Kirchenwanderung von Tschlin nach Vnà am 7. August mit den Stationen Kirchturm San Jon und Kirche San Blasch in Tschlin, Wiese am Waldrand und Kirche Vnà. Mit Magda Vogel (Gesang) und John Wolf Brennan (Orgel, Klänge) Von Köbi Gantenbein 1. Station Turm/Friedhof San Jon, Tschlin Anna Töna liegt nicht auf diesem Friedhof. Sie wurde irgendwo verscharrt. Anna Töna aus Tschlin war eine Witwe. Mausarm und rechtlos. Sie lebte von Almosen, die ihr der Pfarrer zuteilte, je nach dem, wie er ihre Gottgefälligkeit beurteilte. Sie tippelte über die kleinen Getreideäcker und las die Ähren und Körner auf, die die Bauern verloren hatten. Sie zog von Dorf zu Dorf. Ihre Bedürftigkeit weckte wohl in etlichen Menschen das schlechte Gewissen. Auch war ja dauernd Not. Vom Wasser, von der Feuerbrunst, vom Wetter bis zu den fremden Soldaten. Die Landsknechte der Tiroler waren zwar aus dem Unterengadin abgezogen, aber es war nicht besser als vorher. Jemand musste Schuld sein an Herrgotts Zorn. Man war sicher – Zauberei und Magie beschworen das Böse. Auch zog sich eine Erkenntnis der theologischen Hochschulen des Barock als dunkle Wolke über Anna Tönas Kopf zusammen. Die reformierten Professoren in Zürich hatten ebenso wie ihre altgläubigen Gegenspieler in Rom festgestellt, dass soziale Auffälligkeit wie Armut, sexuelle Ausschweifungen und Schadenzauber nicht nur ungehörig im Dorf sind. Sie sind vielmehr untrügliche Zeichen für einen Pakt eines Menschen, vorzüglich einer Frau, mit dem Teufel. Sie sind eine Verschwörung des schwarzen Fürsten gegen die ganze Christenheit. Auch Luther und Calvin hatten schliesslich im Chor mit der Volksmeinung verfügt, dass Hexen zu fangen und zu peinigen und zu verbrennen seien. Der Statutrichter von Muntfallun sah sich 1652 also veranlasst Anna Töna verfolgen zu lassen, sie in Ketten zu legen und in einer Scheune dem peinlichen Verhör zu unterziehen. In und um Amsterdam wurden zu Annas Zeit jährlich 70 000 Bilder gemalt, Rembrandt, Vermeer, Franz Hals und so weiter wälzten damit die Kunst um. In Rom war der Tessiner Francesco Borromini – unsere ehemalige Hunderternote – nur einer von einem Dutzend grosser Baumeister und Bildhauer, die eine bis da nie gekannte und seither nie mehr gekannte Blüte von Architektur und Baukunst realisierten. Schütz, Buxtehude in Norddeutschland oder Monteverdi in Italien erfanden die Musik neu. Und in Leyden begründete René Decartes die alles umwerfende Philosophie der Vernunft. In Tschlin aber gestand unter Folter Anna Töna, dass sie im Geist und manchmal mit dem Körper zum Sabbat gegangen sei. Sie wurde als eine der ersten Hexen im Unterengadin getötet – sie war nicht die letzte. In diesen Jahren, die als Goldenes Zeitalter der Kunst, deren Blüten bis da nie erreicht und nachher hie mehr erreicht worden sind, in dieser Zeit sind in Graubünden über fünfhundert Frauen als Hexen gefangen, gefoltert und verbrannt worden. Hexenverbrennen war überall in Europa im Kurs. Mit Graubünden meinte es der Teufel besonders gut, nirgendwo liess er so viel Hexen tanzen, nirgendwo wurden so viele Frauen als Hexen verbrannt. Die

