Germanistik

Hartmut Woldeit

"Seelenmagie". Zur ästhetischen Gestaltung und Funktion einer Emotionalisierungsstrategie in Kapitel XIII von Thomas Manns Roman "Doktor Faustus" (1947)

Wissenschaftlicher Aufsatz

„Seelenmagie“. Zur ästhetischen Gestaltung und Funktion einer Emotionalisierungsstrategie in Kapitel XIII von Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ (1947).

Wissenschaftlicher Aufsatz Neuere deutsche Literatur Von Hartmut Woldeit (Hamburg, im Juli 2003)

Abstract: Gegenstand der Arbeit ist die Ausweisung und Untersuchung einer Emotionalisierungsstrategie in Kapitel XIII des Romans „Doktor Faustus“. Durch Anwendung tiefenpsychologischer Erkenntnisse der Freud-Schule wird gezeigt, daß die Emotionalisierungsstrategie über ihre identifikatorische Leserwirkung hinaus auch Ausdruck eines neurotischen Komplexes der Erzählerfigur des Romans -Dr. Serenus Zeitblom- ist. In einem Exkurs wird die Hauptfigur von Kapitel XIII, der Privatdozent Dr. Schleppfuß, analysiert. Schließlich wird im Rahmen des für die vorliegende Untersuchung grundlegenden kommunikativen Dreiecks Autor-WerkLeser das rezeptionsästhetische Kalkül Thomas Manns aufgezeigt, mittels der Emotionalisierungsstrategie einen groben Kunstfehler in der Gestaltung der Romanfigur Dr. Schleppfuß zu verhüllen.

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Inhaltsverzeichnis Vorwort: Noch eine Arbeit zum „Doktor Faustus“? (Seite 3) Abschnitt A A 1. A 1.1.

Die Ausgangskonstellation: Roman versus Biographie (Seite 5) Die ästhetische Zwickmühle; Durchführung der Untersuchung (Seite 5)

Abschnitt B B 1. B 1.1. B 1.2. B 1.2.1. B 1.2.2. B 1.3. B 1.3.1. B 1.3.2. B 1.4. B 1.5. B 1.5.1. B 1.5.2. B 1.6. B 1.6.1.

Thomas Manns Emotionalisierungsstrategie in Kapitel XIII (Seite 6) Leserwirkung I (Seite 7) Mehrdeutige Anführungszeichen (Seite 8) ›unvermögend‹/›Unvermögen‹: Anführungszeichen zwischen Zitationskennzeichen, Distanzierungsmerkmal und Markierung einer Bedeutungsaufhebung (Seite 8) Leserwirkung I (Fortsetzung und Schluß) (Seite 10) Zur psychoanalytischen Aufklärung der Anführungszeichen (Seite 11) Zeitbloms Verwendung von Anführungszeichen beim Nomen ›Unvermögen‹ als Indiz einer unbewußten Zwangshandlung (Seite 11) Zeitbloms Perspektivenwechsel und dessen Funktionen (Seite 14) Zwischenfazit, Reflexion und Hinweise zum weiteren Gang der Arbeit (Seite 16) Zeitbloms Wiedergabe von Schleppfuß’ Erläuterungen zum Fall Klöpfgeißel (Seite 19) Zur Leserwirkung von Dr. Schleppfuß (Seite 20) Zeitbloms Resümee zur Vorlesung des Dr. Schleppfuß (Seite 21) Exkurs: Dr. Schleppfuß als Künstlerfigur (Seite 22) Vertiefung der Analyse: Schleppfuß’ Vorlesung als Ausdruck intellektualisierten Sadismus (Seite 24)

Abschnitt C C 1.

Die Emotionalisierungsstrategie in Kapitel XIII als Verhüllung eines Kunstfehlers (Seite 28) C 1.1. Zum Verhältnis von Emotionalisierungsstrategie und Zeitbloms Impotenz-Komplex (Seite 29) C 1.1.1. Professor Kegel: Zur interpretatorischen Bedeutung einer unauffälligen Nebenfigur (Seite 29) C 1.1.2. Zeitbloms Verwendung eines unpraktischen Schreibgerätes beim Abfassen der Biographie als frühe Andeutung seiner Neurose (Seite 33) Abschnitt D

D 1.

