Giovanni Boccaccio in Europa

Elektronischer Sonderdruck aus: Giovanni Boccaccio in Europa Studien zu seiner Rezeption in Spätmittelalter und Früher Neuzeit Herausgegeben von Ach...
Author: Jakob Bergmann
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Elektronischer Sonderdruck aus:

Giovanni Boccaccio in Europa Studien zu seiner Rezeption in Spätmittelalter und Früher Neuzeit

Herausgegeben von Achim Aurnhammer und Rainer Stillers

(Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, Bd. 31) ISBN: 978-3-447-10018-2

Harrassowitz Verlag · Wiesbaden 2014 in Kommission

Vorträge gehalten anlässlich der Jahrestagung des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Renaissanceforschung in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 10. bis zum 12. Oktober 2011

Motiv auf dem Umschlag: Le livre de Jehan Boccace des cas des nobles hommes et femmes, 1458. München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. Gall. 6, fol. 122v: Boccaccio in seiner Studierstube. Copyright: BSB München, s. S. 231 mit Abb. 1 im Beitrag Zanucchi und S. 396, Farbabb. 4.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.dnb.de. www.harrassowitz-verlag.de © Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2014 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Bibliothek unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier. Druck: Bookfactory, Bad Münder Printed in Germany ISBN 978-3-447-10018-2 ISSN 0724-956X

Inhalt Achim Aurnhammer /Rainer Stillers Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Italien Winfried Wehle Im Purgatorium des Lebens Boccaccios Projekt einer narrativen Anthropologie  . . . . . . . . . . . . . . 19

Frankreich Margarete Zimmermann Christine de Pizan als Leserin von Boccaccio Formen des Kulturtransfers zwischen Frankreich und Italien  . . . . . . . 45 Sebastian Neumeister Zur Boccaccio-Rezeption in Frankreich (15. bis 17. Jahrhundert)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Christian Rivoletti Boccaccio und die französische Novellistik der Renaissance: contamination und Originalität in den Contes en vers von La Fontaine  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Spanien Hans-Jörg Neuschäfer Von der novella zur novela : Cervantes und die frühneuzeitliche Boccaccio-Rezeption in Spanien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Georges Güntert Novellentheorie bei Boccaccio und Cervantes: Ein Vergleich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

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Inhalt

Deutschland Christa Bertelsmeier-Kierst Zur Rezeption des lateinischen und volkssprachlichen Boccaccio im deutschen Frühhumanismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Nikolaus Henkel Boccaccio, Decamerone IV 1 in der lateinischen Versfassung des Filippo Beroaldo Mit einer Edition des Texts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Nikolaus Henkel Giovanni Boccaccio und Hans Sachs Gattungen als Wirkungsräume städtischer Literatur im 16. Jahrhundert  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Achim Aurnhammer Boccaccios „Questioni d’amore“ in Johann Valentin Andreaes Chymischer Hochzeit (1616)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Mario Zanucchi FVrnemmste Historien vnd exempel von widerwertigem Glück Hieronymus Zieglers frühneuhochdeutsche Übersetzung von Boccaccios De casibus virorum illustrium  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Großbritannien Wolfram R. Keller Chaucer und Boccaccio: Literarische Autorschaft zwischen Mittelalter und Moderne  . . . . . . . 261 Jan Söffner Die Kunst, Novellen in die Welt zu setzen Zur Fiktionalität in Boccaccios Decameron und Chaucers Canterbury Tales  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

Inhalt

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Schwesterkünste Franco Piperno Boccaccio in der Musik des 16. Jahrhunderts Zur Wirkungsgeschichte der Decameron-Balladen  . . . . . . . . . . . . . . . 297 Bettina Uppenkamp Überlegungen zur Rezeption und Transformation des Decameron in der italienischen Hochzeitsmalerei des späten 14. und des 15. Jahrhunderts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Bodo Guthmüller „M’invogliai sempre più a rinnovar la Griselda“ Vom Libretto zur Tragikomödie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Italienische Abstracts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Farbtafeln  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Autorenviten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Register  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Bildnachweis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

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Im Purgatorium des Lebens Boccaccios Projekt einer narrativen Anthropologie Klassiker, soviel ließe sich zwanglos sagen, sind geblieben, weil sie etwas bleibend verändert haben. Als eine ihrer Wirkungen darf gelten, dass sie zu vielfältigen Anziehungen und Abstoßungen Anlass geben. Ihr Name ist dadurch zum Begriff geworden: Boccaccio. Über 300 Jahre lang lassen sich die Spuren seines Decameron auf dem Diskursfeld des Erzählens nachverfolgen.1 Gelesen, bedacht, gedeutet wird es bis heute. Worin besteht die Faszination dieses Werkes? Gewiss, die berühmt-berüchtigten Geschichten. Doch die Sprichwortnovellen von Antonio Cornazzano2 hätten in dieser Hinsicht ungleich mehr zu bieten. Sie haben dennoch nie die Bedeutung des Decameron erlangt. Sein klassischer Mehrwert wird mithin woanders generiert: Buch und Autor sind zu großen Wegbereitern einer literarischen Anthropologie geworden. Selbst wo sie nur epigonal berufen, als Schutzbehauptung benutzt oder zweit- bzw. drittverwertet werden – ohne dass sie der Frage nach dem Menschen einen neuen Horizont eröffnet hätten, wäre dieser Welterfolg nicht möglich gewesen. Boccaccios Neuansatz verdankt sich seinerseits allerdings einer epochemachenden Anknüpfung und Abwendung. Wie auch für Petrarca ist der Parnass ihrer Zeit mit Dantes unvergleichlicher Divina Commedia besetzt. An ihr mussten sich ihre Ambitionen entzünden  – und scheiden. Weder literarisch, noch ideologisch ließen sich Gott und die Welt, theologische Glaubenswahrheiten und menschliches Eigenwissen noch einmal so ganzheitlich ineinander abbilden, wie hier. Die Göttliche Komödie war deshalb weder nachzuahmen, noch zu überbieten. Mehr noch: was geschieht, wenn sich jemandem Dantes robuste Gläubigkeit, d. h. seine erkenntnistheoretische Gewissheit in ein ungedecktes Bedürfnis verwandelt? Irdischer Aufenthalt und überirdische Heimat treten dann auseinander. Gott wird ferner und fremder. Die Nachfahren Adams sehen sich dadurch herausgefordert, sich ungleich mehr auf die miseria hominis einzulassen und sich mit provi1 Giovanni Boccaccio: Tutte le opere, hrsg. von Vittore Branca, 10 Bde., 1964 –1998, hier Bd. 4: Decameron, Mailand 1976.  – Zitate nach dieser Ausgabe in Klammern (Seite/ Satznr.). 2 Sprichwortnovellen, übers. von Albert Wesselski, Hanau 1967.

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sorischen Lebensentwürfen zu behelfen. Was aber stünde ihnen dabei näher als ihre eigene Natur? Immerhin: als göttliche Schöpfung müsste auch in ihr noch ein Sinn für den Schöpfer verborgen sein. Dies ist das Szenarium des Problems, das maßgeblich die Auseinandersetzung Petrarcas und Boccaccios mit Dante bestimmt. Doch wie endet das fiktive Streitgespräch zwischen Franziskus und Augustinus, das Petrarca im Secretum aufführt? Der Kirchenvater hatte ihm den Weg der Sinnenferne als Annäherung an die göttliche Vernunft gewiesen. Am Ende war alle Mahnrede umsonst: Franziskus kann die Stimme der Leidenschaft nicht zum Schweigen bringen;3 genauso wenig wie im Canzoniere. Im vorletzten Gedicht (365) ruft das lyrische Ich gar den Herrn des Himmels an. Doch der Unsichtbare antwortet nicht, wie auch die ‚Veritas‘ im Secretum vielsagend geschwiegen hatte. Selbst das Wort der letzten Stunde, die Kanzone an Maria (366), bleibt ohne Echo: die Sprache des Ich vermag sie nicht – mehr – zu erreichen.4 Nicht anders bei Boccaccio. Der Einbruch der Pest zerrüttet nicht nur alle kulturellen Ordnungen. In letzter Konsequenz macht sie einen erschütternden theoretischen Notstand offenbar: mit keinem der vorhandenen Deutungsangebote von Mensch und Welt ließ sich ihr ein Sinn abgewinnen. Unterschiedslos rafft sie alle hin. War das mit einem gerechten, selbst einem sühnenden Gott noch zu vereinbaren? Den Betroffenen droht erschreckende Verhältnislosigkeit; sie waren sich selbst überlassen. Worauf sie sich dabei gefasst zu machen hatten – darüber bestanden seit dem Sündenfall keine Zweifel. Er hatte den Menschen, für sich genommen, zu einer Anthropologie des Fehlverhaltens verurteilt. In diesem Punkt waren sich Dante, Petrarca und Boccaccio geradezu systemhaft einig. Als Ursache aller Übel und Nöte war der herrische Anarchist dieser menschlichen Natur ausgemacht, das Triebvermögen, der Bauch, die anima vegetativa.5 Wo ihr libidinöses Begehren freigesetzt wird, überrennt es alle Tugendschranken 3 Francesco Petrarca: Secretum meum. Lat.‑dt., hrsg. von Gerhard Regn und Bernhard Huss, excerpta classica XXI, Mainz 2004, S. 399: „Aber ich kann mein Verlangen nicht zügeln.“ 4 Francesco Petrarca: Canzoniere, hrsg. u. komm. von Marco Santagata, I Meridiani, Mailand 1996, S. 1397. 5 Die Lehrmeinung dieser anima triplex baut auf dem vielfach kommentierten De anima des Aristoteles auf (Über die Seele. Griech./dt., hrsg., übers. u. komm. von Horst Seidl, Philosophische Bibliothek 476, Hamburg 1995). Sie wurde aber seit der Patristik christianisiert, u. a. von der einflussreichen Schrift De spiritu et anima (Leo Norpoth: Der pseudo-aristotelische Traktat: De spiritu et anima, Ansbach 1971 [1924]). Autorität des Hoch- und Spätmittelalters waren die Bekenntnisse des Augustines (Bücher XI – XIII) sowie Thomas von Aquin: In Aristotelis librum de anima commentarium (dt.: Die Seele – Erklärungen zu den drei Büchern des Aristoteles „Über die Seele“, übers. u. eingel. von Alois Mager, Heusenstamm 2012 [1937]). Darin die (deutsche) Begriffseinteilung in Pflanzenseele (für „anima vegetativa“), Empfindungsseele (für „anima sensitiva“) und Denkseele