kirchliche und weltliche Herrschaft tat das durchaus im Einklang mit den Beherrschten, ja angefeuert von ihnen: Sündenbock, schwarzes Schaf, schwarzer Fürst. Die Hungers-, Kriegs- und Wassernot brauchte Erklärungen. Auch dem Pfarrer, dem Alleserklärer, reichte die Bibel nicht. Zumal er das Paradies ja nur fürs Jenseits versprechen konnte. Also hob auch er das Schwert, las Wetterzeichen am Himmel und in den Sternen und donnerte seine Drohworte – jede kann eine Hexe sein. Betstarke Prädikanten der reformierten Kirche gehörten ebenso zu den Verfolgern wie die altgläubigen, barocken Kirchenfürsten, deren Anführer Kardinal Borromäus auf seinem Zug nach Graubünden die Protestanten im Misox als Hexen verfolgen, foltern und verbrennen liess. Allein im Calancatal radierte er 50 Hexenfamilien aus. 200 Jahre nach Borromäus Visitation Graubündens machte 1780 Landvogt Remigius Scarpatet von Savognin der Maria Ursula Padrutt den Hexenprozess. Er liess sie foltern. Sie gestand nicht. Er liess sie in ein Kloster nach Bergamo überführen, wo Teufelsaustreiber und Hexenspezialisten sie mit neuer Technik im spanischen Bock peinigten. Sie gestand nicht, dass die drei schwarzen Katzen, die aus des Pfarrers Küche in ihr Haus geflohen waren, die Früchte seien, die sie mit Satan gezeugt habe. Sie wurde wieder ins Oberhalbstein zurück gebracht, wo Scharfrichter Rychli sie folterte und in seinem Bericht schrieb ihr «cirka ein Centner Steine anhengt» und «ihr Nägel, so weit ich konnte in den Rücken trieb, dort wo ich das Hexenzeichen vermutete». Sie gestand immer noch nicht – auch zu Scharfrichter Rychlis Leidwesen. Er war extra von Chur gekommen und sein Lohn war vom Geständnis abhängig. Er gab ärgerlich zu Protokoll: «wan diese Padrutt nicht den Teufel im Leib hat, so komme ich nicht in den Himmel». Er musste in die Hölle, denn Ursula Padrutt wurde frei gelassen. Sie überlebte den letzten Hexenprozess in Graubünden, wurde aber von ihren Mitdörflern weiter als Hexe verfolgt, floh schliesslich ins Veltlin, wo sie im Bett liegen bleiben musste, weil der Nachrichter ihre Glieder nicht mehr habe richtig einrenken können. In Tschlin aber gestand vielleicht mit einem «Centner Stein angehenkt und doppelt scharfen Nägeln im Rücken» Anna Töna, dass sie im Geist und manchmal mit dem Körper zum Sabbat gegangen sei. Und wie all ihre Nachfolgerinnen, wurde sie irgendwo verscharrt, denn auf dem Friedhof von San Jon gab es für Hexen keine Ruhe. Ihr seht hier nur einen Turm und kein Kirchenschiff. Was ist geschehen? Domenic Janett, der Musikant aus Tschlin, hat mir heute morgen erzählt, sein Grossvater habe ihm von seiner Urur-Grossmutter berichtet, wie eines Nachts ein grelles Blitzen, lautes Donnern und klagendes Herrjemineh über dem Dorf gewesen sei. Alle Tschliner hätten die Fensterläden geschlossen und seien unter ihre Betten gekrochen, zitternd und betend. Da habe ein schönes Blasen und Geigen angehoben bei der Kirche San Jon. Schöner als es seine Fränzlis da Tschlin je vermöchten. Die Urur-Grossmutter von Domenics Grossvaters war noch ein kleines Mädchen. Sie blinzelte zum Spalt zwischen den Fensterläden auf die Kirche Son Jon. Da sah sie, wie Engelsscharen das Kirchenschiff mit Seilzügen aus dem Fundament gehoben hätten und mit lautem «Hohruck, hohruck» Meter um Meter gegen den Himmel hoben, bis sie nach dreizehn Stunden nur noch als Pünktlein und dann gar nicht mehr zu sehen war. Nach 27 Stunden stockdunkler Dunkelheit wurde es langsam wieder Tag und alles war wie immer – nur die Kirche ist seither fort. Eins

haben die Engel Marias Haus, wo sie die Verkündigung erfahren hatte, nach Loreto transportiert. Nun stemmten sie San Jon in den Himmel als ewige Ruhestätte für Anna Töna und die 500 anderen Opfern der Graubündner Hexenzeit.

