Grundinformation Theologische Ethik

Grundinformation Theologische Ethik Bearbeitet von Wolfgang Lienemann 1. Auflage 2008. Taschenbuch. 319 S. Paperback ISBN 978 3 8252 3138 5 Format (...
Author: Erich Kranz
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Grundinformation Theologische Ethik

Bearbeitet von Wolfgang Lienemann

1. Auflage 2008. Taschenbuch. 319 S. Paperback ISBN 978 3 8252 3138 5 Format (B x L): 15 x 21,5 cm Gewicht: 425 g

Weitere Fachgebiete > Religion > Systematische Theologie > Ethik, Moraltheologie, Sozialethik Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei

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Für Christine Lienemann-Perrin

Wolfgang Lienemann

Grundinformation Theologische Ethik

Vandenhoeck & Ruprecht

Wolfgang Lienemann, geb. 1944, Dr. theol., ist Professor für Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Ökumenische Friedensethik, Rechtsethik, religiöse Konversionen, Karl Barth, Immanuel Kant. Letzte Buchveröffentlichungen: (mit W. Dietrich, Hg.), Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen , Stuttgart 2004; (mit H.-R. Reuter, Hg.), Das Recht der Religionsgemeinschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa , Baden-Baden 2005; (mit F. Mathwig, Hg.), Schweizer Ethiker im 20. Jahrhundert , Zürich 2005; (mit S.M. Zwahlen, Hg.), Kollektive Gewalt , Bern 2005; (mit C. Lienemann-Perrin, Hg.), Kirche und Öffentlichkeit in Transformationsgesellschaften , Stuttgart 2006.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8252-3138-5 (UTB) ISBN 978-3-525-03253-4 (Vandenhoeck & Ruprecht)

’ 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. – Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: h Hubert & Co, Göttingen Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm ISBN 978-3-8252-3138-5 (UTB-Bestellnummer)

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I Grundlagen Freiheit – Glaube – Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einleitung – Anfangsfragen der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Was ist Ethik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Begriff und Aufgabe der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Anfänge der Ethik in der europäischen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Allgemeine Bezugsprobleme der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Gegenstandsbereiche der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Typen der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Sein und Sollen: Deskriptive und normative Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Was ist theologische Ethik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Theologische Ethik im Kontext von Kirchen und Ökumene . . . . . . . . . . . 2.2 Voraussetzung theologischer Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Bilder Gottes und theologische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Systematische Theologie als Funktion der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Das Verhältnis von Ethik und Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Menschliche Freiheit in Glauben und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Umstrittene Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Determinismus und Indeterminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Freiheit als Indifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Freiheit als Selbstbindung und Selbstgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Von der Freiheit eines Christenmenschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4.1 Zum Verständnis der christlichen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Exkurs: Christliche versus politische Freiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4.2 Zu Johannes Calvins Freiheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4.3 „Schöpferische Nachfolge“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.4 Menschliche Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

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Inhalt

Teil II Gegensätze Kontroversen und Konvergenzen ethischer Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 1. Konzeptionen philosophischer Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 1.1 Platon und Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1.2 Kants Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1.3 Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1.4 Libertarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1.5 Kontraktualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1.6 Diskursethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1.7 Tugendethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1.8 Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2. Antike und moderne Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2.1 Nähe und Ferne: Gemeinsame Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2.2 Kritik des Konsequenzialismus: ein Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 2.3 Gegensätze im Freiheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2.4 Moral und Ethos zwischen Autonomie und Institutionalität . . . . . . . . . . 158 3. Philosophische contra theologische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3.1 Ethik ohne Metaphysik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3.2 Distanzen zwischen philosophischer und theologischer Ethik . . . . . . . . . 163 3.3 Moral ohne Religion? Religion als Ursprung der Moral? . . . . . . . . . . . . . . 165 3.4 Gottes Gebote als Kern eines Ethos? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3.5 Gottes Gebote aus dem Geist des Erbarmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 3.6 Einübung ins Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 4. Autorität der Bibel und Autoritätskritik der Vernunft in der Ethik . . . . . . . . 177 4.1 Aktuelle Fragen im Umgang mit der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4.2 Zankapfel Bibel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 4.3 Die Bibel als Entdeckungs-, Begründungs- und Erläuterungszusammenhang sittlicher Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 4.4 Die Bibel im Dialog gegensätzlicher Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 4.5 Biblisches Ethos und Erfahrungswissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

Inhalt

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5. Evangelium und Gesetz. Die „Zehn Gebote“ zwischen Philosophie und Theologie oder: Kritik des Moralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 5.1 Ursprünge und Anlässe der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 5.2 Der reformatorische Sinn der Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 5.3 Die Umkehr der Zuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Teil III Vermittlungen Kommunikation ethischer Fragen in der pluralistischen Gesellschaft . . . . . . . . . 204 1. Religionsgemeinschaften im Diskurs über ethische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . 204 1.1 Neue Entwicklungen im Verhältnis von Staaten, Kirchen und Religionsgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 1.2 Religionsverfassungsrecht als Rahmen des öffentlichen Wirkens der Religionsgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 1.3 Religionsverfassungsrecht der Schweiz in vergleichender Sicht . . . . . . . . . 220 2. Kirche und Ethos in evangelischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 2.1 Das Verständnis der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 2.2 Ekklesiologische Grundbestimmungen und Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 2.3 Die Ausrichtung des Ethos der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 3. Kirche und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 3.1 Die Gemeinde für die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 3.2 Das öffentliche Zeugnis der Kirche in ethischen Fragen . . . . . . . . . . . . . . . 248 3.3 Ethos und Bekenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 4. Kirche und Ethos in römisch-katholischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 4.1 Zur römisch-katholischen Moraltheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 4.2 Zur römisch-katholischen Soziallehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 5. Werte und Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 5.1 Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 5.2 Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 5.3 Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 5.4 Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 5.5 Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 5.6 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

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Inhalt

6. Religion, Moral und Recht in der pluralistischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . 302 6.1 Schwierigkeiten der Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 6.2 Die Künstlichkeit der Unterscheidungen von Religion, Moral, Recht . . . 309 6.3 Die Notwendigkeit der Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Vorwort

Dieses Buch ist aus meinen Versuchen entstanden, in das Studium der theologischen Ethik einzuführen. Es ist keine Einführung im Sinne von Basisinformationen, die im akademischen Unterricht in Form von standardisierten Curricula zu vermitteln sind. Vielmehr geht es darum, strittige Voraussetzungen der theologischen und philosophischen Ethik so zu erörtern, dass den Leserinnen und Lesern Fragestellungen, Probleme und Perspektiven für ihre eigene, kritische Urteilsbildung in Fragen der Ethik vermittelt werden. Eine voraussetzungsfreie Ethik ist nicht möglich. Problemorientierte Ethik ist keine problemlösungsorientierte Ethik. Problemlösung, oder jedenfalls Beratung bei der Problemlösung, ist eine wichtige Aufgabe der Ethik, vor allem der sogenannten Bereichsethiken (applied ethics ). Doch bevor man sich diesen zuwenden kann, gibt es Vorfragen oder Probleme, die, wenn man sie unerörtert lässt, später als schwere Hypotheken sehr zu schaffen machen können. Einigen, keineswegs allen dieser klärungsbedürftigen Probleme ist dieses Buch in der Weise verpflichtet, dass dabei die Aufgaben einer Ethik, die bei Problemlösungen hilfreich beraten kann, stets mit im Blick sind, aber nicht die Darstellung steuern. Grundfragen der Ethik werden seit je von Philosophen und Theologen erörtert – vielfach kontrovers. Indes handelt es sich bei Fragen der Ethik durchweg um Probleme, die jede Frau und jeden Mann betreffen; der gesunde Menschenverstand, der common sense , erweist dabei seine unverwechselbare und unverlierbare Kompetenz. Jeder Mensch, der für sein Tun und Lassen Rechenschaft zu geben versucht, nimmt an der Kommunikation über ethische Fragen teil. Die Ethik als Wissenschaft hat die Aufgabe, klärend, unterscheidend und handlungsorientierend daran mitzuwirken. Dies ist kein Privileg einer bestimmten wissenschaftlichen Disziplin, sondern geht im Grunde alle Wissenschaften oder Fakultäten an. Zur Kultur der mittelalterlichen und neuzeitlichen europäischen Universität gehört der Streit der Fakultäten. Lange Zeit war es scheinbar selbstverständlich, dass die theologische Ethik – im Dienste der Kirche zumal – eine übergeordnete normative Kompetenz beanspruchte und die philosophische Ethik gleichsam in ihren Dienst nahm, so wie Thomas von Aquin die Ethik des Aristoteles in einen umfassenden kirchlich-theologischen Deutungshorizont integriert hat oder wie die Texte der Ethik der Stoa Jahrhunderte lang der Populärethik der kirchlichen und weltlichen Schulen zugrunde lagen. Für Immanuel Kant war es hingegen längst nicht mehr ausgemacht, ja, in einem bestimmten Sinne entschieden, wer in diesem Disput der Fakultäten, im Rangstreit von Herrin und Dienerin, domina und ancilla , welche Rolle erfülle, „ob diese ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt“. Grundfragen der Ethik sind zu einem erheblichen Teil auch Gegenstand der Rechtswissenschaft, sofern sie nach den rechtsethischen Grundlagen der Menschenrechte, des positiven Rechts und rechtspolitischer Entwicklungen und Entscheidun-

