Freihandel zwischen EU und MERCOSUR: Auswirkungen von Freihandel, Liberalisierung und Privatisierung auf Entwicklung und Menschenrechte

Negociaciones entre la EU y el MERCOSUR: Efectos del libre mercado, de la liberalización y la privatización sobre el desarrollo y los derechos humanos...
Author: Maria Bachmeier
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Negociaciones entre la EU y el MERCOSUR: Efectos del libre mercado, de la liberalización y la privatización sobre el desarrollo y los derechos humanos FDCL -Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile - Lateinamerika e.V., Berlin

Freihandel zwischen EU und MERCOSUR: Auswirkungen von Freihandel, Liberalisierung und Privatisierung auf Entwicklung und Menschenrechte Wolfgang Hees Einleitung: Als gebürtiger Brasilianer, als Kleinbauer in Deutschland, als ehemaliger Geschäftsführer eines Brasiliensolidaritätsnetzwerkes von mehrerer Dutzend NRO und natürlich als Caritas – Mitarbeiter mit unserem Auftrag „Hilfe für Menschen in Not“ ist es leicht ersichtlich, welche Schwerpunkte ich in diesem Vortrag setzen und für welchen Bevölkerungsgruppen ich mich besonders interessieren werde: die Bevölkerungsgruppen am unteren Rande der Gesellschaft und besonders diejenigen im ländlichen Raum. Bezogen auf Brasilien bedeutet dies gleichzeitig: Bezug auf die Bevölkerungsmehrheit- im ländlichen Raum als Kleinerzeuger, im städtischen Bereich als familiäre Verbraucher – ein Bezug auf die Mehrheit, auf das brasilianische Volk. Der Titel des Vortrages ist mit Auswirkungen „auf Brasilien“ sehr breit gewählt und ich habe mich entschlossen, die 30-minütige Sprechzeit dazu zu nutzen, anwaltschaftlich für diese Bevölkerungssegmente zu sprechen. Dabei möchte ich im Vorfeld betonen, dass sich meine Gedanken an den ganz konkreten Rahmenbedingungen des Brasiliens von heute orientieren, das ich großen Respekt vor der internationalen Politik Lulas habe, seine Initiative bezüglich der Schwellenländer, der großen Nationen des Südens und der wachsenden Zahl der G 20(plus) gegenüber der Hegemonie der Wirtschaftsnationen des Nordens begrüße. Obwohl ich – als Bauer in der EU und besonders als Biobauer unter einer grünen Agrarministerin in Deutschland von Agrar-Subventionen profitiere – bin ich kritisch gegenüber Marktabschottungen und Agrarsubventionen, die Märkte und Macht garantieren. Ebenso kritisch bin ich gegenüber einem ungebremsten „Freihandel“, der viel weniger frei ist, als behauptet wird und der mir bei meinen regelmäßigen Besuchen, z.B. in Mexiko oder Kolumbien allgegenwärtig ist: Länder, die sich einst selbst mit Nahrungsmitteln versorgten und in denen sich Landwirtschaft heute nicht mehr lohnt. Längst haben sie die Fähigkeit zu Selbstversorgung eingebüßt und sind abhängig von den „billigen“ (da subventionierten) Importen vom Weltmarkt. Kleinbäuerliche Landwirtschaft wird ein Zusatzgeschäft von dem keiner mehr seine Familie ernähren kann: Millionen werden arbeitslos und lohnend bleibt allein der Anbau von Exportgütern – wie der afrikanischen Ölpalme, Soja – und von Drogen! In der Einleitung durch Jan Dunkhorst vom FDCL und von meinen Vorrednern wurde der Spagat zwischen Freihandel und Menschenrechten angesprochen. Dabei müssen die Menschenrechte Vorrang vor wirtschaftlichem Kalkül behalten! Mir geht es in meinem Beitrag besonders um das Menschenrecht, sich zu ernähren und um die Morde, die Bedrohung und die Verfolgung, wie sie in Brasilien im Rahmen der Landkonflikte leider weiterhin alltäglich sind.

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1. „Null Hunger“ - Programm versus Realität Ausgangspunkt dieser ersten Überlegungen ist die Überzeugung, dass es die primäre Aufgabe der Landwirtschaft ist, die Bevölkerung zu ernähren, die in diesem Land lebt. Konzepte der Subsistenz und regionaler Wirtschaftskreisläufe sind gerade im primären Wirtschaftssektor der Landwirtschaft logisch und sinnvoll, prägen Kulturen, Wirtschaftsformen und den Umgang mit der natürlichen Umwelt. Die volksnahe Regierung der Arbeiterpartei PT unter Präsident Lula hat sich der Ernährungssicherung eines Brasil sem fome - „Brasilien ohne Hunger“ - für alle Staatbürger als wichtigste Aufgabe gestellt. Noch sind wir weit davon entfernt, dass dieses Ziel erreicht wird. Die Programme der Regierung Lula sind in einigen Bundesstaaten angelaufen, erreichen aber noch lange nicht alle Hungernden im Lande. Kritik wird vor allem an den stark assistentialistischen Komponenten, dem geringen strukturellen Ansatz des Programms geübt und auch die Mittelausstattung ist dem Ausmaß des Problems nicht gewachsen. Vielleicht sind dies Begleiterscheinungen eines Nothilfeprogramms, die später – wenn die politischen Voraussetzungen dafür geschaffen wurden - überwunden werden können. Die Zusammenfassung verschiedener miteinander nicht koordinierter Sozialprogramme mit unklarer Datenbasis in eine Bolsa familiar, einem „Familienstipendium für arme Familien“ ist sicher ein erster wichtiger Schritt für diese Hilfen. Setzt man als Basis eines „Brasilien ohne Hungers“ die minimal notwendige Versorgung mit Kalorien nach der Weltgesundheitsorganisation WHO an, so werden dafür in Brasilien 79.R$ (23.- €) pro Person und Monat benötigt. Auf dieser Basis haben verschiedene Nichtregierungsorganisationen wie die Stiftung Getulio Vargas, die Aktion für Bürgerrechte (Ação da cidadania) und andere (SESC Rio, Banco de Alimentos, Rio etc.) im April 2004 die Hungerkarte Brasiliens aus dem Jahr 2001 aktualisiert. Jeder dritte Brasilianer lebt danach unter der Armutsgrenze und kann sich nicht einmal mit den notwendigen Kalorien versorgen. Jeder dritte Brasilianer bedeutet: 56 Millionen Menschen und entspricht damit der Bevölkerung Frankreichs! Die regionale Verteilung des Hungers in Brasilien ist eindeutig zu beschreiben: Die fünf Bundesstaaten mit der ärmsten Bevölkerung liegen in Nordostbrasilien und dort finden sich auch 40 der 50 ärmsten Städte des Landes, die übrigen 10 liegen in der Nordregion Brasiliens. Am wenigsten Hungernde finden sich in den Bundesstaaten des Südosten und Süden des Landes, die wenigsten hungern in Rio Grande do Sul, (37 der 50 bestversorgten), 9 in Santa Catarina und 7 in Sao Paulo. Gehungert wird sowohl im städtischen wie auch im ländlichen Umfeld, doch allgemein ist festzuhalten, dass der Hunger im ländlichen Raum größer ist. Die Unterversorgung mit Kalorien erreicht Extremwerte in Jordão (AC) 94,56% der Bevölkerung, in Belágua (MA) 93,75%, Pauini (AM) 91,95% und Guaribas (PI) 91,16%. Die beste Versorgung mit nur 1,16% Hungernder findet sich in Harmonia (RS), Águas de Sao Pedro (SP) 2,55%, Treviso (SC) 4,29%. Meine Heimatstadt Ivoti/RS gehört mit 5,98% Unterversorgten noch zu den 50 bestversorgten Munizipien – aber ist es nicht schon deutlich zuviel, wenn jeder 17. Einwohner sich nicht einmal ausreichend ernähren kann? In einem Land, das potentiell eine dreimal größere Bevölkerung ernähren könnte, als dort aktuell lebt?