2. Station: Kirche San Blasch in Tschlin Das Unterengadin war das Seminarium, die Samenpflanzanstalt des reformierten Graubündens. Bis ins 19. Jahrhundert sassen in der Synode – das war und ist Versammlung der Bündner Pfarrer – ein Drittel und mehr Unterengadiner. Sie bleiben im Tal, wo sich oft mehrere eine Pfrund teilten, oder sie wanderten fort. In Malans, wo ich aufgewachsen bin, war Ulrich Campell 400 Jahre bevor ich dort in den Konfirmationsunterricht ging, der Herr Pfarrer. Das heisst, er war Lehrling bei Philipp Gallicius, einem Verwandten. Die reformierte Kirche war eine Vorhut der zeitgenössischen Berufsausbildung. Ein Jüngling ging, wie Campell, bei einem Pfarrer in die Lehre oder er besuchte wie der populäre Bündner Wüterich Jürg Jenatsch die theologische Schule in Zürich, einem Zentrum des evangelischen Aufstandes gegen Rom. Im Unterengadin muss es ein hartnäckiges reformiertes Sähmannsleben gewesen sein, denn Tschlin beispielsweise war Untertanenland der Habsburger, deren Tiroler Fürsten alles versuchten, die Engadiner wieder nach Rom zu führen. Sie schickten die Kapuziner als ideologische Kampftruppe, sie schickten Landsknechte. Und die protestantischen Vorbeter blieben ihren romgläubigen Widersachern nichts schuldig. Schliesslich konnte Rom nur die Bastion Tarasp halten und einen winzigen Vorposten in Ardez, das Kirchlein unterhalb des Bahnhofs jäh am Abgrund ist immer noch katholisch. Während Durich, Duri Champell oder eben Ulrich Campell noch in Malans Pfarrer lernte, erkrankte zuhause in Susch sein Töchterlein – man war damals als Lehrling schon verheiratet, denn das Leben dauerte im Normalfall nur 40 Jahre. Duris Vater, ein Krieger, hielt nichts von römischen Priestern, er taufte das Mädchen eigenhändig und es ging vom Grossvater gesegnet in Gottes Garten. Das war ungehörig, ja ein Skandal und führte zu einer siebentägigen Disputation unter Pfarrern, ob man das dürfe, wenn ja warum und wie – es war die Zündung der Reformation im Engadin. Durich schrieb das Protokoll und es begann damit eine der ersten SchriftstellerKarrieren Graubündens. Sie ist mustergültig über den Kanton hinaus, denn sie entwirft das Berufsbild des modernen Schriftstellers in drei Skizzen. Schriftsteller ist kein Brotberuf. Schriftsteller sind Journalisten, pardon Publizisten, Subventionsjäger oder Lehrer bis es dann für die letzten paar Jährli allenfalls zum freien Schreiberdasein reicht. Duri Champell hat als einer der ersten, dieses soziale Modell der Moderne geübt. Er war Pfarrer auf Wanderschaft, zu 70 Gulden in Klosters, später einer der drei Stadtpfarrer Churs und 1574 kam er wieder heim ins Engadin und er predigte in dieser Kirche bis zu seinem Tod. In seinem Selbstverständnis aber wuchs er zum freien Schriftsteller. Sein erstes Buch stand noch voll und ganz im Dienst der Kirche – er schrieb das erste Gesangbuch des reformierten Graubündens, dann breitete er sich aus, entwarf eine rätische Landeskunde, erforschte Land und Leben in den Tälern – die Historia Raetica ist die erste Geschichte Graubündens vom Altertum bis in Campells Zeit.