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Vorwort

gen fragt. Rechtsethik und praktische Philosophie überschneiden sich in vielen Bereichen und Fragestellungen, und zwar nicht nur in Fragen theoretischer Analysen und Argumentationen, sondern auch in vielen konkreten Fragen der gesellschaftlichen Praxis. Diesen Aspekten kann und darf sich auch eine theologische Ethik, die nach dem Beitrag der Kirchen und Religionsgemeinschaften zur gesellschaftlichen Kommunikation über Probleme der Ethik fragt, nicht entziehen. Am Streit der Fakultäten nehmen also immer wenigstens drei Fakultäten teil. Doch stellen sich in allen Wissenschaften ethische Fragen, sehr oft schwierige Grundlagenfragen, denen man sich als Forscherin oder Forscher nicht entziehen sollte. Ich versuche in diesem Buch, mich diesem Streit der Fakultäten im Blick auf bestimmte Grundlagen- und Konzeptionsprobleme zu stellen. Dabei ist mir wichtig, das Profil einer theologischen Ethik argumentativ zu entwickeln. Es muss für philosophische und juristische Gesprächspartner klar erkennbar sein, wie die theologische Ethikerin oder der theologische Ethiker Grundlagenfragen behandeln, wie und warum sie Position beziehen, welche Voraussetzungen sie machen, auch und gerade dort, wo diese sich nicht für jeden Menschen von selbst verstehen. Widerspruch wird damit bewusst provoziert. Allerdings geht es mir dabei um eine theologische Ethik, die keine kirchlichen Machtansprüche in der Gesellschaft vertritt und keine Immunisierungsstrategien verfolgt, wohl aber wesentliche Einsichten und Überzeugungen des christlichen Glaubens und seiner theologischen Reflexionsformen in öffentlichen Diskursen zur Geltung bringt, dafür um Zustimmung wirbt und durchaus selbstbewusst auch die öffentlichen Meinungs- und Mehrheitsbildungsprozesse zu beeinflussen versucht. Es geht der theologischen im Verhältnis zur philosophischen Ethik und zur Rechtsethik um Dialoge scharf unterschiedener Gesprächspartner ohne jede Vereinnahmung und falsche Irenik. Dazu soll die theologische Position klar und deutlich und insofern selbstverständlich angreifbar artikuliert werden. Für den Aufbau und die leitenden Fragestellungen dieses Buches habe ich viel aus Diskussionen mit den Studierenden im Rahmen meiner Lehrveranstaltungen in Bern gelernt. Für manche instruktiven gemeinsamen Seminare der letzten Jahre danke ich Dr. Frank Mathwig. Für kritische Lektüre und Kommentare zu einer ersten Fassung von Teilen des Textes bin ich Dr. Marco Hofheinz sehr zu Dank verpflichtet. Bei der Korrektur des Textes waren mir Merve Rugenstein und Mathias Tanner eine große Hilfe. Tina Grummel vom Verlag danke ich für die freundliche Unterstützung beim Abschluss. Die unterschiedlichsten Fragen und Anregungen aus den Berner Ethik-Oberseminaren stehen für die Teilnehmenden sicherlich erkennbar im Hintergrund. Nicht zuletzt verdankt dieses Buch entscheidende Anstöße und Fragen sowie ökumenische Offenheit dem Gespräch mit meiner Frau, der es deshalb gewidmet ist. Bern, 1. August 2008

Teil I Grundlagen Freiheit – Glaube – Vernunft

Einleitung – Anfangsfragen der Ethik Am Anfang jener Überlegungen, die wir „Ethik“ nennen, stehen unabweisbare Fragen: Was kann, was will, was soll ich tun? Warum soll ich dieses tun und jenes lassen? Warum tust du dieses und jenes nicht? Warum sollen wir so und nicht anders handeln? Dürfen wir alles tun, was wir können? Wer kann und soll was mit welchen Mitteln bewirken? Wann und warum handelt jemand „gut“ oder „richtig“? Wenn ich etwas will oder bewirke, erfahre oder erleide – was für ein Mensch bin ich überhaupt, wenn ich bewusst lebe und handle, und wer oder was möchte ich sein? Wie kann und will ich mein Leben führen? Was erfahre und erwarte ich von anderen, die mit mir zusammen leben und ihre eigenen, unterschiedlichen Erfahrungen und Erwartungen im Blick auf mein Handeln haben und ausdrücken können? Woran orientieren wir uns in unserem Empfinden, Wissen, Können, Fühlen, Wollen und Handeln in dieser Gesellschaft und der Welt, in der wir leben, die wir zu erkennen und mitzugestalten versuchen? Wir fragen so, weil wir ganz elementar uns selbst und andere nach unserer Lebensführung und den Gründen für das Handeln und Verhalten fragen (können), weil wir diese Gründe zu beurteilen versuchen, indem wir zwischen „gutem“ und „schlechtem“, „richtigem“ oder „falschem“ Handeln, erstrebenswerten und zu vermeidenden Zielen und immer wieder im Blick auf ganz viele Zwischenstufen und besondere Situationen unterscheiden und gewichten. Wir können es nicht vermeiden, uns mit anderen über all dies zu verständigen – sei es in Konflikten, sei es in Kooperationen. Der Beginn aller Ethik ist, auf die unvermeidlichen Fragen: Warum? Wer? Was? Wie? und Wozu? eine verständliche Antwort über Handeln und Verhalten, Unterlassen und Wirken, Wollen, Wählen und Entscheiden zu geben.1 1 Zu diesen und ähnlichen Grundfragen siehe von den neueren deutschsprachigen theologischen und philosophischen Einführungen in die Ethik besonders Martin Honecker, Einführung in die Theologische Ethik, Berlin/New York, 1990; Christofer Frey, Theologische Ethik, NeukirchenVluyn 1990; Trutz Rendtorff, Ethik, 2 Bd., Stuttgart 21990; Annemarie Pieper, Einführung in die Ethik, Tübingen/Basel 42000; Ulrich H.J. Körtner, Freiheit und Verantwortung. Studien zur Grundlegung theologischer Ethik, Freiburg i.Br./Wien 2001; Wolfgang Erich Müller, Evangelische Ethik, Darmstadt 2001; Martin Honecker, Wege evange-

lischer Ethik. Positionen und Kontexte, Freiburg i.Br. 2002; Kurt Bayertz, Warum überhaupt moralisch sein?, München 2004; Detlef Horster, Was soll ich tun? Moral im 21. Jahrhundert, Leipzig 2004; Svend Andersen, Einführung in die Ethik, Berlin/New York 2005; Otfried Höffe, Lebenskunst und Moral. Oder: Macht Tugend glücklich?, München 2007; Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/New York 2 2007; Eberhard Schockenhoff, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, Freiburg i.Br./ Basel/Wien 2007. In diesen Büchern ist das Verhältnis von philosophischer und theologischer