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Bundesstaat 5 Staaten mit der ärmsten Bevölkerung: Maranhão Alagoas Piauí Ceará Bahia 5 Staaten mit weniger Armen Rio de Janeiro Rio Grande do Sul Distrito Federal Santa Catarina São Paulo

% Hungernde 68,42% 63,75 63,30 58,65 57,89 19,45 18,36 17,06 15,36 14,25

Interessant bei dieser Erhebung ist für unsere weitere Betrachtung besonders die Tatsache, dass die Bundesstaaten mit der höchsten Konzentration an Kleinbauern sich sowohl unter denjenigen mit sehr vielen Hungernden (Piaui, Maranhão, Bahia) wie auch unter denen mit sehr wenigen Hungernden (Rio Grande do Sul wie auch Santa Catarina) finden. Auch die landwirtschaftliche Arbeitskräfte, rund 7 % der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung Brasiliens (ca. 4,5 Mio.), konzentrieren sich auf den Südosten (39 %) und den Nordosten (36%). Weniger als 30%, im Nordosten sogar nur unter 20% der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte arbeiten mit Arbeitspapieren, d.h. gerade mal jeder fünfte Arbeiter hat Arbeitnehmerrechte und eine Sozialversicherung! Über 80% der nichtfamiliären Kinderarbeit, geschätzt auf ca. 500.000 arbeitende Kinder zwischen fünf und 16 Jahren, arbeiten in der Landwirtschaft, also vier von fünf Kinderarbeitern ist Knecht in der Landwirtschaft.

2. Exkurs: Auslandsverschuldung Ohne das Thema der Auslandsverschuldung an dieser Stelle vertiefen zu wollen, müssen wir in einem kleinen Exkurs wichtige Rahmenbedingungen reflektieren, ohne die eine Bewertung der Logik und der Auswirkungen des „freien Handels“ nicht möglich ist. Brasilien ist im Ausland (wie auch im Inland) hoch verschuldet. Ein Großteil dieser Schulden stammt aus den Zeiten der Militärdiktatur und gehört definitiv zur Kategorie der illegitimen Schulden, der Schulden gegen das Volk, an denen sich die herrschenden Klassen bereichert haben und für die bis heute die brasilianische Bevölkerung zahlen muss. Mit rund 300 Mrd. USD entsprechen die Schulden Brasiliens mehr als 60% des Bruttoinlandsproduktes. Auch unter den demokratisch gewählten Regierungen Fernando de Mello und Fernando Henrique Cardoso erhöhte sich der Schuldenberg, es wurde umgeschuldet und die Zahlungsverpflichtungen an Zinsen wurden weitgehend bedient. Die eigentlichen Schulden einzutreiben wurde von den Gläubigern nie ernsthaft versucht, stattdessen wurde die Abhängigkeit genutzt, um Einfluss auf die brasilianische Wirtschaft zu gewinnen, Ressourcen 3

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auszubeuten und profitable Staatsunternehmen zu übernehmen. Dabei gewannen auch in Brasilien die internationalen Finanzinstitutionen weitgehenden Einfluss bis hinein in die Sozialpolitik – und insbesondere zu Kürzungen in diesem Bereich. Auch die Regierung Lula ist – entgegen den radikalen Versprechungen in ihrem Wahlkampf – das Thema der brasilianischen Auslandsverschuldung nicht grundlegend angegangen, vielmehr muss sich Lula heute hinter seinem Amtskollegen Kirchner aus Argentinien verstecken, der bei IWF und Weltbank aus einer schwächeren Position heraus wesentlich bessere Verhandlungsergebnisse erzielte, als die Brasilianer. Lula gilt heute – ganz anders als vor den Wahlen – sowohl bei den internationalen Finanzinstitutionen wie auch bei Privatinvestoren und Anlegern als „sicherer“ Kandidat. Das „Risiko Brasilien“ (der Zinsaufschlag auf brasilianische Staatsanleihen) ist im Verlaufe seiner Amtszeit deutlich gesunken. Lula hat sich als Musterschüler des Schuldenzahlens erwiesen: er verschärfte sogar noch den Sparkurs seines Vorgängers Cardoso; er setzte die Zinsen hoch, um ausländisches Kapital anzulocken, bremst damit gleichzeitig die Konjunktur im Land und erhöht die Arbeitslosigkeit. Vor etwa einem Jahr – nach den ersten 100 Tagen Amtszeit – bezeichnete Lula Brasilien als einen Transatlantikdampfer: „Wenn wir nicht ganz vorsichtig umsteuern, können wir sinken.“ Aber die Titanic sank, da der Kapitän nicht beherzt umsteuerte .... Immerhin glaubt Lula nicht unsinkbar zu sein! Welchen Spielraum die Regierung Brasiliens bei den internationalen Verhandlungen wirklich hat, ist schwer einzuschätzen. Eine Erörterung würde an dieser Stelle auch zu weit führen. Klar hingegen ist der geringe Spielraum den Brasilien dank der Schulden zur Politikgestaltung noch hat: über zwei Drittel der Staatseinnahmen fließen in die Zinszahlung und geringe Tilgungsanteile. Der gesamte Handelsbilanzüberschuss des Exportmeisters Brasilien reicht nicht aus, um die Schulden abzubauen. Die Sahnestückchen unter den brasilianischen Staatsunternehmen wurden teuer modernisiert, dann billig verkauft oder zerschlagen. Für Sozialprogramme und strukturelle Reformen bleiben keine Ressourcen übrig und prioritär werden vom Staat heute die Sektoren bedient, die Devisen schaffen. Die Bemühungen des brasilianischen Staates, den Handelsbilanzüberschuss weiter zu erhöhen, bestimmen heute die brasilianische Agrarpolitik, da die Landwirtschaft der wichtigste Devisenbringer ist. Die Agrarförderung konzentriert sich weitgehend auf den Exportsektor. Dort spielen Kleinbauern keine Rolle und somit konzentrieren sich die Fördermittel auf das Agrobusiness. Es gewinnt komparative Vorteile und verdrängt die kleinbäuerliche Produktion. Mit einer Verbesserung der Konditionen für das Agrobusiness auf dem Weltmarkt wird sich die Verdrängung weiter verstärken.