Zweitens: Der Schriftsteller ist der Sprachkünstler. Duri Champells «Ün cudesch da Psalms» ist das erste Buch in Vallader, der Sprache des Unterengadins. Er sieht seine Unterengadiner als Rätier, als von den Römern vertriebene edle Etrukser, die in den Alpen verwildert sind. Sie reden mittlerweile barbarisch, sein «Cudesch» will reinigen, klären und verschönern. Er übersetzt bekannte Psalmen aus dem Latein in die Talsprache, er schreibt Kommentare, er dichtet im richtigen Versmass neue Gesänge, denn der richtige Schriftsteller weiss: Schreiben ist singen. Gewiss kommt ihm eine wichtige Produktionsbedingung entgegen: Anders als die Romgläubigen setzen er und seine neugläubigen Reformierten auf die Kraft von Gottes Wort in eigener Sprache, das der Gläubige kennen muss, damit es der Pfarrer auslegen kann. Mit der Reformation kam lange vor der Volksschule im 19. Jahrhundert die Schule ins Tal: Das Lesen. Romanisch. Gedruckt wurden die Bücher vorerst in Zürich – nach Campells Tod erst wurde hier in Tschlin das wichtigste Werkzeug des Schriftstellers gebaut: Eine Druckerei. Drittens schliesslich: Der Schriftsteller lebt im Netz. Was heute der Verleger ist – Financier, Wachhund und Besserwisser – waren zu Duri Champells Zeit die Granden der Reformation in Zürich. Sie verfügten auch über die Druckerei. Wie Max Frisch von Peter Suhrkamp, war Campell von Heinrich Bullinger, dem Chefreformator, abhängig. Dessen Schwiegersohn und Sekretär Simmler kümmerte sich um das Nachwuchstalent aus den Bergen. Er führte ihn von seinem ersten Besteller, dem Psalmenbuch, zu Abhandlungen über Religiöses, die je nach Gusto der Zürcher erschienen oder umgeschrieben wurden. Simmler schloss ihn ans europaweite BriefNetzwerk der Intellektuellen an, versorgte ihn mit Büchern und schliesslich mit dem Grossauftrag, den Beitrag Graubünden zum Monumentalwerk «Comentarii Rerum Helveticarum» zu liefern, einer Art Lexikon von allem und jedem. Campell trat aus der Studierstube, wanderte durch den Kanton. War er bisher Ideologe bildete er sich nun zum Empiriker aus. Er jagte und sammelte. Das Grosswerk krachte zusammen, Champell schrieb seinen Teil fertig, der aber erst dreihundert Jahre nach seinem Tod erschien und bis heute ein Lehrstück der teilnehmenden Beobachtung ist. Stellen wir uns Durich Champell vor – er stand in dieser Kirche vor 450 Jahren und sah in ihr einen Spiegel seines Lebensentwurfs. Der zentrale Zug des Lichts durch den in die Höhe und fort in den Himmel als das grosse und feste Geländer der Zuversicht von Ideologie und Glaube und dann das Ungleichgewicht des wirklichen Lebens, dank dem der Schriftsteller sein Leben findet und seine Neugier stillt. Wie schön bildet der aus der Achse gezogene Grundriss der Kirche von San Blasch dies doch ab, wie kunstfertig haben die Maurer doch den vom Leben verbogenen Chorbogen doch hingekriegt! 3. Station: drei Pausen mit Luisa Famos auf den Wiesen über Tschlin und Vnà Erste Pause: Die Fee der Kindheit Meine Grossmutter in Schiers schloss die Fensterläden und zog die Vorhänge im kleinen Stübchen. Es war stockdunkel. Wir sassen auf alten Polsterstühlen in einer Reihe. Und vor uns flimmerte und schneite schwarzweiss das Fernsehgerät. Es knirtschte. Und dann traten sie auf, die Heldinnen meiner Kindheit: Heidi Abel, Gerda Conzetti und Luisa Famos. Sie waren Fernsehansagerinnen. Und drehte ds Nani den Schalter ab – schuit – waren sie verschwunden. Sie waren nicht aus Fleisch und Blut – sie waren die Feen aus dem Märchen, die der Prinz nur anhimmeln, aber nicht ergreifen konnte.

