Wolfgang Desch, Georg Propst, Peter Sch¨opf

Grundbegriffe der Mathematik ¨ Ein Ubungsskriptum f¨ ur Anf¨ angerinnen und Anf¨anger des Mathematikstudiums

Gebrauchsanweisung fu ¨ r diese Lehrveranstaltung Diese Veranstaltung ist ein Training im mathematischen Denken und Sprechen. Der Schritt von der Mathematik der H¨ oheren Schule zur Universit¨ at wird von vielen als eine Art Kulturschock erlebt. Nicht die Inhalte der mathematischen Einzeldisziplinen sind das Hauptproblem, sondern vor allem die ungewohnte Denk- und Sprechweise. Dabei ist auch mathematisches Denken u arft und geschliffen hat. ¨ber weite Strecken einfach Hausverstand, den man etwas gesch¨ Nur sind die Objekte der Mathematik manchmal sehr komplex, unanschaulich und verschachtelt. Denken Sie zum Beispiel an so diffizile Begriffe wie Grenzwerte oder Wahrscheinlichkeiten. Wer sich beim Umgang mit solchen Gedanken nicht hoffnungslos in Vieldeutigkeiten und Missverst¨ andnissen verlaufen will, braucht eine sehr ¨ okonomische, schn¨ orkellose Organisation seiner Sprache und Denkweise. Diese Lehrveranstaltung soll Ihnen erleichtern, Gedanken im Kopf und auf dem Papier zu ordnen. Wir machen das absichtlich an Hand relativ einfacher mathematischer Sachverhalte, damit Sie schon ein wenig an mathematische Denkweise gew¨ ohnt sind, noch bevor der Analysiszyklus seinen feinsinnigen Begriffsapparat der Grenzwertrechnung entwickelt.

Vermittelt werden sollen vor allem Fertigkeiten: Mathematische Aufgabenstellungen anpacken. Ideen mit Intuition finden und anschließend mit logischer Strenge und Sorgfalt exakt ausarbeiten. Einen mathematischen Gedanken so aufzuschreiben, dass eine mathematisch gebildete Person ihn ohne weitere Erkl¨ arungen versteht. Nachpr¨ ufen, ob ein Beweisgang richtig ist. Ein Repertoire von n¨ utzlichen Standardans¨ atzen f¨ ur Beweise aufbauen und anwenden. Mathematische Sachverhalte mit Zeichnungen anschaulich machen. — Alle diese Fertigkeiten hat man nat¨ urlich nie vollst¨ andig erlernt. Man erwirbt immer mehr davon mit jedem neuen Versuch im eigenst¨ andigen Denken, Sprechen und Schreiben. Daher werden Sie in dieser Lehrveranstaltung st¨ andig mit Denk- und Formulierungsaufgaben konfrontiert werden.

Die systematische Aufarbeitung des Stoffes spielt eine sekund¨are Rolle. Wir haben einen abgesteckten Stoff von Logik, Mengenlehre, Aufbau des Zahlensystems und etwas Geometrie. Wir vermeiden einen streng formalen, axiomatischen Aufbau der Logik und Mengenlehre. Zu Beginn des Mathematikstudiums kann man getrost einen naiven, intuitiven Weg einschlagen. Erst wenn man den Umgang mit logischen Schl¨ ussen und Mengen in der Praxis gut beherrscht, versteht und sch¨ atzt man die axiomatischen Theorien, mit denen Logik und Mengenlehre wetterfest gemacht werden. An vielen Stellen greifen wir auf Ihr Schulwissen und Ihre mathematische Allgemeinbildung zur¨ uck. Manchmal machen wir Exkurse und Vorgriffe in Bereiche der Mathematik, die mit dem abgesteckten Stoffgebiet nicht direkt zu tun haben.

Entscheidend ist die aktive Mitarbeit in den Unterrichtseinheiten. Nur ein Teil der Lehrveranstaltung und dieses Skriptums besteht aus Stoff, den wir Ihnen erkl¨ aren. Ein Großteil ist in Form von “Aufgaben” angelegt, die wir Ihnen in der Lehrveranstaltung vorlegen, und zu denen wir absichtlich keine L¨ osungen vorweggenommen haben. Sie haben dadurch im H¨ orsaal Gelegenheit, ohne jeden Pr¨ ufungsstress selbst auszuprobieren, wie man mathematische Gedanken findet und formuliert. Zusammenarbeit und Diskussion der Studierenden untereinander sind dabei sehr erw¨ unscht. Nat¨ urlich k¨ onnen Sie auch jederzeit von den Vortragenden Tipps und 1

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weitere Erkl¨ arungen einholen. Dieses Konzept n¨ utzt Ihnen nur, wenn Sie dabei sind, und sich aktiv beteiligen.

Warum wir (meist) keine Haus¨ ubungen geben: Einfach, weil Sie im ersten Semester ohnehin mit Arbeit gen¨ ugend eingedeckt sind. Die Grundidee ¨ ist, die Ubungst¨ atigkeit im H¨ orsaal stattfinden zu lassen. Dort arbeiten wir ¨ außerst intensiv in kurzen Unterrichtseinheiten. Wir schlagen aber vor, dass Sie regelm¨ aßig zu Hause noch einmal durchlesen und durchdenken, was in den letzten Einheiten geschehen ist.

Lassen Sie nie hintanstehen, was Sie nicht verstehen! Fragen Sie sofort nach, in der Veranstaltung, nach der Veranstaltung, oder klopfen Sie an unseren Dienstzimmern an. Die meisten Dinge sind nicht schwierig, aber wenn man den Faden einmal verloren hat, findet man schwer zur¨ uck. Die typische Selbstbeschwichtigung in dieser Situation ist: “Es gibt ja ein Skriptum, und am Ende des Semesters arbeite ich es durch und dann werde ich es schon verstehen.” Schade um das Semester! Sie k¨ onnten die Erkl¨ arung sofort haben, und mit Gewinn und Interesse an der Lehrveranstaltung weiter teilnehmen, statt am Ende vor einem Berg unbew¨ altigter Schwierigkeiten zu stehen.

Das wichtigste Hilfsmittel: Schmierpapier. Sie sind gehemmt, wenn alles, was Sie in dieser Lehrveranstaltung schreiben, in ein Heft geschrieben wird, das am Ende eine sch¨ one u ¨ bersichtliche Form haben soll. Der Prozess des mathematischen Denkens braucht Papier, auf dem man sich austoben darf, und auf dem Wege und Irrwege wild durcheinander geschrieben und ausgestrichen werden k¨ onnen. Daher schlagen wir vor: Bringen Sie ein Ringbuch mit reichlich Papier mit. Auf einem Einlageblatt kann man viel versuchen, ob man es endg¨ ultig einheftet, kann man zuletzt entscheiden. F¨ ur die “sch¨ one” Mitschrift k¨ onnten Sie auch die R¨ uckseiten dieses Skriptums verwenden, wenn Sie es einseitig gedruckt haben. Weitere n¨ utzliche Hilfsmittel sind ein Lineal und nat¨ urlich gen¨ ugend Bleistifte, vielleicht auch Farbstifte. Einen Taschenrechner werden Sie in dieser Lehrveranstaltung nicht ben¨ otigen.

Mitschreiben kostet Zeit. onnen, weil In vielen Vorlesungen beobachten wir, dass Studierende den Gedanken nicht folgen k¨ sie damit besch¨ aftigt sind, das Tafelbild abzumalen. Da dies auch oft in kalligraphischer Qualit¨ at erfolgt, bringen die Vortragenden entweder in der Lehrveranstaltung keine Arbeit weiter, oder sie “¨ uberfahren” die sorgf¨ altig schreibenden Studierenden. Um dieses Problem zu vermeiden, haben wir in diesem Skriptum alles, was wir selbst vorzeigen, sowie alle Angaben der Aufgaben, welche wir Ihnen stellen, detailliert ausgef¨ uhrt. Wir schlagen Ihnen also vor, dieses Skriptum auszudrucken und mitzubringen. Sie m¨ ussten dann nur die L¨ osungen der Aufgaben und allf¨ allige Kommentare in ihre Mitschrift eintragen, und k¨ onnten sich bei Stellung der Aufgabe sofort auf Ihr Skizzenpapier und Ihre Gedanken st¨ urzen, oder unbeeintr¨ achtigt den Erkl¨ arungen zuh¨ oren.

Kommen Sie, wenn Fragen, W¨ unsche oder Vorschl¨age haben. Sie k¨onnen w¨ahrend oder nach der Lehrveranstaltung fragen, oder auch zu uns in die Dienstzimmer kommen. Sie sind willkommen! Wir freuen uns, wenn diese Veranstaltung f¨ ur Sie m¨ oglichst erfolgreich, ergiebig und angenehm ausf¨ allt. Wir w¨ unschen Ihnen viel Freude und Erfolg im Studium.

KAPITEL 1

Sprache, Logik und Beweise ¨ Ubersicht: 1. Mathematische Begriffe 1.1. Wie ein mathematischer Begriff entsteht 1.2. Definieren 2. Aussagenlogik 2.1. Aussagenlogischer Schluss, aussagenlogischer Formalismus. 2.2. Implikation. 2.3. Aussagenlogische Beweise. 2.4. Strategien: Fallunterscheidung und Widerspruch 3. Quantorenlogik 3.1. Quantorenlogischer Formalismus. 3.2. Beweise von Aussagen mit Quantoren. 3.3. Negation von Aussagen mit Quantoren. 4. Die vollst¨andige Induktion 4.1. Das Prinzip der vollst¨andigen Induktion 4.2. Rekursive Definition ¨ 5. Einige oft verwendete Beweistechniken (Ubersicht)

1.1. Mathematische Begriffe ¨ Ubersicht: 1. Wie ein mathematischer Begriff entsteht 2. Definieren

1.1.1. Wie ein mathematischer Begriff entsteht. ¨ Ubersicht: 1. 2. 3. 4. 5.

Die Entwicklung eines Begriffes als Dialog Einkreisen des Begriffes durch Beispiele Verschiedene Veranschaulichungen von Funktionen Endg¨ ultige Definition von “Funktion” Zur Geschichte des Funktionsbegriffes

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1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

1.1.1.1. Die Entwicklung eines Begriffes als Dialog. Mathematik beginnt wie jede Wissenschaft mit der Einf¨ uhrung von Fachbegriffen. Die Einf¨ uhrung eines neuen Fachbegriffes erfolgt nur scheinbar mit einem Schlag durch eine sprachliche Definition. In Wirklichkeit geht der Definition ein Lernprozess voraus, in dem sprachliche Formulierung und begriffliche Klarheit Hand in Hand perfektioniert werden. Ein erstes Problem ergibt sich daraus, dass das Fachwort oft aus der Umgangssprache stammt und dort die verschiedensten sch¨arferen und unscharfen Bedeutungen hat. Jeder Sprecher verbindet außerdem bevorzugte Bedeutungen mit dem Wort. Das Problem der Definition besteht nun darin, f¨ ur den mathematischen Fachgebrauch eine bestimmte Bedeutung klar abzugrenzen. Wir k¨onnen uns das in Form eines Dialoges vorstellen, wobei eine Person D (der Definierer) einer anderen Person F (dem Frager) die neue Bedeutung klarmachen will: D gibt eine vorl¨aufige Definition der neuen Wortbedeutung. F fragt wie die Definition gemeint sei, denn die vorl¨aufige Definition hat meist noch Pr¨azisionsm¨angel und widerspricht gewissen Vorstellungen, die der Frager bisher mit dem Wort verbunden hat. D versucht sukzessive sprachliche Verbesserungen der Definition und demonstriert an Beispielen, was das Wort auf jeden Fall bedeuten soll, und an Gegenbeispielen, was das Wort auf keinen Fall bedeuten soll. In der Praxis sind Definierer und Frager manchmal zwei Personen, aber oft u ¨bernimmt eine Person im Kopf beide Rollen. Manchmal l¨auft der Dialog auch zwischen verschiedenen Arbeitsgruppen ab. Wir wollen einen solchen Dialog nun am Funktionsbegriff verfolgen: Es seien also A und B Mengen (von irgendwelchen Objekten, z.B. von Zahlen). Es soll definiert werden, was man unter einer Funktion von A nach B versteht. Menge und Funktion sind zwei der grundlegenden Begriffe in der gesamten Mathematik. Wir nehmen hier an, dass bereits eine klare Vorstellung von Mengen mit wenig Elementen vorhanden ist, so dass wir uns nicht mit einer Definition von Menge herumschlagen m¨ ussen. (In Wirklichkeit ist gerade die Menge eines der heikelsten Objekte in der mathematischen Begriffsbildung.) Wir stellen den Frager als (scheinbar) ziemlich unbedarften Menschen dar, der wenig Kenntnis von Mathematik hat und bei Erw¨ahnung des Wortes “Funktion” an funktionieren und beim Wort “Zuordnung” an so etwas wie, ein Mensch ist einer Abteilung in einer Firma zugeordnet, denkt. Diese “Unbedarftheit” ist eine wichtige Strategie bei der Definition mathematischer Begriffe: Oft u ¨bersieht man bei der Definition M¨oglichkeiten, die man exakterweise aus- oder einschließen sollte, an die man aber zun¨achst nicht denkt, weil sie so absurd scheinen. D: gibt seine erste Definition der beabsichtigten neuen Bedeutung des Wortes “Funktion”: Eine Funktion von A in B ordnet den Elementen von A Elemente aus B zu. F: beginnt u ¨ber diesen Satz nachzudenken und wird je nach Feinheit seines Sprachgef¨ uhls einige Fragen stellen. D¨ urfen einem Element von A mehrere Elemente aus der Menge B zugeordnet sein? Einer Abteilung sind ja zumeist mehrere Menschen zugeordnet. D: Nein, einem Element von A darf nur ein Element aus B zugeordnet werden. Ich verbessere meine Definition also zu: Eine Funktion von A in B ordnet jedem Element von A genau ein Element aus B zu.

1.1. MATHEMATISCHE BEGRIFFE

5

F: Jetzt habe ich eine dumme Frage, heißt das, dass jedem Element aus A ein und dasselbe Element aus B zugeordnet werden muß? D: Nein das meine ich nicht, obwohl man meine Definition so auffassen k¨ onnte. D denkt u ¨ber verschiedene Neuformulierungen seiner Definition nach, wie z.B. Eine Funktion ordnet jedem Element a ∈ A genau ein von a abh¨ angiges Element aus B zu, kommt aber unter Verwendung des Wortes Zuordnung auf keine wesentlich besseren Formulierungen. Es kommt ihm der Verdacht, dass er mit Zuordnung u ¨berhaupt dasselbe meint, wie mit Funktion. Er wird sich der Zirkelhaftigkeit seiner Definition bewußt. Er verzichtet vor¨ ubergehend auf eine Definition und beantwortet alle Fragen einzeln. F: M¨ ussen die zugeordneten Elemente von zwei verschiedenen Elementen aus A auch verschieden sein? D: Nein. Zusammenfassend erscheint ihm die Angabe von einigen illustrativen Beispielen, die auf alle gestellten Fragen Antwort geben, f¨ ur den Anfang besser als eine Definition. 1.1.1.2. Einkreisen des Begriffes durch Beispiele. Seien zum Beispiel A = {1, 2, 3, 4} und B = {5, 10, 15, 20, 25}. Wie k¨onnte eine einzelne Funktion von A nach B definiert werden? 1.) Definition durch eine Rechenvorschrift: Dies war auch historisch eine der ersten Vorstellungen von einer mathematischen Funktion: Definition einer Funktion f durch eine Rechenvorschrift: f : Ordne jeder Zahl aus A das F¨ unffache der Zahl zu. Diese Rechenvorschrift versteht wohl jeder. Haben wir damit also eine Funktion von A in die Menge B definiert? Es scheint so, auch wenn wir noch nicht klar verstanden haben, was eine Funktion im allgemeinen ist. Jedenfalls gibt es aber bereits ein winziges Detail zu u ufen, um sicher zu sein, dass es sich um eine Funktion ¨berpr¨ von A in B handelt. Gefordert wird in jeder der bisherigen Definitionen, dass die berechneten (=zugeordneten) Zahlen in der Menge B liegen. Das ist tats¨achlich der Fall, weil 1 · 5 = 5, 2 · 5 = 10, 3 · 5 = 15, 4 · 5 = 20 und alle diese Zahlen kommen in B vor. Damit ist dieses in der Definition unscheinbare Detail erf¨ ullt. Diese Funktion f hat die spezielle Eigenschaft, dass verschiedenen Elementen von A verschiedene Elemente aus B zugeordnet sind. Muß das bei einer Funktion so sein? Nein. Um einem solchen Mißverst¨andnis vorzubeugen geben wir ein anderes Beispiel einer Funktion von A in B. Dabei ben¨ utzen wir gleich die Gelegenheit, um einen weiteren Aspekt des von uns beabsichtigten Funktionsbegriffs zu erl¨autern: 2.) Definition durch eine Tabelle: Wir k¨onnen auch Zuordnungen ohne Rechenvorschrift angeben, n¨amlich in tabellarischer Form. Zwar ist das nur bei kleinen endlichen Mengen praktikabel, aber das soll kein Hindernis sein. Definition einer Funktion g durch eine Tabelle:

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1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

1 10 g:

2 15 3 15 4 10

Tabellendarstellung der Funktion g Die Tabelle ist in folgender Weise als Zuordnung zu verstehen. In der ersten Spalte stehen die Elemente der Menge A. Betrachtet man eine Zeile der Tabelle, so steht in der linken Zelle ein Element von A und das in der rechten Zelle stehende Element sei das dem linken zugeordnete Element. Ein Blick auf die Menge B und die Elemente der zweiten Spalte zeigt, dass es sich um eine Funktion von A in B handelt - ihr Name sei g. Wer gerne t¨ uftelt, kann sich in diesem Beispiel die Frage stellen, ob die Funktion g sich auch durch eine Rechenvorschrift beschreiben l¨aßt. Was wir mit der Tabellenangabe bezwecken, ist die Befreiung von der Vorstellung, dass eine Funktion immer etwas mit Berechnen zu tun haben muß. Tats¨achlich hat die Berechnung etwas mit den F¨ahigkeiten des Berechners zu tun, w¨ahrend die Tabelle keinerlei Rechenfertigkeit erfordert, sondern nur die viel untergeordnetere T¨atigkeit sorgf¨altigen zeilenweisen Lesens. Klar, dass die tabellarische Angabe einer Funktion unm¨oglich wird, wenn die Menge A zu viele Elemente besitzt. Also werden wir h¨aufiger den rechnerischen Aspekt in unserer Vorstellung verwenden. So haben Sie ja auch zum ersten mal Funktionen in der Schule kennengelernt. Mit Hilfe der Tabellenbeispiele umschiffen wir eher die sprachlichen Schwierigkeiten bei der Aufstellung einer Definition. Dass auch jedem Element von A ein und dasselbe Element von B zugeordnet werden darf, heben wir der Deutlichkeit extra hervor. Auch ben¨ utzen wir gleich die Gelegenheit einen speziellen Typus von Funktionen zu definieren. Definition einer Funktion h durch eine Tabelle:

1 15 h:

2 15 3 15 4 15

Die durch diese Tabelle gegebene Funktion h hat die Eigenschaft, dass jedem Element von A ein und dasselbe Element, n¨amlich 15 aus B zugeordnet wird. ¨ Solche Funktionen nennt man konstante Funktionen, weil bei Anderung des Eingabeelements aus A das zugeordnete Ausgabeelement konstant bleibt. Aufgabe 1.1.1.1. Wie viele konstante Funktionen von A in B gibt es? Es w¨are denkbar, dass jemand mit dem Wort “Zuordnung” auch folgende Vorstellung verbindet, die er uns in Tabellenform zu vermitteln sucht. Definition einer “Zuordnung”, die bei obigen Definitionen von “Funktion” nicht gemeint ist:

1.1. MATHEMATISCHE BEGRIFFE

7

1

r:

5, 10 2 10, 20, 25 3

15

4

20, 25

Gemeint ist wieder, dass dem Element der linken Zelle einer Zeile die Elemente in der rechten Zelle dieser Zeile zugeordnet sind. In den Zeilen 1,2 und 4 werden je einem Element aus A mehrere Elemente aus B zugeordnet. Wer mehrere Elemente in einer Zelle einer Tabelle vermeiden m¨ochte, k¨onnte r auch durch die folgende Tabelle beschreiben:

Einem Element a wird das Element b “zugeordnet”, wenn die Zeile | a | b | in der Tabelle vorkommt. “Zuordnungen”, die einem Element von A mehrere Elemente aus B zuordnen, wollen wir aber nicht in unseren Funktionsbegriff einbauen, ja wir verbieten es, solche “Zuordnungen” als Funktionen von A in B zu bezeichnen. Solche “Zuordnungen” fallen unter den bald zu erw¨ahnenden Begriff der zweistelligen Relation. Man sollte das Wort Zuordnung eigentlich gar nicht mit der obigen Bedeutung belegen, da es zumindest in der Mathematik fast immer als synonym mit dem Wort Funktion angesehen wird! Nach diesen Erl¨auterungen durch Beispiele und Gegenbeispiele sollten Sie in der Lage sein folgende Fragen richtig zu beantworten, obwohl wir noch immer keine pr¨azise Definition von Funktion gegeben haben. Dies ist typisch f¨ ur das menschliche Denken. Meist hat man bereits vor einer genauen Definition schon eine ganz gute Vorstellung von mathematischen Begriffen, wenn man sie an treffenden Beispielen erl¨autert bekommen hat. Jede Definition ist Endprodukt, und nicht Ausgangspunkt, einer oft Jahrhunderte dauernden Entwicklung! Nur in der Lehrbuchdarstellung wird oft der umgekehrte Eindruck erweckt. Aufgabe 1.1.1.2. Welche der folgenden Tabellen definieren Funktionen von A in B? Geben Sie Ihre Gr¨ unde f¨ ur die Ablehnung bzw. Akzeptanz an.

1 20

1 25

3 15 2 3

3 10 4 5

4 10

4 20

4 5 1 10

4 5

2 25

1 20

2 15 3 25

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1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

Haben wir eigentlich schon gesagt, dass A und B gemeinsame Elemente enthalten d¨ urfen? Oft verwenden wir in der Mathematik Funktionen, bei denen Definitionsbereich und Wertevorrat sogar gleich sind. Gibt es auch Funktionen von A in B, wenn B weniger Elemente als A hat, oder wollen wir dies ausschließen? Wer weiß, was man da noch an merkw¨ urdigen Fragen stellen k¨onnte. Wir haben bisher noch immer keine zufriedenstellende Definition, aber einige unserer Fragen zum Funktionsbegriff sind wenigstens beantwortet. Abschließend stellen wir noch einmal unsere vier Funktionsbeispiele in Tabellenform nebeneinander.

f:

1 5 2 10

1 10 2 15

g:

1 15 2 15

h:

3 15

3 15

3 15

4 20

4 10

4 15

1 20 2 15

k:

3 25 4 5

Abbildung 1. Tabellendarstellung der Funktionen f, g, h, k. 1.1.1.3. Verschiedene Veranschaulichungen von Funktionen. Pfeildiagramme: Anstelle der zeilenweisen Zuordnung in einer Tabelle kann man Pfeildiagramme verwenden. Dabei werden die Elemente von A und B meist nur durch Punkte am Papier dargestellt (Falls n¨otig, werden auch die Namen der Elemente neben die Punkte geschrieben, bzw. nur die Namen der Elemente an verschiedenen Stellen am Papier notiert). Wenn ein Punkt P das Element a ∈ A darstellt und der Punkt Q das durch die Tabelle dem a zugeordnete Element b ∈ B darstellt, so zeichnet man einen Pfeil, der bei P beginnt und bei Q mit seiner Spitze landet. Meist ordnet man ¨ die Elemente der Mengen A und B so getrennt wie m¨oglich an, um die Ubersicht zu erh¨ohen. Außerdem zeigt das Pfeildiagramm alle Elemente von B, w¨ahrend in der Tabelle nur die bei der Zuordnung auftretenden Elemente von B sichtbar sind. 1

5

1

5

1

5

1

5

2

10

2

10

2

10

2

10

3

15

3

15

3

15

3

15

4

20

4

20

4

20

4

20

25

25

25

25

Pfeildiagramme der Funktionen f, g, h, k Besonders g¨ unstig sind solche Pfeildiagramme in der Kombinatorik und als heuristisches Hilfsmittel bei der Darstellung von Permutationen. Funktionsgraphen: An rechnerisch gegebenen Funktionen sind viele Eigenschaften nicht sofort sichtbar. Zum Beispiel: Hat eine durch eine Rechenvorschrift gegebene reelle Funktion eine Nullstelle, hat sie ein relatives Extremum, ist sie beschr¨ankt, ist sie monoton wachsend u.s.w. ? Um auch in dieser Hinsicht besseres Verst¨andnis zu erzielen, bedient man sich weiterer zeichnerischer Darstellungen von Funktionen. Diese Darstellungen sind gerade in solchen F¨allen von Vorteil, wo es keine tabellarische Darstellung gibt. Sind die Mengen A und B geordnete Mengen, wie in unserem Beispiel, so empfielt sich die Zeichnung eines Funktionsgraphen. Sie kennen das schon aus der

1.1. MATHEMATISCHE BEGRIFFE

9

Schule. Man repr¨asentiert die Elemente von A als Punkte (mit Bennenung) auf einer horizontalen Geraden gem¨aß ihrer Anordnung in A und macht dasselbe mit den Elementen von B auf einer vertikalen Geraden. Zieht man durch jedes Element der Menge A eine vertikale Gerade und durch jedes Element von B eine horizontale Gerade, so entsteht ein Gitter mit vielen Schnittpunkten dieser Geraden. In unserem Fall sind 4·5 = 20 Schnittpunkte vorhanden. Einige der Schnittpunkte sind schwarz gezeichnet. Geht man auf der vertikalen Geraden durch ein Element a ∈ A bis zum schwarzen Punkt und wendet man sich dann auf der horizontalen Geraden nach links so kommt man zu einem Element von b ∈ B. Dieses so erreichbare b ist das dem a zugeordnete Element. So muß diese Graphik gelesen werden. Die Menge der schwarzen Punkte wird als Graph der Funktion bezeichnet. Dabei ergeben sich folgende Bilder f¨ ur die Funktionen unserer Tabellen. 25

25

25

25

20

20

20

20

15

15

15

15

10

10 5

10 5

10 5

5 1 2 3 4

1 2 3 4

1 2 3 4

1 2 3 4

Funktionsgraphen der Funktionen f, g, h, k In solchen Funktionsgraphen stellt sich die Monotonie einer Funktion sehr deutlich dar, auch ihr Wachstum, eventuelle Minima und Maxima werden gut sichtbar. Sind statt endlicher Mengen wie oben als Definitionsbereich und Wertevorrat Intervalle von reellen Zahlen gegeben, ist der Graph einer Funktion nichts anderes als die bekannte Kurvendarstellung. Wir betrachten zum Beispiel die Funktion u, die jeder reellen Zahl x zwischen −1 und 1 eine reelle Zahl u(x) = x3 − 12 x zwischen − 12 und 12 zuordnet: 0.5 0.4 0.3 0.2

u(x)

0.1 0 −0.1 −0.2 −0.3 −0.4 −0.5 −1

−0.5

0 x

0.5

1

Graph der Funktion u : u(x) = x3 − 12 x Die zeichnerische Darstellung von Funktionsgraphen hat bei den sogenannten elementaren Funktionen der Mathematik (Winkelfunktionen, Arcusfunktionen, Exponential- und Logarithmusfunktion, Wurzelfunktionen, Polynomfunktionen, rationalen Funktionen etc.) den großen Vorteil gebu ¨ ndelter Information in einem Bild. Wenn man die Eigenschaften dieser Funktionen, die sich in den Bildern der Graphen (bzw. Ausschnitten der Graphen) zeigen, alle explizit aufschreiben will,

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1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

hat man sehr viel zu tun. Außerdem ist f¨ ur viele Menschen die Graphik leichter zu merken als der lange Text, der die Information der Graphik wiedergibt. Leider erfordert das Anfertigen von Graphen (bzw. Auschnitten von Graphen) Geduld und Zeit und gen¨ ugend Platz am Papier, weshalb so selten gute Graphiken in Vorlesungen und B¨ uchern zu finden sind. Ferner bringt die beste Graphik nichts, wenn der Begleittext unklar ist. Es muß sowohl in der Graphik als im Text gr¨oßte Klarheit angestrebt werden. Merksatz 1.1.1.3. Die bildhafte Vorstellung von Funktionen ist ein ¨außerst starkes Hilfsmittel zur Gewinnung mathematischer Einsichten! Es gen¨ ugt aber nicht, sch¨one Graphiken anzuschauen, man muß sie immer wieder selber zeichnen und sich der wichtigsten Details bewußt werden! Nur dann hat man die Gewißheit, dass die Graphik keine falschen Informationen mitschleppt oder irref¨ uhrend interpretiert werden kann. Stellen Sie sich nur vor, wie trocken und im Grunde unverst¨andlich eine Diskussion u ¨ber Winkelfunktionen w¨are, wenn man nicht das Bild eines Winkels zwischen zwei Geraden vor Augen h¨atte. H¨aufig h¨ort man den Einwand, dass bildhafte Darstellungen zu Fehlschl¨ ussen f¨ uhren k¨onnen, und daher zu vermeiden seien. Dieser Einwand trifft nur schlechte Bilder. Schlechte Schrift kann auch bei algebraischen Umformungen zu Fehlern f¨ uhren, sollte man daher auf das Schreiben verzichten? 1.1.1.4. Endg¨ ultige Definition von “Funktion”. Wir k¨onnten uns mit dem bisherigen Verst¨andnis von Funktion begn¨ ugen und schon viele interessante Theoreme u ber Funktionen beweisen. Obwohl wir jetzt mit ¨ dem Wort “Funktion” gut arbeiten k¨onnen, stehen wir doch begrifflich auf schwammigem Boden, denn noch immer k¨onnen wir die Frage “Was ist eine Funktion” nur durch Beispiele beantworten. Wir wollen hier angeben, wie das Problem der Definition des Funktionsbegriffes in der modernen Mathematik gel¨ost wird: Sowohl durch die Rechenvorschrift, wie durch eine Tabelle wird eine zweistellige Beziehung (= Relation) zwischen den Elementen von A und den Elementen von B hergestellt. Im Falle der Rechenvorschrift ist es die Beziehung zwischen dem Eingabeelement a ∈ A und dem Ausgabeelement b ∈ B. Es gibt zu vorgegebenem a ∈ A viele Elemente in B, aber nur eines unter ihnen ist das Ergebnis der Rechnung. Im Falle der Tabelle ist es die Beziehung des in der selben Zeile der Tabelle Vorkommens. Von einer zweistelligen Relation setzen wir nur voraus, dass f¨ ur alle a ∈ A und alle b ∈ B entweder a in der Relation zu b steht oder nicht. (Damit beschreibt jede zweispaltige Tabelle eine zweistellige Relation.) Symbolisch bedeutet R(a, b), dass a in der Relation R zu b steht. Funktionen werden nun als besondere Relationen gekennzeichnet. Definition 1.1.1.4. Eine zweistellige Relation R heißt funktional im ersten Argument (kurz Funktion von A in B), wenn f¨ ur alle a ∈ A genau ein b ∈ B existiert, so dass R(a, b). In der Schreibweise der Quantorenlogik sieht dies so aus: ³ ¡ ¢´ ∀a∈A ∃b∈B R(a, b) ∧ ∀b0 ∈B R(a, b0 ) ⇒ b = b0 .

1.1. MATHEMATISCHE BEGRIFFE

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Sie sehen, es war f¨ ur das Aussprechen einer pr¨azisen Definition von Funktion notwendig, auf einen anderen (allgemeineren) Begriff, n¨amlich den der Relation, zur¨ uckzugreifen. Dies ist eine Art des Definierens: n¨amlich durch Zusatzbedingungen an einen allgemeinen Begriff einen spezielleren Begriff zu erkl¨aren. Dieser Handgriff hat aber die Problematik der Begriffsbildung zun¨achst nur verschoben, denn nun m¨ ussen wir definieren, was eine zweistellige Relation ist. Die Tabellenschreibweise suggeriert den Ansatz: Die Relation ist dadurch festgelegt, welche Zeilen in der Tabelle u ¨berhaupt vorkommen. Wir definieren dann: Eine zweistellige Relation zwischen Elementen von A und B ist eine Menge R von Paaren (a, b), wobei das erste Element des Paares jeweils Element von A, das zweite von B ist. Die Elemente a, b stehen in der Relation R, wenn das Paar (a, b) Element von R ist. Und damit haben wir auch den Relationsbegriff auf den Begriff der Menge zur¨ uckgef¨ uhrt. Aber was ist eine Menge? 1.1.1.5. Zur Geschichte des Funktionsbegriffes. Diese moderne Definition steht am Ende einer u ¨ber 100 Jahre andauernden Entwicklung. Zuerst stellte sich das Problem, was man unter einer Rechenvorschrift verstehen sollte. Darf eine Rechenvorschrift aus nur endlich vielen Hintereinanderausf¨ uhrungen der vier Grundrechnungsarten, Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division bestehen oder l¨asst man auch unendlich viele Schritte zu. Unendlich viele Schritte zuzulassen, d.h. Grenzwerte von Folgen und unendliche Reihen in ¨ mathematische Uberlegungen miteinzubeziehen, ergab sich aber zwangsl¨aufig. In algebraischer Darstellung hatte man also “geschlossene” Rechenvorschriften der Art x3 − 3x2 + 10 , 100x20 + x5 + 7x

1 + x + x2 + x3 + x4 ,

∞ X

xn = 1 + x + x2 + x3 ... ad infinitum.

n=1

Zugleich mit der Einbeziehung von unendlich vielen Rechenschritten ergab sich das Problem, was denn eigentlich die reellen Zahlen seien. Euler betrachtete nur Rechenvorschriften, die er in seinem algebraischen Bezeichnungssystem geschlossen darstellen konnte. Eine einerseits diffuse, aber andererseits ganz praktikable Forderung, was eine Funktion sein sollte. Ein erstes Abgehen von der Forderung der geschlossenen Darstellung bestand in der Aneinanderst¨ uckelung von Funktionen (im Sinne Eulers), die auf benachbarten Intervallen gegeben waren. Das St¨ uckeln wurde als ein gewisser Verstoß gegen die Geschlossenheit der Darstellung der Rechenvorschrift angesehen. Erst mit dem Auftreten von sogenannten pathologischen Funktionen wie der Dirichletschen 0,1-Funktion, die jeder rationalen Zahl den Wert 1 und jeder irrationalen Zahl den Wert 0 zuordnet (und u ¨brigens sogar durch einen geschlossenen Ausdruck und Grenzprozeß dargestellt werden kann) wurde der Wunsch nach zwei Definitionen zugleich geweckt - einer Definition, was man unter reellen Zahlen, und einer Definition, was man unter reellen Funktionen verstehen sollte. Es ist ¨außerst lehrreich die Bem¨ uhungen der ber¨ uhmtesten Mathematiker und Logiker (wenigstens in beschr¨anktem Ausmaß) nachzuvollziehen, da es dem eigenen besseren Verst¨andnis der Sache dient.

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1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

Was Sie jetzt k¨ onnen: Sie haben gesehen, welche Gedankenarbeit n¨otig ist, um einen mathematischen Begriff von der vagen Intuition zur pr¨azisen Definition zu entwickeln. Hinter der formalen mathematischen Sprache steht eine Welt von anschaulichen Bildern, die sich mit dem mathematischen Formalismus zwar nicht exakt decken, aus denen aber der Formalismus entsteht. Diese Bilderwelt ist die Geburtsst¨atte und Antriebsfeder aller mathematischen Erkenntnis und Entwicklung. Mathematik ist ein Wechselspiel zwischen Intuition und formal korrekter Pr¨azisierung. 1.1.2. Definieren. ¨ Ubersicht: An einem Beispiel zeigen wir, wie man in der Mathematik Objekte definiert und benennt. Der Inhalt der Theorie, die wir hier entwickeln, n¨amlich Halbgruppen, ist zwar in der Mathematik sehr wichtig, aber hier dient er nur als Beispiel und spielt in dieser Lehrveranstaltung keine weitere Rolle.

¨ Anders als die meisten folgenden Kapitel enth¨ alt dieser Abschnitt keine Ubungen. Sehen Sie einfach einmal zu, wie sich Mathematik abspielt.

¨ Wir schicken eine ganz allgemeine Uberlegung zur Sprache voraus: Im Alltag ist Sprache ein Interaktionsprozess zwischen Personen, der die gemeinsame r¨aumliche und zeitliche Umgebung der Personen (die Sprechsituation) stark einbezieht: A: Der Vogel dort dr¨ uben ist aber anders als der, den wir gestern gesehen haben. B: Warum meinst Du? A: Er hat blaue Schwanzfedern. B: Ja, der gestern hatte schwarze. Die Information wird in einem st¨andigen Hin und Her schrittweise pr¨azisiert, und selbst am Ende des Dialoges wissen wir als Außenstehende nicht, von welchem Vogel die beiden gesprochen haben, weil wir den Fingerzeig des Sprechers A nicht sehen. Wir wissen auch nicht, wann sie den Vogel gesehen haben, wenn wir nicht wissen, an welchem Tag der Dialog stattgefunden hat. In der wissenschaftlichen Kommunikation m¨ ussen wir auf die Ausn¨ utzung der Sprechsituation verzichten, auch k¨onnen oft die Lesenden nicht direkt beim Schreibenden r¨ uckfragen. Merksatz 1.1.2.1. Korrekte wissenschaftliche Sprache ist von vornherein so gestaltet, dass allein durch die Formulierung der Aussagen auf einen Schlag und unmissverst¨andlich die gew¨ unschte Information wiedergegeben wird. Der Autor eines Romans steht vor dem selben Problem. Er will von Personen, Orten und Zeiten reden, die es vielleicht gar nicht gibt und nie gegeben hat. Der Leser weiß daher zun¨achst von diesen Objekten gar nichts. Der Autor beginnt also damit, diese Personen und Orte mit charakteristischen Eigenschaften zu beschreiben: ”Ein kleines unbeugsames Dorf in Gallien.” Damit nicht immer die ganze Beschreibung wiederholt werden muss, bekommen die Objekte Namen: ”Don Giovanni, ein sehr leichtlebiger junger Edelmann”.