3. Ein Ministerium für Agrobusiness und Großgrundbesitz versus einem Ministerium für familiäre Landwirtschaft und Agrarreform Trotz der negativen Erfahrungen mit einem zweigeteilten Landwirtschaftsministerium in Rio Grande do Sul hat die Regierung Lula auf nationaler Ebene die Zuständigkeiten für den Agrarbereich in zwei Ministerien geteilt: eins für das Agrobusiness unter Roberto Rodrigues und ein weiteres für die familiäre Landwirtschaft und Agrarreform (MDA – Ministerium für landwirtschaftliche Entwicklung) unter Miguel Rosetto.

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Dabei wird nach kurzer Analyse klar, dass eine friedliche Koexistenz der beiden Sektoren nicht möglich sein kann, zu unterschiedlich sind die Interessen und Logiken der beiden Bereiche.

Großgrundbesitz/Agrobusiness Die Bodenbesitzverhältnisse in Brasilien zählen zu den ungerechtesten weltweit und die Notwendigkeit einer Agrarreform in Brasilien geht aus der ungleichen Landverteilung in Brasilien hervor: 56,4% der landwirtschaftlichen Betriebe verfügen über 5,5% der Gesamtbetriebsfläche Brasiliens, während 1,4 Prozent der größten Betriebe (über 1.000 ha) über 50 % der Landfläche verfügen. (lt. Atlas Fundiário Brasileiro der staatlichen Agrarreformbehörde INCRA) Mit der Einführung der Währung Real im Juli 1994 sanken die Preise für landwirtschaftliche Produkte um 37,5%, während die Betriebsmittelkosten für Dünger, Pestizide und Saatgut um 60,1% stiegen. Gleichzeitig wurden die Agrarkredite in den letzten zehn Jahren von 14,2 Mio. Real auf 4,5 Mio. Real gekürzt. Schlimmer für die kleinbäuerliche Landwirtschaft ist jedoch, dass es seit Amtsantritt von FHC keine subventionierten Agrarkredite für Kleinbauern mehr gibt, sondern die Subventionen allein den Agrarexporten und der Vermarktung (Produktbörsen, future-bonds) vorbehalten sind und daher vornehmlich die Großgrundbesitzer, die Banken und Händler profitieren. Die starke Förderung des Agrobusiness speist sich aus zwei Quellen: Eingeständnisse an die konservativen Koalitionspartner der Regierungskoalition mit ihren engen Kontakten zur starken Agrarlobby (bancada ruralista), den Großgrundbesitzer und dem Agrobusiness. Das Latifundium wird üblicherweise mit einer extensiven Bewirtschaftung, also wenig Arbeitskräften, wenig Kapital- oder Betriebsmitteleinsatz (d.h. Dünger, Pflanzenschutz, Pflegearbeiten, Maschinen und Bodenbearbeitung) und dementsprechend geringem Ertrag pro Flächeneinheit assoziiert. Doch diese Charakterisierung ist im Wandel begriffen, da zunehmend auch intensiv bewirtschafteter Großgrundbesitz anzutreffen ist. Klassischer wie „moderner“ Großgrundbesitz dient er neben der landwirtschaftlichen Produktion auch als Machtfaktor und wird zur Spekulation bezüglich des Bodenpreises und der Konzentration subventionierter Agrarkredite und Wirtschaftsbeihilfen genutzt. Während in anderen Ländern, wie z.B. auch im preußischen Obrigkeitsstaat eine Agrarreform von oben implantiert wurde, um über eine kaufkräftige Bauernschaft die Industrieproduktion anzuregen, so konzentrierte sich das brasilianische Kapital – in konsequenter Fortentwicklung kolonialer Strukturen - auf die Weiterverarbeitung und Vermarktung von Agrarprodukten für den Export. Eine Käuferschicht im eigenen Lande wurde erstmals im „Estado Novo“ von Getulio Vargas in den dreißiger Jahren interessant. Da jedoch die Agrareliten das Land als Basis ihrer Macht im Industrialisierungsprozeß verteidigten, wich man im Rahmen der Importsubstitutionspolitik mit hohen Zöllen auf andere Käuferschichten (z.B. im benachbarten Ausland) aus und schloss eine breite Masse der armen Bevölkerung aus. Damit setzte sich die Geschichte der Ausgeschlossenen, der „Excluidos“, fort. Sie hatte mit der Zwangsarbeit der brasilianischen Indios und dem Sklavenhandel mit Afrika begonnen. Das ländliche Proletariat barg immer ein gewisses Konfliktpotenzial, das aber schlecht organisiert war und nur in wenigen Fällen zu regionalen 5