Luisa Famos war eine zartgliedrige Fee mit pechschwarzen Haaren. Und als Prättigauer Büblein hat mich schon stark beeindruckt, dass die Romanischen hatten was wir uns nicht einmal zu wünschen wagten – eine Sendung nur für sie. Am Sonntagnachmittag. So sass ich also im stockdunklen Stübli, schaute «Il balcun tort», verstand kein Wort. Und ich schaute geduldig den endlosen Schlittenfahrten durch verschneite Landschaften auch darum zu, weil ich wusste, dass nachher Laurel und Hardy auftreten würden. Was mir ausser endlosen Schlittenfahrten und dem endlosen Heuen noch vorgeführt wurde, weiss ich nicht mehr. Mir blieb aber die romanische Fee Luisa. Später löste übrigens Leta Semadeni sie ab, auch sie eine Dichterin des Unterengadin. Jahre später lernte ich, dass die Fee Luisa eine grosse Dichterin aus dem Unterengadin wurde. Die Schlittenfahrer- und Heuerlandschaft aus dem Unterengadin war ihr erstes grosses Thema. 1930 in Ramosch geboren, wurde sie Lehrerin, zog in die Welt und das Leben, kam immer wieder in die Landschaft, durch die wir wandern, zurück und besang sie. Ihre Formen, ihre Düfte, ihr Licht; ihre Menschen und ihre Tiere. Immer wieder die Schwalben, die Randulins, die wie ihre Verwandten und Vorfahren weggezogen waren, reich zurückkamen oder irgendwo untergingen. Wir hören in unseren Wanderpausen Luisa Famos’ Gedichte. In der richtigen Sprache liest sie Urezza Famos vor, Luisa Famos Nichte. Und ich laufe ihr mit der Übersetzung nach. Luisa Famos besang die Schwalben, die Jahreszeiten in ganz neuen Worten und sie besang die Dörfer, sie gab den Kirchen, die wir besuchen Worte und sie liess die Glocken läuten, deren Klang dem Unterengadin die Musik geben. Gedicht: Glockengeläut. Und immer wieder die Landschaft. Wie niemand zeigt uns eine Dichterin, was Landschaft ist, im Unterschied zu Natur. Sie ist ein Bild, das jeder und jede sich macht aus Eindrücken seiner Sinne, aus seinen Erfahrungen, aus dem Wissen über Unwetter und dem ewigen Lauf der Sonne, zum Mond, zu den Sternen. Gedicht: Es tagt. Zweite Pause: Landschaft Luisa Famos lernte Lehrerin, sie gab Schule im Dischma, im Appenzellischen, in der Nähe von Zürich. Sie lebte in Paris. Sie dichtete Vallader und Französisch mischend, immer wieder heimkehrend ins Engadin, das sie auch verlassen hatte, weil sie ganz und gar nicht einverstanden war, wie die Kraftwerksgesellschaften die Landschaften zu Stromlieferanten umpflügten. Sie gründete eine Familie, lachend strahlen Kinder und Mann aus den Fotografien, die in ihren Büchern abgedruckt sind in den Voroder Nachworten. Und sie war dabei im losen Kreis der romanischen Dichter, die einander ihre Texte in einer neuen Sprache vorlasen und so eine Kultur vorwärtsbrachten – zeitgenössische Literatur aus einer Bauern- und Alltagssprache schöpfend. Tief imprägniert von der Landschaft, von der Arbeit auf dem Feld, von der Melancholie, dass diese Landschaft und Lebenswelt verschwinden wird in den Stauseen für den Strom, in den Zirkussen des Fremdenverkehrs und im urbanen