Schlußüberlegungen: Warum hat Thomas Mann auf die Figur des Dr. Schleppfuß nicht verzichtet? (Seite 34)

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Dr. Zimbalist gewidmet Vorwort: Noch eine Arbeit zum „Doktor Faustus“? Thomas Mann erlebt seit einiger Zeit in der breiteren Öffentlichkeit wieder ein verstärktes Interesse, welches nicht zuletzt durch die Ausstrahlung von Heinrich Breloers dreiteiligem Fernsehfilm „Die Manns“ gefördert wurde. Die wissenschaftliche Befassung mit Werk und Autor hat indessen nie nachgelassen, wie die beständig anschwellende Sekundärliteratur belegt. Allein zum „Doktor Faustus“ soll ihr Umfang laut R. Klausnitzer inzwischen ca. „80.000 Seiten“ (Quelle: http://amor.rz.huberlin.de/~h2187e6n/gkb_faus.htm, Stand: 06.03. 2003) betragen und somit einen Textkorpus umfassen, den ein einzelner kaum mehr zur Gänze auszuwerten vermag. Wenn hier dennoch eine Arbeit zu diesem „ausgelesen“ scheinenden Roman vorgelegt wird, die beansprucht, neue Erkenntnisse zu bieten, so bedarf es der Begründung. Nachfolgende Arbeit steht in der Tradition literaturpsychologischen Interpretierens der Freud-Richtung, einer Methode, die in der bundesdeutschen Germanistik nie so recht heimisch geworden ist und in akademischen Literaturkreisen zuweilen heute noch auf Reserviertheit oder eine meist nicht offen eingestandene Aversion stößt. Die Gründe hierfür sind vielfältig, weshalb ich mich auf die Skizzierung des für mich wesentlichen Grundes beschränken möchte: Es handelt sich bei Freuds Theorie um ein komplexes Gedankengebäude, dessen tiefgehendes Verständnis eine sehr ausdauernde Lese- und Reflexionsbereitschaft verlangt. Dies allein ist für Literaturwissenschaftler sicherlich nicht als ernsthaftes Rezeptionshindernis anzusehen, da ein nicht unbeträchtlicher Teil ihrer Studien der umfänglichen Aufnahme und wissenschaftlichen Verarbeitung von Literaturmodellen formgenetischer, geistesgeschichtlicher, existenzialistischer, (neo-) marxistischer, (neo)strukturalistischer und anderer Herkunft gewidmet ist. Doch im Unterschied zu anderen Methoden der Literaturinterpretation weist m.E. die an Freud anknüpfende Literaturpsychologie ein „Manko“ auf, welches ihrer Rezeption und Vermittlung im Bereich der Literaturwissenschaft entgegensteht. Wie man es auch drehen und wenden mag, die Freudsche Psychoanalyse ist eine Krankheitslehre, der es um das Aufklären und Heilen neurotischer und perverser Störungen geht. Sie insistiert in ihrer klassischen Fassung darauf, daß charakterliche Eigenheiten positiver oder negativer Art wie auch seelische Abweichungen extremeren Grades als bewußtseinsferne Konfliktlösungen der einstmals kindlichen Psyche anzusehen sind. Die manifesten Störungen werden von der Freudschen Psychoanalyse in der Regel -sofern es sich nicht um Aktualneurosen handelt- als Antworten auf Probleme aufgefaßt, die sich aus dem Wechselbezug zwischen normalen psychosexuellen Entwicklungsprozessen in der Kindheit und den durch Erziehung vermittelten Verhaltensanforderungen der jeweiligen Kultur ergeben. Die Anpassung an kulturelle Normen kann selbst ohne schwere Erziehungsfehler oder sonstige nachhaltig verletzende Erfahrungen- in der kindlichen Seele Traumatisierungen hervorrufen, die sich in auffälliger Verhaltenssymptomatik bekunden. Dieses genuin „pathologische Substrat“ des universelle Geltung beanspruchenden Freudschen Kulturund Menschenbildes kann m.E. eine schmerzliche Beeinträchtigung des Selbst- und Fremdverständnisses eines Menschen darstellen. Dies gilt insbesondere für Menschen, die sich und andere in ihrer Individualität eher als konventionell empfinden, (bestimmte) Dichter hingegen wegen ihres originellen Vermögens bewundern. Solchen Lesern könnte z.B. nach Aneignung von Freuds Witztheorie ein etwaig vorhergehender naiv-lustvoller Umgang mit Witzen, sei es als eigene Hervorbringung, sei es in der begierigen Aufnahme professionell ausgeübter Komik, fraglich werden, weil Freuds Theorie hierfür nicht selten das aggressive oder sexuelle Triebpotential der Menschen namhaft zu machen weiß. Es ist also die ihr immanente Tendenz zur desillusionierenden Aufdeckung sowohl der Hintergründe normal erachteter bzw. gewünschter als auch abweichender Verhaltensdispositionen, die m.E. der gründlichen Rezeption und Vermittlung freudianischer Literaturpsychologie im akademischen Bereich hinderlich ist. 3