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und macht den Menschen animalisch und lasterhaft. Im Umkehrschluss hieß dies, diese Unnatur religiös, kulturell und zivilisatorisch aus dem Begriff des Menschen zu verbannen. Das Lob der Tugend entsprang dabei, zumal literarisch, allerdings häufig genug einem (lustvollen) Tadel der Untugend. Sie völlig zu leugnen, dagegen sprachen zwingende anthropologische Gründe. Nicht umsonst identifiziert Dante im letzten Vers der Göttlichen Komödie „amor“ als das Movens schlechthin, das die Welt in ihrem Innersten zusammenhält.6 Und erst der Durchgang durch dessen vegetative Kehrseiten in der Hölle macht dem Jenseitswanderer – negativ – klar, worin der tiefste und zugleich höchste Beweggrund des Menschen liegt. Hinter dieser Denkbewegung vom Dunklen zum Licht steht eine brisante Erkenntnistheorie. Sie hat in den Divinae Institutiones des Kirchenvaters Laktanz einen höchst aufschlussreichen Anwalt gefunden. In Buch 6.3 hatte er erklärt, dass sich Tugend und Laster „wechselseitig immer bekämpfen müssen“. Das Gute lasse sich deshalb stets nur im Bewusstsein des Unguten wahrhaft erfassen. Der Irrweg durch die Leidenschaften ist mithin erkenntnis- und zeichentheoretisch eine Notwendigkeit („ordo conversus“), ‚göttliche Institution‘.7 Wildes, ungezügeltes Begehren, die „fera voglia“ (Canz. 23,3) war, mit dieser Begründung, auch der tiefste Beweggrund für den Autor des Canzoniere. So allherrschend tritt es auf, dass das Ich selbst hinter Laura, seiner Minneheiligen, das Bild der nackten Venus aufsteigen sah und alle seine Vorstellungen grundierte (Abb. 1). Erst recht gilt dies für Boccaccio. Das „lodernde, ja vernichtende Feuer“ seiner ungezügelten „appetiti“, seines Leidenschaftsvermögens also, habe ihn, gleichsam apotropäisch, zur Autorschaft seines Decameron bewogen (Proemio; 3,3). Seine individuelle Betroffenheit gilt jedoch zugleich für alle. Was bewirkt die Pest anderes als die Triebnatur – die „appetiti“, auch hier – gesellschaftsweit zu entsperren und ihre „bestialità“ freizusetzen? Deshalb, versichert der ‚Autor‘, habe er mit zwingender Notwendigkeit, eben im Sinne von Laktanz, diesen Weg beschreiten müssen (Dec. I Intr.; 9,7). Im Hinblick auf eine Systemgestalt des Menschen ist die anima vegetativa deshalb einerseits biotisch unverzichtbar, moralisch andererseits unannehmbar, wenn sie sich ungehemmt ausleben kann. Wohl bildet sie den Grund, aus dem Leben kommt, ist menschliche Naturenergie; aber doch nur lebenswert, wenn sie kulturell gebunden wird. Ein kühnes, neuzeitli(für „anima intellectiva“). Vgl. darüber hinaus dessen Quaestiones de anima, hrsg. von J. H. Robb, Toronto 1968. 6 Dante Alighieri: La Commedia / Die Göttliche Komödie, 3 Bde., ital.‑dt. von Hartmut Köhler, Reclam Bibliothek, Stuttgart 2010 – 2012, Par. XXXIII,145. 7 Zitiert nach: Laktanz: Divinae Institutiones (lat.‑dt.), in: Wolfram Winger: Personalität durch Humanität. Das ethikgeschichtliche Profil christlicher Handlungslehre bei Lak­ tanz, Frankfurt a. M. 1999, S. 93 – 251, hier bes. S. 187 ff.

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Abb. 1: Illustration aus Giacomo Filippo Tomasini, Petrarca redivivus, 1650 (Bibliotheca Petrarchesca Reiner Speck), Laura als badende Venus (Canz. 23, 147 ff.)

ches Menschenbild nimmt erste Umrisse an: Kultur kann erst durch Natur wirklich human werden. Wie dieser Gegensatzzusammenhang jedoch gelingen würde – dies führt Petrarca und Boccaccio gewissermaßen epochal über Dante hinaus. Dieser hatte die Laster der Sinnlichkeit autoritativ in die Schranken von Hölle und Purgatorium gewiesen. Offenbar war ihm das Heil eines himmlischen Paradieses noch unverbrüchlich. Nimmt diese Gewissheit jedoch ab – das produktive Problem Petrarcas und Boccaccios –, dann muss die Frage nach dem Menschen neu aufgeworfen und begründet werden. * Beide haben dabei von einer grundlegend anderen anthropologischen Konstellation auszugehen als Dante. Sich der Kreatürlichkeit zu überlassen, führt, geistig gesehen, in die Uneigentlichkeit. Sich ganz zu vergeistigen aber macht anfällig für Glaubenszweifel und Selbstverlust. Das gelebte Leben hat sich mithin zwischen diesen beiden unabsehbaren Horizonten ein-

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zurichten. Auch Dante hatte einen Zwischenraum angesetzt: das Purgatorium. Es ist zwar jenseitig, kommt menschlicher Realität aber am nächsten. Doch dort herrscht weithin tatenlose Zuversicht, es ist ein Ort des Wartens, erfüllt von Buße, Reue und Bitten, gedankliche und ästhetische Erhellung der getrübten Gesinnung, zu der der blinde Amor verführt. Er ist es, der im Körper herrscht; sein Himmel ist diesseitige Bedürfniserfüllung. Das wahre Purgatorium findet deshalb in der Lebenswelt selbst statt. Hier wird effektiv der Streit zwischen Leib und Seele ausgetragen. Wäre dann aber eine recht verstandene ars bene vivendi nicht die geeignete Vorschule für jenseitige Pflichtübungen? In den Dienst dieser Frage hat Boccaccio seine menschliche Komödie gestellt. Auch Petrarca war ihr im Canzoniere nachgegangen, allerdings subjektiv, auf sein Ich bezogen. Boccaccio hingegen untersucht die zwischenmenschlichen Beziehungen. Anthropologisch gewendet: wie lassen sich die appetiti der anima vegetativa so vergemeinschaften, dass sie den Ansprüchen des Herzens, der anima sensitiva, dem Empfindungsvermögen und seinem Grundinteresse, der Mitmenschlichkeit („compassione“) dienen, wie es über dem Eingang des Decameron geschrieben steht (Proemio; 3,2)? Nicht minder programmatisch war es jedoch, dass er diese ethische Untersuchung der Literatur anvertraute – nicht nur ein massiver Verstoß gegen das Gebot der reductio artium ad theologiam, sondern auch gegen die Vorverurteilung alles Literarischen als lügnerisch.8 Was dies bedeutet, ließ sich am Schicksal der Divina Commedia ablesen: sie wurde sofort von den damaligen Diskursherren, den Dominikanern, bis 1342 auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Dante hatte es gewagt, höchste theologische Wahrheiten statt in der Fachsprache Latein in leibnaher Volkssprache und überdies in Gestalt lügnerischer Dichtung zu verhandeln. Boccaccio aber hat Dantes episches Niveau noch einmal beträchtlich unterschritten, als er ein sprachliches Kunstwerk nicht nur in volgare, sondern darüber hinaus noch in Prosa verfasste. Dies verstieß gegen alle damaligen literarischen Standards. Ihr erster Ausweis war Verssprache. Ungebundene Prosa musste deshalb als kunstlos erscheinen. Sie stand unbehandelter Alltagsrede und mündlichem Erzählen ungleich näher als selbst unteren Stilregistern der Rhetorik oder der Rota Vergilii. Dafür schienen nicht zuletzt die lizenziösen Geschichten zu zeugen. Doch positiv gewendet: das Decameron hat dadurch, jenseits von rhetorisch, poetisch und moraldidaktisch gesicherten Diskursgebieten, nichts weniger als literarisches Neuland erschlossen. Dort ist, anthropologisch gesehen, die formale Autorität der anima intellectiva einschränkt. Entsprechend mehr Ausdrucksrechte räumt es der anima vegetativa ein. Deshalb auch hat der 8 Vgl. Gioacchino Paparelli: Fictio. La definizione dantesca della poesia, in: Filologia Romanza VII/1960, S. 1– 83.