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Teil I Grundlagen

Wir beobachten das Handeln und Verhalten von Menschen, ihre Bräuche, Sitten und Routinen, die Tabus, Regeln, Normen, Gebote und Verbote, denen sie folgen – das weite Feld der alltagsweltlich gelebten „Sittlichkeit“ und der ausdrücklichen „Moral“ als Inbegriff jener Überzeugungen und Regeln, deren Befolgung mehr oder weniger deutlich und verbindlich erwartet wird. Ausgehend von Beobachtungen und Wahrnehmungen des Handelns und Verhaltens beginnen Menschen über Gründe, Motive, Absichten und Ziele nachzudenken. Sie fragen sich und andere, warum sie in bestimmter Weise handeln sollen, oder warum sie so, wie es geschehen ist, gehandelt haben, oder ob sie auch anders sich hätten verhalten können, was dann die Folgen gewesen wären, ob man um diese oder jene Folgen hätte wissen können oder sogar müssen. Nicht zuletzt können Menschen sich und andere danach fragen, an welchen Regeln sie sich handelnd orientieren oder orientieren sollten. Was soll von derartigen Regeln verbindlich sein, was soll gelten? Warum soll ich das tun oder lassen?, fragt ein Kind, und wenn sich die Mutter, der Vater oder die Geschwister nicht damit begnügen, zu sagen: Weil wir es so wollen!, beginnen die ethische Begründung und Rechenschaft. Derartige Fragen nach dem Handeln und Verhalten führen zur Ethik als einer Weise des Nachdenkens und alltäglicher Verständigung, sodann zu ausdrücklichen Reflexionen in der Gestalt von philosophischer und/oder theologischer Rechenschaft und, in ausgearbeiteter Form, zu entsprechenden Theoriebildungen. Mit den erwähnten Fragen und Annahmen sind freilich schon sehr weitgehende und vielfach strittige Annahmen und Voraussetzungen verbunden. In dem ersten Teil dieses Buches sollen einige der elementaren Voraussetzungen ethischer Reflexion erörtert werden. Dies geschieht aus einer theologischen Perspektive, wie sie auf dem Boden christlicher Kirchen möglich ist. Selbstverständlich gibt es andere Ethiken, die aus anderen Perspektiven entworfen werden und von anderen Voraussetzungen leben. In religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften müssen die Anhänger der verschiedenen Glaubensgemeinschaften ebenso wie religionslose Menschen lernen, dass es einen Pluralismus ethischer Überzeugungen, Ratschläge, Vorschriften und Lebensorientierungen gibt. Viele Menschen mögen annehmen, Ethik immer (auch) im Blick, freilich mit sehr unterschiedlichen Akzentsetzungen, bisweilen auch nur ganz am Rande. Völlig unberücksichtigt bleiben religiöse Bezüge von Sittlichkeit und Moral und Fragen der theologischen Ethik bei Michael Quante, Einführung in die Allgemeine Ethik, Darmstadt 2003. Einen genuin christlichtheologischen Zugang zu ethischen Fragen wählen demgegenüber Johannes Fischer, Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, Stuttgart u. a. 2002, der aber auch „nicht-theologische Paradigmen ethischen Denkens“ behandelt, sowie Hans G. Ulrich, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, Münster 2005, der am entschiedensten versucht, das biblische und

christentumsgeschichtliche Erbe für Grundlegungsfragen und für heutige Problemstellungen der materialen Ethik (Bereichsethiken) zu erschließen. – Zur eigenen Lektüre von klassischen Texten zur Ethik laden zwei Sammelbände mit knappen Hinführungen und Erläuterungen ein: Stefan Grotefeld u. a. (Hg.), Quellentexte theologischer Ethik. Von der Alten Kirche bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006; Robert Spaemann/Walter Schweidler (Hg.), Ethik. Lehr- und Lesebuch. Texte – Fragen – Antworten, Stuttgart 2006 (22007). Die Abkürzungen in diesem Buch folgen den Vorschlägen der Theologischen Realenzyklopädie (TRE).

Freiheit – Glaube – Vernunft

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dass unter derartigen Bedingungen nur eine Auffassung von Moral, Sittlichkeit und Recht dem menschlichen Zusammenleben in der Gesellschaft dienen kann, die von religiösen Voraussetzungen frei ist. Wäre das nicht die Aufgabe einer strikt von allen weltanschaulichen und religiösen Vorgaben emanzipierten praktischen Vernunft, einer Vernunft, die in sich selbst gründet und sich selbst genug ist, und die deshalb grundsätzlich von allen Menschen sollte geteilt werden können? Die historischen Anfänge des ethischen Nachdenkens im antiken Europa und dem alten Orient liegen zwar nirgends in einer religionslosen und kultfreien Welt, aber die philosophische Ethik der Griechen und Römer wurde in ihren frühen und besonders ihren reifen Gestalten in einem kulturellen Zusammenhang entwickelt, der sich durch einen weitgehend anerkannten religiösen Pluralismus auszeichnete. Es gab keine Religionsgemeinschaften, die erfolgreich ein Monopol der Weltdeutung und Lebensführung beanspruchen konnten. In manchen Hinsichten scheinen wir uns gegenwärtig erneut einer Situation des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus zumindest in liberalen Rechtsstaaten zu nähern, der, wie ich vermute, irreversibel ist. Dass dies weltweit nur auf relativ wenige Staaten zutrifft, ändert nichts an der Tatsache, dass überall dort, wo die Geltung der neuzeitlichen Menschenrechte allgemein anerkannt ist, eine (mehr oder weniger) freie Konkurrenz organisierter Religionen begegnet. Dass dies in zahlreichen vom Islam geprägten Staaten nicht der Fall ist, dass orthodoxe Kirchen große Schwierigkeiten haben mit der Akzeptanz anderer Religionen, Kirchen und Konfessionen auf ihrem Territorium, dass asiatische Religionen keineswegs so pluralismusfreundlich sind, wie es manche europäische Beobachter gern hätten, ändert wenig an der globalen Diagnose eines sich weiter entwickelnden religiösen und weltanschaulichen Pluralismus und der Notwendigkeit eines gewaltfreien multireligösen Zusammenlebens. Angesichts dieser Situation ist das vorliegende Buch unzeitgemäß-positionell. Es fragt zunächst einmal nicht nach übergreifenden, religionsneutralen Grundlagen der Ethik, die von allen Menschen jederzeit geteilt werden können, sondern es entwickelt eine Theorie der Kommunikation über ethische Sachverhalte aus der begrenzten Sichtweise des christlichen Glaubens und seiner Reflexionsmöglichkeiten, überdies sogar primär aus einer evangelischen Perspektive. Ich hoffe, dass gleichwohl dreierlei im Gange der folgenden Überlegungen deutlich wird: (1) Das Buch zielt auf eine interreligiöse Verständigung über ethische Fragen in einer religiös pluralen Gesellschaft; (2) der – streitbare – Dialog mit einer nicht religiös oder weltanschaulich gebundenen Philosophie ist unabdingbar; (3) die Unterscheidungen von der römisch-katholischen Moraltheologie und Soziallehre stehen im Dienst einer weiter zu vertiefenden ökumenischen Verständigung.

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1. Was ist Ethik? 1.1 Begriff und Aufgabe der Ethik Ethik ist Darstellung und Kritik des Ethos und der Moral einer Gemeinschaft von Menschen. Ethische Reflexion und Theoriebildung beziehen sich auf alle Grundlagenfragen der Lebensführung, auf bestimmte gesellschaftliche Bereiche sittlicher Verantwortlichkeiten sowie auf individuelle und soziale Bildungsprozesse. Ethik umfasst empirisch-analytische Darstellung, theoretische Reflexion und praktische Beratung. Das Wort Ethos (griech. vhoß, lat. mos, mores ) bezeichnet ursprünglich das eingelebte Verhalten in seinen typischen Verläufen und Orientierungen: die Gewohnheit, die Bräuche, die Sitte – kurzum das üblicherweise erwartbare Verhalten und Handeln innerhalb einer sozialen Gemeinschaft. „Ethos“, das man mit dem bisweilen etwas verstaubt klingenden, aber buchstäblich ehr-würdigen Wort „Sittlichkeit“ übersetzen kann, ist Teil einer jeden umfassenden, in sich vielfältigen Lebensform einschließlich bestimmter Institutionen, die sich in einer Gesellschaft geschichtlich entwickelt und eine überindividuelle Prägekraft ausgebildet haben. Ethos umfasst immer zugleich die individuelle und die soziale Sittlichkeit, das heißt das typisch erwartbare, mehr oder weniger allgemein übliche Verhalten und Handeln (Interaktionen) mit den entsprechenden Erwartungen in Bezug auf sich selbst und auf andere Menschen. Sittlichkeit wurzelt in der Geschichte einer Gemeinschaft; sie ist stets traditionsvermittelt. Dabei ist unvermeidlich immer schon mit gedacht, dass zu charakteristischen Bräuchen, Erwartbarkeiten und Üblichkeiten die Wirklichkeit oder Wahrscheinlichkeit möglicher Abweichungen und Alternativen untrennbar hinzugehört. Wir nennen etwas nur dann (Un-)Sitte oder (Un-)Sittlichkeit, Moral oder Unmoral, wenn das entsprechende Verhalten zwar einigermaßen zuverlässig beobachtbar und erwartbar ist, aber wenn wir zugleich ahnen oder wissen, dass dieses Handeln und Verhalten nicht an sich, nach Naturgesetzen und mit Notwendigkeit so ist, wie es ist, sondern dass es auch anders sein könnte. Dass ein Mensch regelmäßig atmet, ist kein Merkmal der Sittlichkeit, sondern entspricht den Erfordernissen des natürlichen Stoffwechsels, wie ihn Biologie oder Zoologie beschreiben und als lebensnotwendig erweisen können. Dass und wie ein Mensch sich hingegen als politischer Bürger verhält oder seiner Sexualität Ausdruck gibt, ist immer (auch) Gegenstand seiner freien Entscheidung im Hinblick auf Erfahrungen und auf erwartbare Erwartungen anderer Menschen und der gemeinsamen Mitwelt. Dass zur Existenz lebendiger Wesen wie der Menschen ein Stoffwechsel gehört, ist normalerweise kein Gegenstand bewussten, freien Wählens; für unsere politischen, wirtschaftlichen oder pädagogischen Entscheidungen können wir dagegen zur Rechenschaft gezogen werden, weil und soweit wir sie frei zu treffen vermögen.