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Aufständen wie dem Contestado in Rio Grande do Sul oder den Bauernligen unter Juliao in Pernambuco führten. Erst das Beispiel der kubanischen Revolution machte den Mächtigen, insbesondere aber deren Alliierten in den USA klar, wie weit solche Aufstände führen konnten. Daher genügte den USA die Installation von Militärdiktaturen – wie sie dann auch 1964 in Brasilien erfolgte – nicht mehr. Die Machtübernahme der Militärs war einerseits eine Konsequenz aus dem Aufstand der Bauernligen und der Sympathie von Präsident Janio Quadros gegenüber deren Forderungen für eine Agrarreform. Andererseits passte sie in die Konjunktur des CIA, der zu dieser Zeit seinen „totalen Krieg gegen die Armen“ in ganz Lateinamerika ausbreitete und überall Militärdiktaturen an die Macht brachte. Da man sich in den sechziger Jahren über deren Machtfülle und Kontinuität noch nicht sicher war, wurden sie durch das Reformprogramm „Allianz für den Fortschritt“ begleitet, das für kleine Strukturverbesserungen und die Agrarmodernisierung stand. Durch die neuen Technologien sollten mehr Nahrungsmittel produziert werden, um Hungerrevolten auszuschließen – und natürlich auch, um Maschinen, Dünger, Saatgut etc. aus den USA zu verkaufen. Die „grüne Revolution“ und die Nahrungsmittelhilfe durch Exportüberschüsse aus der hoch subventionierten USA-Landwirtschaft über „US-Aid“ setzten dieses Reformpaket in den siebziger und achtziger Jahren fort. Ein interessanter Aspekt an der „Allianz für den Fortschritt“ ist, dass die progressive Agrarreformgesetzgebung des „Estatuto da terra“ (Bodenrecht) aus der Zeit vor der Militärdiktatur nicht angetastet wurde und erst durch die neue Verfassung von 1988 verändert wurde. Das Problem war nur, daß es höchstens in Einzelfällen angewandt wurde, wenn organisierte Bauernfamilien auf ihr Bodenrecht pochten, unproduktiven Großgrundbesitz besetzten und seine Freigabe (bei Entschädigung des Besitzers) durch den Staat verlangten. Mit dieser Aktionsform der brasilianischen Landlosenbewegung MST geraten wir bereits in das Jahr 1975, als mit der Besetzung der Fazenda Annoni in Rio Grande do Sul die Besetzungen des MST begannen. Mittlerweile haben über 400.000 Familien rund sechs Millionen Hektar auf diese Weise dem Staat abtrotzen können – aber es war ein harter Weg über den beherzten lokalen Einsatz, der sich über viele Jahre hinzieht. Weit entfernt von einer staatlichen Agrarreform oder gar einer Agrarrevolution spiegelt es nur eine Politik der Ansiedlung im Einzelfall wider – was beiden Seiten bewusst ist. Der Staat will sein Modell nicht ändern und gestaltet es im Einzelfall auf Druck sozialverträglich, während das MST nicht die Macht hat, das neoliberale Modell mit Macht- und Landkonzentration in der Hand von Wenigen zu ändern. Doch die Wahrheit über die Situation auf dem Lande ist noch wesentlich dramatischer: es werden seit Jahrzehnten nicht nur keine Bauern angesiedelt, sondern das gegenwärtige Agrarmodell vertreibt sogar noch Bauern von ihrem Land. Nach neueren staatlichen Erhebungen sind es heute nicht mehr „nur“ 4,8 Millionen Kleinbauern- und Landarbeiterfamilien (Zahl von 1995), die auf der Suche nach einem Stück Land zum Leben und Arbeiten durch Brasilien herumirren, sondern mittlerweile rund 6 Millionen Familien! Das bedeutet nicht weniger als 20 Millionen Menschen. Gleichzeitig ist die Zahl der kleinbäuerlichen Betriebe im letzten Jahrzehnt von 5,8 Millionen auf 4,8 Millionen gesunken, d.h. eine Millionen Familien haben ihren Betrieb aufgeben müssen und zudem wurden hunderttausende landwirtschaftlicher Arbeitskräfte (meist Tagelöhner) entlassen, da sich die Produktion nicht mehr lohnte oder rationalisiert wurde. Doch die Studie zeigt noch mehr: zwischen 8 und 14 Millionen Brasilianer wollen heute den ländlichen Raum verlassen, da er ihnen weder ausreichend Arbeit noch Einkommen, 6

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Gesundheits- und Schulversorgung sowie sonstige Infrastruktur bietet. Drastisch sind die ländlichen Einkommen in den letzten Jahren gefallen: nach der aktuellen Studie produzieren Betriebe bis zu 80 Hektar im Durchschnitt nicht mehr als ein Drittel eines brasilianischen Mindestlohnes. Die Projektionen für die Zukunft sind noch schlechter. Nach Aussage der noch von F.H. Cardoso in Auftrag gegebenen Studie wären 600.000 effiziente (Groß-)Betriebe ausreichend, um ganz Brasilien auch bei steigender Bevölkerung zu ernähren und Produkte zu exportieren. Bleibt die Frage: Was passiert mit den anderen 4,2 Millionen, die heute noch produzieren, deren Betreiber aber gemäß der anderen Aussagen der Studie den ländlichen Raum verlassen wollen? Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in den Städten ist dort nur für wenige eine Arbeit zu finden. Der Rest: weitere Excluidos, sozial Ausgeschlossene, gleich ob auf dem Land oder in der Stadt. Die UN–Organisation für Lateinamerika CEPAL bewies durch ihre Studien schon Mitte der neunziger Jahre, dass eine Agrarreform das wirksamste Mittel für eine Sozialpolitik - und weniger für die makroökonomische Entwicklung Brasiliens - sei. Ein ländlicher Arbeitsplatz kostet einen Bruchteil eines industriellen Arbeitsplatzes – braucht aber eine entsprechende Agrarpolitik, um nachhaltig zu sein. Und damit gelangt man wieder zum Agrarmodell, welches nach der Definition des brasilianischen Präsidenten FHC nur das neoliberale Modell einer „modernen“ Landwirtschaft sein kann, die mit Agrarexporten die Handelsbilanz unterstützt und als „Zusatzaufgabe“ auch noch den Binnenmarkt versorgt. Der modernisierte Großgrundbesitz bleibt somit Dank seiner economy of scale unter den Bedingungen der neoliberalen Agrarpolitik, der Exportsubventionen und im Verbund mit der Agrarchemie und den Gentec-Firmen „zukunftsfähig“. Millionen von Bauernfamilien und noch unabschätzbare Gefahren für die Umwelt sind das sprichwörtliche „Bauernopfer“ auf diesem Weg.

Familiäre Landwirtschaft/Bäuerliche Familienbetriebe Trotz der großen Bedeutung für die Nahrungsmittelversorgung auf dem Binnenmarkt ist die Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft bis heute sehr gering. Die Regierung Lula hat eine Studie in Auftrag gegeben, die die bäuerliche Landwirtschaft registrieren und auf einer Karte darstellen soll. Diese Datenbank – die bis August 2004 erstellt sein sollte – soll dann Aufschluss darüber geben, wo welche Betriebe welche Produkte erzeugen, damit diese für den Binnenmarkt (!) genutzt werden können. Damit wird ein Richtungsentscheid der brasilianischen Regierung schon sehr deutlich: Bauern produzieren für den Binnenmarkt (durch billiger Weltmarktimporte unter starker Preiskonkurrenz) und das Agrobusiness exportiert. Freihandel bedeutet in diesem Sinne (geregelt durch das GATT-Abkommen) eine Bedrohung für die Kleinbauern: - Brasilien muss seine Hilfen für den Agrarbereich begrenzen (max. 912 US$ im Jahr 2004) - Importe dürfen maximal mit 33% besteuert werden - progressiv muss der Anteil der Importe für den Binnenmarkt angehoben werden 7

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durch die Gesetzgebung sind Pflanzen- und Zuchtlinien als intellektuelles Eigentum zu schützen, d.h. Nachbau kann geahndet und Nachbaugebühren können erhoben werden