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Autor die Gattungsfrage offen gelassen und nicht zwischen „novelle, o favole o parabole o istorie“ unterschieden (Proemio; 5,13). Zum Zeichen dafür auch hat er Dioneo, „il lussurioso“ (Dec. I Intr.; 25,79)9, von allen Erzählregeln ausgenommen und ihn damit demonstrativ als Dio/neo dieser unautorisierten Narratologie ausgezeichnet. Weder der Aristotelismus, noch Reformation und Gegenreformation vermochten deren Nonkonformismus ernsthaft wieder in ihren Rigorismus zurückzuholen. Ist es aber nicht gerade diesem rhetorisch, stilistisch, generisch ungebundenen Erzählen zuzuschreiben, dass so viele Spätere solange am Decameron Maß genommen haben? Dies darf selbst dort angenommen werden, wo Boccaccio nicht genannt ist. Sein Meisterwerk hat der literarischen Prosa ein Modell verliehen, auf das man sich autoritativ berufen konnte. Doch würde dies schon ausgereicht haben, um seinen anhaltenden Erfolg zu erklären? Das öffentliche Wort, das literarische zumal, hatte sich noch für lange Zeit ungleich weniger von seiner Ästhetik als von seinem Nutzen her zu legitimieren. Im Hinblick darauf spricht vieles dafür, dass Boccaccio seinen narrativen Außenseiter auf einen Begründungszusammenhang zu verpflichten wusste, der ihn vor allem anderen zu einem Musterautor machte: die Humoralpathologie.10 Sie darf als die damals umfassendste Theorie vom Menschen gelten. In ihrem ganzheitlichen Verständnis bilden Leib und Seele, Geist und Materie ein Kontinuum; sie verkehren in der Art einer psychophysischen Hermeneutik miteinander. Dass sie in der Regel ins medizinische Fach fällt, sollte nicht täuschen. Ihr Aufbau von den vier Elementen11 über die vier Temperamente, vier Lebensalter, Jahreszeiten und Tierkreiszeichen versucht sich an so etwas wie der Quadratur des Lebenskreises.12 Auf dieses Erklärungsschema ließen sich so gut wie alle Fragen zurückführen, die das Bild des Menschen vom Menschen her erschließen.

  9 Wegen seiner mythologischen Zuordnung zu Venus vgl. den Kommentar von Branca: Decameron (s. Anm. 1), S. 997. 10 Vgl. etwa Erich Schöner: Das Viererschema der antiken Humoralpathologie, Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Beih. 4, Wiesbaden 1964. 11 Man darf unterstellen, dass der gelehrte Boccaccio dabei auch intensiv die Metamorphosen des Ovid verarbeitet hat, wo in Buch XV, 235 ff. die antike Elementarlehre der natura naturans und ihr – empedokleisches – Prinzip des ‚Stirb und Werde‘ referiert wird: „Vier Grundstoffe enthält die ewige Welt [Erde, Wasser, Luft, Feuer]. […] Alles entsteht aus ihnen, und alles fällt in sie zurück.“ Vgl. P. Ovidius Naso: Metamorphosen lat.‑dt., übers. u. hrsg. von Michael von Albrecht, Reihe Reclam, Stuttgart 1994, S. 807 f. 12 Ein hochentwickeltes, integriertes Schema nach dem Deckengemälde im Privatgemach von Francesco I. de Medici im Palazzo Vecchio in Florenz aus dem Jahre 1570 haben Gernot und Hartmut Böhme angelegt. Vgl. dies.: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, beck’sche reihe, München 2010, S. 14 f.

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Schon die pseudoaristotelischen Problemata (3. Jh. v. Chr.)13 erklären Dichtung und Dichter zu ihren Wahrnehmungsberechtigten. Deren humoralpathologisches Spezialgebiet ist melancholische Komplexion.14 Sie macht, wie es ein berühmter Vers von Petrarca sagt, „solo e pensoso“ (Canz. 35,1). Wer von ihr befallen wird, leidet an einer Entzweiung mit sich und der Welt. Doch sein Krankheitsbild schärft den Blick für alles Unstimmige, Unwahre, Ungute. Dadurch aber macht diese negative Erkenntnis zugleich empfänglich für gegenläufige Vorstellungen, wie es anders, idealiter wäre.15 Solche Wahnbilder vermögen deshalb, im Umkehrschluss, das Wörterbuch der Phantasie zu öffnen, mit dem sich Wunschgebilde aller Art formulieren lassen. Sie aber gehorchen ungleich mehr dem Begehren, der alternativen Vernunft der anima vegetativa und sind insofern der natürliche Nährboden für  – literarische  – Fiktionen. Zumal einer Erzählprosa ohne feste Gattungsbindung bot die Melancholielehre daher eine geradezu medizinische Indikation. In ihrem Licht kann sie sich sogar doppelt inspiriert sehen: als Diagnose und  Therapie melancholischer Schadensfälle. Bestimmt sie nicht ohnehin das Bild des Christenmenschen, der im Sündenfall aus seiner paradiesischen Urheimat vertrieben wurde und nun, im Tal der Tränen, diese unheilvolle Entzweiung auszuarbeiten hat? Knapp, präzise und dezidiert unterstellt Boccaccio seine Erzählabsicht dieser Lehre. „Noia“ (Proemio; 3,3), Schwermut habe der Autor selbst erlitten – die Kehrseite erfüllten Liebesglücks, wie überhaupt Amor der erste unter den Agenten ist, die Melancholie erzeugen – und beheben können. Deshalb auch kann der Erzähler die „malinconia“ (Proemio; 4,11) der jungen, überbehüteten Damen so gut verstehen, denen er galant sein Buch widmet. Ein „noioso principio“ (Dec. I Intr.; 9,2) insgesamt, die Pest, motiviert sein Schreiben. Die schwarze Galle („dolore e noia“; Dec. I Intr.; 23,70) würde alle, wenn sie nicht fliehen, dem leiblichen und seelischen Tod weihen. Die meisten der hundert Geschichten legen im Übrigen ihren Konflikt unmittelbar nach den Symptomen der Melancholie an. So umfassend wie Boccaccio sie anwendet, gibt er auf seine Weise zu erkennen, welch grundlegende anthropologische Kompetenz ihr zusteht. Die

13 Pseudo-Aristoteles: Problemata physica, übers. u. komm. von Hellmut Flashar, Darm­ stadt 1962; ders.: Melancholie und Melancholiker in den medizinischen Theorien der Antike, Berlin 1964. 14 Raymond Klibansky, Erich Panofsky und Fritz Saxl: Saturn und Melancholie, Frankfurt a. M. 1990 [1964]; Jean Starobinski: Histoire du traitement de la mélancolie des origines à 1900, Documenta Geigy, Acta psychosomatica 4, Basel 1960; Hubert Tellenbach: Melancholie. Zur Problemgeschichte, Typologie, Pathogenese und Klinik, Berlin, Göttingen und Heidelberg 1961. 15 Dazu Julia Kristeva: Soleil noir. Dépression et mélancolie, Paris 1987.