1.1. MATHEMATISCHE BEGRIFFE

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1.1.2.1. Definition einer Halbgruppe — Beginn einer axiomatischen Theorie. Mathematische Objekte sind abstrakt, man kann sie nicht durch Sinneseigenschaften wie Farben oder Ger¨ uche beschreiben und schon gar nicht mit dem Finger darauf zeigen. Sehr oft beginnt eine mathematische Theorie nicht damit, festzulegen, was die Objekte sind, sondern welche Operationen mit ihnen m¨oglich sind: Definition 1.1.2.2. Sei H eine Menge und ◦ eine innere Verkn¨ upfung auf H, dass heißt, f¨ ur alle a, b ∈ H gibt es ein eindeutig bestimmtes Element a ◦ b ∈ H. Das Paar (H, ◦) heißt eine Halbgruppe, wenn ◦ assoziativ ist, das heißt, f¨ ur alle a, b, c ∈ H gilt (a ◦ b) ◦ c = a ◦ (b ◦ c). Wir haben den “Roman” begonnen. Die Akteure sind vorgestellt: es sind Elemente einer Menge, von denen wir nichts wissen, als dass mit ihnen eine Rechenoperation durchgef¨ uhrt werden kann, bei der die Klammern beliebig vertauscht werden k¨onnen. Merksatz 1.1.2.3. Eine axiomatische mathematische Theorie beginnt damit, dass man durch eine Definition Objekte einf¨ uhrt, denen ganz bestimmte Eigenschaften zukommen. Man beweist dann weitere Aussagen u ¨ber diese Objekte, wobei nur die in der Definition vorausgesetzten Eigenschaften zum Beweis herangezogen werden d¨ urfen. Die Theorie trifft somit auf alle Arten von Objekten zu, die die in der Definition vorausgesetzten Eigenschaften erf¨ ullen. 1.1.2.2. Beispiele von Halbgruppen. Die Situation aus Definition 1.1.2.2 kommt uns tats¨achlich recht bekannt vor: Beispiel 1.1.2.4. Die Menge der nat¨ urlichen Zahlen, N = {1, 2, 3, · · · } mit der Addition als Verkn¨ upfung ist eine Halbgruppe (N, +). Ebenso ist N mit der Multiplikation eine Halbgruppe. Statt N k¨onnten wir auch die Menge der ganzen Zahlen Z = {0, ±1, ±2 · · · }, der rationalen Zahlen Q = { pq | p, q ∈ Z, q 6= 0}, oder die Menge R der reellen Zahlen, das sind alle Zahlen der Zahlengeraden, nehmen. Beispiel 1.1.2.5. Die Menge der nat¨ urlichen Zahlen mit der Subtraktion bildet schon deshalb keine Halbgruppe, weil die Subtraktion auf N keine innere Verkn¨ upfung ist: Nicht f¨ ur alle a, b ∈ N gibt es ein Element a − b ∈ N. Aber auch (Z, −) ist keine Halbgruppe, weil die Subtraktion nicht assoziativ ist: (3 − 2) − 1 6= 3 − (2 − 1). Beispiel 1.1.2.6. Sei H eine beliebige Menge. F¨ ur alle a, b ∈ H definieren wir a ◦ b = a. Dann ist (H, ◦) eine Halbgruppe. Es ist durchaus sinnvoll, auch so seltsame Beispiele im Auge zu behalten wie Beispiel 1.1.2.6. Solche Beispiele sind n¨amlich so ungewohnt, dass sie manchmal als Gegenbeispiele dienen, wenn uns unsere Intuition eine Vermutung vorspielt, die zwar f¨ ur die Halbgruppen gilt, welche wir gewohnt sind, aber eben nicht f¨ ur alle Halbgruppen.

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1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

Wir k¨onnen also eine Reihe von Beispielen f¨ ur Halbgruppen geben. Auf alle diese und noch viel mehr trifft die Theorie zu, die wir jetzt entwickeln. Die axiomatische Arbeitsweise ist also sehr rationell: Mit einem Schlag beweisen wir nicht die Eigenschaften eines Objektes, sondern einer ganzen Familie von Objekten. 1.1.2.3. Potenz — Definition durch Rechenvorschrift. Wir beginnen uns jetzt, im Rahmen unserer Theorie zu bewegen und neue Objekte zu definieren, zum Beispiel die Potenz. Wir tun das einfach, in dem wir ein Rezept angeben, wie man eine Potenz berechnet: Definition 1.1.2.7. Sei (H, ◦) eine Halbgruppe, sei a ∈ H und n ∈ N. Wir definieren die Potenz  1 := a a n a := a  | ◦ a ◦{z· · · ◦ a} n Faktoren

Der Doppelpunkt bedeutet, dass das Zeichen an der Name f¨ ur die Formel rechts daneben ist. Wir sagen auch “an ist per definitionem gleich dem Produkt a | ◦ a ◦{z· · · ◦ a}.” n Faktoren

(Diese Definition mit den P¨ unktchen ist nicht ganz befriedigend. Eine sauberere Form lernen wir in Unterabschnitt 1.4.2 kennen.) 1.1.2.4. Wurzeln — Definition durch Eigenschaften. Wenn man Potenzen definieren kann, k¨onnte man auch versuchen, Wurzeln zu definieren. Diesmal definieren wir nicht mit einem Rezept √ zur Berechnung einer Wurzel, sondern mit ihrer typischen Eigenschaft: Von x = a erwarten wir x◦x = a. Wir werden aber auf Probleme stoßen: Beispiel 1.1.2.8 (Erster Versuch, eine Wurzel zu definieren). Sei (H, ◦) eine √ Halbgruppe und a ∈ H. Die Wurzel aus a (bezeichnet mit a) ist jenes Element x ∈ H, welches die Gleichung x ◦ x = a l¨ost. √ Das geht schief! Betrachten wir die Halbgruppe (R, ·). Dann ist 1 nicht eindeutig definiert: Sowohl x = +1 als auch x = −1 erf¨ ullt x · x = 1. Welches davon ist die Wurzel? Beispiel 1.1.2.9 (Zweiter Versuch, eine Wurzel zu definieren). Sei (H, ◦) eine √ Halbgruppe und a ∈ H. Die Wurzel aus a (bezeichnet mit a) ist jenes positive Element x ∈ H, welches die Gleichung x ◦ x = a l¨ost. Das ist total schiefgegangen. Positive Elemente gibt es zwar in R, aber wir haben nur vorausgesetzt, dass (H, ◦) eine Halbgruppe ist. Wir wissen also gar nicht, ob es so etwas wie Positivit¨at auf H u ¨berhaupt gibt. Definition 1.1.2.10. Sei (H, ◦) eine Halbgruppe und seien a, x ∈ H. Dann heißt x eine Wurzel von a, wenn gilt x ◦ x = a. Wir haben geschrieben “eine”, nicht√“die”, weil es mehrere oder gar keine Wurzeln geben k¨onnte. Auch das Zeichen a haben wir nicht eingef¨ uhrt, es w¨ urde suggerieren, dass es zu jedem a genau eine Wurzel gibt, und dabei kann es Elemente ohne Wurzeln geben, und auch Elemente mit mehreren Wurzeln. Merksatz 1.1.2.11. Wenn Sie ein Objekt durch eine Eigenschaft definieren und anschließend benennen, beachten Sie genau: 1.) Gibt es das Objekt u ¨berhaupt?

1.1. MATHEMATISCHE BEGRIFFE

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2.) Ist das Objekt eindeutig bestimmt? Verwenden Sie nie ein und dasselbe Zeichen zur Benennung von mehreren verschiedenen Objekten! 1.1.2.5. Neutrales Element — Definition mit Rechtfertigung durch Eindeutigkeitsbeweis. Noch eine Definition mit Hilfe einer Eigenschaft: Die Null in der Halbgruppe (Z, +) hat die Eigenschaft, dass f¨ ur alle a ∈ Z gilt 0 + a = a. Ebenso gilt immer in der Halbgruppe (Z, ·) die Identit¨at 1 · a = a. Offensichtlich sind 0 bzw. 1 in diesen Halbgruppen ganz spezielle Elemente. Definition 1.1.2.12. Sei (H, ◦) eine Halbgruppe. Wenn es ein Element e ∈ H gibt, welches f¨ ur alle a ∈ H beide Gleichungen a ◦ e = a und e ◦ a = a erf¨ ullt, so heißt e das neutrale Element von H. Wir sind vorsichtig geworden. Wir haben in Betracht gezogen, dass es vielleicht gar kein neutrales Element gibt. Wir haben auch bedacht, dass e◦a und a◦e in einer Halbgruppe nicht dasselbe sein m¨ ussen, denn wir haben ja keine Kommutativit¨at vorausgesetzt. Aber wir haben e als das neutrale Element bezeichnet! Das bedeutet also, dass es nur dieses eine neutrale Element gibt. Stimmt das u ¨berhaupt? Sonst m¨ ussten wir schreiben: “e heißt ein neutrales Element. Merksatz 1.1.2.13. Achten Sie im mathematischen Sprachgebrauch sorgf¨altig auf den Artikel. Der bestimmte Artikel darf nur verwendet werden, wenn die Bezeichnung auf genau ein Objekt zutrifft, von dem die Rede ist. Die Definition 1.1.2.12 ist trotzdem in Ordnung, der folgende Satz rechtfertigt die Definition: Satz 1.1.2.14. Sei (H, ◦) eine Halbgruppe. Dann enth¨ alt H h¨ ochstens ein neutrales Element. Beweis. Wir m¨ ussen zeigen, dass es keine zwei verschiedenen Elemente e, f ∈ H geben kann, die beide neutral sind. Anders gesagt, wir zeigen: Wenn e, f neutrale Elemente sind, so sind sie in Wirklichkeit dasselbe Element (nur mit zwei verschiedenen Namen). Es seien also e und f neutral. Dann gilt e = e◦f weil f neutral ist, e◦f = f weil e neutral ist, also e = f . ¤ Wir haben in unserer Theorie der Halbgruppen einen ersten Satz formuliert. Er besteht, wie jeder mathematische Lehrsatz, aus drei Teilen: 1.) Voraussetzungen, welche eine bestimmte Situation beschreiben: “Sei (H, ◦) eine Halbgruppe” — wir reden also von einer Menge H und einer assoziativen inneren Verkn¨ upfung ◦ auf H. Jetzt wissen wir, wovon der Satz handelt. 2.) Einer Behauptung (Satzaussage), welche immer zutrifft, wenn die Voraussetzungen erf¨ ullt sind. “Dann gibt es h¨ochstens ein neutrales Element.” Jetzt wissen wir etwas Neues u ¨ber die Objekte. 3.) Einem Beweis f¨ ur die Behauptung, der sich nur auf die Voraussetzungen des Satzes gr¨ undet. Jetzt wissen wir auch, warum die Behauptung gilt. Beispiel 1.1.2.15. Gilt der folgende Satz? “Sei (H, ◦) eine Halbgruppe. Dann besitzt (H, ◦) ein neutrales Element.”

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1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

Betrachten wir unsere Beispiele: In (Z, +) gibt es das neutrale Element 0, in (N, ·) ist das neutrale Element 1. Aber in (N, +) gibt es kein neutrales Element! Die Voraussetzung des Satzes verlangt aber nur eine Halbgruppe, und (N, +) ist eine Halbgruppe. Dieses eine Beispiel zeigt bereits: der Satz ist falsch.

Merksatz 1.1.2.16. Ein Beispiel, das zeigt, dass eine Behauptung nicht immer zutrifft, heißt ein Gegenbeispiel.

1.1.2.6. Inverses Element — erst Eindeutigkeit zeigen, dann benennen. Definition 1.1.2.17. Sei (H, ◦) eine Halbgruppe mit einem neutralen Element e. Seien a, x ∈ H. Wenn gilt: a ◦ x = x ◦ a = e, dann heißt x ein inverses Element von a. Keine Probleme, alle Vorsichtsmaßnahmen sind getroffen. Es kann sein, dass es gar kein inverses Element gibt. Die Formulierung w¨are auch korrekt, wenn es mehrere inverse Elemente g¨abe. Aber in Wirklichkeit gilt sogar Eindeutigkeit: Satz 1.1.2.18. Sei (H, ◦) eine Halbgruppe mit einem neutralen Element e. Sei a ∈ H. Dann besitzt a h¨ ochstens ein inverses Element. Beweis. Seien x, y inverse Elemente zu a. Wir m¨ ussen zeigen: x = y. Es gilt aber x = x ◦ e = x ◦ (a ◦ y) = (x ◦ a) ◦ y = e ◦ y = y. Also gilt x = y.

¤

Der Beweis ist kurz hingeschrieben. Aber Vorsicht: Wenn Sie einen Beweis lesen, achten Sie darauf, dass Sie jeden Schritt und seine Begr¨ undung verstehen. Es k¨onnte ja auch ein Fehler darin sein, das passiert auch guten Mathematikern gar nicht so selten! x = x ◦ e, denn e ist das neutrale Element, x ◦ e = x ◦ (a ◦ y) denn y ist invers zu a, x ◦ (a ◦ y) = (x ◦ a) ◦ y denn ◦ ist assoziativ, (x ◦ a) ◦ y = e ◦ y denn x ist invers zu a, e◦y =y denn e ist neutral. Alle Schritte lassen sich rechtfertigen, wozu nur die Voraussetzungen des Satzes notwendig sind. Der Beweis ist also in Ordnung, der Satz gilt. Und jetzt k¨onnen wir definieren: Definition 1.1.2.19. Sei (H, ◦) eine Halbgruppe mit einem neutralen Element e. Sei a ∈ H. Wenn es zu a ein inverses Element gibt, dann bezeichnen wir dieses mit a−1 . Diese Definition gibt dem inversen Element von a einen Namen, n¨amlich a−1 . Denselben Namen darf man aber nie zwei verschiedenen Objekten geben. Satz 1.1.2.18 hat gezeigt, dass es aber keine zwei verschiedene inverse Elemente zu a geben kann, daher ist Definition 1.1.2.19 zul¨assig.

1.1. MATHEMATISCHE BEGRIFFE

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1.1.2.7. Nur Objekte verwenden, die es gibt. Wenn wir das Zeichen a−1 verwenden, m¨ ussen wir uns vergewissern, dass es das inverse Element zu a wirklich gibt. Wir wissen zwar, es gibt h¨ochstens eines, aber es k¨onnte auch gar keines geben. ¨ Beispiel 1.1.2.20. Uberpr¨ ufen Sie den folgenden Satz und seinen Beweis: Sei (H, ◦) eine Halbgruppe mit neutralem Element e. Dann gilt die folgende K¨ urzungsregel: Gilt f¨ ur Elemente x, y, z ∈ H die Gleichung x ◦ y = x ◦ z, dann gilt auch y = z. Beweis. Es gelte x ◦ y = x ◦ z. Wir m¨ ussen zeigen: y = z. Es gilt aber y = e ◦ y = (x−1 ◦ x) ◦ y = x−1 ◦ (x ◦ y) = x−1 ◦ (x ◦ z) = (x−1 ◦ x) ◦ z = e ◦ z = z. ¤ Der Satz ist falsch. Betrachten Sie als Gegenbeispiel die Halbgruppe (Q, ·) der rationalen Zahlen mit der Multiplikation. Es gilt zwar 0 · 1 = 0 · 2, aber nicht 1 = 2. Durch Null darf man nicht k¨ urzen! Wenn aber der Satz falsch ist, muss der Beweis einen Fehler enthalten. Und der besteht darin, dass wir das Element x−1 verwenden, ohne zu wissen, dass es dieses Element u ¨berhaupt gibt. Tats¨achlich gibt es zu 0 kein inverses Element bez¨ uglich der Multiplikation. In Halbgruppen, in denen jedes Element ein inverses Element besitzt, l¨aßt sich der Beweis aber problemlos so wie oben f¨ uhren: Definition 1.1.2.21. Eine Halbgruppe (H, ◦) heißt Gruppe, wenn sie ein neutrales Element besitzt, und zu jedem Element a ∈ H ein inverses Element existiert. Satz 1.1.2.22. Sei (H, ◦) eine Gruppe. Dann gilt die folgende K¨ urzungsregel: Gilt f¨ ur Elemente x, y, z ∈ H die Gleichung x ◦ y = x ◦ z, dann gilt auch y = z.

An dieser Stelle verlassen wir die Theorie der Halbgruppen. Tats¨achlich ist die Definition der Gruppe enorm fruchtbar: Erstens gibt es viele wichtige Beispiele von Gruppen, und zweitens kann man u ¨ber Gruppen sehr viele Aussagen beweisen. Unsere kleinen S¨atzchen sind nat¨ urlich nur ein erstes Gepl¨ankel. Die wirklich tiefen Einsichten der Gruppentheorie lernen Sie in einer Vorlesung u ¨ber Algebra kennen. Was Sie jetzt k¨ onnen: Sie haben an einem Beispiel gesehen, wie in der Mathematik Objekte eingef¨ uhrt werden. Sie wissen, dass bei der Benennung von Objekten zu bedenken ist, ob die Objekte, welche man benennt, tats¨achlich existieren, und ob sie eindeutig bestimmt sind. Sie achten beim Lesen und Schreiben mathematischer Texte auch auf kleine Details, wie zum Beispiel Artikel.

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1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

1.2. Aussagenlogik ¨ Ubersicht: 1. 2. 3. 4.

Aussagenlogischer Schluss, aussagenlogischer Formalismus. Implikation. Aussagenlogische Beweise. Strategien: Fallunterscheidung und Widerspruch

1.2.1. Aussagenlogischer Schluss und Formalismus. ¨ Ubersicht: 1) 2) 3) 4)

Beispiele von aussagenlogischen Schl¨ ussen Formelschreibweise mit ¬, ∧, ∨ Wahrheitstafeln ¨ Aquivalente Aussagen

1.2.1.1. Einf¨ uhrende Beispiele von aussagenlogischen Schl¨ ussen. Beispiel 1.2.1.1. Das Folgende ist ein aussagenlogischer Schluss: Sie vorl¨aufig nicht die Formeln neben den Aussagen.) Pr¨amissen: Wenn ich verr¨ uckt bin, schenke ich Ihnen 50.000,00 Euro. Ich schenke Ihnen die 50.000 Euro, oder ich kaufe mir daf¨ ur einen antiken Teppich. Ich kann nicht gleichzeitig den Teppich kaufen und Ihnen das Geld schenken. Ich kaufe mir den antiken Teppich. Konklusion: Ich bin nicht verr¨ uckt.

(Beachten

v⇒s s∨k ¬(s ∧ k) k ¬v

Beispiel 1.2.1.1 ist ein Schluss, denn es wird von (hier 4) Aussagen, den Pr¨ amissen, auf eine neue Aussage, die Konklusion geschlossen, d.h., wir behaupten, wenn alle 4 Pr¨amissen wahr sind, dann muss auch die Konklusion wahr sein. Beispiel 1.2.1.1 ist ein logischer Schluss, denn er beruht nur auf der Struktur der Aussagen, nicht auf ihrem Inhalt. Das folgende Beispiel ist ein Schluss, der nach genau derselben Gesetzm¨aßigkeit erfolgt und dieselbe logische Struktur besitzt, obwohl Pr¨amissen und Konklusion von v¨ollig anderen Dingen reden: Beispiel 1.2.1.2. Ein logischer Schluss nach demselben Muster wie Beispiel 1.2.1.1: Pr¨amissen: Wenn es schneit, fahre ich mit dem Autobus. s⇒b Ich fahre mit dem Rad oder dem Autobus. r∨b Ich fahre nicht zugleich mit dem Rad und dem Bus. ¬(r ∧ b) Ich fahre mit dem Rad. r Konklusion: Es schneit nicht. ¬s Die G¨ ultigkeit des Schlusses h¨angt nicht von der G¨ ultigkeit der Pr¨amissen ab, selbst wenn es heute vielleicht schneit, oder ich nie mit dem Rad fahre. Behauptet wird nur: Wenn alle Pr¨ amissen gelten, dann gilt auch die Konklusion.

1.2. AUSSAGENLOGIK

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Aufgabe 1.2.1.3. Bleibt der Schluss aus Beispiel 1.2.1.1 g¨ ultig, wenn man die Pr¨amisse hinzuf¨ ugt: “Wer sich einen Teppich um 50.000 Euro kauft, ist verr¨ uckt”? Beispiele 1.2.1.1 und 1.2.1.2 sind aussagenlogische Schl¨ usse. Pr¨amissen und Konklusion sind hier jeweils aus drei Aussagen aufgebaut, die in verschiedenen Verkn¨ upfungen miteinander zu neuen, komplexeren Aussagen kombiniert sind: Beispiel 1.2.1.1 Beispiel 1.2.1.2 v Ich bin verr¨ uckt. s Es schneit. s Ich schenke Ihnen 50.000 Euro. b Ich fahre mit dem Autobus. k Ich kaufe mir einen antiken Teppich. r Ich fahre Rad. Und aus der Struktur dieser Kombination ergibt sich der Schluss, ganz unabh¨angig vom Inhalt der einzelnen Aussagen. Die Formeln rechts in der folgenden Tabelle sind eine Art Stenographie f¨ ur die logischen Verkn¨ upfungen zwischen den Einzelaussagen ( ⇒: “wenn—dann”, ∨: “oder”, ∧: “und”, ¬: “nicht”). Wir werden unten die Formelschreibweise n¨ aher beschreiben. Pr¨amissen: Wenn v gilt, dann gilt s. v⇒s Es gilt mindestens eine von beiden, s oder k. s∨k Es gilt nicht: Beide sind zugleich wahr, s und k. ¬(s ∧ k) Es gilt k. k Konklusion Es gilt nicht v. ¬v 1.2.1.2. Formelschreibweise der Aussagenlogik. Da also aussagenlogische Schl¨ usse nur von den Beziehungen zwischen den Aussagen abh¨angen, kann man einen Formalismus entwickeln, in dem jede Aussage nur durch ein Zeichen dargestellt wird, und die Verkn¨ upfungen zwischen ihnen durch Formelsymbole. Ein solcher Formalismus entfernt alle u ussige Detailinformati¨berfl¨ on und macht dadurch die aussagenlogische Struktur deutlicher. Naive Definition 1.2.1.4. Jeder Aussage kommt ein Wahrheitswert “w” (wahr) oder “f” (falsch) zu. Wir sagen, eine Aussage gilt, wenn ihr “w” zukommt, wenn ihr dagegen “f” zukommt ist, so gilt sie nicht. Definition 1.2.1.5. Sind p und q zwei Aussagen, so lassen sich folgende Aussagen bilden: ¬p “nicht p” Negation (Verneinung) von p, p∧q “p und q” Konjunktion von p und q, p ∨ q “p oder q (oder beide)” Disjunktion von p und q. Dabei ergeben sich die Wahrheitswerte der neuen Aussagen aus den Wahrheitswerten von p und q nach folgender Tabelle: p q w w w f f w f f

¬p p ∧ q f w f f w f w f

p∨q w w w f

Beispiel 1.2.1.6. Seien a, b, c die folgenden drei Aussagen: a: 2 ist eine gerade Zahl. b: 3 ist eine gerade Zahl. c: 4 ist die gr¨oßte Zahl, die es gibt.

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1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

Was bedeuten die folgenden Aussagen, und sind sie wahr oder falsch? a ∧ b, ¬c, (a ∨ b) ∧ c. a ∧ b: 2 ist gerade, und zugleich ist 3 gerade. Falsch, denn 3 ist nicht gerade. ¬c: 4 ist nicht die gr¨oßte Zahl. Wahr. (a ∨ b) ∧ c: 2 ist gerade oder 3 ist gerade, oder beides. Zugleich ist 4 die gr¨oßte Zahl. Zwar gilt a ∨ b, es ist ja zumindest 2 gerade, aber weil nicht zugleich 4 die gr¨oßte Zahl ist, ist (a ∨ b) ∧ c eine falsche Aussage. Aufgabe 1.2.1.7. Seien a, b, c die Aussagen aus Beispiel 1.2.1.6. Was besagen die folgenden Aussagen, und sind sie wahr? ¬a ∨ b, ¬(b ∧ c) ∨ a. Aufgabe 1.2.1.8. Gegeben seien drei Aussagen r, s, t. Formalisieren Sie die folgenden Aussagen: 1) Es gilt r oder s (oder beide). Zugleich gilt s oder nicht t oder beide. 2) Das Folgende ist falsch: r, s und t gelten alle drei zugleich, oder es gilt r und zugleich nicht t, oder es gilt, dass s falsch und zugleich t wahr ist. Aufgabe 1.2.1.9. Gegeben seien die Aussagen a, b. Formalisieren Sie mit Hilfe von ∧, ∨, ¬ die folgende Aussage: Es gilt entweder a oder b (aber nicht beide zugleich). 1.2.1.3. Wahrheitstafeln. Im R¨ uckgriff auf Definition 1.2.1.5 kann man f¨ ur Aussagen, welche mit ¬, ∧ und ∨ aus anderen Aussagen gebildet werden, mit Hilfe von Tabellen, sogenannten Wahrheitstafeln die Wahrheitswerte bestimmen. Beispiel 1.2.1.10. Stellen Sie die Tabelle (Wahrheitstafel) der Wahrheitswerte der Aussage (p ∨ q) ∧ (p ∨ r) in Abh¨angigkeit von den Wahrheitswerten von p, q, r auf. L¨ osung: Da wir von drei Aussagen p, q, r ausgehen, gibt es insgesamt 23 = 8 m¨ogliche Kombinationen, diese Aussagen mit Wahrheitswerten zu belegen. Wir schreiben diese 8 Kombinationen systematisch untereinander. F¨ ur jede dieser Kombinationen erstellen wir schrittweise die Wahrheitswerte von p∨q, p∨r, und letztlich (p ∨ q) ∧ (p ∨ r). Jede Spalte der folgenden Tabelle geh¨ort zu einer Aussage, jede Zeile zu einer Kombination von Wahrheitswerten f¨ ur p, q, r. p w w w w f f f f

q r w w w f f w f f w w w f f w f f

p∨q w w w w w w f f

p∨r w w w w w f w f

(p ∨ q) ∧ (p ∨ r) w w w w w f f f

Aufgabe 1.2.1.11. Erstellen Sie die Wahrheitstafel f¨ ur p ∨ (q ∧ r) und vergleichen Sie das Ergebnis mit der Wahrheitstafel f¨ ur (p ∨ q) ∧ (p ∨ r).

1.2. AUSSAGENLOGIK

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Bemerkung 1.2.1.12. Wahrheitstafeln sind ein sicheres, aber sehr unbequemes Mittel, aussagenlogische Zusammenh¨ange zu untersuchen. Eine Wahrheitstafel mit Aussagen, welche aus 5 einzelnen Aussagen zusammengesetzt sind, h¨atte ja bereits 32 Zeilen! In der Praxis f¨ uhrt man fast immer, wie Sie sp¨ater sehen werden, Beweise mit bequemeren und der Intuition n¨aher liegenden Strategien. Allerdings braucht man daf¨ ur etwas Kreativit¨at, w¨ ahrend Wahrheitstafeln mit automatischer Routine das Ergebnis liefern.

¨ 1.2.1.4. Aquivalente Aussagen. Definition 1.2.1.13. Sind a, b zwei Aussagen, so wird eine neue Aussage a ⇔ b “a ist ¨ aquivalent zu b” durch die folgende Wahrheitstafel definiert: a b w w w f f w f f

a⇔b w f f w

Mit anderen Worten, zwei Aussagen sind ¨aquivalent, wenn sie denselben Wahrheitswert haben. ¨ Satz 1.2.1.14. Sind a, b, c drei Aussagen, so gelten stets die folgenden Aquivalenzen: a∧b (a ∧ b) ∧ c (a ∧ b) ∨ c ¬(a ∨ b)

⇔ b∧a ⇔ a ∧ (b ∧ c) ⇔ (a ∨ c) ∧ (b ∨ c) ⇔ ¬a ∧ ¬b

a∨b (a ∨ b) ∨ c (a ∨ b) ∧ c ¬(a ∧ b)

⇔ b∨a ⇔ a ∨ (b ∨ c) ⇔ (a ∧ c) ∨ (b ∧ c) ⇔ ¬a ∨ ¬b

Kommutativgesetz Assoziativgesetz Distributivgesetz De Morgansche Regeln

¨ Bemerkung 1.2.1.15. Merken Sie sich die Aquivalenzen aus Satz 1.2.1.14 und auch ihre Namen. Assoziativ-, Kommutativ- und Distributivgesetze kommen auch im Rechnen mit Zahlen und allgemeiner, in der Algebra, immer wieder vor. Man ¨ kann die obigen Aquivalenzen (und einige weitere einfache Regeln) als Mittel verwenden, um mit den Verkn¨ upfungen ∧, ∨, ¬, ⇔, ⇒ wie mit Verkn¨ upfungen zwischen ¨ Zahlen formal zu rechnen. Die obigen Aquivalenzen erscheinen f¨ ur den Hausverstand unmittelbar einleuchtend. Nat¨ urlich m¨ usste sich eine wissenschaftliche, formale Logik zun¨achst auf bestimmte Axiome festlegen, und versuchen, die restlichen Rechenregeln auf Grund dieser Axiome zu beweisen. ¨ Aufgabe 1.2.1.16. Suchen Sie sich eine der Aquivalenzen aus Satz 1.2.1.14 aus und u ¨berzeugen Sie sich von der Richtigkeit durch eine Wahrheitstafel. Was Sie jetzt k¨ onnen: Begriffe: Logischer Schluss, aussagenlogische Symbole ¬, ∧, ∨, ⇔, ¨ Wahrheitstafel, Aquivalenz. Fertigkeiten: Zusammengesetzte Aussagen mittels aussagenlogischer Symbolik formalisieren, einfache Wahrheitstafeln erstellen.

1.2.2. Implikation.

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1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

¨ Ubersicht: 1) 2) 3) 4)

Definition der Implikation ¨ Aquivalente Umschreibungen der Implikation und ihrer Verneinung Indirekter Beweis und Beweis durch Widerspruch ¨ Implikation und Aquivalenz

1.2.2.1. Definition der Implikation. Aus einer Aussage a folgt eine zweite Aussage b: Die Implikation a ⇒ b ist wahrscheinlich die wichtigste Verkn¨ upfung zwischen zwei Aussagen, die sich in der Logik formulieren l¨asst. Um die beliebtesten Missverst¨andnisse von vorneherein zu kl¨aren, geben wir noch vor der Definition ein Beispiel: Beispiel 1.2.2.1. Nehmen wir an, ich verspreche Ihnen: “Wenn ich in der Ziehung am X.X.XXXX einen Lotto-Sechser gewinne, schenke ich Ihnen 100.000,00 Euro.” Vier F¨alle sind m¨oglich: 1) Ich gewinne, und ich schenke Ihnen 100.000 Euro. 2) Ich gewinne, aber ich schenke Ihnen nicht 100.000 Euro. 3) Ich gewinne nicht, schenke Ihnen aber trotzdem 100.000 Euro. 4) Ich gewinne nicht, und ich schenke Ihnen auch keine 100.000 Euro. ¨ Uberpr¨ ufen Sie in jedem der vier F¨alle, ob ich mit meinem Versprechen die Wahrheit gesagt habe. Fall 1: Ich habe mein Versprechen gehalten. Wahr! Fall 2: Ich habe mein Versprechen gebrochen. Falsch! Fall 3: Ich habe nicht gewonnen und daher muss ich mein Versprechen nicht einl¨osen, ich habe trotzdem die Wahrheit gesagt. Dass Sie zus¨atzlich von mir noch Geld erhalten, ist zwar nett, hat aber mit dem Versprechen nichts zu tun. Wahr! Fall 4: Sie bekommen zwar nichts, aber ich habe mein Versprechen nicht gebrochen. Wahr! Nur in einem Fall habe ich mit meinem Versprechen etwas Falsches gesagt, n¨amlich, wenn die Voraussetzung eintritt (Lottogewinn f¨ ur mich) aber die Folgerung ausbleibt (Kein Geld f¨ ur Sie). Definition 1.2.2.2. Seien p, q zwei Aussagen. Die Aussage p ⇒ q (“p impliziert q”) ist definiert durch die Wahrheitstafel p q w w w f f w f f

p⇒q w f w w

Sprechweise 1.2.2.3. F¨ ur die Implikation p ⇒ q gibt es die folgenden Sprechweisen: • Aus p folgt q. • p ist eine hinreichende Bedingung f¨ ur q. (Es reicht, wenn ich weiss, dass p eintritt, dann weiss ich auch, dass q eintritt.) • q ist eine notwendige Bedingung f¨ ur p. (Damit p gelten kann, ist es notwendig, dass q gilt.) • Wenn p gilt, dann gilt q.

1.2. AUSSAGENLOGIK

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• p gilt nur, wenn q gilt.

Merksatz 1.2.2.4. 1) Die Implikation p ⇒ q ist in nur einem einzigen Fall falsch: N¨amlich, wenn zwar p gilt, aber q nicht gilt. 2) Die Implikation p ⇒ q ist immer wahr, wenn die Voraussetzung p falsch ist. (“Ex falso quodlibet”). 3) Die Implikation p ⇒ q ist immer wahr, wenn die Folgerung q wahr ist.

¨ 1.2.2.2. Aquivalente Umschreibungen der Implikation und ihrer Verneinung. Aufgabe 1.2.2.5. Welche der folgenden Aussagen sind immer ¨aquivalent zu p ⇒ q? Welche sind ¨aquivalent zu ¬(p ⇒ q)? Erg¨anzen Sie anschließend den folgenden Satz 1.2.2.6. (Es k¨onnen auch Aussagen in der Aufz¨ahlung sein, die zu keiner der beiden Alternativen ¨aquivalent sind.) 1) 2) 3) 4) 5) 6)

¬p ⇒ ¬q, ¬q ⇒ ¬p, ¬p ∧ q, p ∧ ¬q, p ∨ ¬q, ¬p ∨ q.

Satz 1.2.2.6. Seien p und q zwei Aussagen. Die Implikation p ⇒ q ist ¨ aquivalent zu und zu



,



.

Die Verneinung von p ⇒ q lautet

. Richtige Formeln einsetzen.

Aufgabe 1.2.2.7. Sind die folgenden Implikationen wahr? Bilden Sie auch die Verneinungen dieser Aussagen. a) b) c) d)

Wenn n eine ganze Zahl ist, dann ist 2n eine gerade Zahl. Wenn n eine ganze Zahl ist, dann ist 3n eine gerade Zahl. Wenn Graz in K¨arnten liegt, dann ist Graz die Hauptstadt von Tirol. Eine ganze Zahl n ist nur dann durch 4 teilbar, wenn n2 durch 4 teilbar ist. e) Wenn ein Krokodil das Mathematikstudium erfolgreich abschließt, fresse ich einen Besen. 1 f) Ist’s zu Sylvester hell und klar, ist am n¨achsten Tag Neujahr.

1Sollte sich unter der Leserschaft dieses Skriptums ein Krokodil befinden, so legen wir be-

¨ sonderen Wert auf die Feststellung, dass der obige Satz ausschließlich zu Ubungszwecken verfasst wurde, und Ihr Studienerfolg hiermit in keiner Weise in Frage oder Abrede gestellt werden soll.

24

1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

1.2.2.3. Indirekter Beweis und Beweis durch Widerspruch. F¨ ur die folgenden Aufgaben m¨ ussen Sie noch nicht wissen, was die mathematischen Begriffe bedeuten. Die Aufgabenstellung ist rein logisch, sie hat mit den Inhalten der Aussagen nichts zu tun. Aufgabe 1.2.2.8. Eine Mathematikerin hat nachgewiesen, dass es unm¨oglich ist, dass eine Folge konvergiert, aber nicht beschr¨ankt ist. Welche der folgenden Aussagen hat sie damit bewiesen? 1) Wenn eine Folge beschr¨ankt ist, dann konvergiert sie auch. 2) Eine Folge, die konvergiert, ist auch beschr¨ankt. 3) Eine Folge ist beschr¨ankt, oder sie konvergiert nicht (oder beides). 4) Beschr¨anktheit ist eine notwendige Bedingung f¨ ur Konvergenz. 5) Beschr¨anktheit ist eine hinreichende Bedingung f¨ ur Konvergenz. Aufgabe 1.2.2.9. Ein Mathematiker will den Satz zeigen: “Wenn ein kommutativer Ring nullteilerfrei ist, ist er als Unterring in einem K¨orper enthalten.” 1) Es gelingt ihm, zu zeigen: Jeder Unterring eines K¨orpers ist nullteilerfrei. Hat er den gesuchten Satz damit bewiesen? 2) Es gelingt ihm, zu zeigen: Wenn ein kommutativer Ring nicht Unterring eines K¨orpers ist, so ist er nicht nullteilerfrei. Hat er den gesuchten Satz damit bewiesen? 3) In einem Lehrbuch der Algebra findet er den folgenden Satz samt Beweis: “Satz 23.4.2: Sei R ein kommutativer Ring. Nullteilerfreiheit ist eine hinreichende Bedingung daf¨ ur, dass R Unterring eines K¨orpers ist.” Als Bemerkung dazu findet er: “Nullteilerfreiheit ist auch eine notwendige Bedingung, dass R Unterring eines K¨orpers ist. Der Beweis ist dem Leser ¨ als Ubung u ¨berlassen.” Ist der gesuchte Satz durch den Satz 23.4.2. des Lehrbuchs bewiesen, oder ¨ muss zum Beweis das Ubungsbeispiel gel¨ost werden? Aufgabe 1.2.2.10. Eine Mathematikerin will den Satz zeigen: “Sei X ein metrischer Raum. Wenn X kompakt und diskret ist, dann ist X auch endlich.” 1) Sie durchsucht die Literatur nach kompakten diskreten metrischen R¨aumen. Alle davon sind endlich. Hat sie den gesuchten Satz damit bewiesen? 2) Sie beginnt mit der Annahme, dass es einen metrischen Raum X gibt, der kompakt, diskret und nicht endlich ist, und kann durch einige mathematische Tricks aus dieser Annahme beweisen, dass 1 = ∞ ist. Hat sie damit den gesuchten Satz bewiesen? 3) Sie kann zeigen, dass ein unendlicher metrischer Raum niemals gleichzeitig kompakt und diskret sein kann. Hat sie damit den gesuchten Satz bewiesen? Merksatz 1.2.2.11. Es soll bewiesen werden, dass aus Pr¨amissen p1 , p2 , · · · , pn eine Konklusion q folgt, also dass die Implikation (p1 ∧ p2 ∧ · · · ∧ pn ) ⇒ q gilt. Alle drei folgenden Strategien liefern g¨ ultige Beweise: 1) Man nimmt an, dass die Pr¨amissen gelten, und folgert daraus mit geeigneten mathematischen oder logischen Mitteln, dass auch q gelten muss. (Direkter Beweis.)