Unter F.H.Cardoso wurden die Agrarimporte deutlich erhöht: - 65% des Weizenkonsums (von einem geschätzten Verbrauch i.H.v. ca. 8,5 Mio.Tonnen wurden importiert, dabei hätte man, wenn die zum Import benötigte Summe im Inland investiert worden wäre, rund 10 Mio. Tonnen Weizen erzeugen können, die Weizenfläche wäre dazu um 300% ausgedehnt worden und 1,5 Mio neue Arbeitsplätze wären entstanden. - Die Maisimporte wurden um über 400% erhöht, was Kosten i.H.v. 250 Millionen US$ bedeutete. Mit dieser Summe hätten in Brasilien über 500.000 Hektar neu bebaut werden können und 181.000 neue Arbeitsplätze wären entstanden. Die Vereinigung der Kleinbauern MPA (Bewegung der Kleinbauern) zählt heute mehr Mitglieder als die Landlosenbewegung und ist mit dieser eng verbunden. Sie hat die Datenbank der kleinbäuerlichen Betriebe von Lula als „zahnlos“ kritisiert, solange nicht wenigstens die staatlichen Organe und Programme dazu verpflichtet werden, ihre Einkäufe für das „Null-Hunger“ und ähnliche Programme über diese Betriebe zu organisieren – statt billige Importprodukte zu nutzen, die in ihren Ursprungsländern subventioniert werden und den brasilianischen Markt überschwemmen. Mittlerweile erhalten wir erfreulicherweise aber immer mehr Rückmeldungen von den kleinbäuerlichen Organisationen, Kooperativen der Landlosenbewegung und der Kleinbauerngewerkschaften, dass diese Programme nun greifen und ihre Produkte spezifisch nachgefragt werden. Nach 1,5 Jahren Regierungszeit scheinen somit erste Strahlen der Hoffnung! Ein nächster Schritt soll es nach dem Willen des MPA sein, auch die Nationale Versorgungskompanie (Conab) zu stärken, damit auch sie sich mit direkten und vorfinanzierten Käufen bei den Familienbetrieben eindecken könnte und anschließend z.B. die Sozialprogramme des Staates (Schulspeisung etc.) mit bäuerlichen Produkten bedienen könnte. Einig sind sich Regierung und Kleinbauern darüber, dass das noch unter F.H. Cardoso geschaffene „Nationale Programm zur Stärkung der familiären Landwirtschaft“ (PRONAF) nicht ausreichend für die Belange und Bedürfnisse der bäuerlichen Landwirtschaft war und ist. Doch auch unter Lula gibt es heute – nach Aussagen des MPA – kein kohärentes Programm für die Kleinbauern. Es fehlt eine Kreditpolitik für Kleinbauern, ihre Zusammenschlüsse und Kooperativen, eine Produktionsförderung und eine Politik zur Kommerzialisierung und Verarbeitung. Fast als obszön ist dabei die Tatsache zu bezeichnen, dass die Verhandlungspartner der EU in den Rahmenvereinbarungen EU-Mercosul fordern, dass der brasilianische Staat diese „Subventionen“ zu lassen habe. Im besten Fall haben diese „Strategen“ keine Ahnung, welche Subventionen es in der Eu-Landwirtschaft gibt….. Beispielhaft für das brasilianische Agrobusiness-Konzept ist die Agrarkreditpolitik: während eine Hundertschaft von Großbetrieben über den Ernteplan (Plano Safra) 27.000 Millionen an Krediten erhält, erhalten die Kleinbauern parallel über das PRONAF nur 5.000 Millionen. Da sie jedoch wesentlich mehr sind, werden lediglich 20% der Bauern erreicht. Nach einer Analyse der IBASE gelang es 2003 mit diesen Mitteln 3,3 Millionen Beschäftigten ihren Arbeitsplatz zu erhalten und 650.000 neue Arbeitsplätze zu schaffen.

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Von einer Priorisierung kann also nach Aussage des MPA „keinesfalls die Rede sein. Eine Datenbank wird unsere Probleme nicht lösen. Das ist kein Organisationsproblem, sondern ein Problem des politischen Willens“, so Altacir Bunde, Direktor des MPA. Heute erzeugt die kleinbäuerliche Landwirtschaft auf rund 4 Millionen Höfen (84% der landwirtschaftlichen Betriebe) rund 40% der Wertschöpfung der brasilianischen Landwirtschaft und erzeugen den größten Teil der Lebensmittel der Brasilianer (fast 70% der Bohnen, 84% des Manioks, 58% des Schweinefleisches, 54% der Milch, 49% des Mais und 40% des Geflügels und der Eier. Zur kleinbäuerlichen Produktion einige aktuelle Daten nach Produkten und Regionen:

Anteil der familiären Landwirtschaft am Bruttoproduktionswert einzelner Produkte %-Anteil an Baum- Reis Zucker Zwiebeln Bohnen Maniok Mais Soja Gesamtfläche wolle Nordosten 43,5 56,3 70,3 7,5 57,0 79,2 82,4 65,5 2,7 Zentraler 12,6 8,9 23,4 2,7 2,2 21,8 55,6 16,6 8,4 Westen Norden 37,5 83,6 52,6 43,8 31,1 89,4 86,6 73,3 3,5 Südosten 29,3 23,5 51,3 8,6 43,9 38,3 69,8 32,8 20,3 Süden 43,8 58,8 21,3 27,2 92,1 80,3 88,9 65,0 50,8 Brasilien 30,5 33,2 30,9 9,6 72,4 67,2 83,9 48,6 31,6 Region

Aus: Candeia 5/2003, auf Basis von INCRA/FAO-Daten

Auf einer Tagung des „Runden Tisches Brasilien“ bei Frankfurt nahm im Dezember 2003 nahm auch Frei Sérgio Görgen teil, Mitbegründer des MST, Mitglied der CPT und heute Bundesabgeordneter für die Arbeiterpartei PT. Er bezeichnete 2004 als ein „entscheidendes Jahr für die Regierung Lula“. Gerade im Agrarbereich müsse sie sich für ein dominierendes Landwirtschaftsmodell entscheiden. Soll es die vom Landwirtschaftsminister Rodrigues geförderte, exportorientierte Landwirtschaft oder die vom Minister für landwirtschaftliche Entwicklung (MDA) Rossetto geförderte kleinbäuerliche Landwirtschaft sein? Beides wird nach Einschätzung von Frei Sergio nicht gehen, so dass eine Entscheidung fallen muss. Dass diese Entscheidung der gesellschaftlichen Debatte und des massiven Drucks aus der Zivilgesellschaft bedarf, stand für ihn ebenfalls außer Frage. Nationale und Internationale Solidaritätsarbeit ist also weiter gefragt, um eine Agrarreform voranzubringen, die „massiv“, also für sehr viele Familien und „qualitativ“ ist, also auf Nachhaltigkeit der kleinbäuerlichen Produktion angelegt ist.