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Pest hatte auf der einen Seite einen geradezu kosmischen Notstand aufgedeckt: als Naturkatastrophe war sie einem göttlichen Ratschluss bündig nicht mehr zuzurechnen. Sie ließ vielmehr auf ein numinoses Schicksal schließen, das am Menschen kein Interesse hat. Liefern überdies die unteren Verhältnisse des Lebens nicht einen ständigen Beweis dafür, dass jedem jederzeit etwas zustoßen kann? In dieser Unvorhersehbarkeit herrscht deshalb das ‚okkulte‘ Urteil (148,4) einer innerweltlichen Gottheit, die keinen Ordnungssinn anerkennt: Fortuna (Proemio; 5,13). Wie oft haben Boccaccio und seine Nachfahren gerade sie zum Gegenstand ihrer Fallstudien gemacht. Melancholisch gefährdet sieht sich die menschliche Natur nicht zuletzt, weil sie prinzipiell bedürftig ist: wann würde das Begehren jemals definitiv an ein wunschloses Ende kommen. Und auf höherer, philosophisch-theologischer Ebene korrespondierte Melancholie schon damals mit dem heftig verhandelten Begriff der Kontingenz. Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Duns Scotus, Wilhelm von Ockham etwa hatten sich mit ihr auseinandergesetzt und gefragt, wie die damit gemeinte Unvollkommenheit im Namen eines vollkommenen Gottes auszuräumen wäre.16 Denn das war das eigentliche Ärgernis: dass die anima vegetativa zu Gedanken, Worten und Werken anstiftet, die sich in ihrem kreatürlichen Eigensinn über alle eingeführten Vernunftgründe hinwegsetzen – beliebtes Beispiel: die unzüchtigen Geistlichen. Dante hatte die tierischen Lustmomente luxuria, superbia und cupiditas (Inf. I, 44 – 60) als ihr höllisches Dreigestirn verdammt. Boccaccio hingegen wird gerade Schule machen, weil er ihre Verwilderung des Denkens und Handelns als Realität des Lebens akzeptierte und sie weithin sichtbar auf die literarische Bühne des Decameron brachte. Für alle Verständigen („intendente persona“; Conclusione ; 960,4) konnte er sich dafür wissenschaftlich, mit Berufung eben auf die Humoralpathologie rechtfertigen. Wie sehr dies nachwirkte, veranschaulicht etwa Laurens de Premierfaict, der erste französische Übersetzer des Decameron (1414).17 Sein umfangreiches Vorwort ist eines der frühesten Zeugnisse eines französischen Humanismus. Dort legt er mit bemerkenswerter Gelehrsamkeit Boccaccios medizinisches Fundament auseinander. Selbst einfachste Sammlungen werden hier anknüpfen und sich unter seine Autorität stellen, nicht selten als Schutzbehauptung. 16 Vgl. Art. „Kontingenz“, in: J. Ritter u. a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, Sp. 1027 ff. 17 Des cent nouvelles / translaté de latin en françoys / par maistre Laurens de Premierfaict / a Paris 1414 (BNF fonds français 129, „Prologue“ fol. 743 ff.). Zur weiteren Adaptation Boccaccios in Frankreich vgl. Winfried Wehle: Novellenerzählen. Französische (und italienische) Renaissancenovellistik als Diskurs, München ²1984.

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Dessen wirklicher Erfolgsgarant aber war – mehr noch als seine melancholische Inszenierung  – die entsprechende therapeutische Gegenindikation. Die Temperamentenlehre kennt den Melancholicus als jemanden, dessen Gemüt verhärtet ist wie das Element Erde, winterlich erkaltet, trocken wie der Nordwind. Eine symptomatische Vereinseitigung hat ihn befallen, die ihn in einen Zustand disharmonischer Hemmung versetzt. Acidia, Heilsverdrossenheit, hieß sie auf kirchlicher Seite (Thomas). Ihr entgegen wirkt, nach der Lehre, sanguinische Belebung; fachsymbolisch gesprochen: Geist und Körper sind mit einem warmen, feuchten Frühlingswind wieder zu reanimieren – was nichts anderes heißt als ihnen das Lebenselixier der anima vegetativa zu verabreichen. Vier Heilmittel sind vorgesehen: Hydrotherapie, Melotherapie, Diätetik und – Logotherapie;18 am besten wirken sie alle zusammen. Dem Melancholicus auf den Leib geschrieben scheint jedoch vor allem die Behandlung mit Sprache; und seiner Neigung zum Einzelgängerischen, Eigen- und Trübsinnigen kann vor allem Reden in Gemeinschaft helfen. Boccaccio hat die Lehrmeinung gleich zu Beginn seines Buches aufgeboten: „Wenn durch ein glühendes Begehren das Gemüt – der jungen Damen, stellvertretend für alle Leser  – von Melancholie befallen wird, würde es zutiefst betrübt bleiben, sollte es nicht durch abwechslungsreiche Erzählungen davon abgebracht werden“ („E se […] alcuna malinconia, mossa da focoso disio, sopraviene nelle lor menti, in quelle conviene che con grave noia si dimori, se da nuovi ragionamenti non è rimossa“; Proemio; 5,11). Bedingung ist allerdings, dass sie, in genauer medizinischer Gegenentsprechung zum trüben Sinn, erheiternd wirken sollen: „lieto“ ist der psychophysische Inbegriff ihres Wirkzieles – für die „lieta brigata“ ebenso wie für die Leser und Nachahmer des Decameron. Nichts hätte dieses profane Heilsversprechen gewinnender beglaubigen können als die unerhörte Konsequenz dieses Erzählens, wie sie gegen Ende, in der Einleitung zum neunten Tag gezogen wird: „Jetzt können die Zehn“, heißt es dort, „entweder vom Tod nicht mehr besiegt werden, oder aber er wird sie heiter („lieti“) niederstrecken“ (Dec. IX, Intr.; 783,4).19 18 Vgl. Glending Olsen: Literature as Recreation in the Later Middle Ages, Ithaca und London 1982; Burghart Wachinger: Erzählen für die Gesundheit. Diätetik und Literatur im Mittelalter, Schriften der Philos.-hist. Klasse d. Heidelberger Akad. d. Wiss. 23, Heidelberg 2001. 19 Robert Hollander legt demgegenüber nahe, die Rückkehr der Zehn habe unbewältigte sexuelle Motive, wie sie in den vorhergehenden amourösen Jugendwerken höfisch-galant thematisiert wurden. Gewiss zitiert sie ihr Leben auf dem Lande und kommt damit der Rezeptionserwartung der jungen Damen nahe, denen der Autor das Buch widmet. Dies wird jedoch gerade aufgehoben durch den Gesinnungswandel der Zehn, der auf die Widmung an die intendente persona berechnet ist. Auf diese grundlegende doppelte Adressatenstruktur nimmt Hollander keine Rücksicht und kann daher eine logo-

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* Soviel anzügliche Geschichten in leibnahem volgare und ein solcher Erfolg? Es ist Boccaccios Art, die Gebildeteren unter seinen Lesern auf seine Begründung aufmerksam zu machen. Sie ist ebenso raffiniert wie brisant. Vordergründig stellt sie sich unter Begriffe, die literarisch gut situiert sind. Diesen Gesinnungswandel der Zehn, ihre mutatio animi, haben das „diletto“, das „piacere“ (Dec. I, Intr.; 9,6) vollbracht, das von den erzählten Geschichten ausging. Damit entspricht es dem delectare der Rhetorik. Doch erst auf den zweiten Blick wird Boccaccios List der Argumentation offenkundig. Rhetorische Rede will mit den beiden Strategien der Überzeugung und Überredung an ein definiertes Redeziel gelangen. Wer aber auf der einen Seite Ehebruch verurteilt, ihn ein andermal aber gut heißt (z. B. III 3 oder VIII 8) und sich dabei auf die unabweisbaren Ansprüche des amor carnalis beruft, die selbst das mittelalterliche Grundbuch der Liebeslehre, das De amore des Andreas Capellanus, für zulässig hielt20  – dem kommt es mehr auf den je einzelnen Fall, nicht auf ein allgemein gültiges und abschließendes Urteil an. Wer so vorgeht, hat ganz offensichtlich einen Sinn für ein Vergnügen am Erzählten um seiner selbst willen. Nicht zuletzt wegen dieser verführerischen Eigenmächtigkeit waren seine literarisch erzeugten Affekte so umstritten. Ein überragendes zeitgenössisches Mahnmal dieser Gemütserregungskunst hatte Dante mit der tragischen Geschichte von Paolo und Francesca (Inf. V) errichtet. Die Poetik des Aristoteles war zur Zeit Boccaccios noch unbekannt. Die herrschende Meinung bezog sich auf die Missbilligung des Augustinus. Lustvolle Anmutungen – zumal literarische – weckten die so irrtumsanfällige Gegenspielerin aller wahren Wahrheit, die Einbildungskraft (als Phantasie). Man darf sie daher als die Denkweise der anima vegetativa bezeichnen.21

therapeutische Wirkung des Erzählens nicht erfassen. Vgl. Robert Hollander: The Struggle for Control among the Novellatori of the Decameron and the Reason for their Return, in: Studi sul Boccaccio 39 (2011), S. 243 – 309. 20 „Frisch erhält sich die Liebe auch durch das freudespendende und süße Ausleben körperlicher Sexualität.“ Vgl. Andreas Capellanus: Über die Liebe / De amore. Ein Lehrbuch des Mittelalters über Sexualität, Erotik und die Beziehungen der Geschlechter, eingel., übers. u. komm. von Fidel Rädle, Stuttgart 2006, S. 241. 21 Zum Entwicklungszusammenhang von der Spätantike bis zu Albertus Magnus und Thomas von Aquin vgl. Katherine Park: Picos De Imaginatione in der Geschichte der Philosophie, in: Gianfrancesco Pico della Mirandola: Über die Vorstellung /De imaginatione. Lat.‑dt. Ausg., hrsg. von Eckhard Kessler, Humanistische Bibliothek II, 13, München 1984, S. 16 – 43. Zitat Thomas von Aquin in: Ders.: Fünf Fragen über die intellektuelle Erkenntnis, übers. u. eingel. von Eugen Rolfes, hrsg. von Karl Bormann, Philosophische Bibliothek 191, Hamburg 1977, S. 27.