1.2. AUSSAGENLOGIK

25

2) Man nimmt an, dass die Konklusion q nicht gilt, und folgert daraus mit geeigneten Mitteln, dass auch nicht alle Pr¨amissen gelten k¨onnen: ¬q ⇒ ¬(p1 ∧ · · · ∧ pn ). (Indirekter Beweis.) 3) Man nimmt an, dass die Pr¨amissen gelten, aber zugleich die Konklusion falsch ist, und folgert daraus mit geeigneten Mitteln eine Aussage, die sicher falsch ist: (p1 ∧ p2 ∧ · · · ∧ pn ∧ ¬q) ⇒ (a ∧ ¬a)). (Beweis durch Widerspruch.) Bemerkung 1.2.2.12. Der Beweis durch Widerspruch ist eine besonders starke Methode, weil man “gratis” eine zus¨atzliche Pr¨amisse, n¨amlich die Verneinung der Konklusion, zur Verf¨ ugung hat, um daraus Schl¨ usse zu ziehen. ¨ 1.2.2.4. Implikation und Aquivalenz. Satz 1.2.2.13. Seien p und q zwei Aussagen. ¨ Die Aquivalenz p ⇔ q ist ¨ aquivalent zu (p ⇒ q) ∧ (q ⇒ p). Sprechweise 1.2.2.14. Es gibt folgende Sprechweisen f¨ ur p ⇔ q: • p gilt genau dann, wenn q gilt. • p gilt dann und nur dann, wenn q gilt. • p ist eine notwendige und hinreichend Bedingung f¨ ur q. • In der englischsprachigen Literatur wird “if and only if” (“dann und nur dann”) oft durch “iff” abgek¨ urzt. Bemerkung 1.2.2.15. Achtung auf den Unterschied zwischen “wenn”, “nur wenn”, “genau wenn”! ¨ Merksatz 1.2.2.16. Eine Aquivalenz p ⇔ q kann man beweisen, indem man beide Implikationen p ⇒ q und q ⇒ p beweist. ¨ Aufgabe 1.2.2.17. Nur eine der beiden Formeln zur Umschreibung der Aquivalenz im folgenden Satz 1.2.2.18 ist richtig. Streichen Sie die falsche Formel durch! ¨ Satz 1.2.2.18. Seien p und q zwei Aussagen. Die Aquivalenz p ⇔ q ist immer aquivalent zu ¨ Falsche Formel durchstreichen!

(p ⇒ q) ∧ (¬p ⇒ ¬q) (p ⇒ q) ∧ (¬q ⇒ ¬p)

Aufgabe 1.2.2.19. Ein Mathematiker m¨ochte den folgenden Satz beweisen: “Sei (xn ) eine Folge reeller Zahlen. Die Folge (xn ) konvergiert genau dann, wenn sie eine Cauchyfolge ist.” In welchen der folgenden F¨alle hat er den gesuchten Satz bewiesen? 1) Er beweist: Wenn (xn ) eine Cauchyfolge ist, dann konvergiert (xn ). 2) Er nimmt zun¨achst an, dass (xn ) eine Cauchyfolge ist und zeigt, dass in diesem Fall (xn ) konvergiert. Dann nimmt er an, dass (xn ) konvergiert, und zeigt, dass in diesem Fall (xn ) eine Cauchyfolge ist.

26

1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

3) Er nimmt zun¨achst an, dass (xn ) keine Cauchyfolge ist und zeigt, dass in diesem Fall (xn ) nicht konvergiert. Dann nimmt er an, dass (xn ) konvergiert, und zeigt, dass in diesem Fall (xn ) eine Cauchyfolge ist. 4) Er nimmt zun¨achst an, dass (xn ) eine Cauchyfolge ist und zeigt, dass in diesem Fall (xn ) konvergiert. Dann nimmt er an, dass (xn ) keine Cauchyfolge ist, und zeigt, dass in diesem Fall (xn ) nicht konvergiert. Was Sie jetzt k¨ onnen: ¨ Begriffe: Implikation, Aquivalenz, indirekter Beweis, Beweis durch Widerspruch. Fertigkeiten: Implikationen durch verschiedene ¨aquivalente Formulierungen umschreiben und verneinen. Beweisans¨atze f¨ ur indirekte Be¨ weise und Widerspruchsbeweise auf ihre G¨ ultigkeit u ufen. Aqui¨ berpr¨ valenzen in Paare von Implikationen umschreiben. Sprechweisen f¨ ur ¨ Implikation und Aquivalenz richtig interpretieren. 1.2.3. Beweise. ¨ Ubersicht: 1) 2) 3) 4) 5)

Beweis durch Wahrheitstafel Kleine logische Schritte Die drei Phasen der mathematischen Kreativit¨at ¨ Ubungsbeispiele von aussagenlogischen Beweisen Fallunterscheidung und Widerspruch

1.2.3.1. Beweis durch Wahrheitstafel. Wir haben schon in Unterabschnitt 1.2.1 Beispiele von aussagenlogischen Schl¨ ussen kennengelernt. Im aussagenlogischen Schluss liegt immer ein System von einzelnen Aussagen vor, aus dem sowohl die Pr¨amissen als auch die Konklusion durch logische Verkn¨ upfungen gebildet werden. Der Schluss von den Pr¨amissen auf die Konklusion ist dann g¨ ultig, wenn es keine Belegung der Einzelaussagen mit Wahrheitswerten gibt, in der alle Pr¨amissen wahr sind, die Konklusion aber falsch ist. Weil es nur endlich viele m¨ogliche Belegungen mit Wahrheitswerten gibt, kann die G¨ ultigkeit grunds¨atzlich durch eine Wahrheitstafel u uft werden. ¨berpr¨ Beispiel 1.2.3.1. Wir u ufen die G¨ ultigkeit des folgenden aussagenlogi¨berpr¨ schen Schlusses durch eine Wahrheitstafel: Pr¨ amissen: p⇒q q⇒r Konklusion: p⇒r L¨ osung: Pr¨amissen und Konklusion werden aus den drei Einzelaussagen p, q, r aufgebaut. Es gibt insgesamt 23 = 8 M¨oglichkeiten, diese drei Aussagen mit Wahrheitswerten zu belegen. Wir erstellen eine Wahrheitstafel, die f¨ ur alle 8 M¨oglichkeiten den Wahrheitswert der Pr¨amissen und der Konklusion ausweist, und heben die F¨alle, in denen alle zwei Pr¨amissen wahr sind, durch einen Pfeil hervor. Weil in allen diesen F¨allen auch die Konklusion gilt, ist der Schluss g¨ ultig.

1.2. AUSSAGENLOGIK

p w w w w f f f f

q r w w w f f w f f w w w f f w f f

Pr¨amissen p⇒q q⇒r w w w f f w f w w w w f w w w w

Konklusion p⇒r w f w f w w w w

27



← ← ←

Der Beweis durch Wahrheitstafeln ist ein Mechanismus, der rein routinem¨aßig abl¨auft und mit Sicherheit zu einer Entscheidung u ultigkeit oder Ung¨ ultigkeit ¨ber G¨ eines Schlusses f¨ uhrt. Er ist aber sehr langwierig und umst¨andlich. In Wirklichkeit haben Sie schon oft logische Schl¨ usse durchgef¨ uhrt, und bedienen sich dabei meist einer weit bequemeren Strategie.

1.2.3.2. Kleine logische Schritte. Wir alle haben ein Repertoire von logischen Schl¨ ussen, deren G¨ ultigkeit f¨ ur uns bekannt ist. Sie werden sehen, dass abgesehen vom Formalismus der Zeichensprache alle Schlussregeln in der folgenden Tabelle f¨ ur uns “selbstverst¨andlich” sind. Der wissenschaftliche Logiker d¨ urfte diese Schlussregeln nat¨ urlich nicht als selbstverst¨andlich hinnehmen, sondern m¨ usste sie auf ein Axiomensystem einer formalen Sprache und einiger weniger Grundregeln zur¨ uckf¨ uhren. Damit wollen wir uns aber am Beginn der mathematischen Laufbahn noch nicht belasten, sondern u ¨berlassen das einer Vorlesung u ¨ber die formalen Grundlagen der Mathematik. Satz 1.2.3.2. Die folgenden aussagenlogischen Schl¨ usse sind g¨ ultig: Pr¨ amisse 1 Pr¨ amisse 2 Konklusion a∧b a a b a∧b a a∨b a∨b ¬a b a⇒b a b a⇒b ¬b ¬a a⇒b b⇒c a⇒c a ⇒ (b ∧ ¬b) ¬a b a ∧ ¬a (a ∧ b) ⇒ c a b⇒c

Name der Regel

Modus ponens Modus tollens Kettenschluss Reductio ad absurdum Ex falso quodlibet Exportation

¨ Dazu kommen einige wohlbekannte Aquivalenzen, die wir bereits in den fr¨ uher¨ en Unterabschnitten kennengelernt haben, und hier noch einmal der Ubersicht halber aufz¨ahlen: ¨ Satz 1.2.3.3. Sind a, b, c drei Aussagen, so gelten stets die folgenden Aquivalenzen: Die doppelte Negation: ¬(¬a) ⇐⇒ a

28

1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

Die Rechenregeln von ∧ und ∨: a∧b ⇐⇒ b∧a a∨b ⇐⇒ b∨a (a ∧ b) ∧ c ⇐⇒ a ∧ (b ∧ c) (a ∨ b) ∨ c ⇐⇒ a ∨ (b ∨ c) (a ∧ b) ∨ c ⇐⇒ (a ∨ c) ∧ (b ∨ c) (a ∨ b) ∧ c ⇐⇒ (a ∧ c) ∨ (b ∧ c) Die De Morganschen Regeln ¬(a ∨ b) ⇐⇒ ¬a ∧ ¬b ¬(a ∧ b) ⇐⇒ ¬a ∨ ¬b ¨ Aquivalente Umformungen und Verneinung der Implikation: a ⇒ b ⇐⇒ ¬a ∨ b a ⇒ b ⇐⇒ ¬b ⇒ ¬a ¬(a ⇒ b) ⇐⇒ a ∧ ¬b ¨ ¨ Aquivalente Umformungen der Aquivalenz: a ⇔ b ⇐⇒ [(a ⇒ b) ∧ (b ⇒ a)] a ⇔ b ⇐⇒ [(a ⇒ b) ∧ (¬a ⇒ ¬b)] Mit Hilfe dieses logischen Vorwissens f¨ uhren wir in kleinen Schritten kompliziertere Schl¨ usse durch:

Merksatz 1.2.3.4 (Methode der kleinen logischen Schritte). Die G¨ ultigkeit eines aussagenlogischen Schlusses kann mit Hilfe der Methode der kleinen logischen Schritte nachgewiesen werden: Ausgehend von den Pr¨amissen erschließt man mit Hilfe bereits bekannter g¨ ultiger Schlussregeln (z.B. S¨atze 1.2.3.2 und 1.2.3.3) weitere Aussagen, welche man zu den Pr¨amissen des n¨achsten Schlusses hinzuf¨ ugen kann. Dies wiederholt man so lange, bis man endlich auf die gesuchte Konklusion schließen kann.

¨ Beispiel 1.2.3.5. Uberpr¨ ufen Sie die G¨ ultigkeit des Schlusses aus Beispiel 1.2.1.1: Pr¨amissen: Wenn ich verr¨ uckt bin, schenke ich Ihnen 50.000,00 Euro. v ⇒ s Ich schenke Ihnen die 50.000 Euro, oder ich kaufe mir daf¨ ur einen antiken Teppich. s∨k Ich kann nicht gleichzeitig den Teppich kaufen und Ihnen das Geld schenken. ¬(s ∧ k) Ich kaufe mir den antiken Teppich. k Konklusion: Ich bin nicht verr¨ uckt.

¬v

L¨ osung: Wir haben bereits neben den Pr¨amissen und der Konklusion ihre aussagenlogische Formalisierung angeschrieben. Dabei bedeuten: v Ich bin verr¨ uckt. s Ich schenke Ihnen 50.000 Euro. k Ich kaufe einen antiken Teppich. Wir f¨ uhren nun den Schluss durch:

1.2. AUSSAGENLOGIK

29

Pr¨amissen: v⇒s s∨k ¬(s ∧ k) k neugeschlossene Aussagen: 5) ¬s ∨ ¬k 6) ¬s 7) ¬v 1) 2) 3) 4)

(3) nach der De Morgan Regel aufgel¨ost wegen (5) und (4) wegen (6), (1) und Modus tollens ¤ Mit der letzten Zeile ist die gesuchte Konklusion erreicht und der Beweis beendet, was wir durch das Zeichen ¤ oder den Satz “quod erat demonstrandum” (“was zu beweisen war”) andeuten k¨onnen. Wir haben den Beweis oben besonders streng strukturiert dargestellt, damit Sie deutlich sehen, wie die einzelnen Aussagen wie Zahnr¨ader ineinandergreifen. Es ist nat¨ urlich nicht notwendig, die logische Formelsprache zu verwenden, das zahlt sich eigentlich nur aus, wenn sehr vertrackte Schl¨ usse aufzul¨osen sind. Auch wird man in der Praxis Schlussregeln wie den Modus tollens oder die De Morgan’schen Regeln wie selbstverst¨andlich verwenden und nicht eigens darauf hinweisen. Wichtig ist aber, dass immer klar ist, wie die Schritte zusammenh¨angen, und aus welchen Aussagen welche neuen Aussagen abgeleitet werden. Im allgemeinen mathematischen Arbeitsstil k¨onnte der obige Beweis wie folgt geschrieben sein: Beweis. Ich kann nicht gleichzeitig den Teppich kaufen und Ihnen das Geld schenken, aber ich kaufe den Teppich. Daher schenke ich Ihnen das Geld nicht. Wenn ich verr¨ uckt w¨are, w¨ urde ich Ihnen aber das Geld schenken. Weil ich Ihnen das Geld nicht schenke, bin ich also nicht verr¨ uckt. ¤ Wie streng formal Sie Ihre Beweise aufschreiben, ist letztlich eine Sache des pers¨onlichen Stils. 1.2.3.3. Die drei Phasen der mathematischen Kreativit¨ at. Bevor wir beginnen, gemeinsam Beweisaufgaben zu l¨osen, werfen wir an Hand eines Beispiels einen Blick auf den Ablauf einer Beweisfindung. Anders als die Methode der Wahrheitstafeln ist ja das Finden eines Beweises durch kleine Schritte kein Algorithmus, keine rein mechanische Methode, die automatisch zum Ziel f¨ uhrt, sondern erfordert ein gewisses Maß an Kreativit¨at. Beispiel 1.2.3.6. Seien p, q, r, s vier Aussagen. Nehmen Sie an, dass die folgenden Pr¨amissen gelten: 1) q ist eine notwendige Bedingung f¨ ur r. 2) q ist eine hinreichende Bedingung f¨ ur s. 3) s gilt nur, wenn r gilt. 4) p und s sind ¨aquivalent. Sind dann auch p und r ¨aquivalent? L¨ osung: Phase 1, Verstehphase — Verstehen und formalisieren der Angaben: In der ersten Phase lesen wir die Angaben durch. Verstehen wir alles? Falls nicht, m¨ ussen wir nachschlagen, was die Ausdr¨ ucke bedeuten. Wir legen uns die Angaben in u ¨bersichtlicher Form zurecht:

30

1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

1) 2) 3) 4)

r⇒q q⇒s s⇒r p⇔s Zu zeigen: p ⇔ r

Phase 2, Suchphase — Suchen des L¨ osungsweges: Das ist die kreative Phase, f¨ ur die es kein Patentrezept gibt. Sie findet auf einem Blatt f¨ ur Nebenrechnungen (“Schmierzettel”) statt, bei unentwegten MathematikerInnen auch manchmal auf Papierservietten beim Abendessen auf Tagungen. Auf der untenstehenden Zeichnung haben wir damit begonnen, unser Ziel zu formulieren: Zu zeigen: p ⇒ r und r ⇒ p. Wir haben die vier Aussagen p, q, r, s eingezeichnet, und blau die Implikationen zwischen ihnen eingetragen, die in den Pr¨amissen angegeben sind. Um zu sehen, was aus p folgt, haben wir angenommen, dass p gilt, und rot eingetragen, welche Folgerungen wir ziehen k¨onnen. Tats¨achlich kommen wir mit zwei Schritten auf r, also k¨onnen wir p ⇒ r beweisen. Ebenso haben wir dann angenommen, dass r gilt, und gr¨ un eingetragen, welche Schritte zu p f¨ uhren. Damit ist eine Beweisidee gefunden: Der Beweis besteht einfach aus Hintereinanderausf¨ uhrung von Implikationen.

Phase 3, Ordnungsphase — Aufschreiben des Beweises: Nun m¨ ussen wir den gefundenen Weg in einer Weise aufschreiben, dass er auch f¨ ur andere verst¨andlich und nachvollziehbar ist. Bei dieser T¨atigkeit u ufen wir auch, ob alle unsere Schrit¨berpr¨ te vollst¨andig und korrekt sind. Tatsachlich k¨onnen wir alle Beweisschritte durch das logische Vorwissen aus den S¨atzen 1.2.3.2 und 1.2.3.3 und unsere Kenntnis der Strategie eines direkten Beweises f¨ ur eine Implikation (Merksatz 1.2.2.11(1)) rechtfertigen. Beachten Sie auch, dass wir den Leser stets informieren, was wir mit den n¨achsten Schritten vorhaben, und was bisher erreicht wurde. Wir geben hier wieder zwei M¨oglichkeiten an, den Beweis aufzuschreiben, welche Sie w¨ahlen, ist eine Sache Ihres pers¨onlichen Stils. Zun¨achst schreiben wir den Beweis wieder sehr detailliert und stark formalisiert auf, und geben dann noch eine eher umgangssprachliche Variante. Beide sind korrekt: Beweis.

1.2. AUSSAGENLOGIK

Pr¨amissen: r⇒q q⇒s s⇒r p⇔s Zu zeigen: p⇒r r⇒p Beweis von p ⇒ r Direkter Beweis: 5) Angenommen p gilt. 6) s 7) r

31

1) 2) 3) 4)

8) 9) 10) 11)

Beweis von r ⇒ p Direkter Beweis: Angenommen r gilt. q s p

Zu zeigen: r. wegen (5), (4) wegen (6), (3) Damit ist p ⇒ r bewiesen.

Zu zeigen: p. wegen (8), (1) wegen (9), (2) wegen (10), (4) Damit ist r ⇒ p bewiesen. ¤

Eine weniger formalisierte M¨oglichkeit, den Beweis anzuschreiben, ist die folgende: Beweis. Wir zeigen zun¨achst, dass aus p die Aussage r folgt. Angenommen, es gilt p, wir m¨ ussen zeigen, dass dann auch r gilt. Nach den Pr¨amissen ist p ¨aquivalent zu s, daher gilt auch s. Aussage s gilt aber nur, wenn r gilt, daher gilt auch r. Wir zeigen jetzt, dass aus Aussage r die Aussage p folgt. Angenommen, es gilt r. Aussage q ist notwendig f¨ ur r, daher gilt auch q. Da q hinreichend f¨ ur s ist, ¨ folgt s, und wegen Aquivalenz von s und p folgt letztlich p. Damit ist der Beweis fertig. ¤ Merksatz 1.2.3.7. Wenn Sie ein mathematisches Problem haben, das nicht durch reine Routine l¨osbar ist, sondern Kreativit¨at erfordert, empfiehlt sich der folgende Drei-Phasen-Ansatz: 1: Verstehphase: Lesen Sie sorgf¨altig die Angaben. Kl¨aren Sie mit Hilfe von B¨ uchern, Skripten usw. alle Begriffe, die sie nicht verstehen. Machen Sie sich eine m¨oglichst klare Zusammenstellung von den Angaben und Zielen, die Sie haben. Oft kann durch geeignete Formalisierung die Aufgabenstellung u ¨bersichtlicher gemacht werden. In dieser Phase hilft ein umfassendes Wissen, dass man wichtige Definitionen und Lehrs¨atze auswendig kennt, und gute Literatur griffbereit hat. 2: Suchphase: Nun kommt eine Phase des Versuchs und Irrtums. Verwenden Sie ein Blatt Papier, auf dem ruhig gezeichnet, durcheinandergeschrieben und durchgestrichen werden kann, und vergessen Sie auf gute Form. Schreiben und zeichnen Sie auf, was Ihnen im Zusammenhang mit der Aufgabenstellung einf¨allt. Bilder und Skizzen sind oft hilfreich. Warten Sie nicht mit dem Schreiben, bis Sie einen sicheren Weg gefunden haben, sondern probieren Sie ungehemmt verschiedene Strategien aus: Was nicht zum Ziel f¨ uhrt, kann man sp¨ater immer noch durchstreichen. Haben Sie

32

1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

den Mut, vorl¨aufig auch Fragen offen zu lassen, und erst sp¨ater zu schließen. Kennzeichnen Sie aber deutlich, was Sie schon bewiesen haben, was Sie erst zeigen m¨ ussen, und welche Fragen noch gel¨ost werden m¨ ussen, bevor Ihr Beweis funktioniert. In dieser Phase hilft Abenteuerlust, Neugier, der Mut zur Unvollkommenheit, und eine reiche Trickkiste. 3: Ordnungsphase: Wenn Sie einen L¨osungsweg gefunden haben, nehmen Sie ein neues Blatt und schreiben ihn formal korrekt auf. Mit einer guten, strukturierten ¨ausseren Form erkennen und vermeiden Sie leichter Fehler. Rechtfertigen Sie jeden Beweisschritt. Geben Sie Orientierungshilfen f¨ ur die LeserInnen, was Ihre n¨achsten Schritte bezwecken und was bereits erreicht wurde. Unterscheiden Sie auch in dieser Phase genau zwischen bereits bewiesenen Aussagen und Aussagen, welche erst zu zeigen sind. Ein gut geschriebener Beweis ist f¨ ur einen mathematisch gebildeten Menschen ohne weitere Erkl¨arungen unmissverst¨andlich lesbar, enth¨alt aber keine unn¨otigen Abschweifungen. In der Ordnungsphase hilft Genauigkeit, Sorgfalt und unbestechliches kritisches Hinterfragen jedes einzelnen Schrittes. ∗ Zyklischer Wechsel der Phasen: In der Ordnungsphase zeigt sich oft, dass ein L¨osungsweg noch nicht vollst¨andig oder noch fehlerhaft ist, oder dass Ihnen manche Begriffe noch nicht v¨ollig klar sind. Dann m¨ ussen Sie wieder zur Such- oder Verstehphase zur¨ uckkehren und die L¨ ucken schließen. Bei der L¨osung schwieriger mathematischer Aufgaben m¨ ussen oft alle drei Phasen mehrmals abwechselnd versucht werden, bis endlich eine einwandfreie L¨osung gelingt. ¨ 1.2.3.4. Ubungsbeispiele von aussagenlogischen Beweisen. Aufgabe 1.2.3.8. Beweisen Sie die G¨ ultigkeit des folgenden Schlusses. Pr¨ amissen: Wenn genug Geld geboten wird, l¨asst sich der Schiedsrichter bestechen. Wenn sich der Schiedsrichter bestechen l¨asst, gewinnt der Fussballklub “FC Abgeschossene Einheitskugel” nicht. “FC Abgeschossene Einheitskugel” hat gewonnen. Konklusion: Es wurde nicht genug Geld geboten. Aufgabe 1.2.3.9. Vollziehen Sie den folgenden Schluss durch kleine logische Schritte: Pr¨amissen: Wenn Alfred und Beate beide im Team sind, geht nichts weiter. Wenn Beate nicht im Team ist, geht nichts weiter. Es geht weiter. Konklusion: Alfred ist nicht im Team. In der folgenden Form begegnen wir in der mathematischen Praxis oft der Aussagenlogik: Aufgabe 1.2.3.10. Vollziehen Sie den folgenden Schluss durch kleine logische Schritte: (Sie m¨ussen dazu den Inhalt der Aussagen nicht verstehen, es handelt sich um einen rein logischen Schluss. Als Hintergrundwissen brauchen Sie nur, dass es topologische Gruppen gibt, und zu jeder topologischen Gruppe gibt es jeweils genau eine duale Gruppe, welche auch

1.2. AUSSAGENLOGIK

33

eine topologische Gruppe ist. Topologische Gruppen k¨ onnen diskret, endlich oder kompakt sein, oder auch keine oder mehrere dieser Eigenschaften haben.)

Pr¨amissen: Eine topologische Gruppe ist genau dann kompakt, wenn ihre duale Gruppe diskret ist. Eine topologische Gruppe ist genau dann diskret, wenn ihre duale Gruppe kompakt ist. Eine kompakte diskrete Gruppe ist immer endlich. Jede endliche topologische Gruppe ist kompakt. Konklusion: Die folgenden Aussagen (1) und (2) sind ¨aquivalent: 1) Eine topologische Gruppe und ihre duale Gruppe sind beide kompakt. 2) Eine topologische Gruppe und ihre duale Gruppe sind beide endlich. Der Beweis durch kleine logische Schritte wird Sie durch diese ganze Lehrveranstaltung und dar¨ uber hinaus durch Ihre ganze mathematische Laufbahn begleiten. Das ganze folgende Skriptum ist eine große Beispielsammlung zu dieser Methode. Was Sie jetzt k¨ onnen: ¨ Wissen: Elementare aussagenlogische Schlussregeln und Aquivalenzen. Fertigkeiten: Beweise von aussagenlogischen Schl¨ ussen mittels kleiner Schritte. Bewußtes Abgrenzen und Einsetzen der drei Arbeitsphasen zur mathematischen L¨osungsfindung. 1.2.4. Strategien: Fallunterscheidung und Widerspruch. ¨ Ubersicht: 1) Fallunterscheidung 2) Widerspruch 1.2.4.1. Fallunterscheidung. Beispiel 1.2.4.1. Seien a, b, c Aussagen. Formalisieren Sie den folgenden Schluss und zeigen Sie, dass er aussagenlogisch g¨ ultig ist: “Wenn a oder b oder beide gelten, und wenn mindestens eines, b oder c wahr ist, wenn außerdem c genau dann gilt, wenn a falsch ist, dann gilt b.” L¨ osung: Verstehphase: Wir formalisieren die Aufgabe: 1) 2) 3)

Voraussetzungen: a∨b b∨c c ⇔ ¬a zu zeigen: b

Suchphase: Nun u ¨berlegen wir, wie wir zum Ziel gelangen. Laut Annahme (2) muss b oder c (oder sogar beides) gelten. In jedem dieser zwei F¨alle kommen wir schnell zum Schluss:

34

1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

Ordnungsphase: Jetzt schreiben wir den Beweis auf: 1) 2) 3) 4)

Voraussetzungen: a∨b b∨c c ⇔ ¬a zu zeigen: b Fallunterscheidung: Wegen (2) muss mindestens einer der F¨alle eintreten: b oder c

(5) (6) (7)

Fall 1: c ¬a b

(8)

Fall 2: b

(9)

jedenfalls gilt: b

erster Fall der Fallunterscheidung wegen (5) und (3) wegen (6) und (1) Damit wird im Fall 1 die Konklusion b erreicht

zweiter Fall der Fallunterscheidung Hier ist die Konklusion b trivialerweise erreicht

denn mindestens einer der F¨alle, (4a) oder (4b) gilt, und in beiden F¨allen gilt dann b.

Merksatz 1.2.4.2 (Beweis durch Fallunterscheidung). Die G¨ ultigkeit eines Schlusses von den Pr¨amissen p1 , · · · , pn auf die Konklusion q ist bewiesen, wenn es gelingt, ein System von Aussagen (“F¨allen”) r1 , · · · , rm zu finden, sodass sich zeigen l¨asst: 1) Unter den Pr¨amissen p1 , · · · , pn gilt mindestens einer der F¨alle: r1 , r2 , · · · , rm . 2) F¨ ur jeden der F¨alle ri l¨asst sich unter den Pr¨amissen p1 , · · · , pn , ri die Konklusion q beweisen.

Aufgabe 1.2.4.3. Beweisen Sie die G¨ ultigkeit des folgenden Schlusses, indem Sie die beiden folgenden F¨alle getrennt untersuchen: Fall 1: Es gilt a. Fall 2: Es gilt ¬a.

1.2. AUSSAGENLOGIK

35

Pr¨amissen: a ⇒ (b ∨ c) ¬b ∨ ¬a Konklusion: c ∨ ¬a

Aufgabe 1.2.4.4. Sei n eine nat¨ urliche Zahl. Zeigen Sie: Die Zahl n2 + 1 ist nicht durch 4 teilbar. Machen Sie dazu eine Fallunterscheidung: Fall 1) n gerade, also n = 2m mit einem geeigneten m ∈ N, Fall 2) n ungerade, also n = 2m + 1 mit einem geeigneten m ∈ N. Sie k¨ onnen nat¨ urlich Ihr Schulwissen u urliche Zahlen und ihre Multiplikation und Teilbar¨ber nat¨ keitsregeln hier verwenden.

1.2.4.2. Beweis durch Widerspruch. Die beiden obigen Beispiele lassen sich auch gut mittels Widerspruch l¨osen (vgl. Merksatz 1.2.2.11(3). Beispiel 1.2.4.5. Zeigen Sie die G¨ ultigkeit des Schlusses aus Beispiel 1.2.4.1 durch Widerspruch: Pr¨amissen: a∨b b∨c c ⇔ ¬a Konklusion: b L¨ osung: 1) 2) 3)

4) 5) 6) 7)

Voraussetzungen: a∨b b∨c c ⇔ ¬a zu zeigen: b

Annahme: ¬b a c ¬a (7) und (5) bilden einen Widerspruch!

Beweis durch Widerspruch: Finde einen Widerspruch! wegen (4) und (1) wegen (4) und (2) wegen (6) und (3) Damit ist der Beweis fertig.

Aufgabe 1.2.4.6. Beweisen Sie die G¨ ultigkeit des folgenden Schlusses aus Aufgabe 1.2.4.3 durch Widerspruch: Pr¨amissen: a ⇒ (b ∨ c) ¬b ∨ ¬a Konklusion: c ∨ ¬a

36

1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

Aufgabe 1.2.4.7. F¨ uhren Sie den folgenden Schluss durch Widerspruch: Pr¨amissen: p∨q∨r q⇒r r ⇒ ¬p Konklusion p Beispiel 1.2.4.8. Wir beweisen: Es gibt keine gr¨oßte Primzahl. Beweis. Beweis durch Widerspruch. Annahme: Es gibt eine gr¨oßte Primzahl p. Finde einen Widerspruch! Wir definieren q = p! = 1 · 2 · 3 · · · · · p. Da q durch alle nat¨ urlichen Zahlen n ≤ p teilbar ist, ist insbesondere q durch jede Primzahl teilbar. Daher ist q + 1 durch keine Primzahl teilbar, daher auch durch gar keine nat¨ urliche Zahl außer 1. Aber q + 1 m¨ usste zumindest durch q + 1 teilbar sein. Widerspruch! ¤ Was Sie jetzt k¨ onnen: Fertigkeiten: Beweise von aussagenlogischen Schl¨ ussen mittels Fallunterscheidung und Widerspruch. 1.3. Pr¨ adikatenlogik ¨ Ubersicht: 1 Formalisierung von Aussagen mit Quantoren 2 Schließen mit pr¨adikatenlogischen Aussagen 3 Negation von Aussagen mit Quantoren

1.3.1. Formalisierung von Aussagen mit Quantoren. ¨ Ubersicht: 1) 2) 3) 4)

Quantorenschreibweise Kombination von Aussagen- und Pr¨adikatenlogik H¨aufige Formalisierungsfehler Stenographie

Beispiel 1.3.1.1. Die folgenden Schl¨ usse lassen sich nicht mit Aussagenlogik vollziehen: a) Wenn es einen Pr¨asidenten aller Vereine der Stadt Graz gibt, dann hat jeder Verein der Stadt Graz einen Pr¨asidenten. b) Wenn zu jeder nat¨ urlichen Zahl x eine Primzahl y existiert, die nicht kleiner als x ist, so gibt es keine nat¨ urliche Zahl z mit der Eigenschaft, dass alle Primzahlen kleiner als z sind. Die G¨ ultigkeit des Schlusses liegt an der Struktur, wie die G¨ ultigkeitsbereiche der Aussagen zusammenh¨angen: Wenn eine Person f¨ ur alle Vereine als Pr¨asident zust¨andig ist, hat nat¨ urlich jeder Verein seinen Pr¨asidenten, n¨amlich diese bestimmte Person. Die Pr¨adikatenlogik ist im Stande, solche Strukturen herauszuarbeiten.

¨ 1.3. PRADIKATENLOGIK

37

1.3.1.1. Quantorenschreibweise. Beispiel 1.3.1.2. Wir formalisieren den folgenden Satz: “Jedes Dreieck hat einen Umkreis”, oder, wenn man nicht w¨ ußte, was ein Umkreis ist: “Zu jedem Dreieck gibt es einen Kreis mit der Eigenschaft: Wenn ein Punkt Eckpunkt des Dreiecks ist, so liegt er auf dem Kreis.” Wir reden hier von verschiedenen Dreiecken, Kreisen, und Punkten. Der Baukasten, aus dem wir unsere Aussagen aufbauen, enth¨alt also als “Materiallager” drei Individuenbereiche: D: Die Menge der Dreiecke in der Ebene, K: die Menge der Kreise in der Ebene, P : die Menge der Punkte in der Ebene. Außerdem wird der Satz aus Aussagenbruchst¨ ucken zusammengebaut: Wenn d ein Dreieck, k ein Kreis und p ein Punkt ist, kann man u ¨ber die drei Individuen d, k, p verschiedene Aussagen machen: p ist eine Ecke des Dreiecks d, p liegt auf dem Kreis k. Solange nicht gekl¨art ist, von welchem Punkt p und welchem Dreieck d die Rede ist, ist die Zeile “p ist eine Ecke von d” noch keine Aussage. Sie ist eine sogenannte Aussageform, in die verschiedene Punkte an der Stelle p und verschiedene Dreiecke an der Stelle d eingesetzt werden k¨onnen. Je nach eingesetztem Punkt und Dreieck ergibt sich dann eine neue, wahre oder falsche Aussage. Die Symbole p und d sind Platzhalter f¨ ur Punkte und Dreiecke, sie sind Individuenvariablen. Die Struktur des gesamten Satzes vom Umkreis sieht dann so aus: F¨ ur alle Dreiecke d ∈ D gilt: Es gibt einen Kreis k ∈ K f¨ ur den gilt: F¨ ur alle Punkte p ∈ P gilt: Wenn p Ecke von d ist, dann liegt p auf k.

(∀d ∈ D) (∃k ∈ K) (∀p ∈ P ) p ist Ecke von d ⇒ p liegt auf k

Zusammengefasst: (∀d ∈ D) (∃k ∈ K) (∀p ∈ P ) [p ist Ecke von d ⇒ p liegt auf k]

Naive Definition 1.3.1.3. Eine Individuenkonstante ist ein Symbol, das ein bestimmtes Objekt benennt. Eine Aussageform ist eine Zeichenkette mit folgender Eigenschaft: • In der Zeichenkette sind ein oder mehrere bestimmte Symbole als “freie Individuenvariable” kenntlich . • Wird jede dieser freien Individuenvariablen durch eine Individuenkonstante ersetzt, so wird aus der Zeichenkette eine Aussage (¨ uber die von den Konstanten benannten Objekte). Diese ist wahr oder falsch.

Naive Definition 1.3.1.4. Sei Q(x) eine Aussageform u ¨ber m¨ogliche Objekte x aus einem Individuenbereich A (d.h, f¨ ur jedes Individuum x ∈ A ist Q(x) eine Aussage u ¨ber x). Dann haben die Quantoren ∃ (“Existenzquantor”) und ∀ (“Allquantor”) folgende Bedeutung:

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1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

(∃x ∈ A) Q(x) ist die Aussage:

“Es gibt mindestens ein (oder mehrere) x im Individuenbereich A, f¨ ur das gilt: Q(x)”. (∀x ∈ A) Q(x) ist die Aussage: “F¨ ur alle x im Bereich A gilt: Q(x)”. (∃1 x ∈ A) Q(x) ist die Aussage: “Es gibt genau ein (ein und nur ein) x im Individuenbereich A, f¨ ur das gilt: Q(x)”.

Entsteht eine Aussage aus einer Aussageform P (x) durch Anwendung eines der Quantoren auf x, so heißt x eine gebundene Variable.

Beispiel 1.3.1.5. Aus der Aussageform: “Wenn p Ecke von d ist, dann liegt p auf k” u ¨ber den Individuenbereichen P : Menge der Punkte der Ebene, D: Menge der Dreiecke der Ebene, K: Menge der Kreise der Ebene, bauen wir durch Ersetzen und Binden der Variablen die Aussage: “Es gibt ein Dreieck, welches den Einheitskreis (Kreis mit Mittelpunkt (0/0) und Radius 1) als Umkreis hat”.