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Im Unterschied zu „Ethos“/„Sittlichkeit“ bezeichne ich mit dem Wort „Moral“ nicht die typisch befolgten Gewohnheiten und Bräuche, sondern die (nicht-rechtlichen) ausdrücklichen Regeln und Vorschriften, die mit dem Ethos verbunden sind oder ihm zugrunde liegen und direkt oder indirekt das sittliche Handeln und Verhalten bestimmen. Bei der Moral geht es um explizite, meist gegenseitige Erwartungen im Blick auf bestimmte oder bestimmbare Handlungsregeln oder handlungsleitende Normen, die als mehr oder weniger verbindlich vorgestellt, begründet, eingeübt und teilweise mit Sanktionen unterstützt werden. Diese Erwartungen können wiederum sprachlich oder überhaupt zeichenhaft (symbolisch1) vermittelte Gegenstände von sinnhaften Kommunikationen sein. Derartige Regeln sind typischerweise auf anerkannte, abgelehnte oder neutrale Formen des Handelns und Verhaltens bezogen und verwenden Unterscheidungen wie die von „richtig“ und „falsch“, „gut“ und „böse“, aber auch „beliebig“ („indifferent“). Ein entsprechendes, regel- oder normorientiertes Verhalten wird von Menschen einer sozialen Gemeinschaft erwartet, und auf derartige Erwartungen stellen sich Menschen typischerweise ein. Sie sprechen und streiten auch darüber. In diesem Sinne kann man mit Niklas Luhmann von Normen als kontrafaktisch stabilisierten Verhaltenserwartungen sprechen.2 Es handelt sich um Regeln für erwartbares Handeln und Verhalten, die gelten oder jedenfalls (nach Meinung weniger oder vieler Menschen) gelten sollen. Das gelebte Ethos, die Sittlichkeit, und die ausdrücklichen Regeln und Vorschriften, die Moral, sind – als Erscheinungen in einer gemeinsam bewohnten Welt und Gegenstand möglicher Erfahrungen – ihrerseits Gegenstand darauf bezogener Kommunikationen zwischen Menschen. Menschen haben ein Verhältnis zu sich selbst, und dabei verhalten sie sich auch zu den von ihnen gewählten und nicht gewählten Möglichkeiten ihres Handelns und Verhaltens. Sie können etwas versprechen, sie können sich und anderen Rechenschaft geben, sie können sich „verantworten“.3 Als 1 Schon das bestimmte Heben einer Augenbraue kann eine markante Verhaltenserwartung zum Ausdruck bringen. Und hinter so scheinbar harmlosen Dingen wie der Placierung von Gästen und Essbestecken kann eine höchst komplizierte Sozialordnung stehen. 2 Normen in soziologischer Perspektive: in: Soziale Welt 20, 1969, 28–48. 3 In welchem Sinne eine heutige theologische Ethik als „Verantwortungsethik“ zu verstehen ist, wird unten im Abschnitt zum Verständnis der „Freiheit eines Christenmenschen“ näher erläutert. Wenn in den gegenwärtigen Ethik-Debatten von „Verantwortung“ die Rede ist, dann kommen dabei unterschiedliche Elemente zusammen, insbesondere: (1) Das Vermögen und die Bereitschaft eines Menschen, über Handeln, Unterlassen und Verhalten vor sich, den Mitmenschen und, bei gläubigen Menschen, vor Gott Rechen-

schaft zu geben, (2) sich selbst das Handeln und die voraussehbaren Handlungsfolgen zuzurechnen und zurechnen zu lassen, (3) eigene und fremde Handlungsfreiheit zu begrenzen im Blick auf die Bedingungen der Erhaltung der Mitwelt/Natur. Man kann auch von individueller Mündigkeit, politisch-ökonomischer Folgenabschätzung und naturbezogener Selbstbegrenzung bei jeder Verhaltensorientierung und Entscheidung sprechen. Siehe dazu meine Skizze: Das Prinzip Verantwortung in der ökumenischen Sozialethik, in: Stephan H. Pfürtner u. a., Ethik in der europäischen Geschichte II, Stuttgart u. a. 1988, 166–177. – Wegen einer nicht zu übersehenden Inflation des Verantwortungsbegriffs mache ich von ihm in diesem Buch nur sparsam Gebrauch. Zur Orientierung hilfreich sind Kurz Bayertz (Hg.), Verantwortung: Prinzip oder Problem?, Darmstadt 1995; Wolfgang Wieland, Verantwortung – Prin-

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„Ethik“ (in einem zunächst vor-theoretischen Sinne) kann man insofern auch die Kommunikation von Menschen über Sittlichkeit und Moral bezeichnen. Derartige Kommunikationen können (und sollten) durchaus auch Tiere einschließen, denn Tiere können Empfindungen von Lust und Schmerz artikulieren, und Menschen können derartige Regungen wahrnehmen und berücksichtigen.4 Eine Ethos-Gemeinschaft umfasst Menschen, Tiere, Pflanzen, Artefakte, auch schlichte Gebrauchsgegenstände5 und auf all dies hinweisende Zeichen. Gleichwohl bezieht sich die Ethik in erster Linie auf Gemeinschaften von Menschen, wenngleich natürlich unbestritten ist, dass es unter Tieren ebenfalls ein empirisch erforschtes Ethos und zugehörige Zeichen im Sinne beobachteter Regelmäßigkeiten des Verhaltens und Handelns gibt. Dass Tiere jedoch eine Moral im hier leitenden Verständnis expliziter, reflektierter Normen kennen, dafür habe ich bisher keinerlei Anzeichen gefunden. Die gegebene, beschreibbare und gestaltbare Wirklichkeit der Sitten und Gebräuche ebenso wie der Moral ist Gegenstand der Ethik; im Bezug darauf umfasst Ethik immer die Formen der Darstellung und der Kritik zugleich. Die Sitten und Gebräuche und die ausdrücklichen Regeln, denen Menschen folgen, liegen nicht unveränderbar fest, obwohl sie vermutlich nur in engen Grenzen absichtlich verändert werden können. Man kann sie allerdings bewusst oder unbewusst verletzen oder übertreten, und sie pflegen sich im Laufe der Geschichte vielfach zu verändern. Wir nennen sie „kontingent“, insofern sie weder notwendig noch unmöglich sind.6 Auf zip der Ethik?, Heidelberg 1999; Wolfgang Schuhmacher, Theologische Ethik als Verantwortungsethik. Leben und Werk Heinz Eduard Tödts in ökumenischer Perspektive, Gütersloh 2006. 4 Dass die Tiere in die (materiale) Ethik gehören, wird heute kaum mehr bestritten. Die Tierethik hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer eigenständigen Bereichsethik entwickelt. Ob und wie sinnvoll von Tierrechten gesprochen werden kann, ist eine schwierige Frage und entscheidet sich nicht zuletzt am verwendeten Rechtsbegriff. Dass kommunikative Prozesse Menschen und Tiere verbinden (können), sollte anerkannt sein. Inwiefern jedoch Tiere Menschen in ihrem Handeln und Unterlassen zu etwas verpflichten (können), ist eine Frage der menschlichen Wahrnehmung der Tiere und der Einübung im Gebrauch menschlicher Freiheit. 5 Die bisweilen von Mahnungen begleitete Erwartung, mit einer Sache sorgfältig umzugehen, ist insofern auch ein Teil des Ethos. Erst recht gilt dies für Kunstwerke, die Menschen in ihrem Besitz haben. 6 „Kontingent“ nenne ich Sachverhalte, die so, wie sie erwartet oder wahrgenommen werden, beschaffen sind oder eintreten (können), die aber auch anders beschaffen sein oder geschehen kön-