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4. Die Verschleppung der Agrarreform Am 19.11.2003 kamen nach neun Tagen Marsch etwa 2.000 Landarbeiter/innen aus 12 verschiedenen Bundesstaaten in Brasilia an. Es sind nicht nur Mitglieder des MST, sondern Anhänger verschiedener Organisationen, die im „Nationalen Forum für die Agrarreform“ zusammengeschlossen sind. Start war Goiania und grundsätzliches Ziel war es, der Forderung nach der Ansiedlung von 1 Million Familien innerhalb der Jahre 2004 bis 2007 Nachdruck zu verleihen. „Wir sind nach Brasilia gekommen, um dafür zu sorgen, dass die Regierung Lula diesen Moment nutzt und auf die historische Forderung der Brasilianer zur Verteilung des Landes eingeht“, sagt Joao Paulo Rodrigues aus der Nationalleitung des MST. Grundlage der Agrarreform sollte ein Plan sein, der unter der Leitung von Plínio Aruda Sampaio ausgearbeitet wurde. Er ist auf Agrarfragen spezialisierter Rechtsanwalt und ehemaliger Bundestagsabgeordneter der PT. Plinio hat selbst diesen Plan als eine „wirkliche Operation gegen die Landkonzentration, die die ländliche Bevölkerung schwächt und sie vom Agrobusiness und den Großgrundbesitzern abhängig macht“ bezeichnet. Landverteilung dagegen fördere die Einkommensverteilung, verringert die Arbeitslosigkeit und gebe gerade den Ausgeschlossenen der Gesellschaft eine Perspektive. Nach der Audienz mit Präsident Lula machte sich dann Enttäuschung breit. Aus den geforderten und im „nationalen Plan für die Agrarreform“ (PNRA) genannten 1 Million Familien waren lediglich 400.000 Familien geworden, die erst im Laufe der nächsten 4 Jahren angesiedelt werden sollen. Die von der Regierung vorgetragenen Zahlen wurden als ängstlich und auch als unpräzise empfunden. Neben der Landverteilung geht es nämlich auf noch um die Vergabe von landwirtschaftlichen Krediten und um die rechtliche Regulierung von kleinbäuerlichem Landbesitz. Lula hatte auf der Versammlung mit Vehemenz bekräftigt, dass er „sterben wolle im Kampf um eine Landreform“. Wie das Konzept aber konkret umgesetzt werden soll, ist nicht klar geworden. Besonders die Finanzierung durch den starken Mann der Regierung, Finanzminister Palocci, blieb im Dunkeln. Joao Pedro Stedile vom MST hat noch einmal betont, dass das brasilianische Volk lange gewartet habe, bis es den Präsidenten „companheiro“ nennen konnte, jetzt erwarte es Veränderungen, insbesondere die Durchführung einer Agrarreform. Der Autor des Planes, Plinio Aruda Sampaio sagte: „Wir haben etwas gewonnen, nicht alles“. Der Druck von unten sei weiter notwendig, um die Agrarreform zu beschleunigen. Im April 2004 hat die Landlosenbewegung konsequent den Druck erhöht: 70 überwiegend unproduktive Ländereien wurden besetzt, die höchste Quote der letzten fünf Jahre. Gleichzeitig erhielt die Landlosenbewegung eine deutliche Unterstützung der ökumenischen Landpastoral CPT, die sich erstmalig für die Besetzung produktiv genutzter Großfarmen einsetzte. Der zuständige Bischof Dom Tomas Balduino rechtfertigte dies als „patriotisch, da es auf eine Demokratisierung des Bodens abziele. Die Diktatur des Großgrundbesitzes, die noch aus der Kolonialzeit stamme, existiere weiter und die Verteilung von Acker- und Weideland an landlose Familien komme nur schleppend voran – daher müsse die Agrarreform heute auf Flächen jeder Art realisiert werden“. Der Verfassungsartikel, der die Enteignung von Großgrundbesitz vorsieht, wenn dieser seine soziale Funktion nicht erfülle, sollte daher durch Gesetze ergänzt werden, die auch die Nutzung produktiver Flächen erlaube.

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5. Exkurs: Gentechnik in der brasilianischen Landwirtschaft Durch die „marktgestützte Agrarreform“ soll die die Agrarstruktur weltmarktfähig modernisiert werden. Dieses Ziel der Weltmarktorientierung gilt auch für die Landwirtschaft allgemein soll und dabei setzt Brasilien zunehmend auf die Bio- und Gentechnologie der Agrarmultis. In weniger als drei Jahren genehmigte die Nationale Technikkommission für biologische Sicherheit bereits 636 Freisetzungen genetisch veränderter Organismen. Insgesamt sind 176 Sorten betroffen, unter anderem auch für so wichtige Kulturen wie Reis, Mais, Kartoffel, Baumwolle, Zuckerrohr und Soja. Fast 90% dieser Sorten sind dabei von nur sechs multinationalen Unternehmen patentiert. Darunter befindet sich z.B. auch die Genehmigung für die Roundup Ready Sojabohnen (RRS) des Chemiemultis Monsanto. RRS ist genetisch so verändert, dass die Pflanzen gegen den Wirkstoff Glyphosat (einer der Wirkstoffe im firmeneigenen Totalherbizid Roundup) resistent sind. Da der Patentschutz für Roundup in diesem Jahr abläuft, ist das Saatgut für Monsanto nun besonders wichtig: nur wer einen Lizenzvertrag beim Kauf von RRS unterzeichnet, bekommt das Saatgut überhaupt. Im Vertrag verpflichtet er sich ausschließlich Roundup von Monsanto einzusetzen, stimmt jederzeitigen Kontrollen durch Monsanto zu und verzichtet unter Androhung hoher Strafen auf den Nachbau (Verwendung von Teilen der eigenen Ernte als Saatgut im Folgejahr). Schon 1997 wurden 20% der US-amerikanischen Sojaflächen, also 5 Millionen ha, mit RRS angebaut. In Argentinien waren es rund 2% der Anbaufläche. Brasilien ist mit 11,66 Mio. Hektar Sojaanbaufläche nach den USA (24,94 Mio. ha) der zweitgrößte Produzent von Soja und weltweit der größte Exporteur von Sojaschrot und –öl, gefolgt vom Nachbarstaat Argentinien. Hauptabnehmer ist die EU: sie importiert 80% der brasilianischen und 78% der argentinischen Bohnen, sowie 80% bzw. 60% der Sojaschrotexporte. Als bedeutende Welthandelsfrucht - wichtigste Ölfrucht und wichtigste Körnerleguminose mit einer weltweiten Anbaufläche von 62,4 Millionen Hektar, wurde die Sojabohne schon frühzeitig für die Gentechnik interessant. Dabei ging es vor allem um zwei Aspekte: die landwirtschaftliche Produktion (Herbizid-, Insektizid und Soja-Mosaikvirusresistenz) und die industrielle Verwertbarkeit (höherer Methioningehalt des Eiweiß und höherer Öl- bzw. Linolsäuregehalt). Doch in Brasilien verhinderte der Einspruch von Verbraucherorganisationen und Umweltschützern, dass es zur Genehmigung von RRS in Brasilien kam. Für Monsanto ein massives Problem, denn dadurch ist es möglich, dass Europa – wo die Ablehnung gentechnisch manipulierter Nahrungsmittel rund 80% erreicht – weiterhin mit gentechnikfreiem Soja versorgt werden kann und dies unter dem einfachen Herkunftsnachweis. Sojaprodukte finden sich heute in 20.000 - 30.000 Produkten unserer Ernährung. Ein Einzelnachweis wäre gar nicht in allen Fällen möglich, zudem sehr aufwendig und teuer. Eine ausreichende Kennzeichnung genmanipulierter Nahrungsmittel und -zusätze ist in der EU noch nicht in Sicht. Würde nun „durch die Macht des Faktischen“ der Widerstand der europäischen Bevölkerung gegen genmanipulierte Nahrungsmittel am Beispiel Soja gebrochen, wäre der Weg frei für weitere Produkte aus den Labors der Chemiekonzerne. Monsanto hat nicht nur im Norden Saatgutfirmen aufgekauft (86,25 Mio US$ für Calgene, 1,02 Mrd. US$ für Holden´s Foundation Seeds, 150 Mio US$ für Agracetus, die Patente auf alle transgenen Sojapflanzen erhielt), sondern auch in Brasilien unliebsame Konkurrenz einfach übernommen.