• “p ist Ecke von d ⇒ p liegt auf k” ist eine Aussageform mit drei freien Variablen p, d und k. Solange nicht gekl¨art ist, von welchen p, d, k die Rede ist, liegt noch keine Aussage vor. • Wir ersetzen die Individuenvariable k durch das Wort “Einheitskreis”, wir beziehen uns also auf einen ganz bestimmten Kreis aus K: Noch ist nicht gekl¨art, worauf sich p und d beziehen, aber die Aussageform hat um eine freie Variable weniger. • Wir binden p durch einen Allquantor: “(∀p ∈ P ) p ist Ecke von d ⇒ p liegt auf dem Einheitskreis” heisst: F¨ ur alle Punkte p gilt: Wenn p Ecke von d ist, dann liegt p auf dem Einheitskreis. (K¨ urzer: Der Einheitskreis ist Umkreis von d.) Obwohl die Variable p noch im Ausdruck steht, ist sie nicht mehr frei, sondern gebunden: Der Quantor sagt, dass wir u ¨ber alle Punkte p reden. Noch immer ist der Ausdruck eine Aussageform, weil er eine freie Variable d enth¨alt: Wir wissen noch nicht, von welchem Dreieck die Rede ist. • Wir binden d durch einen Existenzquantor: “(∃d ∈ D) (∀p ∈ P ) p ist Ecke von d ⇒ p liegt auf dem Einheitskreis” sagt: Es gibt mindestens ein Dreieck d, sodass f¨ ur alle Punkte p gilt: Ist p Ecke von d, so liegt p auf dem Einheitskreis. K¨ urzer: Es gibt mindestens ein Dreieck, welches den Einheitskreis als Umkreis hat. Nun enth¨alt der Ausdruck keine freie Variable mehr, auch d ist an einen Quantor gebunden. Aus der Aussageform ist eine Aussage geworden.

¨ 1.3. PRADIKATENLOGIK

39

Aus einer Aussageform wird eine Aussage

Schreibweise 1.3.1.6. Die Quantorenschreibweise ist nicht streng genormt. So kommen etwa folgende Schreibweisen vor: ^ (∀x ∈ A) Q(x) auch: ∀x ∈ A : Q(x), ∀x∈A Q(x), Q(x). x∈A

(∃x ∈ A) Q(x)

auch:

∃x ∈ A : Q(x),

∃x∈A Q(x),

_

Q(x).

x∈A

(∃1 x ∈ A) Q(x)

auch:

(∃! x ∈ A) Q(x).

Bemerkung 1.3.1.7. Individuenbereiche m¨ ussen nicht unbedingt Mengen sein. Zum Beispiel kann man eine Aussage u ¨ber alle Mengen machen. Sei hier M der Individuenbereich der Mengen: (∀U ∈ M ) ∅ ⊂ U. ”Jede Menge U enth¨alt die leere Menge ∅ als Teilmenge” Eine Menge aller Mengen kann es aber nicht geben, sonst verstrickt man sich in Widerspr¨ uche, wie wir sp¨ater sehen werden. Das Zeichen ∈ ist hier nur eine Schreibweise, die ausdr¨ uckt, dass U ein Individuum aus M ist, nicht das Enthaltensein als Element einer Menge. Beispiel 1.3.1.8. In diesem Beispiel sei S die Menge aller Steirer, und B die Menge aller Bundesstaaten der USA. a) Formalisieren Sie: “Die USA haben einen Bundesstaat, dessen Governor ein Steirer ist.” b) Was bedeutet die folgende Aussage: £ ¤ (∀b ∈ B) ¬ (∃s ∈ S) s ist Governor von b

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1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

Teil (a): Es gibt (mindestens) einen Bundesstaat b der USA, f¨ ur den gilt: Es gibt (mindestens) einen Steirer s, f¨ ur den gilt: s ist Governor von b. In Formeln: (∃b ∈ B) (∃s ∈ S) s ist Governor von b Teil (b): F¨ ur alle Bundesstaaten b der USA gilt: Es gilt nicht: Es gibt (mindestens) einen Steirer s f¨ ur den gilt: s ist Governor von b. Anders ausgedr¨ uckt: Kein Bundesstaat hat einen Steirer als Governor. Aufgabe 1.3.1.9. Auch hier sei S die Menge aller Steirer, und B die Menge aller Bundesstaaten der USA. a) Formalisieren Sie: “Es gibt keinen Bundesstaat der USA, der s¨amtliche Steirer als Governors hat.” b) Was bedeutet die folgende Aussage: (∃s ∈ S) (∀b ∈ B) s ist Governor von b c) Vergleichen Sie die Aussagen (b) mit der Aussage (∀b ∈ B) (∃s ∈ S) s ist Governor von b. Besteht ein Unterschied? 1.3.1.2. Kombination von Pr¨ adikatenlogik und Aussagenlogik. Beispiel 1.3.1.10. Wir formalisieren die folgende Aussage: “Seien a und b zwei nat¨ urliche Zahlen Dann gibt es eine nat¨ urliche Zahl g mit den Eigenschaften: 1) g teilt sowohl a als auch b, 2) und wenn eine nat¨ urliche Zahl t Teiler von a und b ist, so teilt t auch g.” Als Kurzschreibweise, die in der Algebra h¨aufig verwendet wird, schreiben wir g | a f¨ ur: “g teilt a”. Formalisieren wir zun¨achst die Teile (1) und (2). Teil (1) ist leicht geschrieben: g |a∧g |b Teil (2) ist eine Aussage u ¨ber alle Zahlen t: (∀t ∈ N) (t | a ∧ t | b) ⇒ t | g Die gesamte Aussage ist eine Aussage u urlichen Zahlen a und u ¨ber alle nat¨ ¨ber alle nat¨ urlichen Zahlen b. F¨ ur diese existiert mindestens eine Zahl g mit obigen Eigenschaften: ³ ´ (∀a ∈ N) (∀b ∈ N) (∃g ∈ N) (g | a) ∧ (g | b) ∧ [(∀t ∈ N) (t | a ∧ t | b) ⇒ t | g]

Aufgabe 1.3.1.11. Formalisieren Sie die Pr¨amissen und die Konklusionen der beiden Schl¨ usse aus Beispiel 1.3.1.1 (a) und (b): a) Wenn es einen Pr¨asidenten aller Vereine der Stadt Graz gibt, dann hat jeder Verein der Stadt Graz einen Pr¨asidenten.

¨ 1.3. PRADIKATENLOGIK

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b) Wenn zu jeder nat¨ urlichen Zahl x eine Primzahl y existiert, die nicht kleiner als x ist, so gibt es keine nat¨ urliche Zahl z mit der Eigenschaft, dass alle Primzahlen kleiner als z sind. Es seien dabei: V die Menge der Vereine der Stadt Graz, M die Menge der Menschen, P die Menge der Primzahlen. Aufgabe 1.3.1.12. Formalisieren Sie die folgenden Aussagen: 1) Es gibt Sterne, die von Planeten umkreist werden. (S: Individuenbereich aller Sterne, P : Individuenbereich aller Planeten). 2) Ist, f¨ ur eine ganze Zahl z, die Zahl 1/z ebenfalls eine ganze Zahl, so ist z 2 = 1. (Die Menge der ganzen Zahlen ist Z = {0, 1, −1, 2, −2, · · · }.) 1.3.1.3. H¨ aufige Formalisierungsfehler. Beispiel 1.3.1.13. An Beispiel 1.3.1.10 zeigen wir Ihnen auch typische Fehler: Die folgenden Formalisierungen sind falsch: (1) (2)

(∀a ∈ N) (∀b ∈ N) (∃a ∈ N) · · · h i (∀a ∈ N) (∀b ∈ N) (∃g ∈ N) (∀t ∈ N) (t | a ∧ t | b) ⇒ t | g

(3) (4)

(∀a ∈ N) (∀b ∈ N) ⇒ (∃g ∈ N) · · · (∀a ∈ N) ∧ (∀b ∈ N) (∃g ∈ N) · · ·

(1): Eine Variable a darf nur einmal gebunden werden. Mit dem Allquantor wurde (∀a ∈ N) erkl¨art, was das Symbol a in dieser Zeile bedeutet. Wird nun ein neues Symbol eingef¨ uhrt (∃a ∈ N) · · · , darf dieses nicht wieder a heißen. (2) Mit (∀t ∈ N) wird eine gebundene Variable eingef¨ uhrt. Durch eckige Klammern ist der Bereich markiert, in dem die Bindung gilt. Außerhalb der eckigen Klammern wird das Symbol t wieder verwendet, ist aber hier nicht erkl¨art. (3): “Dann” gibt es eine nat¨ urliche Zahl ... deutet dieses “Dann” auf eine Implikation? Die Formalisierung (3) ist jedenfalls unzul¨assig, denn (∀a ∈ N) (∀b ∈ N) f¨ ur sich ist keine Aussage, auch keine Aussageform. Die Implikation kann aber nur ¨ zwischen vollst¨andigen Aussage(Form)en stehen. Eine “w¨ortliche” Ubersetzung der falschen Zeile zeigt, das etwas Unsinniges herausgekommen ist: “Wenn F¨ ur alle a ∈ N gilt: F¨ ur alle b ∈ N gilt: dann gilt: Es gibt ein g ∈ N f¨ ur das gilt: · · · ” Man fr¨agt sich sofort: Wenn f¨ ur alle a, b was gilt? Die folgende Variante tr¨agt der logischen Struktur schon besser Rechnung: (a ∈ N) ∧ (b ∈ N) ⇒ (∃g ∈ N) · · · Nur fallen nun die Symbole a und b unerkl¨art vom Himmel (wenn nicht aus einem fr¨ uheren Zusammenhang gekl¨art sein sollte, was im Kontext a und b bedeuten). Von welchen a und b reden wir? Eben von allen. Daher doch am besten: (∀a ∈ N) (∀b ∈ N) (∃g ∈ N) · · · (4): F¨ ur alle a “und” f¨ ur alle b gilt ... Dieses “und” ist kein logisches “und”, denn ∧ kann nur zwischen zwei Aussagen (oder Aussageformen) stehen! Daher ist auch Formalisierung (4) unzul¨assig.

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1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

Merksatz 1.3.1.14. 1) Die Teile (∀x ∈ A) und (∃x ∈ A) f¨ ur sich allein sind keine Aussagen. Zu einer Aussage mit Quantor geh¨ort die Quantifizierung, und die Aussageform, welche die quantifizierte Variable enth¨alt: (∀x ∈ A) Q(x). 2) Aussagenlogische Verkn¨ upfungen stehen stets nur zwischen vollst¨andigen Aussagen oder Aussageformen. Bemerkung 1.3.1.15. Man k¨onnte allerdings dar¨ uber streiten, ob nicht (∃x ∈ A) f¨ ur sich eine Aussage sein soll: “Es gibt u ¨berhaupt ein x im Individuenbereich A” — er k¨onnte ja auch leer sein. Damit der Formalismus klar bleibt, vereinbaren wir hier: Ein Quantor ohne Aussageform ist keine Aussage. Wenn man schreiben will, dass u ¨berhaupt ein x in A existiert, kann man sich mit einem Trick behelfen: (∃x ∈ A) x = x. Der Teil (∀x ∈ A) allein genommen l¨asst sich auf keinen Fall als vollst¨andige Aussage interpretieren. Aufgabe 1.3.1.16. Erkl¨aren Sie, warum die folgenden “Aussagen” nicht richtig formalisiert sein k¨onnen: 1) (∀x ∈ N) ³∧ (∀y ∈ N) x < y ∨ y < x ´ 2) (∀v ∈ N) [(∃u ∈ N)u < v] ⇒ (∀w ∈ N) 3) (∀t ∈ N) [(∃s ∈ N)(1 < s ∧ s < t ∧ s | t)] ⇒ s | t2 4) (∀a ∈ N) (∃a ∈ N) a 6= a. 1.3.1.4. Stenographie. Beispiel 1.3.1.17. Wir formalisieren: “Sei ² > 0 eine beliebige positive reelle Zahl. Dann gibt es eine nat¨ urliche Zahl n mit der Eigenschaft, dass alle Werte 1/k mit k > m kleiner als ² sind.” Wir machen eine Aussage u ¨ber alle positiven reellen Zahlen. Wir erkl¨aren R+ = {r ∈ R | r > 0}. 1 (∀² ∈ R+ ) (∃n ∈ N) (∀k ∈ N) [(k > n) ⇒ ( < ²)]. k Die folgende Stenographie ist durchaus u ¨blich, obwohl sie nicht exakt dem Formalismus entspricht: 1 (∀² ∈ R, ² > 0) (∃n ∈ N) (∀k ∈ N, k > n) < ². k Schreibweise 1.3.1.18. 1) Mit der Schreibweise (∀x ∈ A, P (x)) Q(x) grenzt man den Individuenbereich auf jene Objekte x ∈ A ein, auf welche die Aussage P (x) zutrifft. 2) Mit den Schreibweisen (∀x, y ∈ A) Q(x, y) oder

(∃x, y ∈ A) Q(x, y)

kann man wiederholtes Auftreten gleicher Quantoren abk¨ urzen: (∀x ∈ A) (∀y ∈ A) Q(x, y) bzw. (∃x ∈ A) (∃y ∈ A) Q(x, y) Aufgabe 1.3.1.19.

¨ 1.3. PRADIKATENLOGIK

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a) Was bedeutet die folgende Aussage (∀² ∈ R, ² > 0) (∃δ ∈ R, δ > 0) (∀x, y ∈ R) |x − y| < δ ⇒ |x2 − y 2 | < ² b) Besteht ein Unterschied zu (∃δ ∈ R, δ > 0) (∀² ∈ R, ² > 0) (∀x, y ∈ R) |x − y| < δ ⇒ |x2 − y 2 | < ² Was Sie jetzt k¨ onnen: Begriffe: All- und Existenzquantor, freie und gebundene Variable, Aussageform. Fertigkeiten: Aussagen mit Quantoren formalisieren und lesen. Sprachliche Sauberkeit im Umgang mit logischen Symbolen. 1.3.2. Schließen mit pr¨ adikatenlogischen Aussagen. ¨ Ubersicht: 1) Schlussregeln der Pr¨adikatenlogik 2) Beispiele von Beweisen mit Quantoren 3) Die Reihenfolge der Quantoren

1.3.2.1. Schlussregeln der Pr¨ adikatenlogik. Einen abstrakten Formalismus f¨ ur die Pr¨adikatenlogik, also die Logik mit Quantoren, aufzustellen, ist aufw¨andig. Wir begn¨ ugen uns mit folgenden Regeln f¨ ur den praktischen Umgang im logischen Schliessen. Diese Regeln sind durchwegs einleuchtend: Merksatz 1.3.2.1. F¨ ur Aussagen mit Quantoren verwenden wir folgende Schlussregeln: 1) Die Aussage (∀x ∈ A) Q(x) ist bewiesen, wenn man f¨ ur ein Objekt x als einzige Annahme macht, dass es aus dem Individuenbereich A stammt, und f¨ ur dieses Objekt x die Aussage Q(x) beweist: Sei x ∈ A, .. . Q(x) (∀x ∈ A) Q(x) 2) Die Aussage (∃x ∈ A) Q(x) ist bewiesen, sobald man ein bestimmtes Objekt x ∈ A angeben kann, auf welches die Aussage Q zutrifft. 3) Aus den Pr¨amissen (∀x ∈ A) Q(x) und y ∈ A kann geschlossen werden: Q(y). 4) Wenn gilt (∃x ∈ A) Q(x), so darf man ein Element y ∈ A w¨ahlen und benennen, auf welches Q zutrifft, und mit diesem weiterarbeiten: (∃x ∈ A) Q(x) W¨ ahle y ∈ A sodass Q(y) gilt .. .

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1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

Bemerkung 1.3.2.2. Es gibt aber auch kompliziertere Beweise f¨ ur die Existenzaussage (∃x ∈ A) Q(x), die nicht dadurch gef¨ uhrt werden, dass man ein bestimmtes x mit der Eigenschaft Q findet. Beispielsweise kann in einem indirekten Beweis die Annahme, dass es gar kein x ∈ A mit der Eigenschaft Q gibt, zu einem Widerspruch gef¨ uhrt werden. 1.3.2.2. Beispiele von Beweisen mit Quantoren. Wir probieren nun an einigen Beispielen die Schlussregeln aus, und zeigen nebenbei einige wichtige Fakten der Pr¨adikatenlogik. F¨ ur die folgenden Beispiele setzen wir unser mathematisches Schulwissen u urliche und reelle Zahlen voraus. ¨ber nat¨ Beispiel 1.3.2.3. Beweisen Sie folgenden Satz: (∀a ∈ N) (∃b ∈ N) (∀c ∈ N, c ≥ b)

c−a 1 ≥ c 2

L¨ osung: ¨ Verstehphase: Der Satz steht bereits formalisiert da. Uberzeugen Sie sich, dass Sie die Aussage verstehen: F¨ ur jede nat¨ urliche Zahl a gilt: Es gibt (mindestens) eine nat¨ urliche Zahl b, sodass gilt: F¨ ur jede nat¨ urliche Zahl c, die gr¨oßer oder gleich b ist, gilt: c−a 1 c ≥ 2. Suchphase: Weil wir eine Allaussage beweisen m¨ ussen, wird die logische Struktur des Beweises so aussehen: Sei a ∈ N beliebig angenommen. Finde zu diesem a ein geeignetes b, sodass f¨ ur alle c ≥ b gilt: c−a 1 c ≥ 2. Wir stellen nun auf einem Notizblatt eine Nebenrechnung an, wobei wir diesmal vom gew¨ unschten Ergebnis ausgehen und herausfinden wollen, wie wir b w¨ahlen m¨ ussen.

Ordnungsphase: Jetzt k¨onnen wir den Beweis korrekt aufschreiben. 1) Sei a ∈ N.

¨ 1.3. PRADIKATENLOGIK

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Mehr setzen wir u ur dieses a beweisen k¨ onnen, gilt ¨ber a nicht voraus. Was wir also f¨ f¨ ur alle nat¨ urlichen Zahlen. 1 2) Zu zeigen: (∃b ∈ N) (∀c ∈ N, c ≥ b) c−a c ≥ 2. 3) W¨ ahle b = 2a. 1 4) Zu zeigen: (∀c ∈ N, c ≥ 2a) c−a c ≥ 2.

Aus der Suchphase wissen wir, dass b = 2a die Aussage (4) erf¨ ullt. Im Folgenden beweisen wir den LeserInnen, dass das wirklich stimmt. Damit ist dann gezeigt, dass es ein geeignetes b gibt, und Aussage (2) ist bewiesen.

5) Sei c ∈ N, c ≥ 2a. Wieder der typische Beweisansatz f¨ ur eine All-Aussage.

6) 7) 8) 9) 10) 11) 12)

1 Zu zeigen: c−a c ≥ 2. c a ≤ 2 da c ≥ 2a. c−c/2 c−a = 12 . c ≥ c Damit ist (6) gezeigt. Da c ≥ 2a beliebig angenommen war, gilt (4). Damit ist b = 2a gefunden, also gilt (2). Da a ∈ N beliebig angenommen war, gilt Aussge (2) f¨ ur alle a ∈ N.

Beachten Sie, dass wir alle Schritte begr¨ undet haben, und die noch nicht bewiesenen Aussagen mit “zu zeigen” deutlich gekennzeichnet haben.

Aufgabe 1.3.2.4. Zeigen Sie: ³ ´ (∀x ∈ N) (∃y ∈ N) (∀z ∈ N) [(z | x) ∨ (z | 9)] ⇒ (z | y) . (Hier bedeutet z | x wiederum: z ist ein Teiler von x. — Das korrekte Aufschreiben des Beweises ist wesentlicher Teil der L¨osung!)

Beispiel 1.3.2.5. Sei M eine Teilmenge der Menge N der nat¨ urlichen Zahlen mit der folgenden Eigenschaft: £ ¤ (∀a, b ∈ M ) (∃x ∈ M ) (x | a) ∧ (x | b) . Zeigen Sie: £ ¤ (∀a, b, c, d ∈ M ) (∃x ∈ M ) (x | a) ∧ (x | b) ∧ (x | c) ∧ (x | d) . L¨ osung Verstehphase: Der Satz steht bereits formalisiert da. Vorausgesetzt ist: Je zwei Elemente von M besitzen einen gemeinsamen Teiler, der auch in M liegt. Zu zeigen ist: Je vier Elemente von M besitzen einen gemeinsamen Teiler, der auch in M liegt. Suchphase: Wir suchen einen gemeinsamen Teiler f¨ ur 4 beliebige Elemente a, b, c, d ∈ M.

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1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

Das Paar a, b hat nach Voraussetzung einen gemeinsamen Teiler x ∈ M , ebenso hat das Paar c, d einen gemeinsamen Teiler y ∈ M . Aber das Paar x, y hat wieder einen gemeinsamen Teiler z ∈ M , und der teilt nun alle 4 Zahlen a, b, c, d. Ordnungsphase: Wir schreiben nun den Beweis ordentlich auf: £ ¤ Voraussetzung: (∀p, q ∈ M ) (∃x ∈ M )£ (x | p) ∧ (x | q) . ¤ zu zeigen: (∀a, b, c, d ∈ M ) (∃x ∈ M ) (x | a) ∧ (x | b) ∧ (x | c) ∧ (x | d) 1) Seien a, b, c, d ∈ M beliebig. 2) Zu finden ist ein z ∈ M mit (z | a) ∧ (z | b) ∧ (z | c) ∧ (z | d). 3) W¨ ahle x ∈ M mit x | a ∧ x | b. Das ist m¨oglich nach Voraussetzung (mit p = a und q = b). 4) W¨ ahle y ∈ M mit y | c ∧ y | d. Das ist m¨oglich nach Voraussetzung (mit p = c und q = d). 5) W¨ ahle z ∈ M mit z | x ∧ z | y. Das ist m¨oglich nach Voraussetzung (mit p = x und q = y). 6) z | a, denn z | x und x | a. 7) z | b, z | c, z | d ebenso. Solche Abk¨ urzungen sind durchaus erlaubt und sinnvoll, wenn diese Beweisschritte wirklich genauso verlaufen wie der vorige, und keine neue Idee erforderlich ist.

8) Damit haben wir ein z ∈ M gefunden, welches (2) erf¨ ullt, und der Beweis ist fertig. Der folgende Schluss ist typisch f¨ ur die Grundlagen der Analysis (Grenzwertrechnung). Hier bezeichnet R die Menge der reellen Zahlen (alle Zahlen auf der Zahlengeraden), und [0, 1] das Intervall aller reellen Zahlen zwischen 0 und 1, also [0, 1] = {x ∈ R | 0 ≤ x ≤ 1}. Aufgabe 1.3.2.6. Man kann leicht zeigen: (∀x, y ∈ [0, 1]) |x2 − y 2 | ≤ 2|x − y|. Zeigen Sie mit Hilfe dieser Ungleichung: (∀² ∈ R, ² > 0) (∃δ ∈ R, δ > 0) (∀x, y ∈ [0, 1]) |x − y| < δ ⇒ |x4 − y 4 | < ². (Das korrekte Aufschreiben des Beweises ist wesentlicher Teil der Aufgabe!)

¨ 1.3. PRADIKATENLOGIK

47

Tipp f¨ ur die Suchphase:

1.3.2.3. Die Reihenfolge der Quantoren. Wir haben bereits im Unterabschnitt 1.3.1 festgestellt, dass es nicht gleichg¨ ultig ist, in welcher Reihenfolge die Quantoren angeschrieben sind. Mit Hilfe unserer Regeln vom Schließen mit Quantoren k¨onnen wir dieses Ph¨anomen genauer untersuchen. Aufgabe 1.3.2.7. Beweisen Sie den folgenden Satz: Seien X und Y zwei Individuenbereiche, und sei P (x, y) eine Aussageform u ur jedes ¨ber X und Y (d.h., f¨ x ∈ X und y ∈ Y ist P (x, y) eine Aussage, die wahr oder falsch ist.). Ferner gelte (∃x ∈ X) (∀y ∈ Y ) P (x, y). Dann gilt auch (∀y ∈ Y ) (∃x ∈ X) P (x, y). Beispiel 1.3.2.8. Seien X und Y zwei Individuenbereiche, und sei P (x, y) eine Aussageform u ur jedes x ∈ X und y ∈ Y ist P (x, y) eine ¨ber X und Y (d.h., f¨ Aussage, die wahr oder falsch ist.). Zeigen Sie, dass aus der Pr¨amisse (∀y ∈ Y ) (∃x ∈ X) P (x, y) nicht unbedingt folgen muss: (∃x ∈ X) (∀y ∈ Y ) P (x, y). In Beispiel 1.3.2.7 haben wir gezeigt, dass immer die folgende Implikation gilt: (∃x ∈ X) (∀y ∈ Y ) P (x, y) ⇒ (∀y ∈ Y ) (∃x ∈ X) P (x, y) Wir sollen also diesmal zeigen, dass die Implikation in Gegenrichtung (∀y ∈ Y ) (∃x ∈ X) P (x, y) ⇒ (∃x ∈ X) (∀y ∈ Y ) P (x, y) nicht unbedingt gilt. Das heißt nicht, dass sie immer falsch ist, sondern bloß, dass es F¨alle gibt, in denen sie nicht gilt. Ein einziges Beispiel einer Situation, wo sie nicht gilt, gen¨ ugt uns also. Beweis. Wir konstruieren ein Gegenbeispiel. (1) Setze X = Y := N, P (x, y) : ⇐⇒ x > y.

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1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

Zeige: Es gilt (∀y ∈ N) (∃x ∈ N) x > y, aber nicht (∃x ∈ N) (∀y ∈ N) x > y. Das Beispiel ist gew¨ ahlt, aber zu zeigen bleibt, dass es wirklich ein Gegenbeispiel ist.

(2) Teil 1: Zeige: (∀y ∈ N) (∃x ∈ N) x > y. Das ist zwar leicht einzusehen, aber wir wollen einen sauberen Beweis aufschreiben.

(3) (4) (5) (6)

Sei y ∈ N. Zu zeigen: (∃x ∈ N) x > y. Setze x = y + 1. Bekanntlich ist x = y + 1 > y. Daher ist (4) bewiesen. Teil 1 ist fertig bewiesen. (7) Teil 2: Zeige: ¬(∃x ∈ N) (∀y ∈ N) x > y. (8) Durch Widerspruch: Annahme: (∃x ∈ N) (∀y ∈ N) x > y. (9) Finde einen Widerspruch. Wenn Annahme (8) zu einer sicher falschen Aussage f¨ uhrt, dann muss sie falsch sein, und damit w¨ are (7) bewiesen.

(10) W¨ ahle u ∈ N so, dass (∀y ∈ N) u > y. Diese Wahl ist wegen (8) m¨oglich. (11) Dann ist auch u + 1 ∈ N. (12) Wegen (10) und (11) gilt u > u + 1. (13) Widerspruch! Denn es gilt nie u > u + 1. Damit ist auch Teil 2 fertig. ¤

Merksatz 1.3.2.9. Soll gezeigt werden, dass eine Behauptung nicht immer wahr ist, gen¨ ugt es, ein einziges Beispiel zu finden, f¨ ur das sie falsch ist. Ein solches Beispiel heißt Gegenbeispiel. Die Suche nach Gegenbeispielen kann manchmal mathematisch ¨außerst trickreich und anspruchsvoll sein.

Merksatz 1.3.2.10. Die Reihenfolge der Quantoren ist wichtig, sobald All- und ¨ Existenzquantoren gemischt auftreten. Es gelten zwar die folgenden Aquivalenzen: (∀x ∈ A) (∀y ∈ B) P (x, y) ⇔

(∀y ∈ B) (∀x ∈ A) P (x, y),

(∃x ∈ A) (∃y ∈ B) P (x, y) ⇔

(∃y ∈ B) (∃x ∈ A) P (x, y),

aber die folgende Implikation gilt im Allgemeinen nur in der gegebenen Richtung, (∃x ∈ A) (∀y ∈ B) P (x, y) ⇒ (∀y ∈ B) (∃x ∈ A) P (x, y). Die Gegenrichtung gilt nicht immer.

¨ 1.3. PRADIKATENLOGIK

49

Aufgabe 1.3.2.11. Sei G der Individuenbereich der Grazer und T der Bereich der Tage des Jahres 2006. Vergleichen Sie den Inhalt der Aussagen (∀t ∈ T ) (∃g ∈ G) g wird am Tag t von einem Auto angefahren, (∃g ∈ G) (∀t ∈ T ) g wird am Tag t von einem Auto angefahren. Was Sie jetzt k¨ onnen: Wissen und Begriffe: Schlussregeln der Quantorenlogik. Die Reihenfolge der Quantoren hat Einfluss auf die Bedeutung. Gegenbeispiele. Fertigkeiten: Verstehen und Verfassen von Beweisen mit Quantoren. 1.3.3. Negation von Aussagen mit Quantoren. ¨ Ubersicht: Negationsregel f¨ ur Aussagen mit Quantoren Beispiele f¨ ur Negation komplexer Aussagen mit mehreren Quantoren Leere Individuenbereiche 1.3.3.1. Negationsregel f¨ ur Aussagen mit Quantoren. Aufgabe 1.3.3.1. L¨osen Sie diese Aufgabe nur mit “Hausverstand”, Sie brauchen diesmal keinen korrekten Beweis zu liefern: Welcher der folgenden S¨atze ist die Negation der Aussage “Zu jeder Parabel gibt es einen Punkt p und eine Gerade g, sodass jeder Punkt der Parabel von p und g denselben Abstand hat.” (Wir meinen hier mit Parabel eine quadratische Parabel.)

a) “Zu jeder Parabel gibt es einen Punkt p und eine Gerade g, sodass jeder Punkt der Parabel von p und g verschiedenen Abstand hat.” b) “Es gibt eine Parabel und es gibt einen Punkt p und eine Gerade g, sodass jeder Punkt der Parabel von p und g verschiedenen Abstand hat.”

50

1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

c) “Es gibt eine Parabel, sodass f¨ ur jeden Punkt p und jede Gerade g gilt: Es gibt einen Punkt der Parabel, der von p und g verschiedenen Abstand hat.” d) “Es gibt eine Parabel, sodass f¨ ur jeden Punkt p und jede Gerade g gilt: Jeder Punkt der Parabel hat von p und g verschiedenen Abstand.” e) “Es gibt einen Punkt p und eine Gerade g, sodass f¨ ur jede Parabel gilt: Jeder Punkt der Parabel hat von p und g verschiedenen Abstand.”

Merksatz 1.3.3.2. Sei P (x) eine Aussageform u ¨ber einem Individuenbereich A (d.h., f¨ ur alle x in A ist P (x) eine Aussage, welche wahr oder falsch ist). Dann sind die folgenden beiden Aussagen ¨aquivalent: (i) ¬(∃x ∈ A) ¬P (x), (ii) (∀x ∈ A) P (x). Das ist intuitiv einleuchtend. Es ist offensichtlich dasselbe, zu sagen “Es gibt keinen Computer, der keinen Fehler hat” oder “Jeder Computer hat Fehler.”

Merksatz 1.3.3.3 (Negation von Aussagen mit Quantoren). Eine Aussage mit Quantoren wird negiert, indem alle Existenzquantoren gegen Allquantoren und alle Allquantoren gegen Existenzquantoren getauscht werden, und die Aussageform hinter den Quantoren negiert wird.

Bemerkung 1.3.3.4. An dieser Stelle sieht man, warum es ein kluger Schachzug war, den Ausdruck (∃x ∈ A) f¨ ur sich allein nicht als vollst¨andige Aussage zuzulassen (vgl. Bemerkung 1.3.1.15), auch wenn er einleuchtend als “A enth¨alt mindestens ein Individuum” interpretierbar w¨are. Bei der Negation w¨ urde n¨amlich der Formalismus streiken! Die rechte Seite der folgenden formalen Umwandlung ¬(∃x ∈ A) ⇐⇒ (∀x ∈ A) ¬ l¨asst sich bei bestem Willen nicht als Aussage interpretieren. Dagegen funktioniert £ ¤ ¬ (∃x ∈ A) x = x ⇐⇒ (∀x ∈ A) x 6= x.

¨ 1.3. PRADIKATENLOGIK

51

1.3.3.2. Beispiele f¨ ur Negation von komplexen Aussagen mit mehreren Quantoren. Beispiel 1.3.3.5. Formalisieren und negieren Sie den folgenden Satz: “Jeder Mensch hat mindestens eine Kr¨ atzn 2 zum Nachbarn.” mit Hilfe der Individuenbereiche M : Menge der Menschen, K: Menge der Kr¨atzn, und der Eigenschaft “x und y sind Nachbarn”. Formalisierung: F¨ ur jeden Menschen x gibt es eine Kr¨atzn y, so dass x und y Nachbarn sind: (∀x ∈ M ) (∃y ∈ K) x und y sind Nachbarn. Wir f¨ uhren die Negation Schritt f¨ ur Schritt durch: Quantor austauschen und Aussage hinter dem Quantor negieren: £ ¤ ¬ (∀x ∈ M ) (∃y ∈ K) x und y sind Nachbarn £ ¤ ⇐⇒ (∃x ∈ M ) ¬ (∃y ∈ K) x und y sind Nachbarn £ ¤ ⇐⇒ (∃x ∈ M ) (∀y ∈ K) ¬ x und y sind Nachbarn Die Negation lautet: “Es gibt mindestens einen Menschen x, sodass f¨ ur alle Kr¨atzn y gilt, dass x und y nicht Nachbarn sind.” Nat¨ urlich kann man die Negation in einem Zug durchf¨ uhren: Alle Quantoren wurden ausgetauscht, und die Aussage dahinter negiert. Beispiel 1.3.3.6. In diesem Beispiel sind a1 , a2 , a3 Vektoren. Formalisieren und negieren Sie: F¨ ur alle reellen Zahlen λ1 , λ2 , λ3 gilt: Falls gilt: λ1 a1 + λ2 a2 + λ3 a3 = 0, dann sind alle drei Koeffizienten λi gleich Null. " (∀λ1 ∈ R, λ2 ∈ R, λ3 ∈ R)

3 X

# λi ai = 0 ⇒ (∀i ∈ {1, 2, 3}) λi = 0 .

i=1

Wir f¨ uhren die Negation schrittweise durch. " 3 # X ¬(∀λ1 ∈ R, λ2 ∈ R, λ3 ∈ R) λi ai = 0 ⇒ (∀i ∈ {1, 2, 3}) λi = 0 " ⇐⇒ (∃λ1 ∈ R, λ2 ∈ R, λ3 ∈ R) ¬ " ⇐⇒ (∃λ1 ∈ R, λ2 ∈ R, λ3 ∈ R)

i=1 3 X

# λi ai = 0 ⇒ (∀i ∈ {1, 2, 3}) λi = 0

i=1 3 X

#

λi ai = 0 ∧ ¬(∀i ∈ {1, 2, 3}) λi = 0

i=1

(Beachten Sie, wie die Implikation negiert wurde!)

"

⇐⇒ (∃λ1 ∈ R, λ2 ∈ R, λ3 ∈ R)

3 X

#

λi ai = 0 ∧ (∃i ∈ {1, 2, 3}) λi 6= 0

i=1

In Worten bedeutet die Negation: Es gibt mindestens ein Tripel von reellen Zahlen λ1 , λ2 , λ3 , sodass die Summe λ1 a1 + λ2 a2 + λ3 a3 = 0 ist, und dabei zugleich mindestens ein λi ungleich Null ist. 2Eine Kr¨ atzn ist per definitionem eine nat¨ urliche Person, deren Gegenwart auf die emotio-

nale Verfassung von mindestens 80% der umgebenden nat¨ urlichen Personen von denselben als unangenehm bewertete Auswirkungen bedingt.

52

1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

Aufgabe 1.3.3.7. Formalisieren Sie die folgenden Aussagen und bilden Sie die Negationen davon: a) “Zu jeder ganzen Zahl n kann eine ganze Zahl m gefunden werden, sodass m > n.” b) “Es gibt eine ganze Zahl n, sodass f¨ ur jede ganze Zahl m gilt: Wenn m ein Teiler von n ist, so ist m = 1 oder m = n.” Aufgabe 1.3.3.8. Sei (xn ) eine Folge reeller Zahlen, d.h., x1 , x2 , x3 · · · sind reelle Zahlen. Formalisieren und negieren Sie die folgende Aussage: Es gibt eine reelle Zahl a, sodass zu jeder rellen Zahl ² > 0 eine nat¨ urliche Zahl n gefunden werden kann, sodass |xk − a| < ², falls k eine nat¨ urliche Zahl mit k ≥ n ist. 1.3.3.3. Leere Individuenbereiche. Wir f¨ ugen noch zwei wichtige Regeln f¨ ur einen merkw¨ urdigen Sonderfall an. Diese k¨onnte man bereits mit Hilfe der obigen Schlussregeln ableiten. Merksatz 1.3.3.9. Wenn der Individuenbereich A kein Objekt enth¨alt, gelten folgende Regeln: 1) Existenzaussagen sind immer falsch, also gilt dann unabh¨angig davon, was die Aussageform Q ist: ¬(∃x ∈ A) Q(x) 2) Allaussagen sind immer wahr, also gilt dann unabh¨angig davon, was Q ist: (∀x ∈ A) Q(x) Bemerkung 1.3.3.10. Regeln u ¨ber leere Individuenbereiche erscheinen auf den ersten Blick als Haarespalterei von unterbesch¨aftigten Hochschulprofessoren. In der Mathematik kommt es aber sehr oft vor, dass man nicht von vorneherein weiss, ob ein Individuenbereich wirklich Elemente enth¨alt. Manchmal ist es sogar sehr aufw¨andig, zu beweisen, dass es eine Sorte Objekt gar nicht gibt. Man beweist dann u ¨ber solche Objekte oft viele Eigenschaften, nur um am Ende zu schliessen, dass sich diese Eigenschaften nicht miteinander vertragen, und damit hat man bewiesen, dass es solche Objekte nicht geben kann. Was Sie jetzt k¨ onnen: Begriffe und Wissen: Negationsregel f¨ ur Quantoren, Sonderfall leere Individuenbereiche Fertigkeiten: Negation von Aussagen mit Quantoren.

