleich Leiter des Planungsamtes der SS ( Ort 76), erstellte einen „Generalplan Ost“ zur „Germanisierung“ eroberter Gebiete.

186

Berlin-Mitte, Unter den Linden 6 Die Berliner Universität wurde 1946 auf Befehl der sowjetischen Militärverwaltung als „HumboldtUniversität“ neu gegründet.

Unter den Lin

Plan Innenstadt, C2

den

... Seiten fehlen ...