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Die Ziele von Monsanto und allgemein aller in Gentechnik investierenden Chemiefirmen liegen klar auf der Hand: - der Bauer bleibt ohne Alternative zum Anbau mit gentechnisch manipuliertem Saatgut. Er muss das Saatgut und die Pestizide als Gesamtpaket kaufen und darf mit seiner Ernte keinen Nachbau betreiben, muss also jährlich neu einkaufen - der Konsument bekommt keine gentechnikfreien Lebensmittel mehr und gibt seinen Widerstand aus Mangel an Ersatz und unzureichender Kennzeichnung auf. Auch die Zielgruppe ist eindeutig. Monsanto wendet sich nicht an den Kleinbauern, der schwer kontrollierbar ist, sondern an die Großbetriebe, die für den Weltmarkt produzieren. In deren Produktionsweise mit Minimalbodenbearbeitung unter starkem Herbizideinsatz können die gentechnisch veränderten Pflanzen ihr Potential am ehesten entfalten und nur bei ihnen können die hohen Kosten für das Saatgut-Pestizid-Package mit der schon bisher teuren, da imput-orientierten, Produktion konkurrieren. Die verbesserte industrielle Verwertbarkeit der Gentec-Produkte wiederum führt nur dann zu höheren Auszahlungen durch die Verarbeitungsindustrie, wenn entsprechend große und uniforme Chargen geliefert werden. Dafür wieder eignen sich am besten großflächige industrialisierte Agrarunternehmen, die mit Lieferverträgen oder direkt im Vertragsanbau die gewünschten Mengen liefern, die dann die Auslastung der Verarbeitungsbetriebe garantieren.

6. Agrarexporte /-subventionen Während allgemein in den Ländern des Südens ein Einkommenstransfer von der Landwirtschaft in andere Sektoren erfolgt, laufen in den entwickelten Ländern die Transferleistungen umgekehrt zugunsten des Agrarsektors. Die Entwicklung der brasilianischen Landwirtschaft unter FHC kann man auf einige Aspekte zuspitzen: die Förderung der Exportlandwirtschaft und des Handels unter den Bedingungen einer Weltmarktintegration statt einer bäuerlichen Landwirtschaft führten zu Massenarbeitslosigkeit und mangelhafter Inlandsversorgung. Beide Faktoren sind Gründe für den Hunger von heute Millionen Brasilianern. Diese Politik hat sich unter PT-Regierung mit dem neuen Landwirtschaftsminister Roberto Rodrigues nicht grundlegend geändert. Das Bestreben mittels der Landwirtschaftexporte den Handelsbilanzüberschuss noch weiter zu erhöhen, führt auch weiterhin zu einer einseitigen Bevorzugung des Großgrundbesitzes und des Agrobusiness. Konkret kann das an einzelnen Produkten aufgezeigt werden, die ich stellvertretend für weitere Agrargüter, die in die EU exportiert werden, darstellen möchte:

Fallbeispiele Soja Soja – als Bohne oder in verarbeitetem Zustand – ist ein Produkt, für das es in Europa keine echte Alternative und somit keine Konkurrenz gibt. Versuche das Sojaeiweiß über andere Eiweißträger (Ackerbohnen, Erbsen o.ä.) zu substituieren sind weitgehend fehlgeschlagen und weiterhin verhindert das Blairhouse-Abkommen einen eigenen Eiweißmarkt in der EU. Einzelne Unternehmen, wie die Tofu-Hersteller der Firma Taifun in Freiburg zahlen für regionales Biosoja bis zu 60 Ct ab Mühle – Preise von denen Brasilianer nur träumen können. 12