1.4. Die vollst¨ andige Induktion ¨ Ubersicht: 1) Das Prinzip der vollst¨andigen Induktion 2) Rekursive Definition

¨ 1.4. DIE VOLLSTANDIGE INDUKTION

53

1.4.1. Das Prinzip der vollst¨ andigen Induktion. ¨ Ubersicht: 1) Die vollst¨andige Induktion 2) Beispiele von Induktionsbeweisen 3) Exkurs u ¨ ber den Stil 1.4.1.1. Die vollst¨ andige Induktion. Definition 1.4.1.1. Seien a1 , a2 , a3 , · · · reelle Zahlen (es k¨onnten auch Vektoren sein), und p ≤ q nat¨ urliche Zahlen. Dann ist q X

an = ap + ap+1 + ap+2 + · · · + aq .

n=p

Bemerkung 1.4.1.2. Die Definition mit Aufz¨ahlung und P¨ unktchen “ap + ap+1 +· · · +aq ” macht gewisses Unbehagen, sie ist nicht wirklich sauber. Wir lernen sp¨ ater einen eleganteren Weg kennen, solche Definitionen zu verfassen, n¨amlich die rekursive Definition. Aufgabe 1.4.1.3. Berechnen Sie die folgenden Summen: Ã 4 !Ã 4 ! 5 4 X X X X 2 i , (2t − 1)(t + 1), (2t − 1) (t + 1) . i=1

t=2

t=2

t=2

Aufgabe 1.4.1.4. Was ist falsch an der folgenden Formel: ! Ã 2 X k − k3 3 k=0

Beispiel 1.4.1.5. Zeigen Sie den Satz: F¨ ur alle n ∈ N gilt: n 2 X n +n i= . 2 i=1 L¨ osung: In Wirklichkeit sollen wir unendlich viele S¨atze beweisen: Aussage p1 :

1 X

i=

12 + 1 , 2

i=

22 + 2 , 2

i=

32 + 3 , 2

i=

n2 + n . 2

i=1

Aussage p2 :

2 X i=1

Aussage p3 :

3 X i=1

.. . Aussage pn :

n X i=1

Ist so etwas mit endlich vielen Beweisschritten u ¨berhaupt m¨oglich?

54

1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

Suchphase: Wenn wir Aussage pn untersuchen, m¨ ussen wir berechnen n X

i = 1 + 2 + · · · + (n − 1) + n =

i=1

n−1 X

i+n

i=1

Wenn wir Aussage pn−1 einsetzen, erhalten wir n X i=1

i=

(n − 1)2 + (n − 1) n2 − 2n + 1 + n − 1 + 2n n2 + n +n= = 2 2 2

und wir erhalten die Formel f¨ ur den Fall n. Ein Zirkelschluss? Nein, denn wir haben verwendet, dass Aussage pn−1 gilt und daraus eine andere Aussage, n¨amlich pn gefolgert! Wir k¨onnen also zeigen: pn−1 ⇒ pn . Der Fall n = 1 ist leicht nachzupr¨ ufen: 1 X

i=1=

i=1

12 + 1 . 2

Aussage p1 stimmt also. Es gilt aber p1 ⇒ p2 , daher gilt auch p2 , und jetzt folgt p3 und so weiter. Also m¨ ussen alle Aussagen pn wahr sein. Ordnungsphase: Beweis durch vollst¨ andige Induktion nach n: Induktionsverankerung: Fall n = 1: 1 X

i=1=

i=1

12 + 1 . 2

Also gilt die Behauptung f¨ ur n = 1. Induktionsschritt: An dieser Stelle m¨ ussen wir zeigen: pn ⇒ pn+1 . Also:

Pn 2 Induktionsannahme: i=1 i = n 2+n . 2 Pn+1 (n+1) +(n+1) Zu zeigen: . i=1 i = 2 n+1 X

i=

(n + 1) +

Pn i=1

i

i=1

= = =

n2 +n 2 2n+2+n2 +n 2 (n+1)2 +(n+1) . 2

(n + 1) +

wegen der Induktionsannahme

Damit ist der Beweis fertig. Merksatz 1.4.1.6. Sei m eine nat¨ urliche Zahl oder m = 0. F¨ ur alle n ∈ N ∪ {0}, n ≥ m sei pn eine Aussage. Ein Beweis durch vollst¨ andige Induktion beweist s¨amtliche Aussagen pn f¨ ur n ≥ m durch folgende Strategie: 1) Es wird die Aussage pm bewiesen. (Induktionsverankerung) 2) Es wird vorausgesetzt, dass die Aussagen pm , · · · , pn gelten. (Induktionsannahme) 3) Es wird bewiesen, dass aus der Induktionsannahme die n¨achstfolgende Aussage pn+1 folgt. (Induktionsschritt)

¨ 1.4. DIE VOLLSTANDIGE INDUKTION

55

(Sehr oft reicht als Induktionsannahme auch die Annahme, dass die Aussage pn gilt. In diesem Fall sprechen wir manchmal auch von schwacher Induktion. Wenn als Induktionsannahme alle Aussagen pm , · · · , pn gebraucht werden, sprechen wir von starker Induktion.) 1.4.1.2. Beispiele von Induktionsbeweisen. Beispiel 1.4.1.7. Zeigen Sie: F¨ ur alle k ∈ N ∪ {0} gilt: 4 ist ein Teiler von 5k − 1. L¨ osung: Suchphase: Es wird eine Aussage u ¨ber alle k ∈ N gemacht, daher wird m¨oglicherweise ein Induktionsbeweis zum Ziel f¨ uhren. Kernst¨ uck eines solchen Beweises w¨are der Induktionsschritt von k auf k + 1. K¨onnen wir zeigen 4 | (5k+1 − 1), wenn vorausgesetzt wird 4 | (5k − 1). Wir machen zun¨achst Versuche mit dem Ausdruck 5k+1 − 1: K¨onnen wir den Ausdruck 5k − 1 ins Spiel bringen, denn u ¨ber diese Zahl h¨atten wir eine Voraussetzung? 5k+1 − 1 = 5 · 5k − 1 = 5 · (5k − 1 + 1) − 1 = 5 · (5k − 1) + 4 und jetzt sehen wir: Wenn 5k − 1 durch 4 teilbar ist, dann ist ja auch 5 · (5k − 1) + 4 durch 4 teilbar. Ordnungsphase: Vollst¨ andige Induktion nach k: Induktionsverankerung: k = 0: 50 − 1 = 0 ist durch 4 teilbar. Induktionsschritt: Induktionsannahme: 5k − 1 ist durch 4 teilbar. Zeige: 5k+1 − 1 ist durch 4 teilbar. 5k+1 − 1 = 5 · (5k − 1 + 1) − 1 = 5 · (5k − 1) + 4. Nach Induktionsannahme ist 4 ein Teiler von 5k − 1, daher auch von 5 · (5k − 1), und daher teilt 4 auch 5 · (5k − 1) + 4. ¤ Aufgabe 1.4.1.8. Sei q 6= 1 eine reelle Zahl. Zeigen Sie durch vollst¨andige Induktion f¨ ur alle n ∈ N ∪ {0} n X 1 − q n+1 qj = 1−q j=0 Aufgabe 1.4.1.9. Seien a0 , a1 , a2 · · · reelle Zahlen, die folgenden Bedingungen gen¨ ugen: a0 = 0, a1 = 1, an+1 = 3an − 2an−1

f¨ ur n = 1, 2, 3, · · ·

Zeigen Sie mittels starker Induktion: F¨ ur alle n = 0, 1, 2, · · · gilt an = 2n − 1. Tipp f¨ ur die Verstehphase: Hier steht also a2 = 3a1 − 2a0

(= 3)

a3 = 3a2 − 2a1

(= 7)

.. .

56

1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

1.4.1.3. Exkurs u ¨ber den Stil. Beispiel 1.4.1.10. Der folgende Text soll f¨ ur alle n ∈ N die folgende Gleichung beweisen: n X 2n3 + 3n2 + n i2 = . 6 i=1 Stimmt der Beweis? 2+3+1 =1 6 2(n + 1)3 + 3(n + 1)2 + (n + 1) 2n3 + 6n2 + 6n + 2 + 3n2 + 6n + 3 + n + 1 = 6 6 2n3 + 9n2 + 13n + 6 = 6 2n3 + 9n2 + 13n + 6 2n3 + 3n2 + n 6n2 + 12n + 6 − = = (n + 1)2 ¤ 6 6 6 Diskussion: Der Beweis ist richtig! Aber wahrscheinlich mussten Sie ein bisschen nachdenken, bevor Sie zu diesem Schluss gekommen sind. Wenn der Verfasser die Leserschaft u ¨ber seine Strategie informiert h¨atte, w¨are der Beweis leichter lesbar: Vollst¨ andige Induktion nach n : Verankerung f¨ ur n = 1 : 1

X 2 · 13 + 3 · 12 + 1 =1= i2 . 6 i=1 Induktionsannahme:

n X i=1

zu zeigen:

n+1 X i=1

i2 =

i2 =

2n3 + 3n2 + n 6

2(n + 1)3 + 3(n + 1)2 + (n + 1) . 6

Die folgende Rechnung wird zeigen: 2(n + 1)3 + 3(n + 1)2 + (n + 1) 2n3 + 3n2 + n − = (n + 1)2 6 6 womit die Behauptung offensichtlich bewiesen ist. 2(n + 1)3 + 3(n + 1)2 + (n + 1) 2n3 + 6n2 + 6n + 2 + 3n2 + 6n + 3 + n + 1 = 6 6 2n3 + 9n2 + 13n + 6 = 6 6n2 + 12n + 6 2n3 + 9n2 + 13n + 6 2n3 + 3n2 + n − = = (n + 1)2 ¤ 6 6 6 Merksatz 1.4.1.11. Vor allem, wenn Sie lange Beweise schreiben, oder Stra¨ tegien wie Widerspruch, Fallunterscheidung, Induktion oder Ahnliches anwenden, informieren Sie vorab die LeserInnen u ¨ber Ihre Ziele. Sie ersparen ihnen damit viel Arbeit und Missverst¨andnisse. Wenn wir schon auf Stil eingehen, noch ein Hinweis zum Gebrauch des Gleichheitszeichens:

¨ 1.4. DIE VOLLSTANDIGE INDUKTION

57

Beispiel 1.4.1.12. Als L¨osung einer Gleichungaufgabe findet sich folgender Text. Beachten Sie die missbr¨auchliche Verwendung des Gleichheitszeichens zwischen den L¨osungsschritten: √ x + 3 = 5 = x + 3 = 25 = x = 22. Diskussion: Keine Frage, die Gleichung ist richtig gel¨ost. Der Gebrauch des Gleichheitszeichens zwischen den L¨osungsschritten ist aber falsch, sonst w¨are 5 = 25. Der Verfasser wollte ausdr¨ ucken, dass die Schritte dasselbe sagen, also ¨aquivalente Aussagen sind. Korrekt w¨are: √ x+3=5 ⇐⇒ x + 3 = 25 ⇐⇒ x = 22. ¨ Aber in diesem Fall ist auch dieses Aquivalenzzeichen nur ein F¨ ullzeichen, das zum ¨ Verst¨andnis nichts beitr¨agt und weggelassen werden sollte. Ubersichtlicher ist eine geschickte Anordnung der Aussagen in Zeilen: √ x+3 = 5 x + 3 = 25 x = 22 Merksatz 1.4.1.13. Das Gleichheitszeichen = steht immer zwischen zwei Objekten, welche gleich sind. Um zu zeigen, dass zwei Aussagen ¨aquivalent sind, bedient man sich des Zeichens ⇔. Was Sie jetzt k¨ onnen: Begriffe und Wissen: Vollst¨andige Induktion. Fertigkeiten: Induktionsbeweise verstehen und f¨ uhren. Informationen u ber Beweisstrategien geben. ¨

1.4.2. Rekursive Definition. ¨ Ubersicht: Prinzip der rekursiven Definition Beispiele zur rekursiven Definition und vollst¨andigen Induktion. 1.4.2.1. Prinzip der rekursiven Definition. Die Definition 1.4.1.1 des Summenzeichens durch q X an = ap + ap+1 + · · · + aq n=p

ist durch die Verwendung von . . . unsauber. Wir ersparen uns die Punkte durch folgende Methode: Definition 1.4.2.1. F¨ ur jede nat¨ urliche Zahl n sei an eine reelle Zahl. Seien p ≤ q nat¨ urliche Zahlen. Wir definieren p X an := ap , n=p

F¨ ur alle q > p sei

q X n=p

an := aq +

q−1 X n=p

an .

58

1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

Diese Definiton kommt ohne Punkte aus. Auf ersten Blick m¨ochte man meinen, dass sie eine Zirkeldefinition ist, weil das Summenzeichen mit Hilfe des Summenzeichens definiert wird. Jedoch wird in der ersten Zeile der Definition die Summe von einem Element ap definiert: p X

an = ap .

n=p

Sobald diese definiert ist, kann durch die zweite Zeile der Definition die Summe von zwei Elementen bestimmt werden: p+1 p X X an = ap+1 + an = ap+1 + ap . n=p

n=p

So k¨onnen Schritt f¨ ur Schritt mit Hilfe der zweiten Zeile der Definition immer l¨angere Summen aufgerollt werden: p+2 X

an

=

ap+2 +

n=p p+3 X

p+1 X

an = ap+2 + ap+1 + ap ,

n=p

an

=

ap+3 +

n=p

p+2 X

an = ap+3 + ap+2 + ap+1 + ap ,

n=p

sodass jede beliebig lange Summe definiert ist. Merksatz 1.4.2.2. Sei m eine nat¨ urliche Zahl oder m = 0. Eine rekursive Definition f¨ ur Objekte am , am+1 , am+2 , · · · funktioniert nach folgendem Schema: Zuerst wird am definiert. Jedes Objekt an+1 wird unter Verwendung von am , · · · , an definiert. 1.4.2.2. Beispiele zur rekursiven Definition und vollst¨ andigen Induktion. Aufgabe 1.4.2.3. a > 0 sei eine √ reelle Zahl. Wir beschreiben ein Verfahren zur n¨aherungsweisen Berechnung von a: Man beginnt mit x0 = 1. x1 = a2 + 12 , x2 = 2xa1 + x21 , x3 = 2xa2 + x22 , x4 = 2xa3 + x23 , u.s.w. 1) Beschreiben Sie das Verfahren ohne die Floskel “und so weiter” exakt durch eine rekursive Definition. 2) Beweisen Sie die folgenden beiden √ Aussagen durch vollst¨andige Induktion: 2a) F¨ ur alle n ≥ 1 gilt xn√≥ a. √ 2b) F¨ ur alle n gilt |xn − a| ≤ 2−n |1 − a|. √ Tipp f¨ ur (2a): Schreiben Sie xn+1 − a mit Hilfe von xn und der rekursiven Definition an. Es ergibt sich ein Bruch, dessen Z¨ahler ein Quadrat ist. Aufgabe 1.4.2.4. F¨ ur alle Zahlen i, j ∈ N ∪ {0} mit i ≤ j definieren wir rekursiv die Zahlen ci,j : c0,0 := 1, ci,0 = ci,i := 1

f¨ ur i = 1, 2, 3, · · · ,

ci,j := ci−1,j−1 + ci−1,j

f¨ ur i = 2, 3, 4, · · · , und j = 1, 2, · · · , i − 1.

¨ 1.4. DIE VOLLSTANDIGE INDUKTION

59

(Das sogenannte Pascalsche Dreieck, siehe Graphik.) Zeigen Sie durch vollst¨andige Induktion nach i: i! ci,j = j!(i − j)! Dabei ist i! = 1 · 2 · 3 · · · · · i.

Definition 1.4.2.5. Die Zahlen ci,j aus Aufgabe 1.4.2.4 heißen die Binomialkoeffizienten µ ¶ i! i := “i u ¨ber j” j j!(i − j)! Aufgabe 1.4.2.6. Sei f eine Funktion von R nach R, das heißt, f¨ ur jede reelle Zahl x ist f (x) wieder eine reelle Zahl. Die Funktion f besitze die folgende Eigenschaft: (∃M < 1) (∀x, y ∈ R) |f (x) − f (y)| ≤ M |x − y|. Wir beginnen mit einer beliebigen Zahl x0 ∈ R und berechnen anschließend x1 = f (x0 ), x2 = f (f (x0 )), x3 = f (f (f (x0 ))) u.s.w.. Außerdem sei z ∈ R ein Fixpunkt von f , das heißt, f (z) = z. 1) Ersetzen Sie die etwas unsaubere Beschreibung der Berechnung der xn mit “u.s.w.” durch eine saubere rekursive Definition. 2) Zeigen Sie durch vollst¨andige Induktion: |xn − z| ≤ M n |x0 − z|. Aufgabe 1.4.2.7. Ein elektronisches System kann in zwei Zust¨anden A, B sein, wobei jede Sekunde das System den Zustand einmal zuf¨allig wechseln kann oder nicht. Zu Beginn befindet sich das System in Zustand A. Befindet sich das System im Zustand A, so betr¨agt die Wahrscheinlichkeit, dass es in der n¨achsten Sekunde seinen Zustand nach B wechselt, ein Viertel. Befindet es sich in Zustand B, so wechselt es in der n¨achsten Sekunde mit Wahrscheinlichkeit von ein Halb nach A. Ob das System seinen Zustand wechselt oder nicht, ist nur abh¨angig vom augenblicklichen Zustand, und nicht, durch welche bisherigen Umschaltungen das System diesen Zustand erreicht hat. Es sei pi die Wahrscheinlichkeit, dass das System nach i Sekunden im Zustand A ist, qi = 1 − pi die Wahrscheinlichkeit, dass das System nach i Sekunden im Zustand B ist. 1) Berechnen Sie pi+1 und qi+1 , wenn pi und qi bekannt sind. 2) Zeigen Sie: pi = 31 (2 + 4−i ), qi = 13 (1 − 4−i ).

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1. SPRACHE, LOGIK UND BEWEISE

Was Sie jetzt k¨ onnen: Begriffe und Wissen: Rekursive Definition Fertigkeiten: Rekursive Definitionen verstehen und aufstellen.

1.5. Einige oft verwendete Beweistechniken ¨ Ubersicht: ¨ Dieser Abschnitt enth¨alt einen zusammenfassenden Uberblick u ¨ ber m¨ogliche Herangehensweisen zum Beweis mathematischer Aussagen. Der Abschnitt dient nicht als Grundlage zum Vortrag, sondern ist ein Anhang, welcher Ihnen nach Durcharbeiten der Lehrveranstaltung eine Zusammenfassung geben soll.

Mengengleichheit. Den Beweis von A = B f¨ ur Mengen A, B kann man in zwei Teile gliedern: erstens zeige A ⊂ B, zweitens zeige B ⊂ A. Mengeninklusion. Zwei m¨ogliche Arten eine Inklusion X ⊂ Y zu beweisen: a) betrachte ein beliebiges Element x ∈ X (“Sei x aus X”) und zeige, dass es in Y liegt. Mit anderen Worten: beweise die Implikation x ∈ X ⇒ x ∈ Y . b) Ausn¨ utzung der Definition und Struktur von X und Y und Zerlegung der Inklusion in eine Kette logisch auseinander hervorgehender Inklusionen. ¨ Aquivalenz. Die Gliederung des Beweises der Mengengleichheit in zwei Inklu¨ sionen entspricht der Zerlegung einer Aquivalenz in zwei Implikationen: Um p ⇔ q f¨ ur zwei Aussagen p, q zu beweisen, zeige erstens p ⇒ q und zweitens q ⇒ p. Ringschluss. Um zu zeigen, dass mehrere Aussagen p1 , p2 , · · · , pn ¨aquivalent sind, kann man einen Ringschluss verwenden. Man beweist: p1 p2 pn−1 pn

⇒ p2 ⇒ p3 .. . ⇒ pn ⇒ p1

¨ Die Aquivalenz der Aussagen ist nat¨ urlich unabh¨angig von ihrer Reihenfolge, beim Ringschluss kann die Reihenfolge aber große Unterschiede f¨ ur die Beweisf¨ uhrung machen. Implikation. Wie viele mathematische Aussagen, wurden alle obigen Problemstellungen wurden auf Implikationen zur¨ uckgef¨ uhrt. An den Beweis der Implikation p ⇒ q mit Aussagen p und q kann man auf (mindestens) drei Weisen herangehen: Direkter Beweis: nimm an, dass p wahr ist und zeige in kleinen logischen Schritten, dass dann auch q wahr sein muss. Indirekter Beweis: nimm an, dass q falsch ist und zeige, dass dann auch p falsch sein muss. Mit anderen Worten: nimm an, dass ¬q wahr ist und zeige, dass dann auch ¬p wahr ist. Beweis durch Widerspruch: nimm an, dass p wahr ist und dass q falsch ist und verwende beides, um eine Aussage der Form r ∧ ¬r abzuleiten. Bei allen drei Varianten kann und soll man alle Aussagen und Voraussetzungen verwenden, die unabh¨angig von der Pr¨amisse der zu beweisenden Implikation gegeben sind. Man muss aber vermeiden, irrt¨ umlich Argumente zu verwenden, deren G¨ ultigkeit nicht vorausgesetzt wurde oder nicht zweifelsfrei feststeht.

1.5. EINIGE OFT VERWENDETE BEWEISTECHNIKEN

61

Fallunterscheidung. Beim Beweis in kleinen logischen Schritten, kann die Situation eintreten, dass bereits gesichert ist, dass (mindestens) eine von mehreren m¨oglichen Aussagen p1 , . . . , pn wahr ist, dass also p1 ∨ p2 ∨ · · · ∨ pn wahr ist. Dann kann man den Beweis verzweigen, indem man nacheinander die G¨ ultigkeit je einer der n Aussagen p1 , . . . , pn verwendet. In jedem Fall strebt man eine gemeinsame Conclusio an, von der aus die Argumentation weitergef¨ uhrt wird. Eindeutigkeit. Um zu beweisen, dass es h¨ochstens ein Element einer Menge gibt, das eine bestimmte Eigenschaft hat, nimmt man an es g¨abe zwei und zeigt, dass sie gleich sind. All-Aussagen. Um zu beweisen, dass alle Elemente einer Menge eine gewisse Eigenschaft haben, untersucht man ein beliebiges Element aus dieser Menge (“Sei x ∈ M beliebig”) und zeigt, dass es diese Eigenschaft hat. Insbesondere wenn der Allquantor u ugt es nicht, Beispiele anzugeben. ¨ber eine unendliche Menge l¨auft gen¨ Man kann aber Beispiele betrachten, um auf Beweis-Ideen zu kommen bzw. solche zu testen. Induktion. Die vollst¨andige Induktion kommt zum Einsatz, wenn gezeigt werden soll, dass eine Aussage f¨ ur alle Elemente einer unendlichen Teilmenge der nat¨ urlichen Zahlen zutrifft. Um zu zeigen, dass ein Pr¨adikat P f¨ ur alle nat¨ urlichen Zahlen n ≥ n0 zutrifft, dass also f¨ ur ein n0 ∈ N gilt (∀n ∈ N, n ≥ n0 ) P (n) geht man in zwei Schritten vor: 1.) zeige P (n0 ) 2.) zeige, f¨ ur n ≥ n0 , P (n) ⇒ P (n + 1). Gegenbeispiel. Um zu beweisen, dass nicht alle Elemente einer Menge eine gewisse Eigenschaft besitzen, sucht oder konstruiert man ein Element dieser Menge, ¨ das diese Eigenschaft nicht hat. Dies beruht auf der Aquivalenz ¬((∀x ∈ X) P (x)) ⇔ (∃x ∈ X) (¬P (x)). Existenz. Um die Existenz eines mathematischen Objekts zu beweisen, kann man versuchen, so ein Objekt zu konstruieren, etwa als Durchschnitt oder als Vereinigung eines Mengensystems, als minimales oder maximales Element einer geordneten Menge, oder als Grenzwert oder Fixpunkt einer geeigneten Abbildung.

KAPITEL 2

Mengen, Relationen, Abbildungen ¨ Ubersicht: 2.1. Mengenlehre 1 Naiver Mengenbegriff, Elemente und Teilmengen 2 Mengenoperationen 3 Beweis¨ ubungen mit Mengenoperationen 4 Durchschnitt und Vereinigung endlich vieler Mengen 2.2 Abbildungen 1 Funktionen 2 Bild und Urbild 3 Injektivit¨at und Surjektivit¨at 4 Umkehrfunktion 2.3. Relationen ¨ 1 Aquivalenzrelationen 2 Ordnungsrelationen 3 Maximum und Minimum, Supremum und Infimum 4 Analysis und die Ordnung der reellen Zahlen 2.4. M¨achtigkeit 1 Gleichm¨achtige Mengen ¨ 2 Endlichkeit, Abz¨ahlbarkeit, Uberabz¨ ahlbarkeit 2.5. Beweistypen

2.1. Mengenlehre

¨ Ubersicht: 1 2 3 4

Naiver Mengenbegriff, Elemente und Teilmengen Mengenoperationen Beweis¨ ubungen mit Mengenoperationen Durchschnitt und Vereinigung endlich vieler Mengen

2.1.1. Naiver Mengenbegriff, Elemente und Teilmengen. 63

64

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

¨ Ubersicht: 1) Mengendeklarationen und Problematik der naiven Mengenlehre 2) Die leere Menge 3) Eindeutigkeitsaussagen 4) Teilmengen 5) Struktur eines mathematischen Satzes 6) Potenzmenge Dieser Unterabschnitt f¨ uhrt die wichtigsten Begriffe der Mengenlehre ein, zugleich liefert er Beispiele f¨ ur das Formulieren von Definitionen und S¨atzen und f¨ ur Beweisstrategien. 2.1.1.1. Mengendeklarationen und Problematik der naiven Mengenlehre. Naive Definition 2.1.1.1. Eine Menge ist eine Zusammenfassung von Objekten. Ein Objekt, welches in einer Menge M enthalten ist, bezeichnen wir als Element der Menge. Ist M eine Menge und x ein Objekt, so bezeichnet x∈M x 6∈ M

: ⇐⇒ : ⇐⇒ ¬(x ∈ M ) ⇐⇒

x ist Element von M , x ist nicht Element von M .

Schreibweise 2.1.1.2. Mit Doppelpunkten kann man hervorheben, dass man eine Definition vornimmt: x ∈ M : ⇐⇒ x ist Element von M ‘‘x ∈ M ist per Definitionem ¨ aquivalent zur Aussage (heißt also dasselbe wie): x ist Element von M ’’. R+ := {x ∈ R | x > 0}. ‘‘Die Menge R+ wird definiert als die Menge jener x ∈ R, welche gr¨ oßer als Null sind.’’ Naive Definition 2.1.1.3. Zwei Mengen A und B sind genau dann gleich (A = B), wenn sie dieselben Elemente enthalten. Naive Definition 2.1.1.4 (Aufz¨ahlende Mengendeklaration). Seien x1 , x2 , · · · , xn Objekte. Die Menge {x1 , x2 , · · · , xn } ist jene Menge, die genau die Objekte x1 , · · · , xn als Elemente enth¨alt. Naive Definition 2.1.1.5 (Beschreibende Mengendeklaration). Sei P (x) eine Aussage, welche f¨ ur Objekte x entweder wahr oder falsch sein kann. {x | P (x)} ist jene Menge, die genau die Objekte x als Elemente enth¨alt, f¨ ur welche P (x) wahr ist. Ist M eine Menge, so ist {x ∈ M | P (x)} die Menge jener Elemente x aus M , f¨ ur welche P (x) wahr ist.

2.1. MENGENLEHRE

65

Schreibweise 2.1.1.6. Manche Autoren schreiben auch {x : P (x)} an Stelle von {x | P (x)}.

Satz 2.1.1.7 (Russelsche Antinomie). Eine Menge, die der folgenden beschreibenden Mengendeklaration gen¨ ugt, kann es nicht geben: R = {M | M ist Menge und M 6∈ M }.

Beweis. Beweis durch Widerspruch (vgl. Merksatz 1.2.2.11): Angenommen es gibt die Menge R = {M | M ist Menge und M 6∈ M }. Finde einen Widerspruch. Nach Definition von R gilt f¨ ur jede Menge M : M ∈ R ⇔ M 6∈ M. Insbesondere gilt also auch f¨ ur die Menge R: R ∈ R ⇔ R 6∈ R. Das ist ein Widerspruch. ¤

Merksatz 2.1.1.8. Die Idee, eine Menge sei einfach eine beliebige Zusammenfassung von Objekten ohne weitere Einschr¨ankung, f¨ uhrt auf Widerspr¨ uche. Insbesondere sind Ans¨atze wie eine “Menge aller Mengen” problematisch. Daher gibt es die mathematische Disziplin der axiomatischen Mengenlehre. Diese baut ein Regelwerk auf, durch welche Ausdr¨ ucke Mengen definiert werden k¨onnen. Wie das geschieht, k¨onnen wir im Rahmen dieser Lehrveranstaltung nicht erkl¨aren. Eine erste Idee w¨are, u ¨berhaupt zu verbieten, Mengen zu bilden, deren Elemente wieder Mengen sind. Diese M¨oglichkeit, Mengen aus Mengen zu bauen, ist aber ungemein n¨ utzlich. Die Grundidee der axiomatischen Variante der beschreibenden Mengendeklaration ist statt dessen, dass Mengen nur aus Elementen gebaut werden d¨ urfen, von denen schon bekannt ist, dass sie Elemente von Mengen sind. Man schneidet sozusagen mit der beschreibenden Mengendeklaration aus einer großen Menge eine kleinere heraus. Eine Menge aller Mengen darf es nicht geben, sonst k¨onnte man aus ihr die Menge R wie im Beispiel 2.1.1.7 herausschneiden. Das Regelwerk der Mengentheoretiker ist so konstruiert, dass der allt¨agliche Umgang mit Mengen, wie wir ihn kennen, m¨oglich ist: Es gibt Axiome, die sagen, dass es Durchschnitte, Vereinigungen, Produkt- und Potenzmengen gibt. Abseits der Grundlagenforschung bekommt man mit den logischen Problemen der Mengenlehre wenig zu tun und hinterfr¨ agt sie nicht: man betreibt naive Mengenlehre.

66

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

2.1.1.2. Die leere Menge. Definition 2.1.1.9. Die Leere Menge ∅ (oder { }) ist jene Menge, die kein Element enth¨alt.

Schreibweise 2.1.1.10. Verwechseln Sie das Zeichen ∅ nicht mit Null. ∅ 0 {0} {∅, 0}

die Leere Menge, die einzige Menge, die gar kein Element enth¨alt Null — eine Zahl (oder ein Vektor) eine Menge, die ein Element enth¨alt, n¨amlich die Zahl Null eine Menge mit zwei Elementen, n¨amlich der Leeren Menge und der Zahl 0

Satz 2.1.1.11. Die leere Menge ist eindeutig bestimmt, d.h., es gibt nur eine leere Menge. Beweis. Wir f¨ uhren einen typischen Eindeutigkeitsbeweis: Wir gehen davon aus, dass zwei Mengen A und B beide leer sind. Wir zeigen: A = B. F¨ ur jedes Objekt x gilt: x ∈ A ist eine falsche Aussage, x ∈ B ist eine falsche Aussage. Weil beide Aussagen immer falsch sind, sind sie ¨aquivalent: x ∈ A ⇐⇒ x ∈ B. Nach der naiven Definition 2.1.1.3 ist also A = B.

¤

2.1.1.3. Eindeutigkeitsaussagen. Merksatz 2.1.1.12. Eindeutigkeitsaussagen, dass es h¨ochstens ein Objekt mit einer bestimmten Eigenschaft geben kann, werden in der Mathematik sehr oft gebraucht. Sehr oft verwendet man folgende Beweisstrategie: Man nimmt an, dass x und y Objekte mit dieser Eigenschaft sind, und beweist dann mit geeigneten Mitteln x = y.

Aufgabe 2.1.1.13. Wir gehen davon aus, dass Sie zumindest eine vage Vorstellung davon haben, was eine Funktion ist. Ist f eine Funktion von R nach R, so ist f¨ ur jede reelle Zahl x der Wert f (x) wieder eine reelle Zahl. Beweisen Sie den folgenden Eindeutigkeitssatz: Sei f eine Funktion von R nach R. Es gelte (1) (∀x, y ∈ R) |f (x) − f (y)| ≤

1 |x − y|. 2

Dann gibt es h¨ochstens ein x ∈ R mit f (x) = x. K¨ onnte man die Zahl 12 in Beziehung (1) auch durch eine andere Zahl ersetzen? Tipp f¨ ur die Suchphase: Wenn f (x) = x und f (y) = y, was k¨onnen wir u ¨ber |f (x) − f (y)| sagen?

2.1. MENGENLEHRE

67

Aufgabe 2.1.1.14. In diesem Beispiel bedeutet f¨ ur zwei nat¨ urliche Zahlen x, y ∈ N der Ausdruck x | y (wie schon weiter oben im Skriptum) “x ist Teiler von y”. Bekanntlich gilt f¨ ur nat¨ urliche Zahlen: x | y ∧ y | x ⇒ x = y. Sei M eine beliebige Teilmenge von N. Zeigen Sie: Es gibt h¨ochstens eine nat¨ urliche Zahl v mit den Eigenschaften: 1) v ∈ M , 2) (∀m ∈ M ) m | v. 2.1.1.4. Teilmengen. Definition 2.1.1.15. Seien A und B Mengen. Wir sagen: A ist eine Teilmenge von B (A ⊂ B) genau dann, wenn gilt: (∀x ∈ A) x ∈ B. Ist A ⊂ B und A 6= B, so sagen wir, A ist eine echte Teilmenge von B (A ( B).

Schreibweise 2.1.1.16. Manche Autoren verwenden das Zeichen A ⊆ B, um anzuzeigen, dass A Teilmenge von B ist, und reservieren das Zeichen A ⊂ B nur f¨ ur echte Teilmengen.

Bemerkung 2.1.1.17. Verwechseln Sie nicht Teilmengen und Elemente: A⊂B A∈B

A ist Teilmenge von B, A ist Element von B.

Satz 2.1.1.18. Seien A, B, C Mengen. Wenn A Teilmenge von B ist, und B Teilmenge von C ist, dann ist A Teilmenge von C. Beweis. Wir setzen voraus: A ⊂ B und B ⊂ C. Zu zeigen ist A ⊂ C, also (∀x ∈ A) x ∈ C: Sei x ∈ A. Zu zeigen: x ∈ C. x ∈ B denn x ∈ A und A ⊂ B und der Definition von ⊂. x ∈ C denn x ∈ B und B ⊂ C. (Ein typischer Beweis f¨ ur eine Aussage mit Allquantor, vergleiche Merksatz 1.3.2.1.) ¤

2.1.1.5. Struktur eines mathematischen Satzes. Merksatz 2.1.1.19. Wenn Sie einen Satz formulieren, achten Sie darauf, dass deutlich wird: Was sind die Voraussetzungen, was ist die Aussage? Viele S¨atze dieses Unterabschnitts sind untypisch, weil sie keine explizit ausgesprochenen Voraussetzungen haben. Typisch ist die Struktur von Satz 2.1.1.18 oben:

68

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

Satz: 2.1.1.18

Seien A, B, C Mengen.

Dann gilt: Wenn A ⊂ B und B ⊂ C, dann A ⊂ C.

Beweis: . . .

Bezeichnung

Ein gutes Namens- oder Nummernsystem hilft, wenn man den Satz sp¨ ater zitieren will.

Voraussetzung

Legt fest, von welchen Objekten die Rede ist, und unter welchen Bedingungen die Aussage des Satzes gilt.

Aussage

Die Aussage, die der Satz u ¨ber die Objekte macht, welche in den Voraussetzungen vorgestellt wurden.

Beweis

Zeigt, dass die Aussage unter den Voraussetzungen des Satzes immer gilt. Dabei wird oft auf bereits bekannte S¨ atze zur¨ uckgegriffen.

Jetzt folgt neuer Stoff, zum

Ende des Beweises Beispiel ein neuer Satz oder

¤

Kommentare.

Bemerkung 2.1.1.20. Die Aufteilung in Voraussetzungen und Aussage l¨asst ein wenig Spielraum offen. Zum Beispiel k¨onnte man Satz 2.1.1.18 ebensogut einteilen: Voraussetzungen: Seien A, B, C Mengen, sei A ⊂ B und B ⊂ C. Aussage: Dann ist A ⊂ C. Aufgabe 2.1.1.21. Betrachten Sie den Eindeutigkeitssatz aus Aufgabe 2.1.1.13. Was sind die Voraussetzungen, was ist die Aussage? 2.1.1.6. Potenzmenge. Definition 2.1.1.22. Sei A eine Menge. Die Potenzmenge P(A) ist die Menge aller Teilmengen von A: P(A) = {B | B ⊂ A}. Beispiel 2.1.1.23. Die Potenzmenge der Menge A = {1, 2, 3} ist

© ª P(A) = ∅, {1}, {2}, {3}, {1, 2}, {1, 3}, {2, 3}, {1, 2, 3} . Satz 2.1.1.24. Seien A und B Mengen. Es gilt A ⊂ B ⇐⇒ P(A) ⊂ P(B).

Beweis. Wir f¨ uhren den Beweis in zwei Teilen (vgl. Merksatz 1.2.2.16). Teil 1: Wir zeigen: (A ⊂ B) ⇒ (P(A) ⊂ P(B)):

2.1. MENGENLEHRE

69

Annahme: A ⊂ B. Zu zeigen: P(A) ⊂ P(B). Sei M ∈ P(A). Zu zeigen: M ∈ P(B). M ⊂ A nach Definition der Potenzmenge. M ⊂ B weil M ⊂ A und A ⊂ B nach Satz 2.1.1.18. M ∈ P(B) nach Definition der Potenzmenge, weil M ⊂ B. Teil 2: Wir zeigen: (P(A) ⊂ P(B)) ⇒ (A ⊂ B): Angenommen: P(A) ⊂ P(B). Zu zeigen: A ⊂ B. A ∈ P(A) weil A ⊂ A. A ∈ P(B), weil A ∈ P(A) und P(A) ⊂ P(B). A ⊂ B nach Definition der Potenzmenge, weil A ∈ P(B). ¤

Was Sie jetzt k¨ onnen: Begriffe und Wissen: Aufz¨ahlende und beschreibende Mengendeklaration, Problematik der naiven Mengenlehre, Russelsche Antinomie, leere Menge, Teilmengen, Potenzmenge. Fertigkeiten: Struktur von mathematischen S¨atzen erkennen, Eindeutigkeitsbeweise.