Leben, das das alpine abzulösen begonnen hat – tief imprägniert von der Landschaft war in den Sechziger Jahren die erste Blütezeit der Dichterin Luisa Famos. Und immer wieder diese tiefe Melancholie über dem Abschied, über dem Abend, über dem Kreis, der sich schliessen wird. Gedicht: Ein Blatt vom Haselstrauch Landschaft gibt es nur dank Arbeit, dank hacken, jäten, fällen, lichten, graben, wehren, aufschütten, her- und fortkarren. Landschaft, die die bäuerliche Familie brauchte, um zu überleben. Guten Boden am steilen Hang, dank der Terrassen, wie wir sie noch in Spuren sehen im Unterengadin; fruchtbaren Boden dank der Wasserleitungen. Landschaft ist erst für uns Wandererinnen und Wanderer schön, Luisa Famos’ Vater würde wohl staunen, wenn er sie die Landschaft dichten hörte. Landschaft, die er mit Hacke, Beil und Seilzug gestaltet hat. Nützlich, nicht verzaubert. Luisas Vater ist der Grossvater von Fadrina und Florio, den Kindern von Luisa und Jürg Pünter Famos. Und er würde staunen über die grossartige Poesie der Landschaft, die Florio, Luisas Sohn, gelingt, nicht als Dichter, sondern als Fotograf. Einer der grossen des Kantons. Die Künstler, wir Wanderer, ich Feuilletonist – wir verdanken unser Sehen der Dichterin. Gedicht: Augustnachmittag Dritte Pause: Amerika und Sterben 1969 zügelte die Familie Pünter Famos nach Honduras. Jürg Pünter hatte als Ingenieur einen Kraftwerksbau zu leiten. Eine heitere Wendung des Schicksals, war ja seine Frau jung auch aus Protest gegen die Kraftwerkbauer fortgezogen aus dem Engadin. Es sei, sagt die Biografin Mevina Puorger, eine grosse Zeit für die Dichterin gewesen, die Fremde erleben, sehen, sich wehren und Gedichte schreiben. Wie sie das Unterengadin vermessen hat, vermass sie die Städte und Lebensformen in Honduras und Venezuela, bedauert die Indianer, die ihre Hütten verliessen, verführt von den Leuchtreklamen der Grossstadt, so wie viele von uns es in Graubünden auch getan haben und tun – fort ins Unterland – auf die Hochschule, die Redaktion oder die Grossbank ins bessere Leben. Und die kleine Indianerin Carmencita brachte Luisa Famos ebenso an den Inn wie die brennende Sonne aus dem Dschungel. Und der erste Indianer fischte auf Vallader. Gedicht: Junger Indianer beim Fischen 1972 kam Luisa Famos’ Familie in die Schweiz zurück. Jürg Pünter baute an der Nationalstrasse und Luisa Famos schrieb. Fernsein, Liebe, ewiger Kreis, Vogelflug und das Zittern des Kornfeldes. Es war keine Rückkehr in die heile Schweiz. Eine schwere Krankheit drückte sie nieder. Schwere Operationen, Erholung in Ramosch, Rückfälle. Mevina Puorger, ihre Biografin, schildert aus der Lektüre der Gedichte, aus Gesprächen mit der Familie einfühlsam den langen Abschied der Luisa Famos von der Welt und ihren Liebsten. Die Dichterin wusste, dass der Krebs kein Erbarmen kennen würde. Am 28. Juni 1974 starb Luisa Famos in Ramosch, 44 Jahre alt. Ihr letzter Gedichtzyklus ist ein grandioses Memento mori, eine Auseinandersetzung mit dem Sterben und mit den letzten Dingen. Auch mit der Religion, den Mythen und den Engeln, diesen Schatten der Schwalben. Gedicht: Der Engel mit den goldenen Flügeln

4. Station: Kirche in Vnà Wulfin à Porta begann seine Arbeit als Pfarrer von Vnà in den 1520iger Jahren als römischer Priester. Die Zeiten waren unruhig, die grösste kulturelle und soziale Erschütterung ihrer Geschichte schüttelte die Christenheit. Reformer machten dem Papst Macht und Heiligkeit streitig. Die Reformation teilte die Christenheit und sie teilte Graubünden. Spräche ich über Gründe und Folgen einlässlich, wären wir in zehn Tagen noch da. Nur so viel: Der über viele Jahrzehnte auch das Engadin beherrschende Churer Bischof schwankte im 16. Jahrhundert ökonomisch und politisch. Lokale Aristokraten hatten die Zügel und die Ausplünderung der Bauern in die eigenen Hände genommen. 