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Abb. 2: Venus. Illustration aus John Riderwall, Fulgentius metaforalis (14. Jh.), Bibl. Vat. REG.LAT 1250 E 2 R

Um wen und was es dabei wirklich ging, mögen zwei höchst aufgeschlossene ikonographische Aussagen belegen. Zunächst das im Mittelalter überaus verbreitete Bildprogramm der Albricus-Handschrift, die die spätantike Mythologiensammlung des Fulgentius bearbeitet. Auch Dante, Petrarca und Boccaccio haben sich auf dieses Libellus de deorum imaginibus (um 1200) bezogen.22 Seine Darstellung (Abb. 2) lebt von einem anthropologischen Gegensatzzusammenhang. In der Mitte herrscht Venus, die Libido, im Kreis ihrer Attribute. Zeichenhaft an den Rand gedrängt sieht sich Apoll, die Verkörperung der anima intellectiva. Die Aussage ist moraldidaktisch eindeutig: wo Venus, die Leidenschaftsnatur regiert, zwingt sie die Geistnatur (Apoll) in die Knie. Aber auch die Umkehrung gilt: die Reize, die von Venus – aisthesis – selbst sowie von den drei Grazien, ihren Stellvertreterinnen, ausgehen, lassen sich ganz offensichtlich gedanklich nicht einfach abtöten: der Sonnengott ist ganz auf die Liebesgöttin fixiert, nimmt geradezu die Haltung eines Minnevasallen ein. Im Grunde anerkennt er sie als die sinnlich-enthusiastische Kraft, die ihn erst zu seiner Schöngeistigkeit befähigt. Von Ferne deutet bereits der Name Dioneo auf eine Konstellation

22 Hans Liebeschütz: Fulgentius metaforalis. Ein Beitrag zur Geschichte der antiken Mythologie im Mittelalter, Leipzig, Berlin 1926, S. 118 f.

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Abb. 3: Jan Bondol, Tapisserie apocalyptique, Château d’Angers, Detail: „La grande prostituée“, Venus als alternatives Erkenntnismodell, repräsentiert durch das rhizomatische Laubwerk, semiotisch aufgelöst im Y als Ursache des ‚bivium‘

voraus, die dann unter dem Eindruck des Geniekultes im 19. Jh. das vielfältig aufgeladene Gegensatzpaar apollinisch/dionysisch philosophisch aufnehmen wird. In einem weiteren Sinne verbirgt sich dahinter ein eigener erkenntnistheoretischer und diskursiver Anspruch der sinnlichen Natur. Ein anderes Schaubild vermag dies ergänzend aufzudecken. Es stammt aus der großartigen apokalyptischen Tapisserie von Schloss Angers an der Loire (Abb. 3). Die eitle, mittelalterliche Hofdame in der Mitte: es ist abermals Venus. We-

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nig hat sie noch von ihren Attributen bei Fulgentius. Dafür aber wird ihr schlechter Ruf gesteigert. Der Titel lässt keinen Zweifel: „la grande prostituée“. Ihr Gefährdungspotential ist in einem sinnreichen Zeichen chiffriert, dem Ypsilon, angeblich von Pythagoras erfunden. Es hat Eingang gefunden in die christliche Lebenslehre und symbolisiert die anthropologische Urwahl des Menschen. Dessen Seele führt auf dem linken Weg weltlicher Freuden ins Verderben; auf dem rechten der Entsagung aber ins verheißene Glück des Paradieses. Zugleich werden diese Lebenswege in der Sprache der Pflanzen gedeutet. Auf der einen, ‚rechten‘ Seite, klein und an den Rand gedrängt wie Apoll bei Fulgentius, der Baum der Erkenntnis. Von jedem Punkt aus lassen sich seine Verzweigungen gleichsam genealogisch zurückverfolgen zu Ast, Stamm und Wurzel, zum Ursprung also, dem All-Einen, aus dem, monokausal, alle Erkenntnis kommt. Venus dagegen wird von einem sich verschlingenden Blattwerk interpretiert, das sich – disseminal – ohne Grund und erkennbare Richtung nach allen Seiten ausbreitet. Dieser Baum des Lebens bekennt sich bildlich zur anima vegetativa. Ihm ist an der Fülle, am Gedeihen des Lebens gelegen, nicht an einer bestimmten Erfüllung. Sein Interesse anerkennt gerade kein stringentes Ordnungsprinzip; findet vielmehr Gefallen am Üppigen, Wuchernden, Unregelmäßigen, sich Fortzeugenden und huldigt insofern einer ungeistig sich auslebenden Lust des Kreatürlichen. Boccaccio aber hat gerade ihr eine entsprechend generative Vernunft abzugewinnen versucht. Sie wäre das geeignete, literarisch zu verabreichende Pharmakon für gekränkte Gemüter. Wie ernst es ihm damit war, hat er über ein zentrales Zeichengeschehen mitgeteilt. Es ist tief in die Struktur des Decameron eingelassen. Aus gutem Grund: er hat Venus, das Begehrungsvermögen, in die Grazien der Erzählkunst übersetzt.23 Vom Ende her gesehen haben sie bereits die zehn jungen Leute praktiziert. Dioneos Name ist abermals Programm. Er geht auf Dione, die Mutter von Venus zurück. Ihr élan vital duldet keine Einschränkung. In diesem Sinne ist er es, der sich nicht 23 Was er in Buch III, 22 – 24 der Genealogia deorum gentilium über die Doppelnatur der Venus erklärt, wird in Buch XIV, 20 in deren attributivem Abbild, den Musen, veranschaulicht. Er unterscheidet entsprechend ebenfalls zwei  – anthropologisch-moralische – Arten („species“): eine, die im Lorbeerwald wohnt, an der keuschen Quelle, mit Blumen und Girlanden geschmückt, angesehen ist für die Süße ihres Gesangs und den Schmelz ihrer Stimme – ein Hörbild des „valle delle donne“, wodurch das Erzählen dort rückwirkend als Musenkunst und Heilmittel („sacris remediis“) theoretisch geadelt wird (vgl. Giovanni Boccaccio: Opere in versi etc., hrsg. von Pier Giorgio Ricci, Mailand und Neapel 1965, S. 1046 ff.). – Hier hat wohl ebenfalls Ovid die Gedanken geführt. Über ihn ließ sich sagen, „dass die Poesie gegenüber der aufgeklärten Philosophie den älteren und tieferen Seinsgrund gestaltet. […] So behauptet die Poesie mit ihren Verfahren der metonymischen Verkettung und verwandelnden Metaphorik sich gegen die Philosophie.“ Vgl. Böhme: Erde, Wasser, Luft, Feuer (s. Anm. 12), S. 50.

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an die Erzählregel halten will. Nur so könne man nach seiner Ansicht wirklich dem vereinbarten „piacere“, dem therapeutischen Lustmoment dienen (Dec. I, Intr.; 27,92 f.). Wie zum Beweis dafür macht sich Pampinea, die ‚Königin‘ des ersten Tages, diese libidinöse Poetik zu eigen und bestimmt, „dass es jedem frei gestellt ist, über das zu reden, was ihm am meisten gefällt “ (Dec. I, Intr.; 30,110). Auch die Rhetorik weiß, dass dies Vergnügen macht: ‚variatio delectat‘. Die eigentliche Verbindung dieses Erzählens mit der anima vegetativa aber deckt Boccaccio am Wendepunkt seines Werkes auf: im „valle delle donne“, im Tal der Frauen (Dec. VI, Concl.; 577,17 f.). Dorthin hatte sich die brigata vom sechsten zum siebten Tag begeben. Der Ort hat Venus metonymisch in einen Landschaftsprospekt übersetzt. Nichts Zivilisatorisches stört seinen Einklang. Es kleidet eine brisante These ein: die Natur, auch die menschliche, trägt einen Sinn für Vollkommenheit in sich.24 In seinem gelehrten Hauptwerk, den Genealogie deorum gentilium, hat Boccaccio diesen Wesensaspekt mit „Venus magna“ bezeichnet.25 Kaum zufällig steht daher das Frauental genau an derselben kompositorischen Stelle wie das Irdische Paradies am Ende von Dantes Purgatorium. Dort kommt auch dem Jenseitswanderer wieder Beatrice entgegen, die der Garten Eden als theologale Venus identifiziert.26 Die jungen Damen und Herren nehmen nach dem Vorbild des Fulgentius ein Bad im See des Tales und tauchen damit zeichenhaft ins Element von Venus und den Grazien ein. Auch für sie wird es, wie für Dante im Lethe und Eunoë, ein Akt geistiger Wiedergeburt – aber unter welch anderen Voraussetzungen! Die Zehn lassen sich am nächsten Tag im dichten 24 Geradezu ein Axiom von Boccaccios neuer Anthropologie. Dessen allegorische Grundlegung fand, wie Rainer Stillers nachgewiesen hat, in der Comedia delle ninfe fiorentine (1341/42) statt. Ameto, eine Art Kaspar Hauser, verwandelt sich durch den Anblick, den Gesang und die Erzählungen am Wasser und unter dem Lorbeerbaum von sieben (!) musischen Nymphen, Spielarten der Grazien, zu einem tugendhaften Kulturmenschen, dem zuletzt die Gottheit dieser Inkulturation erscheint, Venus, als Patronin einer bildlich-imaginativen Erkenntnisweise. Vgl. R. Stillers: Ametos Verwandlung – Poetik der Bildlichkeit in Boccaccios Comedia delle ninfe fiorentine, in: Peter Kuon und Barbara Marx (Hrsg.): Metamorphosen / Metamorfosi, Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 51– 70. – Zu sehen in Verbindung mit Anm. 20 und 22. 25 Eine vorausgehende narrative Demonstration in einer Art mise en abyme hatte bereits die Novelle von Cimone und Efigenia (Dec. V 1) vorgenommen. Boccaccio bearbeitet darin das antike Motiv der nackten Schönheit von Venus in einem korrespondierenden locus amoenus. Ihr Anblick verwandelt den Rohling Cimone („bestione“) in einen der anmutigsten und gesittetsten Jünglinge (Dec. V 1; 445,20): Ästhetik als Katalysator von normativer Vernunft – eine Parabel auf die therapeutische Wirkung der schönen Künste, einschließlich der Literatur und des Decameron. 26 Zur Argumentation vgl. Winfried Wehle: Rückkehr nach Eden. Über Dantes Wissenschaft vom Glück in der Commedia, in: Deutsches Dante-Jahrbuch 78 (2003), S. 13 – 66.