2.1.2. Mengenoperationen. ¨ Ubersicht: Definition von Durchschnitt, Vereinigung, Differenzmenge Rechenregeln f¨ ur die Mengenoperationen Produktmenge Es werden die grundlegenden Mengenoperationen und ihre Rechenregeln eingef¨ uhrt. Zugleich werden Beweise mit Mengen und Venn-Diagramme ge¨ ubt. 2.1.2.1. Definition von Durchschnitt, Vereinigung, Differenzmenge. Definition 2.1.2.1. Seien A und B Mengen. Wir definieren A∩B A∪B

:= :=

{x | x ∈ A ∧ x ∈ B}, (Durchschnitt), {x | x ∈ A ∨ x ∈ B}, (Vereinigung),

A\B

:=

{x | x ∈ A ∧ x 6∈ B}, (Differenzmenge).

Definition 2.1.2.2. Seien A und B Mengen, wobei gilt B ⊂ A. Das Komplement von B auf A ist {A (B) = A \ B. Ist aus dem Zusammenhang klar, auf welche Menge A das Komplement zu nehmen ist, schreibt man auch {B oder B c . Gelegentlich kommt auch auch die Schreibweise B vor, die aber nicht mit der Abschließung von B aus der Analysis verwechselt werden darf.

70

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

Bemerkung 2.1.2.3. Durch sogenannte Venn-Diagramme k¨onnen die Mengenoperationen anschaulich dargestellt werden.

2.1.2.2. Rechenregeln f¨ ur die Mengenoperationen. Satz 2.1.2.4. Seien A, B und C Mengen. Es gelten folgende Regeln: A ∪ A = A, A ∪ B = B ∪ A (Kommutativgesetz), A ∪ (B ∪ C) = (A ∪ B) ∪ C (Assoziativgesetz), A ∩ A = A, A ∩ B = B ∩ A (Kommutativgesetz), A ∩ (B ∩ C) = (A ∩ B) ∩ C (Assoziativgesetz), A ∪ (B ∩ C) = (A ∪ B) ∩ (A ∪ C) (Distributivgesetz), A ∩ (B ∪ C) = (A ∩ B) ∪ (A ∩ C) (Distributivgesetz), A \ (B ∪ C) = (A \ B) ∩ (A \ C) (De Morgansche Regel), A \ (B ∩ C) = (A \ B) ∪ (A \ C) (De Morgansche Regel). Wir werden den Beweis nur beispielhaft f¨ ur wenige Aussagen dieses Satzes machen. Bevor wir das beginnen, legen wir uns eine wichtige Beweistechnik zurecht: Merksatz 2.1.2.5. Den Beweis, dass zwei Mengen A und B gleich sind, kann man in zwei Teilen f¨ uhren: Man zeigt A ⊂ B und B ⊂ A.

Beispiel 2.1.2.6. Seien A, B, C drei Mengen. Beweisen Sie das Distributivgesetz A ∩ (B ∪ C) = (A ∩ B) ∪ (A ∩ C). Bevor wir den Beweis formal sauber hinschreiben, machen wir uns die Situation an einem Venn-Diagramm anschaulich:

2.1. MENGENLEHRE

71

Beweis. 1) Teil 1: Zu zeigen: A ∩ (B ∪ C) ⊂ (A ∩ B) ∪ (A ∩ C). 2) Sei x ∈ A ∩ (B ∪ C). Zu zeigen: x ∈ (A ∩ B) ∪ (A ∩ C). 3) x ∈ A und x ∈ B ∪ C nach Definition von A ∩ (B ∪ C). 4) (x ∈ B) ∨ (x ∈ C) weil x ∈ B ∪ C. Wir f¨ uhren nun eine Fallunterscheidung durch (vgl. Merksatz 1.2.4.2): Jedenfalls gilt mindestens eine der beiden Aussagen: x ∈ B oder x ∈ C. Wir zeigen f¨ ur jeden der beiden F¨alle, dass wir den Beweis zu Ende f¨ uhren k¨onnen. 5) erster Fall: x ∈ B: 6) x ∈ A ∩ B, denn x ∈ B und x ∈ A (wegen (3)). 7) x ∈ (A ∩ B) ∪ (A ∩ C), denn x ∈ (A ∩ B). Damit ist Fall a fertig. 8) zweiter Fall: x ∈ C: 9) x ∈ A ∩ C, denn x ∈ C und x ∈ A. 10) x ∈ (A ∩ B) ∪ (A ∩ C), denn x ∈ (A ∩ C). In beiden F¨allen konnten wir zeigen: x ∈ (A ∩ B) ∪ (A ∩ C). Damit ist der Beweis von Teil 1 fertig. 11) Teil 2: Zu zeigen: (A ∩ B) ∪ (A ∩ C) ⊂ A ∩ (B ∪ C). 12) Sei x ∈ (A ∩ B) ∪ (A ∩ C). tt Zu zeigen: x ∈ A ∩ (B ∪ C). F¨ uhren Sie nun selbst den Beweis mit einer Fallunterscheidung zu Ende! erster Fall: x ∈ A ∩ B, zweiter Fall: x ∈ A ∩ C. ¤ Aufgabe 2.1.2.7. Diese Aufgabe ist so gedacht, dass die H¨orerInnen in 4 Gruppen je eine der Aufgaben l¨ osen, und jede Gruppe anschließend ihre L¨ osung der gesamten H¨ orerschaft vorstellt. Seien A, B, C Mengen. Beweisen Sie: a) A \ (B ∩ C) = (A \ B) ∪ (A \ C), b) A ∪ (B ∩ C) = (A ∪ B) ∩ (A ∪ C), c) (A \ B) \ (A \ C) = (A ∩ C) \ B, d) (A ∪ B) \ (A ∪ C) = (B \ A) \ C.

72

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

Machen Sie zun¨achst die Situation mittels eines Venn-Diagramms anschaulich. Finden und formulieren Sie dann einen korrekten Beweis. Die exakte Formulierung des Beweises ist ein wesentlicher Teil der Aufgabe!

2.1.2.3. Produktmenge. Naive Definition 2.1.2.8. Sei n > 0 eine ganze Zahl. Ein geordnetes nTupel ist eine Zusammenfassung von n Objekten (von denen auch einige gleich sein k¨onnen) in einer gegebenen Reihenfolge: (a1 , a2 , · · · , an ). Zwei geordnete n-Tupel (a1 , · · · , an ) und (b1 , · · · , bn ) sind genau dann gleich, wenn gilt: (∀i ∈ {1, · · · , n}) ai = bi . Ein geordnetes 2-Tupel heißt geordnetes Paar, ein geordnetes 3-Tupel heißt geordnetes Tripel. Sind A1 , · · · , An Mengen, so heißt die Menge der geordeten n-Tupel mit Elementen aus Ai die Produktmenge: A1 × A2 × · · · × An := {(a1 , · · · , an ) | ai ∈ Ai }. Bemerkung 2.1.2.9. Beachten Sie den Unterschied zwischen Mengen und geordneten n-Tupeln: {a, b, c, a} = (a, b, c, a) 6=

{b, c, a, a} = {b, c, a} (b, c, a, a) 6= (b, c, a).

Bemerkung 2.1.2.10. Wir wissen, dass der Mengenbegriff zu logischen Schwierigkeiten f¨ uhrt, welche nur mit viel Aufwand in der axiomatischen Mengenlehre gel¨ost werden. Haben wir dieselben Schwierigkeiten wieder beim Begriff des geordneten Paares? — Es gibt eine M¨oglichkeit, einen Begriff des geordneten Paares zu definieren, welcher nur auf die bisher eingef¨ uhrten Mengenbegriffe zugreift: (a, b) := {{a}, {a, b}}. Definiert man das geordnete Paar formal auf diese Weise, kann man die Eigenschaft beweisen, welche f¨ ur geordnete Paare wesentlich ist: (a, b) = (c, d) ⇔ [a = c ∧ b = d]. Damit steht das geordnete Paar auf logisch sicherem Boden, sobald der Mengenbegriff abgesichert ist.

¨ Aufgabe 2.1.2.11. Uberpr¨ ufen Sie f¨ ur die folgenden Behauptungen, ob sie immer gelten. (Beweis oder Gegenbeispiel) 1) Seien X, Y zwei Mengen, und A ⊂ X, B ⊂ X, C ⊂ Y , D ⊂ Y . Dann gilt (A ∪ B) × (C ∪ D) = (A × C) ∪ (B × D). 2) Seien X, Y zwei Mengen, und A ⊂ X, B ⊂ X, C ⊂ Y , D ⊂ Y . Dann gilt (A ∩ B) × (C ∩ D) = (A × C) ∩ (B × D).

2.1. MENGENLEHRE

73

Tipp f¨ ur die Suchphase:

Was Sie jetzt k¨ onnen: Begriffe und Wissen: Mengenoperationen, Rechenregeln f¨ ur Mengenoperationen, Produktmenge, geordnete n-Tupel. Fertigkeiten: Beziehungen zwischen Mengen beweisen und mit Venn-Diagrammen anschaulich machen. 2.1.3. Beweisu ¨ bungen mit Mengenoperationen. ¨ Ubersicht: Sinnvolle Formelausdr¨ ucke schreiben Beweisbeispiele Die wichtigsten Fehlerquellen 2.1.3.1. Sinnvolle Formelausdr¨ ucke schreiben. Eine der wichtigsten F¨ahigkeiten zum mathematischen Denken ist das exakte Formulieren. Achten Sie darauf, dass die Zeichen, die sie setzen, einen sinnvollen Zusammenhang ergeben. Wegen der großen Knappheit der Formelsprache kann jedes einzelne falsch gesetzte Symbol einen respektablen Rattenschwanz von Verwirrungen, Fehlern und Missverst¨andnissen nach sich ziehen. Beispiel 2.1.3.1. In diesem Beispiel sind A, B, C Mengen, a irgendein Objekt. Analysieren Sie die folgenden Ausdr¨ ucke und seine Teile. Sind die Ausdr¨ ucke Aussagen, Mengen, u ¨berhaupt sinnvoll? 1) 2) 3) 4) 5) 6)

(A ∪ B) ⊂ (B ∪ C) (A \ B) ∪ (B \ C) (A ∩ B) ⇒ C (a ∈ A) ∪ (a ∈ B) (∀x ∈ A) x ∈ B \ C (∀x ∈ A) ⇒ B

74

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

Diskussion: Wir rollen den Ausdruck (1) von innen nach aussen auf. A, B, C, D sind Mengen. Das Zeichen ∪ steht zwischen Mengen, und macht wieder Mengen daraus, n¨ amlich die Vereinigung: A ∪ B und C ∪ D sind also ebenfalls Mengen. Das Zeichen ⊂ steht zwischen Mengen und bezeichnet eine Aussage: X ⊂ Y ist die Aussage “X ist Teilmenge von Y ”. Das funktioniert nat¨ urlich auch zwischen den Mengen (A ∪ B) und (C ∪ D). Ausdruck (1) ist also eine Aussage: “Die Vereinigung von A und B ist eine Teilmenge der Vereinigung von C und D.”

Ausdruck (2): A \ B und B \ C sind Mengen, die Vereinigung zweier Mengen ist wieder eine Menge: Ausdruck (2) bezeichnet eine Menge. Ausdruck (3): A ∩ B und C sind Mengen. Die Implikation ⇒ kann aber nur zwischen Aussagen, nie zwischen Mengen, stehen. Es ist Unsinn, zu sagen “Aus dem Durchschnitt der Mengen A und B folgt die Menge C.” Ausdruck (3) ist unsinnig, und ohne den Zusammenhang zu kennen, k¨onnen wir hier nicht einmal raten, was der Verfasser damit gemeint haben k¨onnte. Ausdruck (4): a ∈ A ist eine Aussage: “Das Objekt a ist ein Element der Menge A.” Die Vereinigung kann man aber nur von Mengen, nie von Aussagen bilden: “Die Vereinigungsmenge von Das Objekt a ist Element von A und Das Objekt a ist Element von B” ist unsinnig. Vielleicht wollte der Verfasser eine Aussage schreiben (a ∈ A)∨(a ∈ B): “a ist ein Element von A oder a ist Element von B?”. Wir m¨ ussen uns darum nicht k¨ ummern, es ist Aufgabe des Verfassers, sich richtig auszudr¨ ucken. Ausdruck (5): x ∈ B \ C ist eine Aussage, sobald wir wissen, wof¨ ur x steht. In diesem Fall erkl¨art der Quantor (∀x ∈ A), dass x eine Variable ist (also ist x ∈ B \C eine Aussageform), und dass f¨ ur x alle Elemente von A eingesetzt werden k¨onnen. Es steht eine korrekte Aussage da: “Alle Elemente von A sind auch Elemente von B \ C.” Ausdruck (6) ist doppelter Unsinn. Die Implikation kann nur zwischen Aussagen oder Aussageformen stehen. (∀x ∈ A) allein ist keine Aussage, und B ist eine Menge und keine Aussage. “Aus F¨ ur alle Elemente x von A gilt, folgt die Menge B.” Quatsch.

Obwohl Beispiel 2.1.3.1 geradezu l¨acherlich trivial wirkt, werden derlei Fehler u ur uns ¨berraschend oft gemacht. Deshalb betrachten wir diesmal bewusst, was f¨ lange selbstverst¨andlich ist: Merksatz 2.1.3.2.

2.1. MENGENLEHRE

75

1) Die logischen Operatoren ∧, ∨, ⇒, ⇔ stehen immer nur zwischen zwei Aussagen oder Aussageformen, und machen daraus eine neue Aussage oder Aussageform. 2) Die Mengenoperationen ∪, ∩, \ stehen immer nur zwischen zwei Mengen und machen daraus eine neue Menge. 3) Die Teilmengenrelationen ⊂, (, 6⊂ stehen immer nur zwischen zwei Mengen und ergeben eine Aussage. 4) Die Enthalten-Relationen ∈, 6∈ stehen immer zwischen einem Objekt und einer Menge, und ergeben eine Aussage. 5) Quantoren (∀x ∈ A), (∃x ∈ A) allein sind noch keine Aussage, sie stehen unmittelbar vor einer Aussageform und erg¨anzen diese zu einer Aussage. ¨ Das sind nur Beispiele. Uberlegen Sie selbst, wie der Gebrauch von +, ·, ≤ zwischen Zahlen funktioniert.

Aufgabe 2.1.3.3. Bezeichnen die folgenden Ausdr¨ ucke Mengen, Zahlen oder Aussagen? Sind sie u ¨berhaupt sinnvoll? Dabei ist R die Menge der reellen Zahlen, A, B, C sind Teilmengen von R, p, q relle Zahlen. 1) (∃x ∈ A, x ≤ p) (∀y ∈ B) x + y ∈ C 2) A ⇒ (x ∈ B ∧ x ∈ C) 3) ((A ⊂ B) ∧ (B ⊂ C)) ⇒ (A ⊂ C) 4) (Aus einem Beweis:) Annahme: p. Zu zeigen: p + q. 5) (∀M ⊂ A) M ∪ B ¨ 2.1.3.2. Ubungen zu Beweisen mit Mengen und Aussagen. Aufgabe 2.1.3.4. Diese Aufgabe ist so gedacht, dass die H¨orerInnen in 4 Gruppen je eine der Aufgaben l¨ osen, und jede Gruppe anschließend ihre L¨ osung der gesamten H¨ orerschaft vorstellt.

¨ Seien A, B, C Mengen. Beweisen Sie folgende Aquivalenzen: a) A ∩ B ⊂ C ⇐⇒ (A \ C) ∩ (B \ C) = ∅, b) C ⊂ A ∪ B ⇐⇒ (C \ A) ∩ (C \ B) = ∅, c) A \ B ⊂ C ⇐⇒ A \ C ⊂ B, d) A \ C ⊂ B \ C ⇐⇒ A \ B ⊂ C. Die korrekte Formulierung des Beweises ist ein wesentlicher Teil der Aufgabe! Achten Sie darauf, dass nicht nur der Beweisgang richtig ist, sondern auch, dass er sinnvoll und nachvollziehbar niedergeschrieben ist.

Aufgabe 2.1.3.5. Seien A, B, C, D nichtleere Mengen. Zeigen Sie: [(A × B) ⊂ (C × D)] ⇐⇒ [(A ⊂ C) ∧ (B ⊂ D)] An welcher Stelle des Beweises wird die Bedingung, dass die Mengen nicht leer sind, verwendet? Kann diese Bedingung weggelassen werden? Falls nicht, geben Sie ein Beispiel von vier Mengen mit [(A × B) ⊂ (C × D)] 6⇔ [(A ⊂ C) ∧ (B ⊂ D)].

Merksatz 2.1.3.6. Oft kann man in der Mathematik unter bestimmten Bedingungen einen Satz beweisen, und fr¨agt sich anschließend: Werden wirklich alle diese Bedingungen gebraucht, oder k¨onnte man den Satz unter schw¨acheren Bedingungen beweisen. Man kann dann folgende Schritte versuchen:

76

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

1) Suche f¨ ur jede Bedingung nach, an welchen Stellen des Beweises sie gebraucht wird. Gibt es Bedingungen, die angef¨ uhrt sind, aber gar nicht ben¨otigt werden? Kann man die Stellen, an denen die Bedingungen gebraucht werden, vielleicht durch einfache Mittel ersetzen und die Bedingung damit einsparen? Werden alle Bedingungen im Beweis wesentlich gebraucht, so wissen wir nur, dass dieser Beweis nicht ohne sie auskommt. Es k¨onnte einen (vielleicht viel schwierigeren) Beweis geben, der weniger Bedingungen braucht. 2) Suche Beispiele von Situationen, in denen eine der Bedingungen nicht erf¨ ullt ist, und auch die Aussage des Satzes nicht gilt. Wenn ein solches Beispiel gefunden wird, sehen wir, dass auch mit raffinierteren Methoden der Satz ohne die weggelassene Bedingung nicht bewiesen werden kann, weil er dann n¨amlich gar nicht gilt. Aufgabe 2.1.3.7. Sei M eine Menge, und A, B zwei Teilmengen von M so, dass M = A ∪ B. Seien X, Y zwei Teilmengen von M . Zeigen Sie: X=Y

⇐⇒ [(X ∩ A = Y ∩ A) ∧ (X ∩ B) = (Y ∩ B)].

Kann die Bedingung A ∪ B = M weggelassen werden? 2.1.3.3. Die wichtigsten Fehlerquellen. Merksatz 2.1.3.8. Es besteht ein Wechselspiel zwischen scharf denken und unmissverst¨andlich und genau schreiben. H¨ uten Sie sich vor folgenden Fehlerquellen: 1) Formelzeichen werden wie F¨ ullw¨orter in der Umgangssprache eingesetzt. — Jedes Formelzeichen hat Gewicht und Bedeutung. Ein Zeichen zuviel ist genauso falsch wie ein Zeichen zuwenig. Setzen Sie ihre Zeichen bewusst. 2) Damit der Text mathematisch und wissenschaftlich klingt, glaubt man mit Formeln ausdr¨ ucken zu m¨ ussen, was man lieber durch Worte sagen w¨ urde. — Manche Zusammenh¨ange lassen sich nur durch Formeln ausdr¨ ucken, aber andere k¨onnen in Formeln oder Umgangssprache geschrieben werden. Viele gestandene MathematikerInnen verwenden im zweiten Fall gerne sprachliche Ausdr¨ ucke, das ist nicht unwissenschaftlich. 3) Man weiss noch gar nicht genau, was man denken und sagen will, und schaltet einmal den mathematischen Formelapparat ein, damit Mathematik herauskommt. Aus unklaren Gedanken ergibt sich aber nur unsinniger Text. — Formeln ersetzen keine Gedanken, sie sind nur Bilder von Gedanken, bestenfalls ein Werkzeug, mit dem man denkt. 4) Manchmal ist es langwierig, sich genau auszudr¨ ucken, und man k¨ urzt ab. Das kann ganz gut funktionieren und wird bis zu einem gewissen Grad auch in der Literatur praktiziert. — Meistens ist es nicht viel Arbeitsaufwand, beim Schreiben einen klaren Ausdruck zu finden. Daf¨ ur macht es sehr viel M¨ uhe, aus einem verwaschenen Text zu interpretieren, was der Verfasser gemeint haben k¨onnte.

Was Sie jetzt k¨ onnen: Fertigkeiten: Korrekte Terme mit Mengen und Aussagen schreiben, erkennen, ob ein Term eine Menge, Aussage oder Zahl darstellt. Beweise mit Mengenoperationen. Nachpr¨ ufen, ob alle Bedingungen eines Satzes wirklich gebraucht werden.

2.1. MENGENLEHRE

77

2.1.4. Durchschnitt und Vereinigung von unendlich vielen Mengen. ¨ Ubersicht: ¨ Dieser Abschnitt ist eine Ubung im Lesen komprimierter mathematischer Texte. Nebenbei werden die Durchschnitt und Vereinigung von unendlich vielen T S Mengen , eingef¨ uhrt. 1) Lesetext 1 2) Analyse des Lesetextes ¨ 3) Ubung zu Lesetext 1 4) Lesetext 2

2.1.4.1. Lesetext 1. Wir haben in Unterabschnitt 1.2.3 drei Phasen der mathematischen L¨osungsfindung vorgestellt. In fertigen Texten findet sich normalerweise nur das Ergebnis der Ordnungsphase, oft sehr o¨konomisch komprimiert. Wir m¨ ussen als LeserInnen das Gedankenumfeld, das in der Suchphase ausgesponnen wird, in unserem eigenen Kopf wieder aufbauen. Mathematisches Lesen ist daher ein sehr anstrengender, aktiver Prozess.

Der folgende Text ist so geschrieben, wie er in einem knapp gehaltenen mathematischen Lehrbuch stehen k¨onnte. Wir gehen davon aus, dass Sie wissen, dass R2 der zweidimensionale Vektorraum u ¨ber R ist, und damit die Ebene dargestellt werden kann. Sie brauchen nicht mehr Kenntnisse u ¨ber Vektorrechnung in R2 , als dass Vektoren addiert und mit Skalaren multipliziert werden k¨onnen, und wie diese Prozeduren in der Ebene anschaulich wiedergegeben werden:

Die Menge [0, 1] bezeichnet das abgechlossene Intervall aller reellen Zahlen zwischen 0 und 1: [0, 1] := {λ ∈ R | 0 ≤ λ ≤ 1}. Es folgt der Text:

78

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

Definition 2.1.4.1. Eine Teilmenge M des R2 heißt konvex, wenn gilt: F¨ ur alle a, b ∈ M und alle λ ∈ [0, 1] liegt auch λa + (1 − λ)b in M . Offensichtlich ist der Durchschnitt zweier konvexer Mengen wieder konvex, w¨ahrend die Vereinigungen von konvexen Mengen nicht unbedingt konvex sein muss. Wir werden zeigen, dass zu jeder Teilmenge M von R2 eine kleinste konvexe Obermenge existiert. Zu diesem Zweck ben¨otigen wir den Durchschnitt u ¨ber unendlich viele Mengen: Definition 2.1.4.2. Sei J eine beliebige nichtleere Menge, und f¨ ur jedes j ∈ J sei Mj eine Menge. Wir definieren den Durchschnitt \ Mj := {x | (∀j ∈ J) x ∈ Mj }. j∈J

Satz 2.1.4.3. Sei M ⊂ R2 . Dann gibt es eine eindeutig bestimmte Menge K ⊂ R2 mit den folgenden Eigenschaften: 1) K ist konvex. 2) M ⊂ K. 3) Ist A eine konvexe Obermenge von M , so gilt K ⊂ A. Beweis. Wir zeigen zun¨achst die Eindeutigkeit: Sind K1 , K2 zwei Teilmengen von R2 , welche die Eigenschaften (1), (2), (3) erf¨ ullen, so ist K2 wegen (1) und (2) eine konvexe Obermenge von M . Da K1 die Eigenschaft (3) besitzt, ist K1 ⊂ K2 . Ebenso gilt K2 ⊂ K1 . Zum Beweis der Existenz definieren wir B := {A ⊂ R2 | M ⊂ A, A konvex}, und setzen K :=

\

A.

A∈B

Wir zeigen, dass K die Eigenschaften (1), (2), (3) besitzt. Eigenschaft (1): Seien a, b ∈ K, λ ∈ [0, 1]. Zu zeigen ist: λa + (1 − λ)b ∈ K. Sei A ∈ B beliebig. Da a, b ∈ K, gilt nach Definition von K auch a, b ∈ A. Weil A konvex ist,Tist auch λa + (1 − λ)b ∈ A. Dies gilt f¨ ur alle A ∈ B, sodass [λa + (1 − λ)b] ∈ A∈B A = K. Eigenschaft (2): Sei x ∈ M . Wir zeigen: x ∈ K. F¨ ur jedes A ∈ B gilt M ⊂ A, sodass auch x ∈ A. Folglich ist x auch Element des Durchschnittes aller A ∈ B, d.h., x ∈ K. Eigenschaft (3): Dies ist offensichtlich. ¤ Definition 2.1.4.4. Sei M ⊂ R2 . Die Menge K, welche die Eigenschaften (1), (2), (3) aus Satz 2.1.4.3 erf¨ ullt, heißt die konvexe H¨ ulle von M .

2.1.4.2. Analyse von Lesetext 1. Wir werden jetzt den Text Zeile f¨ ur Zeile durchlesen. Normal gedruckt ist noch einmal der Text, klein gedruckt unsere Gedanken und Kommentare.

2.1. MENGENLEHRE

79

Definition 2.1.4.1: Eine Teilmenge M des R2 heißt konvex, wenn gilt: F¨ ur alle a, b ∈ M und alle λ ∈ [0, 1] liegt auch λa + (1 − λ)b in M . Dieser Schritt ist ungef¨ ahrlich. Aber was muss man sich unter einer konvexen Menge also vorstellen? Wenn a, b ∈ R2 zwei Punkte der Ebene sind, und λ ∈ [0, 1], so ist λa + (1 − λ)b der λ Punkt auf der Verbindungsstrecke zwischen a und b, welcher die Strecke im Verh¨ altnis 1−λ teilt. Die Definition sagt also: Eine Menge M ist konvex, wenn zu je zwei Punkten von M auch die ganze Verbindungsstrecke in M liegt.

Offensichtlich ist der Durchschnitt zweier konvexer Mengen wieder konvex, w¨ahrend die Vereinigungen von konvexen Mengen nicht unbedingt konvex sein muss. Wenn wir in einem mathematischen Text dem Wort “offensichtlich” begegnen, d¨ urfen wir nicht blind glauben, sondern m¨ ussen uns u ¨berzeugen, dass die Behauptung wirklich stimmt. Eine Zeichnung macht sie uns zumindest plausibel:

Wir sehen, dass im Beispiel von diesen zwei Kreisen der Durchschnitt wirklich konvex ist, w¨ ahrend die Vereinigung offensichtlich nicht konvex ist. Damit wissen wir auf jeden Fall, dass nicht alle Vereinigungen zweier konvexen Mengen wieder konvex sind, denn wir haben ein Gegenbeispiel. Ob alle Durchschnitte konvexer Mengen konvex sind, kann uns eine einzelne Zeichnung nicht beantworten. Es erscheint auf ersten Blick plausibel, aber wir merken uns vorl¨ aufig, dass diese Frage noch offen ist und einen Beweis braucht.

Wir werden zeigen, dass zu jeder Teilmenge M von R2 eine kleinste konvexe Obermenge existiert.

80

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

Wir wissen jetzt, worauf der Verfasser abzielt. Wir sind gespannt, wie er das zuwege bringt.

Zu diesem Zweck ben¨otigen wir den Durchschnitt u ¨ber unendlich viele Mengen: Definition 2.1.4.2: Sei J eine beliebige nichtleere Menge, und f¨ ur jedes j ∈ J sei Mj eine Menge. Wir definieren den Durchschnitt \ Mj := {x | (∀j ∈ J) x ∈ Mj }. j∈J

Die Definition hat zun¨ achst nichts mit Konvexit¨ at zu tun, sondern ist rein mengentheoretisch. Der Verfasser sagt, dass er dieses Werkzeug brauchen wird. Es steht: T j∈J Mj ist die Menge aller Elemente, die in allen Mengen Mj enthalten sind, also der Durchschnitt von s¨ amtlichen Mj . Ein großes Symbol f¨ ur einen ganz einfachen Begriff. Warum f¨ uhrt der Verfasser ein neues Symbol ein und schreibt nicht einfach M1 ∩M2 ∩· · ·∩Mn ? Warten wir ab, ob die neue Definition ihm vielleicht Vorteile bringt. Sind Sie noch unsicher u ¨ ber Bedeutung dieser Menge J? Beispiel mit drei Mengen: M1 = {a, b, c, d} ,M2 = {a, b, d}, M3 = {b, c, d}. Hier ist J = {1, 2, 3}, T3 und j=1 Mj = {b, d}. Beispiel mit unendlich vielen Mengen: F¨ ur jede nat¨ urliche T Zahl j ∈ N definieren wir eine Menge Mj = {n ∈ N | n ist Teiler von j}. Hier ist J = N und ∞ j=1 Mj = {1}. Das folgende Mengensystem l¨ asst sich nicht mehr mit nat¨ urlichenTZahlen durchz¨ ahlen: F¨ ur jedes j ∈ R sei Mj = {x ∈ R | x < j 2 } . Hier ist die Menge J = R und j∈R Mj = {x ∈ R | x < 0}. Eine Menge, die dazu dient, andere Objekte durchzuz¨ ahlen, wie die Menge J in Definition 2.1.4.2 nennt man eine Indexmenge. Wenn wir Definition 2.1.4.2 verstanden haben, k¨ onnen wir weiterlesen.

Satz 2.1.4.3 Sei M ⊂ R2 . Dann gibt es eine eindeutig bestimmte Menge K ⊂ R mit den folgenden Eigenschaften: 1) K ist konvex. 2) M ⊂ K. 3) Ist A eine konvexe Obermenge von M , so gilt K ⊂ A. 2

Wir treffen auf einen Lehrsatz. Was sind die Voraussetzungen, was ist die Aussage? Vorausgesetzt wird nur, dass M eine Teilmenge der Ebene ist. Ausgesagt wird, dass es genau eine kleinste konvexe Obermenge gibt, eine Obermenge von M die selbst konvex ist und so klein, dass sie Teilmenge von allen anderen konvexen Mengen ist. Der Satz besteht also aus zwei Aussagen: der Existenzaussage “Es gibt eine kleinste konvexe Obermenge” und der Eindeutigkeitsaussage “es gibt h¨ ochstens eine kleinste konvexe Obermenge”. Um uns eine kleinste konvexe Obermenge bildlich vorstellen, zeichnen wir eine nicht konvexe Menge M und versuchen uns auszumalen, wie eine m¨ oglichst kleine konvexe Obermenge aussehen muss. Erinnern Sie sich an die Definition von Konvexit¨ at.

Wir erwarten jetzt, wie der Satz bewiesen wird.

2.1. MENGENLEHRE

81

Beweis. Wir zeigen zun¨achst die Eindeutigkeit: Sind K1 , K2 zwei Teilmengen von R2 , welche die Eigenschaften (1), (2), (3) erf¨ ullen, Der Beweis beginnt mit der Eindeutigkeitsaussage, und folgt der klassischen Strategie f¨ ur Eindeutigkeitsbeweise. Der Verfasser nimmt an, K1 und K2 sind beide kleinste konvexe Obermengen, und muss nun zeigen: K1 = K2 .

so ist K2 wegen (1) und (2) eine konvexe Obermenge von M . Keine Behauptung blind glauben, immer nachpr¨ ufen! Aber das ist wirklich klar: K2 erf¨ ullt (1) heißt, dass K2 konvex ist, und (2) sagt, dass K2 Obermenge von M ist. Keinerlei Probleme!

Da K1 die Eigenschaft (3) besitzt, ist K1 ⊂ K2 . Nachpr¨ ufen! K1 erf¨ ullt (3) heißt, dass K1 eine Teilmenge jeder konvexen Obermenge von M ist. Wir wissen aber, dass K2 eine konvexe Obermenge von M ist, also muss auch gelten K1 ⊂ K2 . Auch dieser Schritt ist richtig.

Ebenso gilt K2 ⊂ K1 . Der Verfasser spart sich Schreibarbeit. Tats¨ achlich k¨ onnen wir das obige Argument auch mit vertauschten Rollen durchf¨ uhren: K1 erf¨ ullt (1) und (2), und K2 erf¨ ullt (3), daher ist K2 ⊂ K1 . Wir m¨ ussen nur die letzten Paar Zeilen mit vertauschten Rollen abschreiben. Diese Arbeit k¨ onnen wir uns mit Fug und Recht ersparen. Wir wissen jetzt: K1 ⊂ K2 , und K2 ⊂ K1 , daher gilt wirklich K1 = K2 , und der Eindeutigkeitsbeweis ist fertig!

Zum Beweis der Existenz definieren wir B := {A ⊂ R2 | M ⊂ A, A konvex}, und setzen K :=

\

A.

A∈B

Wir zeigen, dass K die Eigenschaften (1), (2), (3) besitzt. Zum Existenzbeweis definiert sich der Verfasser zun¨ achst die Menge B aller konvexen Obermengen von M . Dann wird K als der Durchschnitt aller konvexen Obermengen von M definiert. Es gibt nat¨ urlich normalerweise unendlich viele konvexe Obermengen: Jetzt sehen wir, warum der Verfasser einen Durchschnittsbegriff einf¨ uhren mußte, mit dem man auch unendlich viele Mengen schneiden kann! Es gibt also diese Menge K. Wenn der Verfasser wirklich zeigen kann, dass K wirklich alle drei Bedingungen (1), (2), (3) erf¨ ullt, ist die Existenz bewiesen. T Aber was passiert, wenn B leer ist? Dann k¨ onnten wir den Durchschnitt A∈B A nicht definieren. Hier besteht eine L¨ ucke im Beweis, die der Verfasser wahrscheinlich u ¨ bersehen hat. Wir k¨ onnen diese L¨ ucke aber leicht schließen: Zumindest R2 selbst ist eine konvexe Obermenge von 2 M , also ist R ∈ B, und B ist nicht leer.

Eigenschaft (1): Seien a, b ∈ K, λ ∈ [0, 1]. Zu zeigen ist: λa + (1 − λ)b ∈ K. Der Beweis beginnt mit der Konvexit¨ at von K. “Seien a, b ∈ K . . . ” Was der Verfasser f¨ ur dieses Paar a, b zeigen kann, gilt f¨ ur alle a, b ∈ K. Wenn also λa + (1 − λ)b ∈ K, ist die Konvexit¨ at von K bewiesen.

Sei A ∈ B beliebig. Da a, b ∈ K, gilt nach Definition von K auch a, b ∈ A. Klar, denn aus a ∈ K folgt nach Definition des Durchschnittes (∀C ∈ B) a ∈ C. Insbesondere gilt das f¨ ur C = A.

Weil A konvex ist, ist auch λa + (1 − λ)b ∈ A. Vorausgesetzt ist A ∈ B, also ist A insbesondere konvex. Mit a, b ist also auch die ganze Verbindungsstrecke von a, b in A enthalten.

Dies gilt f¨ ur alle A ∈ B,

82

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

denn im Beweis wurde nur vorausgesetzt: “Sei A ∈ B.”

sodass [λa + (1 − λ)b] ∈

T A∈B

A = K.

Es gilt (∀A ∈ B) [λa + (1 − λ)b] ∈ A. Das ist nach Definition des Durchschnittes ¨ aquivalent T zur Aussage [λa + (1 − λ)b] ∈ A∈B A, und genau dieser Durchschnitt wurde ja mit K bezeichnet. Eigenschaft (1), die Konvexit¨ at, ist fertig bewiesen.

Eigenschaft (2): Sei x ∈ M . Wir zeigen: x ∈ K. Zu zeigen ist: M ⊂ K, also (∀x ∈ M ) x ∈ K. Der Verfasser setzt einen typischen “F¨ ur alle” Beweis an.

F¨ ur jedes A ∈ B gilt M ⊂ A, sodass auch x ∈ A. A ∈ B heißt ja, A ist konvexe Obermenge von M . Also ist dann x ∈ M ⊂ A.

Folglich ist x auch Element des Durchschnittes aller A ∈ B, d.h., x ∈ K. Wir wissen (∀A ∈ B) x ∈ A. Das heißt nach Definition des Durchschnitts genau x ∈ und gerade dieser Durchschnitt ist ja K.

T

A∈B

A,

Eigenschaft (3): Dies ist offensichtlich. Zumindest f¨ ur den Verfasser, aber wir m¨ ussen uns u ur uns offensicht¨berzeugen, dass es auch f¨ lich ist. Zu zeigen ist also: Ist A eine konvexe Obermenge von M (d.h. in unserer Notation A ∈ B), so ist K ⊂ A. Ist aber x ∈ K, so heißt das nach Definition des Durchschnittes (∀C ∈ B) x ∈ C. Ist nun A ∈ B beliebig, so gilt insbesondere x ∈ A. Es ist wirklich offensichtlich!

¤ Der Beweis ist beendet, und wir haben uns von der Richtigkeit u ¨berzeugt. Der Satz gilt wirklich!

Definition 2.1.4.4 Sei M ⊂ R2 . Die Menge K, welche die Eigenschaften (1), (2), (3) aus Satz 2.1.4.3 erf¨ ullt, heißt die konvexe H¨ ulle von M . An einer Definition gibt es nichts zu beweisen, und doch beobachten wir ein wichtiges Detail: Erst Satz 2.1.4.3 berechtigt zu dieser Definition. Ohne die Existenzaussage w¨ ussten wir ja gar nicht, dass es eine kleinste konvexe Obermenge von M gibt. Noch wichtiger ist die Eindeutigkeitsaussage. G¨ abe es mehrere verschiedene kleinste konvexe Obermengen, so w¨ are nicht klar, welche davon mit der konvexen H¨ ulle gemeint ist, und wir m¨ ussten vorsichtiger definieren: “Eine Menge, die (1), (2), (3) erf¨ ullt, heißt eine konvexe H¨ ulle von M .” Aber nach Satz 2.1.4.3 gibt es nur eine solche Menge, und daher darf der Verfasser mit gutem Gewissen schreiben “die konvexe H¨ ulle”. Jetzt sind wir mit dem Text fertig, aber haben wir uns nicht vorgemerkt, dass eine Frage offen war, n¨ amlich ob der Durchschnitt konvexer Mengen zwangsl¨ aufig wieder konvex ist? Die Frage hat sich von selbst gel¨ ost. Der Beweis daf¨ ur findet sich im Beweis von Satz 2.1.4.3, und zwar im Existenzbeweis, wenn Eigenschaft (1) bewiesen wird. Derselbe Beweis zeigt allgemein: Der Durchschnitt beliebig (auch unendlich) vieler konvexer Mengen ist konvex. Was haben wir u ulle einf¨ uhren ¨ berhaupt gelesen? Der Verfasser will den Begriff der konvexen H¨ (Definition 2.1.4.4). Damit diese Definition sinnvoll ist, beweist er den Satz 2.1.4.3, dass es zu jeder Teilmenge von R2 genau eine kleinste konvexe Obermenge gibt. Was konvex bedeutet, wird definiert. F¨ ur den Beweis braucht er als technisches Hilfsmittel den Begriff des Durchschnittes von unendlich vielen Mengen, den er dazu in Definition 2.1.4.2 einf¨ uhrt. Der Beweis von Satz 2.1.4.3 besteht im Prinzip darin, dass der Durchschnitt aller konvexen Obermengen genau die Eigenschaften besitzt, die wir der konvexen H¨ ulle zuschreiben wollen.