1526 setzten die Gemeinden Dreibündens an ihrem Bundestag in Ilanz durch, dass sie künftig selber bestimmen, ob ihre Einwohner römisch oder evangelisch selig werden und dass sie und nicht der Bischof die Pfarrer wählen. Das war der Beginn der Reformation in Graubünden und das Engadin wurde zu ihrer politischen und kulturellen Avantgarde. 1530 wandte sich auch a Porta von Vnà mit den Seinen von Rom ab. Ich erinnere mich an meine Kindheit in Malans. Fabio, mein Bubenfreund, war ein Secondo und ein Katholik. Seinesgleichen gab es wenige im Dorf, wir hatten eine Kirche – wo schon Ulrich Champell, der erste Schriftsteller Graubündens, gepredigt hatte, sie hatten eine Kapelle im Keller eines Einfamilienhauses. Ab und zu ging ich mit zur Messe. Obschon sich auch die katholische Kirche verändert hatte seit der Reformationsszeit – hier schwebte Magie mit, wenn der Priester die Hostie brach, Fabio Ministrant dazu eifrig den Weihrauch schwenkte, der Priester die Sakramente verkündete, zur Wallfahrt einlud und die Prozession ankündigte – und was für ein Priester er war. «Bruder Alois» durfte auch ich als Fremdgläubiger zu ihm sagen. Er hatte eine braune Kutte und einen schwarzen Bart, stand barfuss in den Sandalen und spielte mit uns Ketzerbüblein Völkerball in der Pause. Ganz anders als der strenge und asketische Hans Senn, zu dem wir Herr Pfarrer sagen mussten. Kurz – mich faszinieren die Römlinge, die Weihrauchtrinker und Kreuzbeter seit Bubenzeiten. Die Neugläubigen verliessen mit der Reformation den römischen Kosmos der Bilder – die Magie, die Sakramente, Symbole, Legenden und Heiligengeschichten. So verkauften auch Wulfin à Porta und die Seinen aus Vnà ihren Altar ins altgläubige Tirol und übermalten die Fresken ihres Kirchleins. Denn statt auf Bilder und Legenden, setzten die reformierten Priester voll aufs Wort. Sie nannten ihren Beruf im Untertitel «Minister da pled dal dieu», Diener am Wort des Herrn. Die Propaganda des göttlichen Wortes ohne Bilderzauber war ihre Aufgabe. Und dieses Wort bedienten sie nicht in Latein, das kein Mensch verstand, sondern in Vallader. Keineswegs aber waren sie nachlässig in der Zucht des Kirchenvolkes, der Sonntag gehörte sowieso dem Liebgott, zweimal frühmorgens eine bis zwei Stunden Predigt unter der Woche war aber ebenso obligatorisch wie ein christliches Leben rund um die Uhr und Kampf gegen die Sünde immerdar. Es ist für uns Nachgeborene unvorstellbar, wie die Religion – ob alt – oder neugläubig – das Leben im Mittelalter und der Neuzeit bis noch ins zwanzigste Jahrhundert auf dem Land durch und durch beherrscht hat. Stellen wir uns nun vor, wie die Leute von Vnà – und zwar alle – dreimal wöchentlich im weiss gekalkten Kirchlein sassen. Die hatten es schlimmer als Sie, denn wenn ich