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Schatten der umstehenden Lorbeerbäume nieder (Dec. VII Intr.; 585,7). So gut wie kein Licht – einer höheren Ratio – dringt hier durch. Da tragen sie sich die Geschichten des siebten Tages vor – und niemand anderes als Dioneo ist auserwählt, um ihn zu präsidieren: ein ikonographisch verkündetes Grundsatzprogramm für ‚unbehelligtes Erzählen‘, das Unbehelligtes zu denken erlaubt. Dieses wird dadurch als nichts Geringeres denn als Dichtung geadelt. Der Lorbeer verheißt ihm, wie bisher nur der Poesie, die kulturelle Unsterblichkeit des Nachruhms. Andererseits aber werden die Geschichten unmittelbar am Wasser ausgetauscht  – ein Hinweis auf ihr Inhaltskonzept. Der Grund ihres Interesses liegt im Wasser – des Lebens. Dort aber ist Venus in ihrem Element. Anders gesagt: das Vergnügen, das Literatur zu erwecken vermag, verdankt sich in letzter Konsequenz den vitalen Beweggründen der menschlichen Natur. Ihnen hat das Erzählen in den Stand eines poetischen Logos zu verhelfen, der nicht schon von vornherein durch den Verstand enteignet wird. Dann kann die Lust zu fabulieren zeigen, was in kreatürlicher Energie Lebenswertes steckt: Kreativität – die vielen Fälle, wo Geistesgegenwart, Einfallsreichtum, Situationsklugheit, Witz und Scharfsinn sich aus kontingenten Lebenslagen zu befreien wissen oder, im negativen Falle, jemand aus Schaden nicht klug wird und für den Mangel an geistiger Beweglichkeit, seinen (ideologischen) Starrsinn oder seine Dummheit bestraft wird. Die Novellen bieten insofern laufend Prüfstücke für eine ars bene vivendi. Diese „Erhaltung unserer Gesundheit und des Lebens“ (Dec. X Concl.; 955,3) hatte der Autor im Übrigen von Anfang als seine Absicht angekündigt (Proemio; 5,14). Vergnügen verschaffen sie nicht zuletzt, weil es allemal Geschichten Dritter sind. Die Erzählrunde nimmt zwar an allem Anteil, ist selbst aber nicht beteiligt. Dies gilt gleichermaßen auch für den ‚Autor‘, den Boccaccio launig, selbstironisch, karikaturistisch gegen sein eigenes Erzählen absetzt.27 Nur so verschafft er sich – und den zahllosen Lesern – mit der Heiterkeit der Kunst den inneren Abstand, um das, was alles geschehen kann, in Gestalt von Geschich27 Gerne wird Michail Bachtins karnevaleske Lachkultur bemüht, um Boccaccio nach neuerem Verständnis theoriegerecht zu machen. Doch in seiner ideologie- und systemkritischen Position spiegelt sich unverkennbar die Krise des modernen Subjekts, wie sie in und nach den historischen Avantgarden akut geworden war. Entsprechend verwirft er das Konzept eines autonomen Ich ebenso wie, damit korrespondierend, das des Autors bzw. Erzählers auf literarischem Gebiet, das er auch auf die Renaissance anwandte. Vgl. M. Bachtins: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, hrsg. von Renate Lachmann, Frankfurt a. M. 1995 [1965]. – Sofern man für die Normabweichungen der Geschichten das karnevaleske Argument in Anspruch nimmt, kann es vielmehr dazu dienen, wie Paul Geyer gezeigt hat, den Übergang in ein kasuistisch-offeneres Wertund Diskursverhalten zu veranschaulichen. Vgl. P. Geyer: Boccaccios Gesellschaft: Decameron; in: Ders.: Literarische Geschichte des modernen Menschen in Italien und Frankreich, Bd. I, Hildesheim 2013, S. 91–130.

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ten sich bewusst machen zu können. Deshalb auch macht er Galeotto, den Hermeneuten der Lust, zum Schirmherrn seines Buches (1;  964,30; der erste und letzte Eintrag!). Selbstbestimmung braucht Selbstreflexion. Die Novella del grasso legnaiuolo hat, in der Nachfolge Boccaccios, diese Bedingung für Neuzeitlichkeit mit schwankhafter Schärfe inszeniert.28 Diese ästhetische Distanziertheit ist auch der Grund, warum tragische Geschichten, rhetorisch dem Affektregister von movere zuzuschlagen, dennoch Wohlgefallen erzeugen können sollen. Dies nehmen namentlich die in Frankreich florierenden ‚histoires tragiques‘ oder ‚courtoises‘ ausdrücklich für sich in Anspruch. Der wahrhaft beklagenswerte Fall von Guiscardo und Ghismonda etwa (Dec. IV 1) wird in der französischen Übersetzung als „très plaisant“ und „fort joyeux“ angekündigt.29 Pathos und Ethos, erschütternde und sanfte Gemütsbewegungen, können mithin beide melancholische Entstellungen wieder in seelisches Gleichgewicht bringen. Spätere Novellisten bieten dafür dann den humanistischen Fachbegriff der recreatio auf. * Wie aber wäre eine wirkungsvolle Narration in ihrem Sinne anzulegen? Erzähltechnische Originalität war zur Zeit Boccaccios und selbst später, im Rahmen aristotelischer Poetik, keine vorrangige Erwartung. Neu und abwechslungsreich sollten vor allem die erzählten Begebenheiten sein. Der Autor schloss sich dabei der offenen Form zeitgenössischer Kompilationen und Anthologien an, von denen schon der sog. Novellino 30 ausging: Sermonarien, Legendarien, Bestiarien, Responsorien  – Benutzerhandbücher. Auch Boccaccio nimmt diese Sammelstruktur zwar auf, gewinnt ihr aber einen hohen Kunstcharakter ab: indem er auch das Erzählen der Geschichten selbst zum Gegenstand seines Erzählens macht. Dadurch hat er die Entfaltung einer novellistischen Gattung doppelt geprägt. Auf der einen Seite wahrt das Decameron, gleich den Nummern einer Varieté-Aufführung, die Einzelstellung der Novellen und regt selbst zur Bildung sekundärer Sammlungen an (Conclusione, 19). Mit der Konsequenz, dass ihre Abfolge keinen ‚Helden‘ zulässt, der die Geschichten als eine durchgehende Geschichte seiner Bewährung auf sich nimmt, wie sie selbst noch Lucius, dem Antihelden im Goldenen Esel  von Apuleius gewährt wird. Wenn, dann wusste Boccaccio sich durch Ovid, den großen Musterautor 28 Hrsg. von Paolo Procaccioli, Vorw. von Giorgio Manganelli, Parma 1990. 29 Traicté tres plaisant et recreatif de l’amour parfaicte de Guiscardus et Sigismonda, Paris 1493 (BNF). – Vgl. Wehle: Novellenerzählen (s. Anm. 17), S. 189. 30 Il Novellino / Das Buch der hundert alten Novellen, ital.‑dt., übers. u. hrsg. von János Riesz, Reclams Universalbibliothek 8511, Stuttgart 1988. Vgl. „Nachwort“, S. 313.