Damit ist unsere Analyse des Lesetextes beendet. Merksatz 2.1.4.5. Wenn Sie einen mathematischen Text lesen,

2.1. MENGENLEHRE

83

Legen Sie sich auf jeden Fall einen Zettel f¨ ur Notizen, Skizzen und Nebenrechnungen bereit, das ist ein unsch¨atzbares Werkzeug! ¨ Schaffen Sie sich zuerst mit einer fl¨ uchtigen Lekt¨ ure Ubersicht, was u ¨berhaupt im Text geschieht. Arbeiten Sie nun den Text Zeile f¨ ur Zeile nach folgenden Gesichtspunkten durch: Was sagen die verwendeten Begriffe? Gibt es einen unbekannten Begriff, den Sie erst in der Literatur nachschlagen m¨ ussen? Wenn Sie auf neue Begriffe stoßen, nehmen Sie sich Zeit, sie nachzuschlagen, und sich mit Hilfe von Beispielen mit den Begriffen vertraut zu machen. Oft steuert auch der Verfasser bei der Einf¨ uhrung neuer Begriffe gleich einige Erkl¨arungen bei. Sind Definitionen eindeutig und unmissverst¨andlich? Was behauptet der/die VerfasserIn in den S¨atzen? Was sind die Voraussetzungen, was die Aussagen? Lassen sich die Beweisschritte rechtfertigen? Warum kann der Verfasser diese Schritte machen? Sind Behauptungen, die mit “offensichtlich” gekennzeichnet sind, wirklich klar? Wenn der Verfasser eine Behauptung f¨ ur bewiesen erkl¨art, sind Sie auch u ucken? ¨berzeugt oder finden Sie noch L¨ Glauben Sie nichts. Bestenfalls verschieben Sie die L¨osung einer schwierigen offenen Frage auf sp¨ater, denn manche Unsicherheiten kl¨aren sich im Lauf der Lekt¨ ure von selbst. Machen Sie sich aber eine Notiz, wenn Sie eine Frage offen lassen, und pr¨ ufen Sie am Ende, ob die Frage noch offen ist. Wenn Sie alles durchgearbeitet haben, fragen Sie sich noch einmal: Was steht, in kurzen Worten, im Text, worauf zielt der Verfasser ab, wie h¨angen die Teile der Arbeit miteinander zusammen? Nehmen Sie sich Zeit. Manchmal sitzen auch gestandene MathematikerInnen eine lange Nacht an ein paar Zeilen. Mathematische Literatur ist nicht Mickey Mouse. ¨ 2.1.4.3. Ubungen zu Lesetext 1. Aufgabe 2.1.4.6. Zeichnen Sie die konvexe H¨ ulle der folgenden Menge aus drei Punkten µ ¶ µ ¶ µ ¶ 0 1 0 , , }. M ={ 0 1 0

Aufgabe 2.1.4.7. Bestimmen Sie den folgenden Durchschnitt von Intervallen in R: \ 1 1 [−1 − , 1 + ]. n n n∈N

Aufgabe 2.1.4.8. Sei J eine beliebige Menge, f¨ ur jedes j ∈ J sei Mj eine Menge, und sei A eine Menge. Zeigen Sie: \ \ A∪ Mj = (A ∪ Mj ). j∈J

j∈J

84

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

2.1.4.4. Lesetext 2. Dieser Lesetext ist dazu gedacht, dass Sie ihn zu Hause durcharbeiten. An Hand ¨ der darauf folgenden (sehr leichten und schnell l¨osbaren) Ubungsaufgaben k¨onnen Sie u ufen, ob Sie ihn verstanden haben. ¨berpr¨ Man k¨onnte sich jetzt die Frage stellen, ob es auch zu jeder Menge M ⊂ R2 eine gr¨oßte konvexe Teilmenge gibt. Das ist aber falsch: Die Menge µ ¶ q 1 x M = { 1 ∈ R2 | ≤ x21 + x22 ≤ 1} x2 2 besizt keine gr¨oßte konvexe Teilmenge. Ein Versuch, den Beweis von Satz 2.1.4.3 zu modifizieren, indem man die Vereinigung aller konvexen Teilmengen von M bildet, um die Existenz einer gr¨oßten konvexen Teilmenge zu zeigen, muss also jedenfalls scheitern. Zwar kann man statt des Durchschnitts auch die Vereinigung von unendlich vielen Mengen definieren: Definition 2.1.4.9. Sei J eine beliebige Menge, und f¨ ur jedes j ∈ J sei Mj eine Menge. Wir definieren die Vereinigung [ Mj := {x | (∃j ∈ J) x ∈ Mj }. j∈J

Die Konstruktion einer gr¨ oßten konvexen Teilmenge scheitert aber daran, dass die Vereinigung von konvexen Mengen nicht konvex sein muss. Nur in einem Sonderfall kann man beweisen, dass die Vereinigung konvexer Mengen wieder konvex ist: Definition 2.1.4.10. Sei J eine beliebige Menge, und f¨ ur jedes j ∈ J sei Mj eine Menge. Das Mengensystem {Mj | j ∈ J} heißt totalgeordnet bez¨ uglich der Inklusion, wenn gilt: (∀i, j ∈ J) (Mi ⊂ Mj ) ∨ (Mj ⊂ Mi ). Satz 2.1.4.11. Sei J eine beliebige Menge, und f¨ ur jedes j ∈ J sei Mj eine konvexe Menge. Das Mengensystem {M | j ∈ J} sei totalgeordnet bez¨ uglich j S der Inklusion. Dann ist auch j∈J Mj konvex. S Beweis. Sei K = j∈J Mj , und seien a, b ∈ K, λ ∈ [0, 1]. Wir zeigen: λa + (1 − λ)b ∈ K. W¨ahle i, j ∈ J sodass a ∈ Mi und b ∈ Mj , das geht wegen der Definition von K. Da das Mengensystem {Mj | j ∈ J} totalgeordnet bez¨ uglich der Inklusion ist, gilt Mi ⊂ Mj oder Mj ⊂ Mi . Wir betrachten den Fall Mi ⊂ Mj , der zweite Fall geht genauso. Da Mi ⊂ Mj , ist auch a ∈ Mj , sodass wegen der Konvexit¨at von Mj gilt λa + (1 − λ)b ∈ Mj . Da Mj ⊂ K, folgt λa + (1 − λ)b ∈ K. ¤ Wenn man raffinierte mengentheoretische Hilfsmittel (n¨amlich das Auswahlaxiom) und Satz 2.1.4.11 einsetzt, kann man zeigen, dass jede Menge M mindestens eine konvexe Teilmenge besitzt, zu der es keine echte konvexe Obermenge in M gilt. Dieser Beweis sprengt aber den Rahmen dieser Lehrveranstaltung. Aufgabe 2.1.4.12. 1) Zeichnen Sie die Menge µ ¶ q 1 x M = { 1 ∈ R2 | ≤ x21 + x22 ≤ 1}. x2 2

2.2. ABBILDUNGEN

85

2) Zeichnen Sie in dieser Menge zwei konvexe Teilmengen ein, welche keine gemeinsame konvexe Obermenge in M besitzen. 3) Zeichnen Sie in M eine konvexe Teilmenge ein, welche keine echte konvexe Obermenge in M besitzt. Aufgabe 2.1.4.13. Welche der folgenden Mengensysteme sind totalgeordnet bez¨ uglich der Inklusion? 1) Die Potenzmenge P({1, 2, 3}). 2) Die Menge der Intervalle {[0, a] | a ∈ R}. 3) Die © Menge der Geraden inª der Ebene. 4) {k ∈ N | k ≥ n} | n ∈ N . Aufgabe 2.1.4.14. An welcher Stelle des Beweises von Satz 2.1.4.11 wird gebraucht, dass das Mengensystem {Mj | j ∈ J} totalgeordnet bez¨ uglich der Inklusion ist? Aufgabe 2.1.4.15. Zeichnen Sie 1) Ein System von drei konvexen Mengen in der Ebene, welches nicht totalgeordnet bez¨ uglich der Inklusion ist, und deren Vereinigung nicht konvex ist. 2) Ein System von drei konvexen Mengen in der Ebene, welches totalgeordnet bez¨ uglich der Inklusion ist. Aufgabe 2.1.4.16. Im Beweis des Satzes 2.1.4.11 wurde nur der Fall Mi ⊂ Mj untersucht. Warum durfte der zweite Fall weggelassen werden? Was Sie jetzt k¨ onnen: Begriffe und Wissen: Durchschnitt und Vereinigung von unendlich vielen Mengen, Mengensysteme, die bez¨ uglich der Inklusion totalgeordnet sind, Konvexit¨at, konvexe H¨ ulle. Fertigkeiten: Komprimierte mathematische Texte nach folgenden Gesichtspunkten lesen: Verstehe ich die Aussagen des Textes? Kann ich mir unter den definierten Objekten und den beschriebenen Eigenschaften etwas vorstellen? Sind die einzelnen Argumente und Beweisschritte richtig? Gibt es unbewiesene Behauptungen, und lassen sich diese leicht beweisen? Sind als “offensichtlich” oder “trivial” gekennzeichnete Behauptungen wirklich offensichtlich? Wie h¨angen die Teile des Textes miteinander zusammen? Was ist die Grundaussage? 2.2. Abbildungen ¨ Ubersicht: 1. 2. 3. 4.

Funktionen Bild und Urbild Injektivit¨at und Surjektivit¨at Umkehrfunktion

86

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

2.2.1. Funktionen. ¨ Ubersicht: • Inhalt: Funktion, Definitionsbereich, Wertevorrat, Beschreibung von Funktionen, Hintereinanderausf¨ uhrung, Identit¨at, Einschr¨ankung. • Gebrauch des Wortes “Offensichtlich”

Naive Definition 2.2.1.1. Eine Abbildung (Funktion) f von einer Menge A in eine Menge B ordnet jedem Element x ∈ A eindeutig ein Element f (x) in B zu: ( A → B, f: x 7→ f (x). Die Menge A heißt der Definitionsbereich von f , die Menge B der Wertevorrat von f.

Beispiel 2.2.1.2. Durch   R → R ( 1 f: x−1  x 7→ 20

f¨ ur x ∈ (0, ∞) \ {1} f¨ ur x = 1

wird eine Funktion f definiert. Die spezielle Definition an der Stelle x = 1 ist 1 notwendig, weil der Ausdruck x−1 dort nicht definiert ist. Es ist oft n¨ utzlich, Funktionen graphisch darzustellen. Im Fall von reellen Zahlen als Definitionsbereich und Wertevorrat zeichnet man die Werte ober- oder unterhalb des Definitionsbereichs auf der waagrechten Zahlengerade. Da in diesem Beispiel f in der N¨ahe von 1 dem Betrag nach beliebig große positive bzw. negative Werte annimmt, muss die Zeichnung dort notgedrungen unvollst¨andig bleiben. 150

100

f(x)

50 20 0 0

x

1 f(x)

−50

−100

−150 −1

−0.5

0

0.5

1

1.5

2

2.2. ABBILDUNGEN

87

Obwohl Funktionen auf ersten Blick kompliziertere Objekte als Mengen zu sein scheinen, und einen v¨ollig neuen Aspekt in die Theorie einbringen, lassen sie sich mit einem einfachen Trick auf den Mengenbegriff zur¨ uckf¨ uhren. Aus den Grundlagen der Mengenlehre ergibt sich, dass der Mengenbegriff selbst nicht unproblematisch ist. Durch die R¨ uckf¨ uhrung der Funktion auf Mengen vermeidet man, dieselben Grundlagenprobleme, die man f¨ ur den Mengenbegriff l¨osen muss, neuerlich separat f¨ ur den Funktionsbegriff l¨osen zu m¨ ussen. Definition 2.2.1.3. Eine Funktion (Abbildung) f ist ein geordnetes Tripel f = (A, B, F ) aus drei Mengen A, B, F ⊂ A × B mit der Eigenschaft: (∀x ∈ A) (∃1 y ∈ B) (x, y) ∈ F. Wir bezeichnen dann f als eine Funktion von A nach B. A heißt Definitionsbereich und B heißt Wertevorrat der Funktion f . F heißt der Graph von f . Ist x ∈ A so ist der Wert von f bei Einsetzung von x f (x) ist jenes y f¨ ur das gilt (x, y) ∈ F. Die Schreibweisen f : A → B und x 7→ f (x) werden nach wie vor verwendet und der Graph F wird oft nicht explizit angeschrieben. Aufgabe 2.2.1.4. Entscheiden Sie, ob F Graph einer Funktion ist: F = {(x, y) ∈ N × N | x = y} F = {(1, 2), (2, 3), (4, 5), (5, 1)} F = {(x, y) ∈ Z × Z | x2 = y} F = {(x, y) ∈ Z × Z | x = y 2 } Bemerkung 2.2.1.5. Warum definiert man die Funktion nicht einfach als Teilmenge F ⊂ A × B, sondern schleppt A und B in einem geordneten Tripel mit? Betrachten Sie die Funktionen ( ( [0, 1] → [0, 1], [0, 1] → [−1, 1], f1 : , f2 : . 2 x 7→ x , x 7→ x2 , Die Graphen der beiden Funktionen sind gleich: {(x, y) ∈ [0, 1] × [0, 1] | f1 (x) = y} = {(x, y) ∈ [0, 1] × [−1, 1] | f2 (x) = y}. Die beiden Funktionen unterscheiden sich aber in einem wichtigen Aspekt: f1 ist surjektiv, f2 nicht. Wenn wir also definieren wollen, was eine surjektive Funktion ist, d¨ urfen wir f1 und f2 nicht als dieselbe Funktion auffassen! Den Definitionsbereich m¨ ussten wir nicht in die Definition hineinnehmen, er l¨aßt sich aus dem Graphen eindeutig bestimmen. Dies gilt aber nur f¨ ur Funktionen, und nicht f¨ ur die Relationen, die wir weiter unten ganz ¨ahnlich definieren werden. Jedenfalls sind zwei Funktionen genau dann gleich, wenn sie als Tripel gleich sind. Beispiel 2.2.1.6. M¨ogliche Darstellungen von Abbildungen: • Pfeildiagramme • Tabelle • Histogramm • durchgezogene Kurve oder einzelne Punkte • 3-d Grafik • Formel • Implizite Angabe (Beispiel arccos)

88

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

Aufgabe 2.2.1.7. Wird durch die folgende Eigenschaft eine Funktion f : R → R gegeben? y = f (x) : ⇐⇒ y 2 − 4y = x. a) Kann man eine Teilmenge D ⊂ R w¨ahlen, sodass f : D → R eine Funktion wird? b) Kann man Teilmengen D, W ⊂ R so w¨ahlen, dass f : D → W eine Funktion wird ? Definition 2.2.1.8. Seien A, B Mengen und C eine Teilmenge von A. Sei f : A → B eine Funktion. Die Einschr¨ankung (Restriktion) von f auf C wird definiert durch ( C →B f |C : x 7→ f (x)

Definition 2.2.1.9. Seien A, B, C Mengen und f : A → B sowie g : B → C Funktionen. Die Funktion ( A →C g◦f : x 7→ g(f (x)) heißt Hintereinanderausf¨ uhrung oder Komposition von g nach f .

Hintereinanderausf¨ uhrung von Funktionen Satz 2.2.1.10. Die Hintereinanderausf¨ uhrung von Funktionen ist assoziativ, d.h., sind A, B, C, D Mengen, und f : A → B, g : B → C, sowie h : C → D Funktionen, so ist h ◦ (g ◦ f ) = (h ◦ g) ◦ f.

2.2. ABBILDUNGEN

89

Beweis. Sei x ∈ A. Es ist [h ◦ (g ◦ f )](x) = h[(g ◦ f )(x)] = h[g(f (x))], [(h ◦ g) ◦ f ](x) = (h ◦ g)(f (x)) = h[g(f (x))]. ¤

Aufgabe 2.2.1.11. Auf der Menge A = {1, 2, 3, 4} sind folgende Funktionen f, g : A → A gegeben: x f (x) g(x) 1 2 2 2 3 1 3 4 4 4 1 3 Bestimmen Sie die Funktionen g ◦ f und f ◦ g. Bemerkung 2.2.1.12. Die Hintereinanderausf¨ uhrung von Funktionen ist nicht kommutativ: Es gilt normalerweise nicht g ◦ f = f ◦ g. Aufgabe 2.2.1.13. Auf R sind die folgenden beiden Funktionen gegeben: ( ( R → R, R → R, f: f: x 7→ x − 2, x 7→ x2 − 4x + 4. Bestimmen Sie g ◦ f . Aufgabe 2.2.1.14. Die folgende Kurve zeigt eine Funktion f des Intervalles J = [0, 1] auf sich. Versuchen Sie, qualitativ den Verlauf der Kurve von f ◦ f zu 1

0.8

f(x)

0.6

0.4

0.2

skizzieren.

0 0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

x

Bemerkung 2.2.1.15. Es kommt in der Mathematik oft vor, dass man Hintereinanderausf¨ uhrungen einer Funktion mit sich selbst betrachtet: f ◦ f ◦ · · · ◦ f . Man nennt solche Hintereinanderausf¨ uhrungen auch Iterationen.

90

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

Definition 2.2.1.16. Sei A eine Menge. Die Identit¨at auf A ist die Funktion ( A → A, idA : x 7→ x. Wenn keine Verwechslungen bez¨ uglich der Definitionsmenge zu erwarten sind, schreibt man einfach id. Manchmal wird auch eine Eins als Symbol f¨ ur die Identit¨at verwendet.

Satz 2.2.1.17. Seien A, B Mengen und f : A → B eine Funktion. Dann ist idB ◦f = f = f ◦ idA . Beweis. Offensichtlich. (K¨ onnen Sie’s?)

¤

Merksatz 2.2.1.18. Seien Sie vorsichtig mit der Verwendung von “offensicht¨ lich”, “trivial”, “der Beweis ist dem Leser als Ubung u ¨berlassen” und dergleichen. Das darf man nur schreiben, wenn 1) man selbst den Beweis vollzogen hat und 2) der Beweis so einfach ist, dass man davon ausgehen kann, dass ihn der Leser ohne M¨ uhe sofort findet. In der Fachliteratur finden sich reichlich F¨alle, in denen hinter “offensichtlich” Fehler verborgen waren, die eigentlich offensichtlich h¨atten sein sollen. Was Sie jetzt k¨ onnen: Begriffe und Wissen: Funktionen, Hintereinanderausf¨ uhrung von Funktionen, Identit¨at, Definitionsbereich und Wertevorrat. Fertigkeiten: Funktionen durch Tabellen, Pfeildiagramme, Kurven darstellen. Erkennen, ob durch eine Eigenschaft eine Funktion gegeben wird.

2.2.2. Bild und Urbild. ¨ Ubersicht: • Inhalt: Bild und Urbild von Mengen unter Funktionen. ¨ • Ubungsgebiet f¨ ur Beweistechniken

Definition 2.2.2.1. Seien A, B Mengen und f : A → B eine Funktion. Sei P ⊂ A und Q ⊂ B. Wir definieren das Bild f (P ) der Menge P unter f und das Urbild f −1 (Q) von Q: f (P ) := {f (x) | x ∈ P }, f −1 (Q) := {x ∈ A | f (x) ∈ Q}. Das Bild von f (Range von f ) ist das Bild des gesamten Definitionsbereichs: f (A) = {f (x) | x ∈ A}.

2.2. ABBILDUNGEN

91

Bild und Urbild von Mengen Schreibweise 2.2.2.2. Hier wird dasselbe Symbol f −1 f¨ ur mehrere Objekte verwendet, was man sonst in der Mathematik m¨oglichst vermeidet. F¨ ur eine Funktion f : A → B ist zu unterscheiden: f f (x) f¨ ur x ∈ A f (P ) f¨ ur P ⊂ A f −1 f f

−1

−1

(y) f¨ ur y ∈ B

(Q) f¨ ur Q ⊂ B

(f (x))−1 f¨ ur x ∈ A

die Funktion selbst, der Wert der Funktion, wenn x eingesetzt wird, die Menge der Werte, die die Funktion auf P annimmt, die Umkehrfunktion — falls sie existiert (Definition 2.2.4.1), Wert der Umkehrfunktion wenn y eingesetzt wird, Menge der Werte, die nach Q abgebildet werden — unabh¨angig, ob eine Umkehrfunktion existiert oder nicht, der Reziprokwert von f (x), also 1/f (x) (falls f (x) eine Zahl ist).

Aufgabe 2.2.2.3. Sei

( f:

R → R, . x 7→ sin(x)

Bestimmen Sie: (a)

f ([0, π/4])

(b)

f −1 (Z)

(c)

f (R).

Satz 2.2.2.4. Seien A, B Mengen und f : A → B eine Funktion. Sei Λ eine Menge und f¨ ur alle λ ∈ Λ sei Qλ ⊂ B. Es gilt: [ [ Qλ ) = f −1 (Qλ ). f −1 ( λ∈Λ

λ∈Λ

92

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

Beweis.

⇐⇒

S x ∈ f −1 ( λ∈Λ Qλ ) S f (x) ∈ λ∈Λ Qλ

⇐⇒

(∃λ ∈ Λ) f (x) ∈ Qλ

⇐⇒ ⇐⇒

(∃λ ∈ Λ) x ∈ f −1 (Qλ ) S x ∈ λ∈Λ f −1 (Qλ ).

(Definition von f −1 ), [ (Definition von ), (Definition von f −1 ),

¤

Aufgabe 2.2.2.5. Seien A, B Mengen, und f : A → B eine Funktion. Seien Q und S Teilmengen von B. Zeigen Sie: f −1 (Q \ S) = f −1 (Q) \ f −1 (S).

Aufgabe 2.2.2.6. Seien A, B Mengen, und f : A → B eine Funktion. Seien P und R Teilmengen von A. Zeigen Sie durch ein Beispiel, dass nicht notwendig gilt: f (P \ R) = f (P ) \ f (R).

Merksatz 2.2.2.7. Ein Gegenbeispiel zeigt, dass ein bestimmter Sachverhalt nicht immer zutrifft. Wenn man einen Satz als richtig vermutet, aber kein Beweis gelingt, zahlt es sich manchmal aus, nach einem Gegenbeispiel zu suchen.

Aufgabe 2.2.2.8. Seien A, B Mengen und f : A → B eine Abbildung. Sei P ⊂ A und Q ⊂ B. Sind die folgenden Aussagen immer richtig (Beweis oder Gegenbeispiel): (i)

P ⊂ f −1 (f (P )),

(ii)

P = f −1 (f (P )),

(iii)

Q ⊂ f (f −1 (Q)).

Aufgabe 2.2.2.9. Seien A, B, C Mengen, f : A → B und g : B → C Abbildungen. Sei Q ⊂ C. Zeigen Sie: (g ◦ f )−1 (Q) = f −1 (g −1 (Q)). Was Sie jetzt k¨ onnen: Begriffe und Wissen: Bild und Urbild von Mengen. Fertigkeiten: Elementare Sachverhalte u ¨ ber Funktionen, Hintereinanderausf¨ uhrung, Bilder und Urbilder beweisen. Sicherheit im Umgang mit dem Begriff Urbild.

2.2. ABBILDUNGEN

93

2.2.3. Injektivit¨ at und Surjektivit¨ at. ¨ Ubersicht: • Inhalt: Injektiv, surjektiv, bijektiv. • Beweistechniken: Ringschluss, Ausn¨ utzung der Assoziativit¨at der Hintereinanderausf¨ uhrung. • K¨ urzungsregeln Definition 2.2.3.1. Seien A, B Mengen und f : A → B eine Abbildung. f heißt injektiv, wenn gilt: (∀x, y ∈ A) [f (x) = f (y) ⇒ x = y]. f heißt surjektiv, wenn gilt: (∀y ∈ B) (∃x ∈ A) f (x) = y. f heißt bijektiv, wenn f sowohl injektiv als auch surjektiv ist. Eine injektive Abbildung ordnet also zwei verschiedenen Elementen des Definitionsbereichs zwei verschiedene Elemente des Wertevorrats zu. Bei einer surjektiven Abbildung kommen alle Elemente des Wertevorrats als Bilder vor.

Injektive und surjektive Abbildungen Beispiel 2.2.3.2. Welche der folgenden Funktionen von R nach R sind injektiv bzw. surjektiv? f (x) = x2 − 3, g(x) = log(x2 ), h(x) = (2x − 3)3 . Bemerkung 2.2.3.3. Eine Funktion f : A → B ist • genau dann injektiv, wenn f¨ ur jedes y ∈ B die Gleichung f (x) = y h¨ochstens eine L¨osung x ∈ A besitzt, • genau dann surjektiv, wenn f¨ ur jedes y ∈ B die Gleichung f (x) = y mindestens eine L¨osung x ∈ A besitzt, • genau dann bijektiv, wenn f¨ ur jedes y ∈ B die Gleichung f (x) = y genau eine L¨osung x ∈ A besitzt. Aufgabe 2.2.3.4. Ist die Funktion ( R \ {1} → R, f: x+1 , x 7→ x−1 injektiv, surjektiv, bijektiv?

94

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

Aufgabe 2.2.3.5. Die folgenden 4 Kurven zeigen Funktionen des Intervalls [0, 1] in sich selbst. Welche der Funktionen sind injektiv, welche sind surjektiv?

1

0.8 0.7

0.8

0.6 0.6 0.5 0.4 0.2

0.4 0

0.5

1

1

1

0.8

0.8

0.6

0.6

0.4

0.4

0.2

0.2

0

0

0.5

1

0

0

0.5

1

0

0.5

1

Aufgabe 2.2.3.6. Seien A, B, C Mengen und f : A → B, g : B → C Funktionen. a) Beweisen Sie: Wenn f und g injektiv sind, so ist auch die Hintereinanderausf¨ uhrung g ◦ f injektiv. b) Gilt auch die Umkehrung: Wenn g ◦f injektiv ist, so sind f und g injektiv? (Beweis oder Gegenbeispiel.) Satz 2.2.3.7. Seien A, B nichtleere Mengen und f : A → B eine Funktion. Die folgenden Aussagen sind ¨ aquivalent: a) f ist injektiv. b) Es gibt eine Abbildung g : B → A so, dass g ◦ f = idA . c) Ist C eine Menge und sind h1 , h2 : C → A Abbildungen sodass gilt f ◦h1 = f ◦ h2 , so ist h1 = h2 . Beweis. Wir k¨onnten nat¨ urlich 6 Implikationen beweisen: (a) ⇒ (b) (b) ⇒ (c) (c) ⇒ (a) (b) ⇒ (a) (c) ⇒ (b) (a) ⇒ (c) Aber es gen¨ ugt, die oberen drei zu beweisen. Wenn n¨amlich dann eine der Aussagen wahr ist (zum Beispiel (b)), so folgt wegen (b) ⇒ (c) , dass auch (c) wahr ist, und wegen (c) ⇒ (a), dass dann auch (a) wahr ist. Also sind entweder alle drei zugleich wahr, oder alle drei sind falsch. Einen solchen Beweis nennt man Ringschluss. Teil 1: Wir zeigen (a) ⇒ (b). Wir w¨ahlen ein beliebiges z ∈ A und definieren die Abbildung g wie folgt: F¨ ur y ∈ f (A) : F¨ ur y ∈ 6 f (A) :

g(y) := x so, dass f (x) = y, g(y) := z.

Da zu jedem y ∈ f (A) genau ein x ∈ A existiert mit f (x) = y, ist diese Definition zul¨assig. Ist nun x ∈ A, so ist f (x) ∈ f (A), und g(f (x)) = x = idA (x). Teil 2: Wir zeigen (b) ⇒ (c). Seien h1 , h2 : C → A Abbildungen mit f ◦ h1 = f ◦ h2 . Dann ist h1 = idA ◦h1 = (g ◦ f ) ◦ h1 = g ◦ (f ◦ h1 ) = g ◦ (f ◦ h2 ) = (g ◦ f ) ◦ h2 = idA ◦h2 = h2 .

2.2. ABBILDUNGEN

95

Teil 3: Wir zeigen (c) ⇒ (a). Wir f¨ uhren den Beweis durch Widerspruch und nehmen an, dass f nicht injektiv ist. Dann gibt es also x 6= z ∈ A so, dass f (x) = f (z). Wir betrachten nun C = {1} und die Abbildungen: ( ( C → A, C → A, h1 : h2 : . 1 7→ x, 1 7→ z, Dann ist (f ◦ h1 )(1) = f (x) = f (z) = (f ◦ h2 )(1) und folglich f ◦ h1 = f ◦ h2 . Aber h1 6= h2 im Widerspruch zu (c).

¤

Bemerkung 2.2.3.8. Regel (c) in Satz 2.2.3.7 heißt eine K¨ urzungsregel. K¨ urzungsregeln spielen in der Algebra eine große Rolle. Der Name kommt von der K¨ urzung in Gleichungen mit der Multiplikation reeller Zahlen, falls a 6= 0: ab = ac ⇒ b = c Merksatz 2.2.3.9. Um zu zeigen, dass mehrere Aussagen p1 , p2 , · · · , pn ¨aquivalent sind, kann man einen Ringschluss verwenden. Man beweist: p1 p2 pn−1 pn

⇒ p2 ⇒ p3 .. . ⇒ pn ⇒ p1

¨ Die Aquivalenz der Aussagen ist nat¨ urlich unabh¨angig von ihrer Reihenfolge, beim Ringschluss kann die Reihenfolge aber große Unterschiede f¨ ur die Beweisf¨ uhrung machen. Was Sie jetzt k¨ onnen: Begriffe und Wissen: Injektivit¨at, Surjektivit¨at, Bijektivit¨at von Funktionen, Zusammenhang dieser Begriffe mit der Existenz und Eindeutigkeit von L¨osungen von Gleichungen. K¨ urzungsregeln. Fertigkeiten: Untersuchung von Funktionen auf Injektivit¨at und ¨ Surjektivit¨at. Ringschluss zum Beweis von Aquivalenzen.

2.2.4. Umkehrfunktion. ¨ Ubersicht: Inhalt: Umkehrfunktion

Definition 2.2.4.1. Sei f : A → B eine Funktion. Wenn es eine Funktion g : B → A gibt, sodass gilt g ◦ f = idA ∧ f ◦ g = idB , so heißt g die Umkehrfunktion von f , und wir schreiben g = f −1 . Satz 2.2.4.2. Zu jeder Funktion kann h¨ ochstens eine Umkehrfunktion existieren.

96

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

Beweis. Wir f¨ uhren einen typischen Eindeutigkeitsbeweis. Wir nehmen an, f : A → B sei eine Funktion, und g1 , g2 : B → A seien Umkehrfunktionen von f . Zu zeigen: g1 = g2 . Der folgende Trick geh¨ort ins Standardrepertoire der Algebraiker: g1 = g1 ◦ idB = g1 ◦ (f ◦ g2 ) = (g1 ◦ f ) ◦ g2 = idA ◦g2 = g2 . ¤

Satz 2.2.4.3. Seien A, B nichtleere Mengen und f : A → B eine Funktion. Es sind ¨ aquivalent: a) f ist bijektiv. b) f besitzt eine Umkehrfunktion. c) Sind C, D Mengen, h1 , h2 : C → A und g1 , g2 : B → D Abbildungen, so gilt: f ◦ h1 = f ◦ h2 g1 ◦ f = g2 ◦ f

⇒ ⇒

h1 = h2 , (K¨ urzung von links) g1 = g2 . (K¨ urzung von rechts)

Beweis. Wir f¨ uhren einen Ringschluss durch: (a) ⇒ (b) ⇒ (c) ⇒ (a). Teil 1: Wir zeigen: (a) ⇒ (b): Sei also f bijektiv. f injektiv und Satz 2.2.3.7 ⇒ (∃g : B → A) g ◦ f = idA . Wir zeigen: g ist Umkehrfunktion von f . Dazu ist noch zu zeigen: f ◦ g = idB . Sei y ∈ B. Zeige: (f ◦ g)(y) = y. f surjektiv ⇒ (∃x ∈ A) f (x) = y. (f ◦ g)(y) = (f ◦ g)(f (x)) = [(f ◦ g) ◦ f ](x) = = [f ◦ (g ◦ f )](x) = [f ◦ idA ](x) = f (x) = y. Teil 2: Wir zeigen: (b) ⇒ (c): f besitze also eine Umkehrfunktion f −1 . K¨ urzung von links: Seien h1 , h2 : C → A mit f ◦ h1 = f ◦ h2 . h1 = idA ◦h1 = (f −1 ◦ f ) ◦ h1 = f −1 ◦ (f ◦ h1 ) = = f −1 ◦ (f ◦ h2 ) = (f −1 ◦ f ) ◦ h2 = idA ◦h2 = h2 . K¨ urzung von rechts: Seien g1 , g2 : B → D mit g1 ◦ f = g2 ◦ f. g1 = g1 ◦ idB = g1 ◦ f ◦ f −1 = g2 ◦ f ◦ f −1 = g2 .

2.2. ABBILDUNGEN

97

Teil 3: Wir zeigen: (c) ⇒ (a): f erf¨ ulle also die beiden K¨ urzungsregeln. K¨ urzungsregel von links und Satz 2.2.3.7 ⇒ f injektiv. Zu zeigen bleibt: f surjektiv. Sei y ∈ B. Zeige: (∃x ∈ A) f (x) = y. Durch Widerspruch: Annahme (∀x ∈ A) f (x) 6= y. Finde einen Widerspruch. Fall 1 B = {y}. (∀x ∈ A) f (x) 6= y ⇒ A = ∅ Widerspruch zu A 6= ∅. Fall 2 B = {y, z} mit y 6= z. Setze D = {0, 1}, ( g1 :

B b

→ D, 7→ 0,

  B g2 :

 b

→ D, ( 0 falls b 6= y, 7→ 1 falls b = y.

(∀x ∈ A) f (x) 6= y ⇒ (∀x ∈ A) g2 (f (x)) = 0 = g1 (f (x)). D.h. g2 ◦ f = g1 ◦ f. K¨ urzung von rechts ⇒ g1 = g2 . Aber g1 6= g2 . Widerspruch! ¤ Beispiel 2.2.4.4. Die Umkehrfunktion der folgenden Funktion soll bestimmt werden:  (0, π ) → (0, ∞), 2 ³ ´3 f: 1 x 7→ cos(x) +1 . L¨ osung: Zu jedem y ∈ (0, ∞) muss die Gleichung µ ¶3 1 +1 =y cos(x) eine eindeutige L¨osung im Intervall (0, π2 ) besitzen. Dann ist f bijektiv, und x = f −1 (y). Wir l¨osen also µ ¶3 1 +1 = y cos(x) 1 √ +1 = 3y cos(x) 1 cos(x) = √ 1+ 3y µ ¶ 1 x = arccos √ 1+ 3y Mit arccos wird n¨amlich die Umkehrfunktion der bijektiven Funktion cos : (0, π) → (−1, 1), x 7→ cos(x) bezeichnet. Aufgabe 2.2.4.5. Berechnen Sie die Umkehrfunktion von ( [0, ∞) → [0, ∞), f: x 7→ x2 + 6x.

98

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

Was Sie jetzt k¨ onnen: Begriffe und Wissen: Umkehrfunktion, f −1 existiert genau wenn f bijektiv ist. Fertigkeiten: Bestimmung von Umkehrfunktionen.

2.3. Relationen ¨ Ubersicht: 1. 2. 3. 4.

¨ Aquivalenzrelationen Ordnungsrelationen Maximum und Minimum, Supremum und Infimum Analysis und die Ordnung der reellen Zahlen

¨ 2.3.1. Aquivalenzrelationen. ¨ Ubersicht: • Relationen ¨ Klasseneinteilung • Aquivalenzrelation, Eine Relation ist eine Beziehung zwischen Elementen zweier Mengen. Zwei Elemente k¨onnen entweder in der Relation stehen oder nicht. Ebenso wie Funktionen lassen sich Relationen auf den Begriff der Menge zur¨ uckf¨ uhren. Definition 2.3.1.1. Eine (zweistellige) Relation R ist ein geoordnetes Tripel (A, B, G) aus Mengen A, B und G ⊂ A × B. Wir sagen, R ist eine Relation auf A × B. Sind x ∈ A und y ∈ B so, dass (x, y) ∈ G, so sagen wir, x steht in Relation R zu y xRy :⇔ (x, y) ∈ G. G heißt der Graph der Relation. Eine Relation R = (A, A, G) heißt eine Relation auf A. Aufgabe 2.3.1.2. Ist jede Relation eine Funktion? Ist jede Funktion eine Relation? Beispiel 2.3.1.3. a) Sei A = R, B = (0, ∞) und R = (A, B, G) mit √ √ G = {(x, y) ∈ A × B | (x ≥ 1 ∧ y = x − 1) ∨ (x ≥ 2 ∧ y = 2x − 4)} Es stehen die Elemente aus (−∞, 1) zu keinem Element aus B in Relation R; alle √ x ∈ [1, 2) stehen zu genau einem y ∈ [0, 1) in Relation, n¨amlich xR x − 1; alle √ x ∈ (2, ∞) stehen zu zwei Elementen aus B in Relation, n¨ a mlich zu x − 1 und zu √ 2x − 4, diese fallen nur f¨ ur x = 3 zusammen. Tr¨agt man die y mit xRy senkrecht u ¨ber der x-Achse auf, erh¨alt man den Graph als Teilmenge von A × B. b) Sei A = N ∩ [0, 3π], B = [0, 2] und xRy ⇔ y ≥ sin x. Dann steht jedes x ∈ A mit unendlich vielen y ∈ B in Relation. Tr¨agt man diese senkrecht u ¨ber den x-Werten auf, erh¨alt man den Graph rechts in der Abbildung.