nen. Derartige Kontingenz von Sachverhalten ist wiederum von Bedingungen, insbesondere von Erfahrungen oder Vorstellungen der Möglichkeiten des Könnens, Wollens und Wissens abhängig. Zur Begriffsgeschichte siehe W. Brugger u. a., Art. Kontingenz, Hist. Wb. Philos. Bd. 4 (1976), 1027–1038. Einen instruktiven Überblick über die vielfältigen sachlichen und begrifflichen Variationen von Kontingenzverständnissen vermittelt der Sammelband: Gerhart v. Graevenitz/Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, München 1998. Theologen und Soziologen, nicht zuletzt im Bereich der Religionssoziologie, sprechen häufig in lockerer Anlehnung an Niklas Luhmann von der Aufgabe der Religion, zur „Kontingenzbewältigung“ beizutragen. Sie folgen dabei oft einem ziemlich unklaren Verständnis von Kontingenz im Sinne von Zufälligkeit oder gar Beliebigkeit – Menschen müssten Schicksalsschläge verarbeiten oder könnten dieses oder auch jenes wählen. Seit Aristoteles’ Analyse von Aussagen über zukünftige Ereignisse, verdeutlicht am Beispiel der Rede von einer bevorstehenden Seeschlacht, sollte man davon ausgehen, dass „Kontingenz“ eine modallogische Kategorie ist, welche diejenigen Erscheinungen oder Ereignisse bezeichnet, die sowohl nicht notwendig als auch nicht unmöglich sind.

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die Seite der Darstellung gehört zunächst die sorgfältige Beobachtung, Erhebung und Beschreibung der gelebten Sittlichkeit.7 Soweit diese die Möglichkeiten der Infragestellung, des Widerspruchs und der Ablehnung enthält, verweist jedoch schon die Darstellung auf einen Raum möglicher Alternativen zum eingelebten, traditionellen Verhalten und Handeln. Dies nötigt zu Unterscheidungen und Rechtfertigungen, also zu einem fragenden und prüfenden Übergang auf die Ebene von Kriterien, Regeln und Prinzipien des Gesollten, also der Moral. In Vollzug und Begründung solcher Unterscheidungen werden sowohl die Sittlichkeit als auch die Moral zum Gegenstand der Kritik, die ihrerseits aufmerksam ist für offene Möglichkeiten und Alternativen. Diese komplexe Aufgabe der Ethik kann man „Theorie“ im Sinne der Einheit von Beobachtung (Wahrnehmung), Darstellung und Kritik nennen. So lässt sich die Ethik auch als „Theorie der menschlichen Lebensführung“ charakterisieren.8 Wichtig ist hierbei die Unterscheidung von gelebter Sittlichkeit im Sinne einer in der Regel wechselseitigen, durchaus kontrafaktischen Erwartung von erwartbaren Da man genau dies von vergangenen (abgeschlossenen) Sachverhalten nicht sinnvoll aussagen kann, sind im engeren Sinne nur künftige Erscheinungen oder Ereignisse als kontingent zu bezeichnen. In einem weiteren Sinne kann man auch von vergangenen Sachverhalten hypothetisch unter dem Aspekt sprechen, was – unter bestimmten oder zu bestimmenden Bedingungen – auch anders möglich gewesen wäre, insbesondere im Blick auf usprünglich mögliche, alternative Entscheidungen und Handlungen. Die vielfältigen Debatten über die futura contingentia haben durchweg diesen modallogischen Kontext vorausgesetzt; zur Antike siehe Dorothea Frede, Aristoteles und die „Seeschlacht“. Das Problem der Contingentia Futura in De Interpretatione 9, Göttingen 1970; zu zentralen Aspekten der mittelalterlichen Debatten Joachim Roland Söder, Kontingenz und Wissen. Die Lehre von den futura contingentia bei Johannes Duns Scotus, Münster 1999; ferner Jürgen Goldstein, Kontingenz und Möglichkeit. Über eine begriffsgeschichtliche Voraussetzung der frühen Neuzeit, in: Wolfram Hogrebe (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie, 23.–27. September 2002 in Bonn, Berlin 2002, 659–669. Die Äußerung Niklas Luhmanns, die Hermann Lübbe popularisiert hat (u. a. in dem oben erwähnten Band, hg. v. Graevenitz/Marquard, zu „Kontingenz“, dort 35–47), dass Religion auf das Problem der sogenannten „Kontingenzbewältigung“ bezogen sei, hat zu einer derartigen Ausdehnung der Bedeutungen von

„Kontingenz“ geführt, dass inzwischen nahezu jeder Zufall oder jedes irgendwie von Menschen zu deutende Widerfahrnis als Kontingenzerfahrung bezeichnet wird. Mit einem derart konturenlosen Wort kann man appellative Wirkungen, aber keine gedanklichen Klärungen erreichen. Luhmann selbst hat im übrigen den Kontingenzbegriff für seine Theoriezwecke weitaus präziser bestimmt; vgl. schon seine frühen Beiträge: Generalized Media and the Problem of Contingency, in: Jan. J. Loubser/Rainer C. Baum/Andrew Effrat/Victor M. Lidz (Hg.), Explorations in General Theory in Social Science. Essays in Honour of Talcott Parsons, Bd. 2, New York/London 1976, 507–532; ders., Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 1977, 182–208; ders., Soziale Systeme, Frankfurt a. M. 1984, 148–190. – Zur Geschichte und philosophischen sowie theologischen Bedeutung des Verständnisses von Kontingenz vgl. Ingolf U. Dalferth/Philipp Stoellger (Hg.), Vernunft, Kontingenz und Gott. Konstellationen eines offenen Problems, Tübingen 2000. 7 Insofern ist es alles andere als Zufall, dass das erste deutschsprachige Buch, das den Ausdruck „Socialethik“ im Titel führt, der Sache nach in erster Linie empirisch-beschreibend war, aber gleichzeitig normativen Orientierungen verpflichtet war; siehe Alexander von Oettingen, Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine Socialethik, Erlangen 1868, 21874, 31882. 8 Trutz Rendtorff, Art. Ethik VII. Ethik in der Neuzeit, TRE 10, 1982, 481–517 (481).