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des Mittelalters, legitimiert. Er wie auch die verbreiteten Exemplasammlungen verzichten auf eine Binnenverknüpfung ihrer Episoden. Diese innere Ungebundenheit stellt es ihnen frei, aufeinander zu folgen, so wie ein Wort das andere ergibt. Ein übergreifender Handlungszusammenhang ist solchermaßen ausgeschlossen. Jede vorgetragene Begebenheit kann dadurch zunächst für sich und aus sich heraus sprechen.31 Dieser  – rhetorisch gesprochen – diaphorische Vortrag gilt selbst dort, wo die Geschichten einem Autor, einer Erzählfigur, einer konvivialen Runde oder einem Herausgeber unterstellt werden – sie alle bleiben ihnen äußerlich; werden fast immer als Nacherzählung fingiert. Damit halten sie ein narratives Gemeingut vor, das überall und jederzeit wiedergegeben werden kann, weil es auf jeden zutrifft. Dieser volksnahe, parataktische Bauplan hat zweifellos zum lang anhaltenden Erfolg der Novellistik beigetragen. Er lud förmlich dazu ein, aus bestehenden Sammlungen neue zusammenzustellen; Geschichten auszutauschen; mit Fazetien, Anekdoten, Apophthegmata anzureichern oder umgekehrt sie romanesk aufzuladen. An den zahlreichen Ausgaben und Auflagen war abzulesen, wie unersättlich das Bedürfnis nach lebens- und leibnaher Unterhaltung schien. Eine Sammlung wirbt damit bereits im Titel: La mer aux histoires. Boccaccio selbst aber hat, kaum verhüllt, den diskontinuierlichen Vortrag seines Buches unter einen geradezu weltanschaulichen Zusammenhang gestellt. Spiegelt er nicht den Ordnungsverlust wider, den die Pest im Einzelnen, in der Gesellschaft wie im religiösen Gerüst des Zusammenlebens hat aufbrechen lassen? Doch das Decameron hat mehr als nur Schadensbilanz im Sinn. Die physische und ideelle Not war dem Autor zwar notwendiger Anlass, aber nur, um daraus eine neue, literarische Tugend zu machen. Dies ist die andere Seite, mit der er eine lange Gattungstradition des Novellenerzählens stiftet. Die Voraussetzungen dazu hat er sich mit dem Erzählrahmen geschaffen. Dieser führt ihn als Nacherzähler dessen ein, was die Zehn sich zuvor erzählt haben. Vor allem aber stellt er, was die einzelnen Geschichten zur Sprache bringen, noch einmal perspektiviert zur Rede.32 Auf der Ebene der ‚Geschichte‘ bleibt damit einerseits deren Unabhängigkeit und folklo31 Erich Auerbach hat, am Beispiel eben des Novellino, dies als eine frühe Besonderung der Novelle gegenüber den mittelalterlichen didaktischen Textsammlungen hervorgehoben. Vgl. Zur Technik der Frührenaissancenovelle in Italien und Frankreich, Heidelberg 1971 [1921]. 32 Hermann H. Wetzel und Grazia Folliero-Metz haben in der Tektonik der einzelnen Novelle wie im Rahmen eine bedenkenswerte Tendenz zur Zentralperspektive von literarischer Seite herausgestellt. Vgl. H. H. Wetzel: Novelle und Zentralperspektive. Der Kaufmannshabitus als Grundlage verschiedener symbolischer Systeme, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte  9 (1985), S. 12 – 30; G. Folliero-Metz: Literatur als ars vivendi, senescendi ac moriendi: Giovanni Boccaccios Decameron, in: Christoph

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ristisches Nacheinander gewahrt. Auf der Ebene des ‚Diskurses‘ andererseits werden sie jedoch zu einer Einheit der Darbietung gebracht. Jede Novelle kann dann ihre Bestandsaufnahme der Lebenswelt von unten in ihrer ungeschlichteten Vielfalt fortsetzen. Doch wenn die Zehn sie besprechen, wird der einzelne Fall nicht mehr nur konstatiert, sondern zugleich kommentiert. Dem verdankt das Decameron seine zweite, vorbildgebende Struktureinheit: auch der Sinn der erzählten Geschichten wird zum Gegenstand des Erzählens gemacht. Doch anders als religiöse Textauslegung oder die Moralisatio literarischer Texte (wie etwa des Ovide moralisé ) geht Boccaccio das Wagnis ein, das Menschlich-Allzumenschliche, krude wie es vorfällt, gerade nicht nach dem gebotenen Sinn und Verstand einzuebnen. Er lässt die brigata vielmehr über den Fall beraten, so dass, im Prinzip, dessen Bedeutung sich erst durch ihre Deutung ergibt,33 sich mithin einer gemeinschaftlichen Verständigungshandlung verdankt (Abb. 3). Ordnungsvorstellungen kommen damit zwar als unumgänglich, nicht mehr jedoch nur als vorgegeben und fremdbestimmt zu Bewusstsein: die brigata statuiert ein kühnes Exempel für autonome Sittlichkeit. Ihr zufolge sollen sich Tugendwerte in einem offenen Prozess der Absprache einspielen. Es scheint, als ob dabei abermals Venus Patin gestanden hätte. Sie denkt generativ; sie will Leben lebendig erhalten, nicht, dass es doktrinär erstarrt. Kontingentes Dasein verliert dadurch den Makel der Sündhaftigkeit. Fehlbares Handeln lässt sich ins Humane wenden, wenn es angemessen sprachlich behandelt wird. Doch nicht, als ob Boccaccio, gerade er, die Zügellosigkeiten der anima vegetativa unterschätzen würde. Ihre Abgründe werden erst der Marquis de Sade oder die Surrealisten ganz öffnen. Er hat ihr deshalb anthropologisch vorgebeugt – abermals im „valle delle donne“. Der Ort erinnert die brigata bildkräftig daran, dass die menschliche Naturenergie allenfalls im Schutze der anderen, natürlichen Begabung, dem Geistvermögen zugelassen werden kann. Der paradiesische Lustort ist deshalb symbolisch eingeschränkt. Er verdankt seine natürliche Vollkommenheit einer geistigen Einfassung. Der See in seiner Mitte ist rund, wie mit dem Sextanten vermessen; umgeben von sechs gleichförmigen Hügeln, jeder von einem befestigten Gebäude gekrönt. Ein Instrument der Seefahrt, um diesen locus amoenus zu charakterisieren? Auf den Doppelsinn des Wortes sesto kommt es an. Übertragen bedeutet es Ordnung; der Ort selbst nimmt es als Zahl auf: sechs ErOliver Mayer und Alexandra-Kathrin Stanislaw-Kemenah (Hrsg.): Die Pein der Weisen. Alter(n) im Romanischen Mittelalter und Renaissance, München 2012, S. 77 –102. 33 Boccaccio hat selbst in anderen Schriften dies durchaus schon als hermeneutisches Problem erfasst und damit ein Textbewusstsein offenbart, das auf ein humanistisches Schriftverständnis vorausweist. Vgl. Rainer Stillers: Humanistische Deutung. Studien zu Kommentar und Literaturtheorie in der italienischen Renaissance, Studia Humaniora 11, Düsseldorf 1988, etwa S. 27 ff.

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hebungen und Kastelle fassen ihn ein. Sechseckig aber stellte sich das Mittelalter den Paradiesgarten vor, mit einem im Brunnen zivilisierten Quell in der Mitte (Abb. 4). Boccaccio führt also einen subtilen Dialog mit dieser Tradition (Abb. 5 und Farbabb. 1) – um unverkennbar darüber hinauszugehen. Denn seine bildliche Anweisung ist klar. Das Zentrum – die Stelle von Venus – nimmt das frei fließende Wasser des Sees ein, Sinnbild des Lebensflusses. Auch er muss jedoch gemeinschaftsfähig gemacht werden, aber jetzt in kulturell übertragener Weise – in der ‚Runde‘ der Erzähler, die sich im Schatten der Lorbeerbäume um den runden See versammelt. Nur unter dieser äußeren und inneren Einfassung war es für Boccaccio denkbar, den kreatürlichen élan vital, den die Geschichten Mal um Mal aktualisieren, in eine heilsame Belebung des Gemüts umzuwandeln. Dass er die Novellistik im Kern aber aus einer vitalistischen Anthropologie hervorgehen lässt, daran besteht gleichwohl kein Zweifel. Um es noch einmal im Bilde der Tapisserie von Angers zu sagen: darf man in diesem Sinne die freie Kombinatorik der Geschichten nicht als venushaft bezeichnen, weil es ihnen gestattet ist, sich narrativ in freier Liebe zu paaren? Nach heutiger, kulturkritischer Terminologie würde aus dem Decameron bereits ein rhizomatischer Widerspruchsgeist gegen die damaligen Väter des Logos sprechen.34 Denn fraglos unterläuft es, wenn auch mehr oder minder verdeckt, alle Disziplinarmaßnahmen, die die Regungen der anima vegetativa verteufeln sollen, um eine angegriffene geistige Gesundheit wieder herzustellen. Mit der Freiheit (und Frechheit) der Geschichten und ihrer offenen Form bereitet Boccaccio dagegen einem gleichsam biodynamischen Menschenbild den Weg ins kulturelle Bewusstsein. Am Schauplatz seiner Novellen darf eine alternative Logik zur Sprache kommen: dass der Mensch auch in seinem dunklen Drange sich des rechten Weges wohl bewusst werden kann. Die Lebenserfahrungen, die in den Geschichten ausgebreitet werden, zeigen, wie viel archaisches Wissen über den Menschen im sinnlichen Begehren haust. Es meldet sich allerdings in der Sprache der Wunschvorstellungen; real werden sie in den Wechselfällen des Lebens. Und was sind die einzelnen Novellen anderes als ihre literarischen Anschauungsformen. 34 Bemerkenswerterweise hat Gilles Deleuze seinen philosophischen Befreiungsversuch des Subjekts aus den Klammern rationaler Bevormundungen mit der botanischen Metapher des Rhizoms bestritten, die exakt auf die sinnbildliche Wucherung der Tapisserie von Angers zutrifft. Boccaccio allerdings ist kein Poststrukturalist vor der Zeit. Er bündelt seine nach allen Seiten durchlässige Grundstruktur des Florilegiums dreifach: durch Tagesthemen, Rahmen und dargestellte Autorschaft. Fortunas Kontingenz wird dadurch sozialisiert im Sinne etwa von Habermas’ kommunikativer Handlungstheorie. Vgl. G. Deleuze und Félix Guattari: Rhizom [dt.], Berlin 1977; Jürgen Habermas und Nik­las Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M. 1971 u. a., etwa S. 114 ff.