2.3. RELATIONEN

5

99

5

y

y 4

4

3

3

2

2

1

1

0

−1

x

0

0

2

4

6

8

10

0

−1

x

0

0

2

4

6

8

10

Die Graphen von Beispiel 2.3.1.3

¨ Aquivalenzrelationen sind Relationen mit speziellen Eigenschaften: ¨ Definition 2.3.1.4. Sei M eine Menge. Eine Relation ≡ heißt Aquivalenzrelation auf M , wenn folgende Bedingungen gelten: (i) Reflexivit¨at (ii) Symmetrie (iii) Transitivit¨at

(∀x ∈ M ) x ≡ x, (∀x, y ∈ M ) x ≡ y ⇔ y ≡ x, (∀x, y, z ∈ M ) x ≡ y ∧ y ≡ z ⇒ x ≡ z.

¨ Aufgabe 2.3.1.5. Sind folgende Relationen Aquivalenzrelationen auf R? 2 2 xRy ⇔ x = y xRy ⇔ x2 ≤ y 2 xRy ⇔ x − y ∈ Z ¨ Es gibt einen engen Zusammenhang von Aquivalenzrelationen auf einer Menge und deren disjunkten Zerlegungen: Definition 2.3.1.6. Sei M eine Menge und U eine Teilmenge der Potenzmenge von M (also eine Menge, deren Elemente Teilmengen von M sind). Die Menge U heißt eine Partition oder Klasseneinteilung auf M , falls gilt: [ (i) V = M, V ∈U

(ii) (iii)

(∀V, W ∈ U , V 6= W ) V ∩ W = ∅, ∅ 6∈ U.

Satz 2.3.1.7. Sei M eine Menge, und U ⊂ P(M ). Sei ∅ 6∈ U. Dann sind die folgenden Aussagen ¨ aquivalent: 1) U ist eine Klasseneinteilung auf M . 2) Zu jedem x ∈ M existiert genau ein V ∈ U mit x ∈ V . ¨ Beweis. Beweis als Ubung.

¤

Beispiel 2.3.1.8. a) Sei G = {2k | k ∈ Z}, U = {2k + 1 | k ∈ Z}. Dann ist {G, U } eine Partition auf Z. b) {[k, k + 1) | k ∈ Z} ist eine Partition auf R. c) {[k − 1, k + 1) | k ∈ Z} ist keine Partition auf R, weil diese Intervalle nicht paarweise disjunkt sind, zB. [1 − 1, 1 + 1) ∩ [2 − 1, 2 + 1) = [1, 2), wohl aber {[k − 1, k + 1) | k ∈ G}.

100

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

Satz 2.3.1.9. Sei M 6= ∅ eine Menge. ¨ 1) Ist U eine Klasseneinteilung auf M , dann ist die folgende Relation ≡ eine Aquivalenzrelation auf M: x ≡ y :⇔ (∃V ∈ U) (x ∈ V ∧ y ∈ V ). ¨ 2) Ist ≡ eine Aquivalenzrelation auf M , dann ist das folgende Mengensystem eine Klasseneinteilung auf M : U := {V ⊂ M | (∃x ∈ M ) V = x ¯} mit x ¯ := {y ∈ M | x ≡ y}. Beweis. Soll gemeinsam in der Vorlesung erarbeitet werden.

¤

¨ Sprechweise 2.3.1.10. Die Mengen der Partition, die auf Grund einer Aqui¨ ¨ valenzrelation gebildet wird, heißen Aquivalenzklassen. F¨ ur x ∈ M wird die Aquivalenzklasse, in der x liegt mit x ¯ oder auch mit [x] bezeichnet. Die Elemente einer ¨ Aquivalenzklasse heißen ihre Repr¨asentanten. Beispiel 2.3.1.11. Sei p ∈ Z. Mit pZ bezeichnen wir die Menge der ganzzahligen Vielfachen von p: pZ := {pq | q ∈ Z}. Auf Z definieren wir die Relation x ≡ y :⇔ x − y ∈ pZ. ¨ ¨ Dann ist ≡ eine Aquivalenzrelation auf Z. Die dazugeh¨origen Aquivalenzklassen heißen die Restklassen modulo p. Was Sie jetzt k¨ onnen: ¨ Begriffe und Wissen: Aquivalenzrelation, Klasseneinteilung, Zusammenhang ¨ zwischen Aquivalenzrelation und Klasseneinteilung.

2.3.2. Ordnungsrelationen. ¨ Ubersicht: 1) Definition und Beispiele f¨ ur Ordnungsrelationen 2) Totalordnung 3) Ordnungsrelationen und Graphen In diesem Kapitel f¨ uhren wir den Begriff der Ordnungsrelation ein. Der Ab¨ ¨ schnitt u f¨ ur das Ubertragen ¨ ber Graphen und Ordnung ist ein Ubungsbeispiel von Beobachtungen der Anschauung in exakte Mathematik. 2.3.2.1. Definition und Beispiele f¨ ur Ordnungsrelationen. Definition 2.3.2.1. Sei A eine nichtleere Menge. Eine Ordnungsrelation ¹ auf A × A ist eine Relation mit folgenden Eigenschaften: ¹ ist reflexiv, d.h., (∀x ∈ A) x ¹ x. ¹ ist antisymmetrisch, d.h., (∀x, y ∈ A) x ¹ y ∧ y ¹ x ⇒ x = y. ¹ ist transitiv, d.h., (∀x, y, z ∈ A) x ¹ y ∧ y ¹ z ⇒ x ¹ z. Schreibweise 2.3.2.2. Ist ¹ eine Ordnungsrelation auf einer Menge A, so bedeutet x ≺ y : ⇐⇒ x ¹ y ∧ x 6= y.

2.3. RELATIONEN

101

Bemerkung 2.3.2.3. Manche Autoren verstehen unter Ordnungsrelation eine Relation ≺ mit den Eigenschaften ≺ ist antireflexiv, d.h., ¬(∃x ∈ A) x ≺ x. ≺ ist antisymmetrisch, d.h., (∀x, y ∈ A) x ≺ y ∧ y ≺ x ⇒ x = y. ≺ ist transitiv, d.h., (∀x, y, z ∈ A) x ≺ y ∧ y ≺ z ⇒ x ≺ z. und setzen dann mit der Definition x ¹ y : ⇐⇒ x ≺ y ∨ x = y fort. Beispiel 2.3.2.4. Die folgenden Relationen sind Ordnungsrelationen: 1) Die Relation ≤ auf der Menge der nat¨ urlichen (ganzen, rationalen, rellen) Zahlen. 2) Sei M eine Menge. Auf der Potenzmenge P(M ) ist ⊂ eine Ordnungsrelation. 3) Auf der Menge der nat¨ urlichen Zahlen bildet die Relation a | b (a ist Teiler von b) eine Ordnungsrelation. 4) Sei R2 die Menge der zweidimensionalen Spaltenvektoren u ¨ber R. Die Relation µ ¶ µ ¶ a1 b ≤ 1 : ⇐⇒ a1 ≤ b1 ∧ a2 ≤ b2 a2 b2 ist eine Ordnungsrelation auf R2 . Aufgabe 2.3.2.5. Ist die Relation “a teilt b” auf der Menge der ganzen Zahlen eine Ordnungsrelation? 2.3.2.2. Totalordnung. ¨ ufen Sie die folgende Aussage und ihren Beweis: Sind Aufgabe 2.3.2.6. Uberpr¨ sie richtig oder falsch? Behauptung: Sei M eine nichtleere endliche Menge mit einer Ordnungsrelation ¹. Dann gibt es ein kleinstes Element a ∈ M , d.h., ein Element mit der Eigenschaft (∀b ∈ M ) a ¹ b Beweis durch vollst¨andige Induktion nach der Anzahl der Elemente von M . Verankerung: Enth¨alt M nur ein Element a, so ist nat¨ urlich a ¹ a, und damit ist a das kleinste Element von M . Induktionsschritt: Induktionsannahme: Jede Menge mit h¨ochstens n Elementen enth¨alt ein kleinstes Element. Zu zeigen: Ist M eine Menge mit n + 1 Elementen, so enth¨alt M ein kleinstes Element. Sei also M = {x1 , · · · , xn+1 }. Die Menge {x1 , · · · , xn } enth¨alt nach Induktionsannahme ein kleinstes Element y. Sei a = xn+1 falls xn+1 ¹ y oder a = y falls y ¹ xn+1 . Auf jeden Fall ist durch diese Definition a ¹ xn+1 und a ¹ y. F¨ ur i = 1, · · · , n ist y ¹ xi . Da a ¹ y, folgt a ¹ xi . Nach Definition von a gilt auch a ¹ xn+1 .

102

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

Damit ist gezeigt, dass a das kleinste Element von M ist. Bemerkung 2.3.2.7. Wer alles glaubt, was gedruckt steht, ist selbst schuld. Definition 2.3.2.8. Sei M eine Menge mit einer Ordnungsrelation ¹. Die Ordnungsrelation ¹ heißt eine Totalordnung auf M , wenn gilt: (∀p, q ∈ M ) p ¹ q ∨ q ¹ p. ¨ Aufgabe 2.3.2.9. Uberpr¨ ufen Sie f¨ ur die Ordnungsrelationen aus Beispiel 2.3.2.4, welche davon Totalordnungen sind. 2.3.2.3. Ordnungsrelationen und Graphen. Ordnungsrelationen auf endlichen Mengen kann man veranschaulichen, indem man die Elemente der Menge als Punkte zeichnet, und f¨ ur jedes Punktepaar (a, b) mit a ¹ b einen Pfeil von a nach b zeichnet. Das ergibt allerdings meist so viele Pfeile, dass das Diagramm schwer lesbar ist. Eine m¨ogliche Variante ist, nur so viele Pfeile einzuzeichnen, dass f¨ ur jedes Paar a ¹ b ein Weg von a nach b entlang der eingezeichneten Pfeile existiert. Nat¨ urlich zeichnet man Pfeile von a nach a nicht ein.

Es gilt x ¹ y wenn x = y oder wenn ein Weg von Pfeilen von x nach y f¨ uhrt. z.B. a ¹ b, aber nicht a ¹ c.

Definition 2.3.2.10. Sei M eine Menge. Ein gerichteter Graph G auf M ist eine Teilmenge G ⊂ M ×M . Die Elemente von M heißen auch Knoten des Graphen, die Paare (a, b) ∈ G heißen die gerichteten Kanten oder Pfeile des Graphen. Bemerkung 2.3.2.11. Mengentheoretisch ist ein gerichteter Graph auf M das gleiche wie der Graph einer zweistelligen Relation auf M × M , vergleichen Sie dazu Definition 2.3.1.1.

2.3. RELATIONEN

103

Sie sehen, wie unterschiedlich ein und dasselbe mathematische Objekt f¨ ur die Anschauung dargestellt werden kann: Relationen k¨onnen wir als Punktmengen in einer Produktmenge darstellen, zum Beispiel in der Ebene als Produktmenge von R × R, oder durch Pfeile zwischen Knoten. Wir kennen das schon von Funktionen, welche wir manchmal als Pfeildiagramme, manchmal durch Kurven darstellen. Wir werden jetzt versuchen, den Gedanken der Darstellung von Ordnungsrelationen durch gerichtete Graphen exakter zu fassen. Geh¨ort jeder gerichtete Graph zu einer Ordnungsrelation? Aufgabe 2.3.2.12. Sei M eine Menge und G ein gerichteter Graph auf M . Seien a, b ∈ M . Wir schreiben a ¹ b genau dann, wenn a = b oder ein Weg von Pfeilen von a nach b f¨ uhrt. Geben Sie eine saubere Definition f¨ ur einen “Weg von a nach b”. Aufgabe 2.3.2.13. Betrachten Sie f¨ ur die 4 Beispiele aus der folgenden Graphik die Relation ¹ aus Aufgabe 2.3.2.12. 1) Welche der Eigenschaften einer Ordnungsrelation erf¨ ullt ¹ jeweils in den 4 Beispielen? 2) Sehen Sie eine M¨oglichkeit, einem Graphen anzusehen, ob die dazugeh¨orige Relation ¹ eine Ordnungsrelation ist? (Die Antwort darf an dieser Stelle rein intuitiv erfolgen, die Pr¨azisierung erfolgt sp¨ater.) 3) K¨onnen Sie dieses Kriterium sauber definieren und als Satz formulieren: “Die Relation ¹ zu einem gerichteten Graphen im Sinne von Aufgabe 2.3.2.12 ist genau dann eine Ordnungsrelation wenn . . . ” 4) Beweisen Sie diesen Satz.

Merksatz 2.3.2.14. Der erste Schritt der mathematischen Begriffsbildung ist sehr oft mit Bildern und Anschauung verbunden. Hat man diese Bilder vor Augen, muss man sich dar¨ uber klar werden, was die wesentlichen Inhalte davon sind, und diese in exakte Definitionen und S¨atze weiterentwickeln. Das kann manchmal m¨ uhevoll, umst¨andlich und trickreich sein.

104

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

Was Sie jetzt k¨ onnen: Begriffe und Wissen: Ordnungsrelation, Beispiele von Ordnungsrelationen, Totalordnung. Fertigkeiten: Mit Anschauung zu Begriffen und Hypothesen kommen, diese anschließend in exakte mathematische Definitionen und S¨atze weiterentwickeln.

2.3.3. Maximum und Minimum, Supremum und Infimum. ¨ Ubersicht: 1) Maximum und Minimum 2) Schranken 3) Supremum und Infimum 2.3.3.1. Maximum und Minimum. Definition 2.3.3.1. Sei M eine Menge mit einer Ordnungsrelation ¹. Sei A ⊂ M. 1) Wenn es ein x ∈ A gibt, sodass (∀y ∈ A) y ¹ x, dann heißt x das Maximum oder gr¨oßte Element von A, und man schreibt x = max(A). 2) Wenn es ein x ∈ A gibt, sodass (∀y ∈ A) x ¹ y, dann heißt x das Minimum oder kleinste Element von A, und man schreibt x = min(A). Schreibweise 2.3.3.2. Besitzt eine endliche Menge A = {a1 , a2 , · · · , an } ein Minimum (Maximum), so schreibt man auch min(a1 , a2 , · · · , an ) := min({a1 , a2 , · · · , an }). Aufgabe 2.3.3.3. Besitzen folgende Mengen ein Maximum oder ein Minimum? 1) Die nat¨ urlichen Zahlen bez¨ uglich der bekannten Ordnung ≤? 2) Die nat¨ urlichen Zahlen bez¨ u glich der Relation a | b (“a ist Teiler von b”)? µ ¶ x1 3) Die Menge { ∈ R2 | x21 + x22 ≤ 1} bez¨ uglich der Ordnung x2 µ ¶ µ ¶ a1 b ≤ 1 : ⇐⇒ a1 ≤ b1 ∧ a2 ≤ b2 a2 b2 Satz 2.3.3.4. Eine Menge kann h¨ ochstens ein Minimum und h¨ ochstens ein Maximum besitzen. Beweis. Seien x und y zwei Maxima von A. Zeige: x = y. x = max(A) ∧ y ∈ A ⇒ y ¹ x, (Definition des Maximum) y = max(A) ∧ x ∈ A ⇒ x ¹ y, (Definition des Maximum) y ¹ x ∧ x ¹ y ⇒ x = y. (Antisymmetrie) Der Beweis f¨ ur das Minimum geht ebenso.

¤

2.3. RELATIONEN

105

Bemerkung 2.3.3.5. Erst Satz 2.3.3.4 rechtfertigt die Schreibweise x = max(A).

Merksatz 2.3.3.6. Wenn zwei Aussagen gleich strukturiert sind, sodass dieselbe Argumentationskette mit geringf¨ ugigen Ab¨anderungen der Schreibung beide Aussagen beweist, so ist es durchaus legitim, eine der Aussagen zu beweisen, und f¨ ur den Beweis der anderen Aussage auf die Symmetrie hinzuweisen. 2.3.3.2. Untere und obere Schranken. Definition 2.3.3.7. Sei M eine Menge mit einer Ordnungsrelation ¹ und A ⊂ M . Sei x ∈ M . 1) x heißt obere Schranke von A, wenn gilt: (∀y ∈ A) y ¹ x. 2) x heißt untere Schranke von A, wenn gilt: (∀y ∈ A) x ¹ y.

Bemerkung 2.3.3.8. Eine Menge kann viele obere und untere Schranken haben.

Aufgabe 2.3.3.9. Bestimmen Sie die Mengen aller unteren und aller oberen Schranken der folgenden Teilmengen von R: A = {−2, 1, 3}, B = {x ∈ R | x ≥ 5}.

Aufgabe 2.3.3.10. Betrachten Sie auf N die Relation a | b als Ordnungsrelation. Bestimmen Sie die Mengen der unteren und oberen Schranken der Menge {12, 24, 30}. Gibt es eine gr¨oßte untere Schranke? Gibt es eine kleinste obere Schranke? 2.3.3.3. Supremum und Infimum. Definition 2.3.3.11. Sei M eine Menge mit einer Ordnungsrelation ¹. Sei A ⊂ M . Wenn es eine kleinste obere Schranke von A gibt, so heißt diese das Supremum von A. Wenn es eine gr¨oßte untere Schranke von A gibt, heißt diese das Infimum von A. sup(A) := min({y ∈ M | (∀x ∈ A) x ¹ y}), inf(A) := max({y ∈ M | (∀x ∈ A) y ¹ x}).

Beispiel 2.3.3.12. Die folgende Graphik zeigt eine geordnete Menge M . Es sind zwei Teilmengen A und B eingezeichnet. Dazu die Mengen der oberen und unteren Schranken von A. A besitzt ein Minimum und ein Supremum. B besitzt ein Infimum, aber kein Supremum.

106

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

Zwei Teilmengen einer geordneten Menge und ihre Suprema und Infima.

Aufgabe 2.3.3.13. Kann eine Menge mehrere Infima haben? Beispiel 2.3.3.14. Wir betrachten sowohl die Menge der reellen Zahlen als auch die Menge Q der rationalen Zahlen mit der bekannten Ordnungsrelation. Sei A = {x ∈ Q | x2 < 2}. √ 1) In R besitzt√A ein Supremum und ein Infimum, n¨amlich sup(A) = 2 und inf(A) = − 2. 2) In Q besitzt A weder Supremum noch Infimum. Aufgabe 2.3.3.15. Sei U eine beliebige Menge und P(U ) ihre Potenzmenge. Auf P(U ) betrachten wir die Relation A ⊂ B als Ordnungsrelation. Seien A, B ⊂ U . Zeigen Sie: A ∪ B = sup{A, B}. Aufgabe 2.3.3.16. Ist die folgende Aussagen richtig oder falsch? (Beweis oder Gegenbeispiel!) Sei M eine Menge mit einer Ordnungsrelation ¹, sei A ⊂ M . a) Besitzt A ein Minimum, so ist dieses zugleich das Infimum von A. b) Besitzt A ein Supremum, so ist dieses zugleich das Maximum von A. Aufgabe 2.3.3.17. Ist die folgende Aussage richtig oder falsch? (Beweis oder Gegenbeispiel!) Sei M eine Menge mit einer Ordnungsrelation ¹, und sei A ⊂ M . Besitzt die Menge der oberen Schranken von A ein Infimum, so ist dieses zugleich Supremum von A. Aufgabe 2.3.3.18. Sei M eine Menge mit einer Ordnungsrelation ¹ und A ⊂ M eine Teilmenge, welche ein Infimum besitzt. Sei x ∈ M . Zeigen Sie, dass die folgenden beiden Aussagen ¨aquivalent sind:

2.3. RELATIONEN

107

1) (∀y ∈ A) x ≤ y. 2) x ≤ inf(A).

Aufgabe 2.3.3.19. Fassen Sie noch einmal die Definitionen f¨ ur Maximum, obere Schranke und Supremum zusammen erkl¨aren Sie die Unterschiede zwischen diesen Begriffen. Was Sie jetzt k¨ onnen: Begriffe und Wissen: Maximum, Minimum, obere und untere Schranken, Supremum, Infimum. Fertigkeiten: Genaue Unterscheidung zwischen Schranken, Maxima, Suprema, und Umgang mit diesen Begriffen.

2.3.4. Analysis und die Ordnung der reellen Zahlen. ¨ Ubersicht: 1) Epsilon und Delta 2) Offene und abgeschlossene Mengen Dieser Unterabschnitt soll ein erstes Gef¨ uhl f¨ ur den Umgang mit “beliebig kleinen ²” der Analysis vermitteln. Wir werden uns in diesem Abschnitt einen Vorgeschmack auf die Denkweise der Analysis verschaffen. In diesem ganzen Abschnitt k¨onnen Sie alle Rechenregeln der reellen Zahlen voraussetzen, ebenso die bekannte Ordnungsrelation ≤ mit ihren Regeln a ≤ b ∨ b ≤ a, a ≤ b ⇒ a + c ≤ b + c, a ≤ b ∧ 0 ≤ c ⇒ ac ≤ bc, a ≤ b ∧ c ≤ 0 ⇒ bc ≤ ac. ¨ Uberdies besitzen die reellen Zahlen zum Unterschied von den rationalen Zahlen die Besonderheit, dass jede Teilmenge von R, welche eine obere Schranke besitzt, auch ein Supremum besitzt. Der Absolutbetrag einer reellen Zahl ist ( p falls p ≥ 0, |p| = −p falls p < 0. 2.3.4.1. Epsilon und Delta. Es hat sich in der Analysis eingeb¨ urgert, Zahlen, welche in Beweisen als beliebig klein angenommen werden, mit den griechischen Buchstaben δ und ² zu bezeichnen. Beispiel 2.3.4.1. Sei A ⊂ R und x ∈ R. Zeigen Sie, dass folgende Aussagen ¨aquivalent sind: 1) x = sup(A), 2) (∀y ∈ A) x ≥ y und (∀² > 0) (∃y ∈ A) x ≤ y + ².

108

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

L¨ osung: Suchphase:

Ordnungsphase: Beweis. Zeige: (1) ⇒ (2). Sei x = sup(A). Zeige: (2). Weil x nach Definition des Supremums die kleinste obere Schranke von A ist, ist insbesondere x eine obere Schranke. Das heißt, (∀y ∈ A) x ≥ y. Sei ² > 0. Zu zeigen: (∃y ∈ A) x ≤ y + ². Beweis durch Widerspruch: Annahme: (∀y ∈ A) x > y + ². Finde einen Widerspruch! Dann gilt f¨ ur alle y ∈ A: y < x − ². Damit w¨are x−² eine kleinere obere Schranke von A als x, im Widerspruch dazu, dass x die kleinste obere Schranke ist. Zeige: (2) ⇒ (1). Annahme: (∀y ∈ A) x ≥ y und (∀² > 0) (∃y ∈ A) x ≤ y + ². Zu zeigen: x ist die kleinste obere Schranke von A. Da (∀y ∈ A) x ≥ y, ist x eine obere Schranke von A. Annahme: x ist nicht die kleinste obere Schranke von A. Finde einen Widerspruch! Laut Annahme gibt es eine obere Schranke z von A, sodass ¬(x ≤ z), also x > z. Setze ² = 21 (x − z) > 0. Nach Annahme existiert ein y ∈ A mit x ≤ y + ², also y ≥ x − ². Es ist x − 2² = z eine obere Schranke von A, also muss f¨ ur alle y ∈ A gelten: y ≤ z < x − ². Widerspruch zu y ≥ x − ². ¤ Aufgabe 2.3.4.2. Formulieren Sie den analogen Satz zu Beispiel 2.3.4.1 f¨ ur das Infimum. Aufgabe 2.3.4.3. Seien A, B ⊂ R so, dass sup(A) = inf(B) existiert. Zeigen Sie: (∀² > 0) (∃a ∈ A) (∃b ∈ B) 0 ≤ b − a ≤ ².

2.3. RELATIONEN

109

2.3.4.2. Offene und abgeschlossene Mengen. Definition 2.3.4.4. Seien a, b zwei reelle Zahlen. Wir definieren die Intervalle (a, b) = {x ∈ R | a < x ∧ x < b} [a, b] = {x ∈ R | a ≤ x ∧ x ≤ b} (a, ∞) = {x ∈ R | a < x}, [a, ∞) = {x ∈ R | a ≤ x}.

offenes Intervall abgeschlossenes Intervall

(Analog definiert man auch (−∞, a) und (−∞, a].)

Definition 2.3.4.5. 1) Eine Menge U ⊂ R heißt genau dann offen, wenn zu jedem x ∈ U ein offenes Intervall (x − ², x + ²) existiert, welches zur G¨anze in U enthalten ist. 2) Eine Menge V ⊂ R heißt abgeschlossen, wenn ihr Komplement R \ V offen ist.

Aufgabe 2.3.4.6. Schreiben Sie die Definition einer offenen Menge mit Quantoren. Ist eine Menge, welche nicht offen ist, notwendigerweise abgeschlossen?

Aufgabe 2.3.4.7. Zeigen Sie: Die Menge der oberen Schranken einer Menge A ⊂ R ist immer abgeschlossen. Tipp f¨ ur die Suchphase Zeigen Sie: Das Komplement K der Menge der oberen Schranken ist offen: Sei x ∈ K. Was m¨ ussen Sie f¨ ur x zeigen? Betrachten Sie die folgende Zeichnung:

Aufgabe 2.3.4.8. Sei A ⊂ R eine abgeschlossene Menge. Zeigen Sie: Wenn A ein Supremum besitzt, so liegt dieses in A. Tipp: Sei x = sup(A). Nach Beispiel 2.3.4.1 gibt es f¨ ur jedes ² > 0 ein y ∈ A mit x − ² ≤ y. Warum kann x nicht im Komplement von A liegen?

110

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

Was Sie jetzt k¨ onnen: Begriffe und Wissen: Intervalle, offene und abgeschlossene Teilmengen von R, Umformulierung des Supremumsbegriffes in die ²Sprache der Analysis. Abgeschlossene Teilmengen enthalten ihr Supremum, falls es existiert. Fertigkeiten: Argumentieren mit “beliebig kleinen” ² > 0.

2.4. M¨ achtigkeit

¨ Ubersicht: 1) Gleichm¨achtige Mengen ¨ 2) Endlichkeit, Abz¨ahlbarkeit, Uberabz¨ ahlbarkeit

2.4.1. Gleichm¨ achtige Mengen. ¨ Ubersicht: 1) Definition der Gleichm¨achtigkeit von Mengen 2) Vererbung von Gleichm¨achtigkeit 2.4.1.1. Definition der Gleichm¨ achtigkeit von zwei Mengen. Definition 2.4.1.1. Zwei Mengen A und B heißen gleichm¨achtig (A ∼ B), wenn es eine bijektive Abbildung von A nach B gibt. Schreibweise 2.4.1.2. Das Symbol ∼ f¨ ur Gleichm¨achtigkeit kommt h¨aufig vor, es ist aber nicht genormt. Verschiedene Autoren verwenden verschiedene Symbole f¨ ur Gleichm¨achtigkeit, und ∼ kommt auch in anderen Bedeutungen in der Literatur vor.

Aufgabe 2.4.1.3. Beweisen Sie den folgenden Satz: Sind A, B, C Mengen, so ¨ gelten f¨ ur die Gleichm¨achtigkeit die Eigenschaften einer Aquivalenzrelation: A ∼ A, A ∼ B ⇐⇒ B ∼ A, A ∼ B ∧ B ∼ C ⇒ A ∼ C. Beweis. Soll in der Lehrveranstaltung erarbeitet werden.

¤

Bemerkung 2.4.1.4. Wir haben nicht behauptet: “Gleichm¨achtigkeit ist eine ¨ Aquivalenzrelation”. Sonst m¨ ussten wir eine Menge angeben, auf welcher sie eine Relation ist. Eine Menge aller Mengen kann es aber nicht geben.

¨ 2.4. MACHTIGKEIT

111

2.4.1.2. Vererbung von Gleichm¨ achtigkeit. Beispiel 2.4.1.5. Zeigen Sie den folgenden Satz: Seien A und B zwei gleichm¨achtige Mengen. Dann sind auch die Potenzmengen P(A) und P(B) gleichm¨achtig.

Beweis. Gesucht ist eine bijektive Abbildung g : P(A) → P(B). Nach Voraussetzung existiert eine bijektive Abbildung f : A → B. Wir setzen f¨ ur jede Teilmenge X ⊂ A: g(X) := f (X) = {f (x) | x ∈ X}. Offensichtlich bildet g die Potenzmenge P(A) nach P(B) ab. Zu zeigen bleibt, dass g bijektiv ist. Beweis der Injektivit¨at: Seien X, Y ⊂ A mit g(X) = g(Y ). Zu zeigen ist X = Y . Sei x ∈ X, dann ist f (x) ∈ g(X) also f (x) ∈ g(Y ). Nach Definition von g gibt es demnach ein y ∈ Y mit f (y) = f (x). Wegen der Injektivit¨at von f folgt daraus x = y, also gilt x ∈ Y . Wir haben gezeigt: X ⊂ Y . Ebenso zeigt man Y ⊂ X. Beweis der Surjektivit¨at: Sei Z ⊂ B. Zu finden ist ein X ⊂ A so, dass g(X) = Z. Setze X = f −1 (Z). Ist z ∈ g(X), so gibt es ein x ∈ X mit f (x) = z. Weil X = f −1 (Z), folgt z = f (x) ∈ Z. Daher ist g(X) ⊂ Z. Ist z ∈ Z, so ist x = f −1 (z) ∈ X, und daher z = f (x) ∈ g(X). Also ist Z ⊂ g(X). ¤

Aufgabe 2.4.1.6. 1) Zeigen Sie durch ein Gegenbeispiel, dass die folgende Behauptung nicht immer gilt: Seien A1 , A2 , B1 , B2 Mengen, mit A1 ∼ A2 und B1 ∼ B2 . Dann gilt: A1 ∪ B1 ∼ A2 ∪ B2 . 2) Geben Sie eine Zusatzbedingung an A1 , A2 , B1 , B2 an, unter der die Behauptung immer gilt.

Aufgabe 2.4.1.7. Seien A, B, C Mengen. Mit F(A, C) bezeichnen wir die Menge aller Abbildungen von A nach C, analog definieren wir F(B, C). Mit U bezeichnen wir in dieser Aufgabe die Menge {1}. Zeigen Sie 1) Sind A und B gleichm¨achtig, und ist C eine beliebige Menge, so gilt auch F(A, C) ∼ F(B, C). 2) Sind A und B gleichm¨achtig, und ist C eine beliebige Menge, so gilt auch F(C, A) ∼ F(C, B) 3) F(U, A) ∼ A. 4) F(A, U ) ∼ P(A).

Was Sie jetzt k¨ onnen: Wissen und Begriffe: Gleichm¨achtigkeit Fertigkeiten: Beweise f¨ ur Gleichm¨achtigkeit durch Konstruktion bijektiver Abbildungen.

112

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

¨ 2.4.2. Endlichkeit, Abz¨ ahlbarkeit, Uberabz ahlbarkeit. ¨ ¨ Ubersicht: 1) 2) 3)

¨ Definition von Endlichkeit, Abz¨ahlbarkeit, Uberabz¨ ahlbarkeit Abz¨ahlbare Mengen ¨ Uberabz¨ ahlbarkeit der Menge der reellen Zahlen

¨ 2.4.2.1. Definition von Endlichkeit, Abz¨ ahlbarkeit, Uberabz¨ ahlbarkeit. Definition 2.4.2.1. Sei M eine Menge. 1) M heißt endlich genau dann, wenn M = ∅ oder wenn ein n ∈ N existiert, sodass M gleichm¨achtig wie {1, 2, · · · , n} ist. In diesem Fall heißt n die M¨achtigkeit von M : card(M ) := n. Wir definieren auch card(∅) := 0. 2) M heißt abz¨ahlbar unendlich genau dann, wenn M gleichm¨achtig wie N ist. In diesem Fall schreiben wir: card(M ) = ℵ0 (hebr¨aisch: aleph). 3) Ist M endlich oder abz¨ahlbar unendlich, so heißt M abz¨ahlbar. Andernfalls heißt M u ¨berabz¨ahlbar. Schreibweise 2.4.2.2. Andere Schreibweisen f¨ ur die M¨achtigkeit: #M , |M |. Bemerkung 2.4.2.3. Die Suche nach exakten Definitionen f¨ ur die M¨achtigkeit u uhrt auf ein sehr raffiniertes Kapitel der Mengenlehre, ¨berabz¨ahlbarer Mengen f¨ die Theorie der Ordinal- und Kardinalzahlen. 2.4.2.2. Abz¨ ahlbare Mengen. Obwohl N eine echte Teilmenge von Z ist, und diese wieder eine echte Teilmenge von Q ist, sind alle drei Mengen gleichm¨achtig: Satz 2.4.2.4. Die Mengen N und Z sind gleichm¨ achtig, anders ausgedr¨ uckt, Z ist abz¨ ahlbar unendlich. Beweis. Die folgende Abbildung f : N → Z ist bijektiv: ( n−1 falls n ungerade, 2 f (n) := n − 2 falls n gerade. ¤ Satz 2.4.2.5. Die Vereinigung endlich vieler abz¨ ahlbarer Mengen ist abz¨ ahlbar. Der Beweis ist eine einfache Modifikation des Beweises von Satz 2.4.2.4. Wir werden sp¨ater diesen Satz noch versch¨arfen k¨onnen. Satz 2.4.2.6. Die Menge der rationalen Zahlen ist abz¨ ahlbar unendlich. Beweis. Wir geben nur eine Beweisskizze. (“Erstes Cantorsches Diagonalverfahren”). Sei Q+ die Menge der positiven rationalen Zahlen. Wir ordnen Q+ in einem Rechteckschema an, mit aufsteigenden Z¨ahlern in waagrechter Richtung und aufsteigenden Nennern in senkrechter Richtung. Damit werden alle gek¨ urzten und auch alle ungek¨ urzten Br¨ uche aufgez¨ahlt.

¨ 2.4. MACHTIGKEIT

113

Zur Abz¨ahlbarkeit von Q

Die Pfeile deuten die Abz¨ahlvorschrift g : N → Q+ an. Ungek¨ urzte Br¨ uche im Rechteckschema werden u ¨bersprungen (damit g injektiv wird): g(1) = 1/1, g(2) = 2/1, g(3) = 1/2, g(4) = 3/1, g(5) = 1/3, g(6) = 4/1, .. . Man sieht leicht: g : N → Q+ ist bijektiv. Damit ist Q+ abz¨ahlbar. Da eine bijektive Abbildung f (x) = −x die Menge Q+ auf die Menge Q− der negativen rationalen Zahlen abbildet, ist auch Q− abz¨ahlbar. Letztlich ist Q = Q+ ∪ Q− ∪ {0} die Vereinigung von endlich vielen abz¨ahlbaren Mengen, und nach Satz 2.4.2.5 ebenfalls abz¨ahlbar. ¤

Satz 2.4.2.7. Es gilt: 1) Die Vereinigung von abz¨ ahlbar vielen abz¨ ahlbar unendlichen Mengen ist abz¨ ahlbar. 2) Die Produktmenge zweier abz¨ ahlbar unendlicher Mengen ist abz¨ ahlbar. ¨ Beweis. Beweis als Ubung! Tipp: Versuchen Sie, das erste Diagonalverfahren zu modifizieren.

¤

114

2. MENGEN, RELATIONEN, ABBILDUNGEN

¨ 2.4.2.3. Uberabz¨ ahlbarkeit der Menge der reellen Zahlen. Satz 2.4.2.8. Das Intervall [0, 1] in den reellen Zahlen ist nicht abz¨ ahlbar. Beweis. Wir geben wieder nur eine Beweisskizze. (“Zweites Cantorsches Diagonalverfahren.”) Beweis durch Widerspruch. Angenommen, es g¨abe eine bijektive Abbildung g : N → [0, 1]. Wir verwenden die Dezimaldarstellungen der rellen Zahlen g(i): ∞ X g(i) = ai,k 10−k , k=1

mit ai,k ∈ {0, 1, · · · , 9}. Diese Dezimaldarstellung ist bekanntlich eindeutig, ausser dass Neunerperioden durch Nullerperioden ersetzt werden k¨onnen: ∞ X 9 · 10−k = 10−k0 +1 . k=k0

Wir definieren nun f : {0 · · · 9} → {0 · · · 9} folgendermaßen: ( 5 falls x 6= 5, f (x) := . 4 falls x = 5. Betrachten wir nun die reelle Zahl u=

∞ X

f (ai,i )10−i .

i=1

Das folgende Schema zeigt die Dezimaldarstellungen der ersten g(i) untereinander, und ganz unten die Dezimaldarstellung von u.

¨ Zur Uberabz¨ ahlbarkeit von R. Weil u ∈ [0, 1], und g surjektiv ist, muss u = g(i) f¨ ur ein i sein. Da die Dezimaldarstellung von u nur die Ziffern 4 und 5 enth¨alt, hat u eine eindeutige Dezimaldarstellung. Daher muss die Dezimaldarstellung von g(i) mit der Dezimaldarstellung von u u ¨bereinstimmen. Aber an der i-ten Stelle der Darstellung von g(i) steht ai,i , an der entsprechenden Stelle der Dezimaldarstellung von u steht f (ai,i ) 6= ai,i . Widerspruch! ¤ Was Sie jetzt k¨ onnen: ¨ Begriffe und Wissen: Endlichkeit, Abz¨ahlbarkeit und Uberabz¨ ahlbarkeit. Vereinigung abz¨ahlbar vieler abz¨ahlbarer Mengen ist abz¨ahlbar, N, Z, Q sind abz¨ahlbar, aber R ist u ¨ berabz¨ahlbar.