aufhören werde mit Reden, käme der Prädikant à Porta erst richtig ins Feuer. Und was Ihnen nach dem langen Marsch passiert, geschah auch Ihren Vorgängern. Sie schliefen sanft ein. Das war offenbar ein grosses Problem, denn 1709 liess der der Unterengadiner Pfarrer Conradin Riola eine «Trommeta spirituala per excitar tots dormentzats pecciaders, in special quels chi dormen in Baselgia & Chiasa da Dies» erschallen. Auf 192 Seiten baut Riola in siener «geistlichen Trompete» wider alle eingeschlafenen Sünder, speziell die Kirchenschläfer» die wohl erste Theorie des Schlafes auf. Er unterscheidet dazu den Schlaf «in seinem eigentlichen und seinem übertragenen Sinn». Der eigentliche Schlaf kann gewöhnlich oder aussergewöhnlich sein. Den gewöhnlichen Schlaf kann man verbieten oder erlauben, den aussergewöhnlichen nicht, denn er hat natürliche oder übernatürliche Ursachen. Mit einem intellektuellen Salto kommt er unvermittelt zum Schluss, dass der ewige Schlaf, der Tod, für alle ob arm oder reich, gleich sei - ausser für Gläubige und Ungläubige. In einem grossen Teil des Traktats aber begründet Conradin Riola, warum der Schlaf in der Kirche, nicht nur für ihn, den Prediger, ein Ärgernis ist, sondern eine schwere Sünde. Er holt dazu aus in den Schriften der Kirchenväter und führt reihenweise praktische Argumente an. So die einleuchtende Einsicht, dass der Schläfer das Wort Gottes nicht hört und also nicht gerettet werden kann. Dann – biblisch belegt – eine Theorie des richtigen Schlafs zur richtigen Zeit. Also in der Nacht im Bett und nicht am Tag in der Kirche oder bei der Arbeit. Und das richtige Mass ist unabdingbar, nicht zu lang und nicht zu kurz. Und die richtige Vorbereitung, kein Schlaf ohne Gebet vorher, wie überhaupt nichts gebetslos geschehen darf. Und man muss sich auch hüten, vor dem Schlaf eine Sünde zu begehen in der falschen Meinung sie so vergessen zu machen. Leise übt er aber auch an Seinesgleichen Kritik. Wenn die Predigt einschläfert, so schläft der Gläubige halt ein. Also muss er geweckt werden mit gottdurchdrungenen Worten. Doch Riola vertieft diesen medienkritischen Ansatz nicht, der Täter ist für ihn klar – der von der Sünde beherrschte arme Sünder. Und damit wir heute Abend gut einschlafen können, gebe ich uns Erkenntnis und Rat von Conradin Riola mit. «Der Mensch hat die natürliche Ruhe von Gott erhalten zur Bewahrung seiner körperlichen Wärme, damit sich die Lebensgeister erholen und die müden Glieder kräftigen können. Der natürliche Schlaf wird durch Dämpfe verursacht, die vom Magen ins Gehirn steigen, wo sie die Sinne ausser Funktion setzen.» Sorgen wir also dafür, dass wir dank gutem Essen und schönem Trinken genügend Dämpfe produzieren und dann selig in die Kissen fallen.

Die Quellen meiner Kirchenworte Hans Batz. Die Kirchen und Kapellen des Kantons Graubünden. Band V, Chur o.J. Ulrich Campell. Zwei Bücher rätischer Geschichte. Übersetzt, bearbeitet und herausgegeben von Conradin von Mohr. Chur 1851 Luisa Famos. Poesias. Gedichte. Arche Verlag, Zürich 1995. Florian Hitz. Campell als Wunderzeichendeuter. In Bündner Monatsblatt 1/2012, S. 3 – 24.

Jon Mathieu. Bauern und Bären. Eine Geschichte des Unterengadin von 1650 bis 1800. Chur 1987 Jon Mathieu. In der Kirche schlafen. Eine sozialgeschichtliche Lektüre von Conradin Riolas «Geistlicher Trompete» (Strada im Engadin, 1709) in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Band 87, 1991, S. 121–143. Ulrich Pfister. Konfessionskirchen und Glaubenspraxis. In Handbuch der Bündner Geschichte. Band 2, S. 203 – 236. Mevina Puorger: Luisa Famos. Zu den Liedern der Ramoscher Schwalbe. In: Bündner Jahrbuch, 53, 2011. S. 70-78. Pfarrer Ferd. Sprecher. Der letzte Hexenprozess in Graubünden. In Bündnerisches Monatsblatt 11/1936. S, 321 – 331.