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Verhaltensweisen einerseits, der ausdrücklichen Reflexion auf die Voraussetzungen, Grundlagen, Begründungen und Prüfungen einer derartigen Sittlichkeit andererseits. Auch wenn im Sprachgebrauch vieler Menschen die Wörter „Moral“ und „Ethik“ oft gleichgesetzt werden, ist es sinnvoll, zwischen dem Gegenstandsbereich und der darauf bezogenen Reflexion und Theorie zu unterscheiden.9 Ethik ist nach dem hier verwendeten Sprachgebrauch mithin die Theorie (systematische Darstellung und Kritik) der gelebten Sittlichkeit und der Moral (der sittlichen Regeln und Normen), die in einer Gesellschaft anerkannt und umstritten sind, gelten oder gelten sollen.10 Ethik als Theorie umfasst mindestens drei unverzichtbare, aufeinander nicht reduzierbare, jedoch vielfach miteinander in Beziehung stehende Aspekte: Als Darstellung ist sie zunächst deskriptiv. Man könnte sie insoweit auch Ethologie nennen. Sie beschreibt, was Menschen (und auch Tiere) typischerweise tun oder nicht tun, sie fragt, welche beobachtbaren oder erschließbaren Ursachen, Gründe oder Motive dabei wirksam sind, wie diese wirken und wie sie mitgeteilt werden. Beschrieben wird auch, welche Institutionen und Organisationen dabei eine Rolle spielen, welche Einstellungen und Erwartungen wichtig sind, und wie dies alles in komplexen Wechselwirkungen steht. Eine wichtige Beschreibungsperspektive ist die (reflektierte) Beobachtung eines Systems in Wechselwirkung mit seiner Umwelt. Die deskriptive Ethik arbeitet in vielfacher Weise mit empirischen Wissenschaften zusammen. Als Kritik ist Ethik hingegen unvermeidlich wertend und gewichtend, also präskriptiv bzw. normativ. Sie fragt, inwiefern und warum etwas, was ist, auch (in gewissen Grenzen) anders sein könnte, warum es so sein und bleiben soll, wie es ist, oder anders werden kann und soll. Es wird auch gefragt, ob und wie und warum/ woraufhin Institutionen (z. B. rechtliche Verfassungen) verändert werden können, 9 Die ausdrückliche terminologische Unterscheidung von Sittlichkeit und Moral stellt eine neuzeitliche Entwicklung insbesondere im deutschen Sprachraum dar. Kant hat zu Recht daran erinnert, dass „Ethik [. . .] in den alten Zeiten die Sittenlehre (philosophia moralis) überhaupt“ bedeutete, „welche man auch die Lehre von den Pflichten benannte“. Erst in neuerer Zeit habe man diesen Titel für Pflichten, die nicht äußeren Gesetzen unterliegen, reserviert und dies auch „Tugendlehre“ genannt, von welcher die Rechtslehre (die von Pflichten handelt, die Gegenstand äußerer Gesetze sind) unterschieden werde (Metaphysik der Sitten, Einleitung zur Tugendlehre, 1797, Akademie-Ausgabe [AA] 6, 379, 3). Eine Generation später hat Hegel die Unterscheidung von Moralität und Sittlichkeit systematisch in seiner Rechtsphilosophie zur Geltung gebracht. – In der angelsächsischen Welt werden „morality“ und

„ethics“, verstanden als Orientierung und Rechenschaft über „richtig“ und „falsch“, „gut“ und „böse“ im Blick auf Verhalten und Handeln, bis heute meist gleichgesetzt und der „ethical theory“ (die ich „Ethik“ nenne), gegenübergestellt. „Metaethics“ sind dabei ein wichtiger Bereich der „ethical theory“; vgl. hierzu die Einführung des Herausgebers in: David Copp (Hg.), The Oxford Handbook of Ethical Theory, Oxford 2006, 3–35. 10 Diese sinnvolle terminologische Unterscheidung durchzuhalten wird allerdings schwierig bei der Verwendung des Adjektivs „ethisch“, wenn man z. B. von einer guten oder schlechten „ethischen Entscheidung“ spricht. Hier gehen die Bedeutungen von „sittlich“, „moralisch“ und „ethisch“ ineinander über, und der Unterschied von sittlichem Gegenstandsbereich und darauf bezogener Reflexion/Theorie tritt zurück.

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sollen oder müssen und wie entsprechende Organisationsformen aussehen könnten oder sollten (z. B. Organisationen und Verfahren im Blick auf bestimmte gesellschaftliche Funktionsbereiche). Vor allem wird gefragt, welche Zuständigkeiten, Rechenschaftspflichten und Verantwortlichkeiten von Menschen mit ihren möglichen und tatsächlichen Handlungen verbunden sind. Als Theorie mit den beiden Aspekten von Darstellung und Kritik kann jede Ethik selbst noch einmal metaethisch analysiert und kritisiert werden. Dann wird z. B. der Sprachgebrauch der Ethik in Alltagssprache und Theoriebildung näher untersucht. Oder es wird gefragt, ob und wieweit in scheinbar nicht wertende Beschreibungen normative Gehalte (Wertungen) doch eingehen, welcher Art die Gesichtspunkte der Kritik (Kriterien) sind und welche praktischen Wirkungen eine ausgearbeitete und gesellschaftlich propagierte Ethik auf das Leben der Menschen hat. Oder man versucht, die Voraussetzungen beispielsweise anthropologischer Art, die in einer Ethik gemacht werden, freizulegen. Derartige metaethische Reflexionen können überwiegend formaler Art sein, indem etwa die in der Ethik verwendeten Wörter und Begriffe kritisch analysiert werden, sie können aber auch ein ganzes System traditioneller Sittlichkeit, wie sie etwa von großen Religionen überliefert und eingeschärft wird, und die zugehörigen Moralbegriffe von Grund auf in Frage stellen. Metaethik ist eine Art Beobachtung zweiter Ordnung – sie untersucht, was Ethiker als Theoretiker (warum, wie und wozu) machen. In die Beschreibung oder Darstellung sittlichen Verhaltens und moralischer Regeln und Überzeugungen fließen vermutlich wertende Gesichtspunkte ein, schon allein dadurch, dass und wie die (empirisch erhobenen) Sachverhalte aus der Fülle der mannigfaltigen Informationen ausgewählt, geordnet und gedeutet werden und ihrerseits Gegenstand von weiteren Kommunikationen werden. Beobachtungen und Darstellungen werden von Erkenntnisinteressen11 gesteuert, die unter anderem Ausdruck dessen sind, was einer Zeit oder einer Autorin/einem Autor als „wissenswert“ erscheint; sie werden freilich von diesen Interessen nicht ausschließlich konstituiert. Zwei prominente Beispiele: Sowohl die erwähnte, stark empirisch ausgerichtete „Socialstatistik“ von v. Oettingen als auch die Untersuchungen zur tatsächlich praktizierten Sexualmoral von Alfred C. Kinsey („Kinsey-Reports“) waren zunächst empirisch-deskriptiv angelegt. Sie gewannen ihre gesellschaftliche und ethische Relevanz erst aus den expliziten oder impliziten Deutungen, die in ihre Darstellung eingingen oder diesen von Anhängern oder Gegnern zugeschrieben wurden. V. Oettingen zielte mit seinem statistischen Material auf Sozialreformen im deutschen Kaiserreich, 11 Den Begriff des Erkenntnisinteresses hat Max Weber, unter dem Einfluss Nietzsches, geprägt, um damit auszudrücken, dass es die Forschenden selbst sind, die einem Sachverhalt oder Vorgang eine bestimmte Bedeutung oder „Qualität“ beilegen: „Sie (die Qualität, WL) ist vielmehr bedingt durch die Richtung unseres Erkenntnisinteresses , wie sie sich aus der spezifischen Kulturbedeutung

ergibt, die wir dem betreffenden Vorgang im einzelnen Fall beilegen.“ So in dem Aufsatz: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftlehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 31968, 146– 214, 161; Kursivierung bzw. Sperrung bei Weber selbst.

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Kinsey wurden von seinen Gegnern vielfache verborgene Absichten bis hin zur Zerstörung der abendländischen Kultur unterstellt.12 Man sieht: Die Darstellung der Ergebnisse empirischer Untersuchungen muss keineswegs von sich aus oder angesichts der Rezeptionsvorgänge ethisch neutral oder indifferent sein. Jede Bewertung oder Beurteilung sittlichen Verhaltens und moralischer Regeln und Überzeugungen beruht zweifellos auch auf empirischen Vergleichen, die es ermöglichen, Handlungs- und Verhaltensalternativen aufzuzeigen, im Blick auf die ein bestimmtes Verhalten (normativ) erwartet wird oder erwartet werden kann. Ohne empirisch nachweisbare, plausible Alternativen keine unterscheidende Bewertung und kein Urteil. Die Erwartungen entsprechender Normbefolgungen können sich dabei in unterschiedlichem Ausmaß von dem entfernen, was in einer Gesellschaft üblich ist. So haben beispielsweise nur ganz wenige deutsche Männer 1939 den Kriegsdienst deshalb verweigert, weil es sich – nach Maßgabe der traditionellen Auffassungen von „rechtmäßigen Kriegen“ – um einen ungerechten Krieg handelte.13 Sie sahen keine tatsächliche oder moralisch gebotene Alternative zum erwarteten militärischen Gehorsam. Normative Alternativen und Zumutungen können auch in dem Maße neu aufkommen oder zunehmen, wie sich die gesellschaftlichen Probleme und Handlungsmöglichkeiten verändern.14 Die vermutlich bis in die Gegenwart folgenreichste metaethische Kritik von Sittlichkeit und Moral europäisch-christlicher Prägung findet sich in Friedrich Nietzsches Werk.15 Ob und wieweit seine Platonismus- und Christentums-Kritiken historisch zutreffend sind, ist hier nicht von Belang, sondern nur der Sachverhalt, dass diese Kritik auf die tatsächlich oder vermeintlich lebensfeindlichen, triebrepressiven Wirkun12 Vgl. Erwin J. Haeberle, Alfred C. Kinsey als Homosexualitätsforscher, in: Rüdiger Lautmann (Hg.), Homosexualität. Handbuch der Theorieund Forschungsgeschichte, Frankfurt a. M./New York 1993, 230–238. 13 Mein akademischer Lehrer Heinz Eduard Tödt schrieb in einem Rückblick auf seine Einziehung zum Wehrdienst 1937: „Anstatt hier schon die Frage zu stellen, ob ich als Christ in einem solchen Staat, der sichtbar aufrüstete, Soldat werden und für ihn in den Krieg ziehen könne, erschien es mir als eine patriotische Selbstverständlichkeit, beides zu tun, also eine ‚fraglose‘ Angelegenheit. Nicht zu dienen, hätte allerdings die rechtzeitige Emigration erfordert, wollte man sich nicht erschießen lassen, und Emigration bedeutete Trennung von Deutschland.“ Komplizen, Opfer und Gegner des Hitlerregimes. Zur „inneren Geschichte“ von protestantischer Theologie und Kirche im „Dritten Reich“, Gütersloh 1997, 170. 14 Hegel hat gelegentlich gesagt: „Gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustande der Gesellschaft gewinnt der Mangel

sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird. Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende.“ Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 244, Zusatz (Theorie Werkausgabe, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt a.M 1970, 390). Analoges zu dieser Bemerkung Hegels gilt heute im Blick beispielsweise auf die Armutsfolgen der sogenannten Globalisierung. Nicht (adäquat) zu handeln, obwohl man der Armut abhelfen kann und dies auch weiß, bedeutet, sich einer sittlichen Verantwortlichkeit bewusst zu entziehen. Abstrakt kann man sagen: Die Verantwortlichkeit von Menschen reicht so weit wie ihr Wissen und Können. 15 Siehe dazu Hans Günter Ulrich, Anthropologie und Ethik bei Friedrich Nietzsche. Interpretationen zu Grundproblemen theologischer Ethik, München 1975. Daneben sind vor allem die Kritiken der „herrschenden“ Moral von Karl Marx und Sigmund Freud zu nennen.

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gen vor allem einer zeitgenössischen christlich-kirchlichen Moral zielte, um sich davon zu befreien. Dietrich Bonhoeffer hat aus genuin theologischen Gründen diese Moralkritik teilweise aufgenommen.16 Diese und ähnliche metaethischen Kritiken der Ethik entgehen indes nicht der Tatsache, dass sie selbst wieder die kritische Funktion der Ethik auszuüben, und dies wiederum mit empirisch beobachtbaren Folgen. Was macht Ethik in diesem mehrfachen Sinne unvermeidlich und unabweisbar? Zuerst und zuletzt das menschliche Vermögen symbolisch (besonders sprachlich) vermittelter Kommunikation in einer Gesellschaft. Ein wichtiger Unterfall der Möglichkeiten von Kommunikation ist die Beratung – mit sich, mit anderen, Anwesenden und Abwesenden. Die schlechthin gesellschaftskonstitutive Dimension von Kommunikation betrifft Interaktionen in der Gestalt von Kooperationen, Konflikten und Ordnungsbildungen. Immanuel Kant hat in einer kleinen Abhandlung über die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) geschrieben, dass Menschen von Natur aus unter der elementaren Bedingung des sozialen Antagonismus leben, d. h. in der Form der „ungeselligen Geselligkeit“. Menschen haben den „Hang [. . .], in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist.“17 Ausgangspunkt von Kants in neun knappe „Sätze“ gegliederter Argumentation ist der Hinweis, dass auch die Menschen Teil der Natur sind, den Naturgesetzen unterliegen und gleichsam den ihnen verborgenen „Absichten“ der Natur ohne eigenen Plan folgen, auch wenn sie meinen, beispielsweise bei der Eheschließung oder in ihrem generativen Verhalten, frei zu entscheiden. Aber die von Kant so genannten „jährlichen Tafeln“, also die frühen Formen der Statistik, zeigen, dass hier durchaus auf empirischem Wege statistische Regelmäßigkeiten feststellbar sind. Grundsätzlich postuliert Kant, dass die „Naturanlagen eines Geschöpfes“ dazu bestimmt sind, entfaltet zu werden; unter Abwandlung des aristotelischen Begriffs der Entelechie soll es eine „teleologische Naturlehre“ geben (These 1). Nicht der einzelne Mensch, aber die menschliche Gattung soll danach in der Lage sein, ihre Naturanlagen vollständig zu entwickeln, und zwar nicht gemäß den natürlichen Anlagen oder den Instinkten, sondern mittels des Gebrauchs der Vernunft, und zwar durch „Versuche, Übung und Unterricht“ (These 2). Aufgrund der angenommenen Zweckmäßigkeit der Natur gehört es zur Naturbestimmung der menschlichen Gattung, ihr Leben vernünftig und aus eigener Kraft zu ordnen (These 3). Eines der Mittel, durch die die Natur die Menschen zum Vernunftgebrauch nötigt, ist die Verfassung ungeselliger Geselligkeit – sie kommen nicht umhin, sich zu „vergesellschaften“, selbst wenn wie sich „verein16 Vgl. Peter Köster, Nietzsche als verborgener Antipode in Bonhoeffers „Ethik“, in: NietzscheStudien 19, 1990, 367–418. Köster hat darauf aufmerksam gemacht, dass von Bonhoeffers Philosophielehrer in der Schule, Martin Havenstein, 1922 in Berlin ein Buch über „Nietzsche als Erzieher“ erschienen ist (376, Anm. 38).

17 AA 8, 20, 30. Aristoteles sprach schon von der Spannung zwischen dem Menschen, der von Natur aus auf das Zusammenleben in der Polis angelegt sei (anhrwpoß fusei politikon zwon) einerseits, dem „bindungslosen“ Menschen (azux) andererseits (Pol. 1253 a 3).

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zelnen“ wollen (These 4). Daraus folgt das Grundproblem, analog dem „problême fondamental“ bei Rousseau:18 „Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden, bürgerlichen Gesellschaft“, d. h. einer gesellschaftlichen Ordnung, in der „Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird“ (These 5). Die Auflösung dieses Problems kann sich Kant in der Folge von Platons Idee der Philosophenkönige nur so denken, dass das „höchste Oberhaupt“ „gerecht für sich selbst “ und doch ein Mensch sein muss – eine Aufgabe, die günstigenfalls annäherungsweise möglich ist, denn „aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz gerades gezimmert werden.“19 (These 6) Die weiteren Thesen nennen notwendige Bedingungen für die Errichtung einer bürgerlichen Verfassung und einer Völkerbundordnung, wie sie Kant in weiteren Schriften, besonders in seinem Traktat Zum ewigen Frieden (1795), ausgeführt hat. In der Abhandlung, aus der ich hier zitiere, hat Kant in denkbar knappen Zügen eine naturphilosophisch fundierte, normative Sozialtheorie vorgelegt. In dieser Verfassung „ungeselliger Geselligkeit“ kommen die Menschen nicht umhin, nach einer brauchbaren, schützenden, zustimmungsfähigen Ordnung zu suchen, nach verbindlichen Regeln, die allgemein anerkannt werden können. Das entscheidende Mittel dieser Suche ist die sprachliche Verständigung, jene öffentliche und private Beratung, mittels derer Grundsätze und Verfahren, Rechte und Pflichten der Menschen ermittelt werden. Die ideale, praktisch zu realisierende Form der Auflösung gesellschaftlicher Antagonismen ist eine rechtsstaatliche Verfassung. Die durchaus fehlbare Vernunft ist das Vermögen der Menschen, sich über diese notwendige Aufgabe zu verständigen. Dieser elementaren Beratungsaufgabe ist die moderne Ethik genauso verpflichtet wie die der Antike. Die Ethik fragt also, jenseits ihrer beschreibenden und beobachtenden Funktion, nach individuell und sozial verbindlichen Regeln des Verhaltens und Handelns, also nach Normen, und dies, wenn sie selbst gut beraten ist, in einer nicht bevormundenden, sondern beratenden, fast kann man sagen: therapeutischen Perspektive.20 Die Beratungsfunktion aller Ethik 18 „Trouver une forme d’association qui défende et protège de toute la force commune la personne et les biens de chaque associé, et par laquelle chacun s’unissant à tous n’obéisse pourtant qu’à luimême et reste aussi libre qu’auparavant?“ („Wie findet man eine Gesellschaftsform, die mit der ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes Gesellschaftsgliedes verteidigt und schützt und kraft dessen jeder einzelne, obgleich er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher?“) Du contrat social, ou Principes du droit politique (1762), Œuvres complètes, Bd. III (Bibl. Pléiade), Paris 1964, 360. 19 Helmut Gollwitzer hat hier angeknüpft:

Krummes Holz – aufrechter Gang. Zur Frage nach dem Sinn des Lebens, München 1970. 20 Friedrich Schleiermacher hat gelegentlich davon gesprochen, dass das ethische Wissen „als ein guter Rath gestaltet“ werden solle: „Einleitung zur Ethik“ (vermutlich 1816/17), in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, hg. und eingeleitet von Joachim Birkner, Hamburg 1981, 213. Diese Auffassung enthält einen sachlichen Grund dafür, dass es zahlreiche Verbindungen zwischen der theologischen Ethik und der praktischen Theologie gibt, wie sie sich insbesondere in der Seelsorge und der Diakonie der Kirchen zeigen. In der angelsächsi-

Was ist Ethik?