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Abb. 4: Genesiskommentar vom Ende des 14. Jhs., Erschaffung des Menschen und des Irdischen Paradieses, Paris Bibl. Nat./Bibl. de l’Arsenal ms. 5057

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Abb. 5: Cent nouvelles nouvelles, Titelillumination (erste französische Übersetzung des Decameron durch Laurens de Premierfaict), Paris 1414, Paris, Bibl. Nat., fonds français 129 – Die Erzählrunde wird zurückgeführt auf ihre traditionalistische höfische Ikonographie. Der sechseckige Brunnen zitiert den Paradiesgarten.

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Von Fall zu Fall studieren sie, wie der Mensch ist, wie er sein könnte und sollte. Im Ganzen einer Sammlung entsteht so eine Topographie sozialer Begegnungshandlungen. In ihrer Weltsicht von unten ist es mithin die Akzidenz, die die gelebte Essenz des Menschen ausmacht. Im Prinzip deckt die offene Form ihres Erzählens damit seine Identität als plurale auf. Ihr Maß ist der Spielraum des Menschenmöglichen, der sich zwischen animalischer Sensualität und höchster spiritueller Hingabe auftut. Insofern ist das Decameron ein Prosaepos vom Jedermann. Boccaccio war wegweisender Pionier auch darin, dass er für diese anthropologische Grundlagenforschung die Literatur vorgesehen hat. Er begründet für die erzählende Prosa einen Anspruch, den auf ihre Weise Dante für die poetische Großform, Petrarca für die lyrische Sprache erhoben hatte: dass Sprachkunst ein eigenwertiges Medium diesseitiger Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung ist – eine Schule der Lebenskunst. Und was ist die schöne Kunstform des Lebens, die die brigata außerhalb des gelebten Lebens aufführt, anderes als ein visuelles Lob der Ästhetik, die in der gebotenen – sprachlichen – Abhebung gegen die Realität eben diese zu heilsamer Vernunft zu bringen vermag. Nicht als ob damals die ewige Seligkeit ihre Anziehungskraft verloren hätte. Doch zuvor gilt es, das Vorspiel auf Erden zu bewältigen. Insofern spricht sich Novellistik für ein memento vitae aus. In deren historischem Sinne darf man Boccaccios kulturelles Glaubensbekenntnis konkreter fassen: das hochgeformte Wort der Kunst ist es, das der niederen Natur, der menschlichen zumal, zu ihrem wohlbedachten Eigenrecht zu verhelfen vermag. * Sein Werk hat lange Rezeptionsspuren hinterlassen.35 Zu verdanken ist es auf der einen Seite seinem vielfältig besetzbaren Besprechungsschema menschlicher Angelegenheiten. Dass es zugleich ein schwer zu überbietendes Meisterwerk war, führte später dazu, dass es auch nach Maßgabe der hu35 Vgl. Francesco Mazzoni (Hrsg.): Il Boccaccio nelle culture e letterature nazionali, Florenz 1978; Eberhard Leube: Boccaccio und die europäische Novellendichtung, in: August Buck (Hrsg.): Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 9, Frankfurt a. M. 1972, S. 128 –161; Hermann H. Wetzel: Die romanische Novelle bis Cervantes, Sammlung Metzler M 162, Stuttgart 1972. – Im Hinblick auf die späte und sparsame Rezeption der Novellistik in Deutschland, vgl. Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen 2006, bes. S. 291ff. Er gibt eine sehr plausible historische Erklärung für das besondere Verhältnis der frühen deutschen Literatur zur romanischen Novellistik: ihr Platz im Gattungsfeld des Erzählens hatten lange Zeit Fabliau und Märe eingenommen.

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manistischen Imitatiolehre Autorität werden konnte. Andererseits musste es, wo es vor allem um Unterhaltung, weniger um Kunst ging, zu vielfältigen Umbesetzungen animieren. Bereits in Franco Sacchettis Trecentonovelle,36 eine gute Generation nach ihm, konnte der Rahmen wieder entfallen. Die Stücke werden anarchisch, anekdotisch angesammelt, Ausdruck einer abermals in Aufruhr befindlichen Stadt Florenz. Umgekehrt versucht zwar zur selben Zeit Giovanni Sercambi, die wohl 156 Einheiten seines Novelliere 37 im Rahmen zu halten. Doch er ist so gut wie sinnentleert: ein Vorgesetzter weist einen Berufsschreiber an, jeden Tag eine weitere Novelle beizubringen, bis auch hier eine Pest vorüber ist. Im herausragenden Heptaméron von Margarete von Navarra38 wiederum hat sich die freie Aussprache über die Geschichten in heftige Kontroversen verwandelt, deren Normenkontrollverfahren häufig ohne Konsens bleibt. Daneben entsteht ein blühender Buchmarkt, wo am verwilderten Rand der Novellistik nach Belieben umgeschichtet, abgeschrieben, ausgetauscht wird. Solche kommerziellen Florilegien verabreichen einfache literarische Grundnahrungsmittel. Bestenfalls reichern sie ihre Stücke mit einer populären Moral von der Geschicht’ an: mit Sprichwörtern, Spruchweisheiten, Redensarten oder Maximen. Früh haben so die Cent Nouvelles Nouvelles (1486)39 das Vorbild des Decameron aufgenommen und abgebaut. Wieder andere, vor allem höfisch-sentimentale Sammlungen wie etwa Benigne Poissennots Nouvelles histoires tragiques (Paris 1586) bestrafen die allfälligen Anfechtungen der Leidenschaft wieder unnachsichtig, allerdings jetzt im Namen einer verhärteten, weil bedrohten Standesmoral. Mit Reformation, Gegenreformation und Religionskriegen hatte gerade auch das leib- und lebensnahe Schrifttum deutliche Tugendbeweise abzulegen – um in ihrem Schutze dann doch sagen zu können, was wirklich vorfällt. Novellenliteratur insbesondere geriet dabei unter einen starken moralischen Rechtfertigungszwang. Nicht jeder Autor weiß sich diesem konformistischen Zwang so raffiniert zu entziehen wie Miguel de Cervantes, „nuestro español Bocacio“ (Tirso de Molina), der im Prolog sowie in seinen zwölf Novelas ejemplares den libidinösen Lebensdrang hinter romanesker Episodenfülle abschirmt.40 Doch selbst wo novellistische Geschichten moraldidaktisch wieder in Zucht genommen werden: stets lassen sie sich auch um ihrer selbst willen lesen oder wiederverwenden. Und da sie so gut wie immer im Plural auftre36 Franco Sacchetti: Il Trecentonovelle, hrsg. von Emilio Faccioli, Nuova Universale Einaudi, Turin 1970. 37 Il Novelliere, 3 Bde., hrsg. von Luigi Rossi, I Novellieri Italiani 9, Rom 1975. 38 Krit. hrsg. von Michel François, Classiques Garnier, Paris 1967 u. ö. 39 Krit. hrsg. von Pierre Champion, Paris 1928. 40 Exemplarische Novellen, in: Gesamtausgabe in vier Bänden, hrsg. u. neu übers. von A. M. Rothbauer, Stuttgart 1963 –1970, hier Bd. I.

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Winfried Wehle

ten, halten sie selbst dort, wo sie bevormundet sind, das Bewusstsein von der Fülle des Lebens als seinem natürlichen Vorkommen wach. Sie führen einen Zyklus dessen auf, was in der menschlichen Komödie alles der Fall sein kann und ermitteln so Grenzen und Lizenzen menschlichen Verhaltens. Ein therapeutischer Impuls kann ihnen selbst dort zugute gehalten werden, wo sie moralische Überzeugungsarbeit leisten. Sie können nicht verhindern, dass die Heiterkeit der Kunst von getrübten Verhältnissen entlastet. Über alle Wandlungen der Novellistik hinweg hat sich aber nicht zuletzt eine der großen Errungenschaften Boccaccios durchgehalten: der kulturelle Anspruch der Literatur, die lebhaften Anmeldungen der anima vegetativa in eine Animation des Geistes zu überführen. Es lohnte sich also, das Leben durchs Purgatorium ihrer Geschichten zu leiten, selbst wenn ihnen ein Paradies wie im „valle delle donne“ aus dem Sinn gekommen ist.

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Farbabb. 1: Cent nouvelles nouvelles, Titelillumination (erste französische Übersetzung des Decameron durch Laurens de Premierfaict), Paris 1414, Paris, Bibl. Nat., fonds français 129 – Die Erzählrunde wird zurückgeführt auf ihre traditionalistische höfische Ikonographie. Der sechseckige Brunnen zitiert den Paradiesgarten.

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