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dient dem moralisch und politisch gewollten und rechtlich geordneten Zusammenleben in einer Gesellschaft. Die Ethik hat es indes nicht allein mit Sittlichkeit und Moral auf der Ebene der Gesellschaft zu tun. Dabei mag man hinsichtlich der jeweiligen Gesellschaft, auf die sich ein Ethos bezieht, zwischen solchen unterscheiden, die (1) über eine anerkannte Verfassung verfügen, (2) sich in Konflikte oder Krieg verstrickt haben oder (3) versuchen, sich selbst in eine neue oder erneuerte rechtliche Ordnung zu transformieren. Es ist offensichtlich, dass die oft in tieferen Schichten, nicht zuletzt in religiösen Überlieferungen verwurzelten sittlichen Überzeugungen der Menschen für den Umgang mit den Herausforderungen einer politischen Gesellschaft von gar nicht zu überschätzender Bedeutung sind. Daneben gibt es auch eine Bezugsebene des Ethos und der Ethik, die nicht die Öffentlichkeit betrifft, sondern die Bereiche von Familie, Freundschaft und vielfältigen privaten Bindungen. In diesen Bereichen wird ein überliefertes Ethos nicht ständig neu erfunden, geprüft, verworfen oder gebilligt, sondern es wird auf traditionellen Wegen weitergegeben. Einer der wichtigsten dieser Wege ist zweifelsohne die Erziehung, und zwar wiederum auf den beiden Ebenen der formellen Erziehung einerseits (institutionalisiertes Bildungswesen), der informellen Traditionsweitergabe und den entsprechenden Verhaltensweisen und Erwartungen andererseits. Jedes Ethos steht mithin im Kontext von individuellen und gesellschaftlichen Bildungsprozessen. In derartigen Zusammenhängen spielen sich die Prozesse der ethischen Einübung, Identitätsfindung und Urteilsbildung keineswegs nur auf der kognitiven Ebene ab. Vieles geschieht nahezu unmerklich durch Vorbildwirkungen und Nachahmungsverhalten. Von entscheidender Bedeutung sind hier die Affekte (lat. affectus/passio, griech. pahoß). Ursprünglich bezeichnet pahoß dasjenige, was einem Menschen von außen her zustößt und infolgedessen von innen her bewegt. Affekte sind, wie Aristoteles sagt, Bewegungen der Seele oder des Gemüts, die von Empfindungen der Lust und des Schmerzes begleitet sind – Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Liebe, Hass, Sehnsucht, Missgunst, Mitleid usw.21 Die Affekte wiederum stehen in Verbindung mit den leiblichen Vorgängen; insbesondere die antiken und mittelalterlichen Lehren von den sogenannten Körpersäften versuchten die Wechselwirkungen von Leib und Seele und ihre Auswirkungen auf Affekte und Charakter verständlich zu machen. Die Erregung und Beeinflussung der Affekte wiederum ist von vielen endogenen und exogenen Faktoren abhängig, und dies wiederum wirkt sich notwendigerweise auf die gesamte Lebensführung aus. Die philosophisch-theologischen Lehren von den Affekten22 bildeten bis weit in die frühe Neuzeit einen prominenten Teil jeder Anthropologie23 und zugleich der Ethik, denn in schen akademischen Welt gibt es häufiger als auf dem europäischen Kontinent eine Lehrstuhlverbindung zwischen diesen Fächern. 21 Nikomachische Ethik (NE), 1105 b 21. 22 Siehe dazu J. Lanz, Art. Affekt, Hist. Wb. Philos. Bd. 1 (1971), 89–100.

23 Siehe Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798, 21800), AA 7, 117–333 (vgl. Hg. Weischedel VI, 579–622). Zahlreiche Beispiele aus der frühneuzeitlichen Literatur untersucht überaus erhellend Irmgard M. Wirtz, Affekt und Erzählung. Zur ethischen Fun-

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Teil I Grundlagen

einer bestimmten Lebensführung wirken sich unvermeidlich vor allem die starken Affekte aus, die es durch Vernunft und Willen zu „meistern“ gilt. Im Dienste dieser Aufgabe standen und stehen sehr unterschiedliche Instanzen und Medien. Ich verweise nur auf die Bedeutung der Märchen für Identitätsbildungsprozesse, auf die sittlichen (oder eben auch unsittlichen) Gehalte von Romanen, Theaterstücken, Filmen, auf die Stellung von moralisch relevanten Katechismen in religiösen Bildungsprozessen und auf die Vielfalt von Symbolen und deren affektive Wirkungen. Kurzum: Ethik als Reflexion des Ethos ist nicht nur eine Angelegenheit kognitiver Prozesse, sondern eingebettet in eine umfassende Lebenswelt, in der Widerfahrnisse, Affekte und Vernunftgründe ineinander verschlungen sind.

1.2 Anfänge der Ethik in der europäischen Geschichte Ethik ist in der europäischen Geschichte seit den Anfängen eine philosophische Disziplin. Überlieferungen des Ethos stehen zugleich in einem engen Verhältnis zu den Kult- und Religionsgemeinschaften in historisch besonderen Gesellschaften. Ethik als Reflexion begegnet als eine Aufgabe und Frage sowohl der Vernunft wie des Glaubens. Der Titel „Ethik“ bezeichnet seit den Anfängen der europäischen Philosophie eine komplexe philosophische Fragestellung sowie eine Wissenschaft. Über die Art des Wissenschaftscharakters der Ethik gehen freilich die Meinungen seit alters weit auseinander. Die Anfänge24 liegen in der kritischen Diskussion des Ethos der antiken Polis bei Sokrates (469–399) und Platon (427–347). Sophisten des 5. Jahrhunderts v.Chr. wie Protagoras oder Gorgias sind Träger einer Aufklärungsbewegung, die, im Zusammenhang mit der Ablösung der alten Aristokratie durch die athenische Demokratie, die traditionellen sittlichen Normen ebenso wie die religiösen Überzeugungen kritisch prüft. Die skeptische Haltung, die darin zum Ausdruck kommt, wird angefeindet, lässt sich aber auf Dauer nicht unterdrücken. Sokrates wird 399 gar wegen Gottlosigkeit (asebeia) bzw. als Gottesleugner angeklagt und hingerichtet. Der umfassende Entwurf Platons zu einer Ethik,25 insbesondere in seinem großen Werk über die Staatsverfassung (Politeia ), verbindet die Bestimmung der individuellen menschlichen Tugenden mit der Untersuchung der Überlebensbedingundierung des Barockromans nach 1650, Habil.Schrift Bern 2007/2008 (Mskr.). 24 Siehe Stephan H. Pfürtner u. a., Ethik in der europäischen Geschichte I, Stuttgart u. a. 1988, 16–96; Jan Rohls, Geschichte der Ethik, Tübingen 1991, 47–75. 25 Siehe Terence Irwin, Plato’s Ethics, Oxford 1995; Julia Annas, Platonic Ethics. Old and New,

Ithaca, NY 1999; die Beiträge von Daniel Devereux, David Keyt, Nicholas White und Susan Sauvé Meyer in: Hugh H. Benson (Hg.), A Companion to Plato, Oxford 2006, 323–387; Dorothea Frede, Plato’s Ethics: An Overview. in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (http://plato.stanford.edu/entries/plato-ethics).