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In Brasilien steht die „Wunderbohne“ weiterhin auf Erfolgs und Expansionskurs: 2003 wurden auf 18,5 Mio. Hektar 52,2 Mio. Tonnen geerntet gegenüber einem Ertrag von 41,1 Mio. Tonnen von 16,3 Mio. Hektar im Jahr 2002 – und dies trotz einem 20%-igen Produktionseinbruch durch eine Pilzkrankheit, die in wichtigen Produktionsgebieten auftrat. 18,5 Mio. Hektar bedeutet nicht weniger als 43% der gesamten kultivierten Anbaufläche (42,7 Mio. Hektar) von Brasilien! Soja ist das wichtigste Agrarprodukt Brasiliens und Brasilien ist nach den USA der zweitgrößte Produzent. Dabei ist Brasilien der Exportweltmeister: im Jahr 2002 produzierten die Brasilianer 23,3% der Welternte und übertrafen 2003 erstmals die USA im Export. Soja ist weltweit das am meisten nachgefragte Agrarprodukt und zeigt trotz temporären Einbrüchen kontinuierlich ansteigende Preise. Dabei halten die hohen Subventionen in den USA – als zweitwichtigstem Exporteur – die Preise noch relativ niedrig. Aktuell sind es rund 0,25 Ct/kg. Das macht es Brasilien auch schwer, auf den „alten“ Märkten Marktanteile zu gewinnen. Erst die stark steigende Nachfrage aus Asien, insbesondere aus China, hat das starke Wachstum des Sojaanbaus in Brasilien ermöglicht. Außerdem hat Brasilien in einer regelrechten „Produktionsschlacht“ Qualität und Ertrag je Hektar erheblich steigern können. Dabei liegen die Erträge je Hektar heute höher als in den USA. Soja ist das Produkt, das die (Massen-) Tierhaltung in Europa erst ermöglicht. 3 Mio.Tonnen Sojaschrot benötigt Europa derzeit für seine Tiere. Das entspricht einer Anbaufläche von 6 Mio Hektar! Europas Schweine, Hühner und Kühe grasen also sinnbildlich am La Plata, in den Cerrados und am Amazonas. Mit einem Exportwert von 8 Mrd. US$ tragen die Sojabohnen zu etwa 10% der gesamten Agrarexporte bei und machen 18% der nationalen Agrarprodukte aus. Damit sind sie ein wichtiger Beitrag zu Schulden- bzw. Zinssammlung. Deshalb ist unverarbeitetes Soja auch von der Mehrwertssteuer befreit . Beschlossen wurde dies schon 1996 durch das sogenannte Gesetz Kandir, damit brasilianisches Soja auf dem Weltmarkt konkurrieren kann. Verarbeitete Sojaprodukte unterliegen jedoch der Mehrwertssteuer. Doch auch so gehört der Sojakomplex zu den am höchsten subventionierten Sektoren der brasilianischen Wirtschaftsbereichen.. Denn für seine Logistik wird vom Staat Infrastruktur (Straßen, Wasserwege, Häfen, Lagerräume etc.) erstellt, es wird in Forschung investiert, Subventionen werden für die Erschließung neuer Pionierfronten und ihrer Infrastruktur verteilt, es gibt verbilligte Agrarkredite und die Vermarktung wird vom Staat gefördert. Wofür das Ganze? Braucht die Wunderbohne das oder erbringt sie besondere Leistungen für die Entwicklung des Landes: sie braucht es, denn erst Betriebe ab 1.000 Hektar fangen an rentabel zu werden. Und ihr besonderer Entwicklungsbeitrag ist schwer auszumachen. Sojakulturen benötigen nur 1 Person je 200 ha, Arbeitsplätze werden damit nicht geschaffen, sondern vernichtet. Sie zerstören Biotope wie die Cerrados (brasilianische Savannen): heute finden sich dort zwei Drittel der Produktion – 1970 waren es nur 1,4%. Flächen, die in der Hand der Kleinbauern waren, allerdings häufig ohne Besitztitel wurden verkauft, enteignet oder die Bewohner wurden einfach mit Revolvermännern vertrieben. Die Bodenpreise stiegen z.B. im Süden von Pará von 50,00 auf 1.500,00 R$. Im Gegensatz zu Bodenpreise in den Sojaregionen Südbrasiliens die bereits mit 15.000.- bis 20.000.- R$ kosten. Kleinbauern haben da keine Chance mehr: Pionierfronten, Landkonflikte und steigende Bodenpreise.

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Zucker Zuckerrohr ist – im Gegensatz zur Sojabohne – ein Produkt, das direkt mit einem europäischen Produkt in Konkurrenz steht: der Zuckerrübe. Dabei ist Zuckerrohr als hochproduktive C4-Pflanze selbst bei extensivem Anbau der Rübe deutlich überlegen. Der mit Zuckerrohr erzeugte Zucker kostet nicht einmal 20% des Rübenzuckers. Doch die Rübe wird in der EU hochgradig subventioniert und die Erzeuger, die sogenannte A- oder auch BQuoten ihr Eigen nennen dürfen, gehören zu den eindeutigen Gewinnern der europäischen Agrarordnung. Um die Übererträge (mehr als in der EU verbraucht wird) dieser Quoten wieder los zu werden, wurde im Jahr 2002/2003 von der EU der Zucker 582,9 Mio Tonnen Zuckerrüben auf Preise unter dem aktuellen Weltmarktpreis heruntersubventioniert um sie verkaufen zu können - was zu einem Preisdruck für alle Zuckererzeuger führte. Brasilien rühmt sich gerne damit, die ganze Welt mit Zucker versorgen zu können. Mit über 5 Mio. Hektar Zuckerrohr ist das Land global mit einem Marktanteil von rund 25% der größte Erzeuger. Derzeit wird über die Hälfte der Ernte in Ethanol (Alkohol) als Benzinersatz für Fahrzeuge umgewandelt. Mit dieser Doppelnutzung kann das Land flexibel auf veränderte Preise des Weltmarktes reagieren und spielt eine überragende Rolle als internationaler Anbieter. Doch auch der interne Verbrauch ist hoch. Er liegt bei etwa 10 Mio. Tonnen, während rund 10 Mio. Tonnen exportiert werden. Für die Ernte 2005 wird eine Steigerung um 10% auf 22 Mio. Tonnen erwartet – 2 Mio. Tonnen mehr sollen auf dem Weltmarkt abgesetzt werden. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, da Nummer 2 auf dem Weltmarkt – Indien – mit einer Mißernte und 2-4 Mio. Tonnen Minderertrag rechnet. Im Falle einer vollständigen Marktöffnung der EU könnte Brasilien deren gesamten Bedarf an Zucker abdecken. Derzeit ist daher der Zuckermarkt der polemischste Teil der Agrarmarktverhandlungen zwischen EU und Mercosul. Es zeichnen sich noch keine Lösungen ab, eine vollständige Öffnung ist nur nach jahrzehntelangen Übergangslösungen denkbar. Einen beschränkten Zugang zum europäischen Markt haben lediglich einige AKPStaaten, die aufgrund ihrer Kolonialgeschichte oder als überseeische Territorien Sonderrechte erhielten. Zwar befindet sich die EU-Agrarmarktordnung für Zucker auch intern in einer heftigen Kritik, doch wird es schwer sein, eine einvernehmliche Neuordnung mit den mächtigen Interessensverbänden der Erzeuger und den kartellartig organisierten Verarbeitern mit ihren Monopolstellung (in Deutschland kontrollieren zwei Konzerne – Südzucker und Nordzucker - 70% des Zuckermarktes!) zu finden. Dramatische und schnelle Entwicklungen zeichnen sich hingegen auf dem Ethanolmarkt ab. Die Beimischung dieses Zuckerrohr-Alkohols in das Fahrzeugbenzin ist in der EU ohne Kennzeichnung bis zu 2% erlaubt, mit Kennzeichnung dürfen 5% zugemischt werden. Für die Unterzeichner des Kyoto-Protokolls ist diese „regenerative“ Beimischung die einfachste Methode ihre Umweltzusagen zu erfüllen. Brasilien erzeugt mit der Ernte 2005 voraussichtlich 13 Mrd. Liter Alkoholtreibstoff, bei einer Steigerung von 1,7%. Im letzten Jahr wurden 1,7 Mrd. Liter exportiert. Japan ist an 2 Mrd. Litern interessiert, Thailand möchte 400 Millionen Liter und für die EU hat die brasilianische Alkoholindustrie 1,7 Mrd. Liter vorgesehen. Diese Nachfrage nach Ethanol und eine eventuelle Öffnung des europäischen Zuckermarktes werfen schon jetzt ihre Schatten voraus. Nachdem die Zuckerrohrproduktion lange Jahre kein gutes Geschäft war und die modernen Zuckerbarone eher von Subventionen und Steuergeschenken lebten hat jetzt ein neuer Zuckerrohrboom eingesetzt. Besonders im Nordosten Brasiliens, der traditionellen Erzeugerregion investieren Großgrundbesitzer wieder in ihre Flächen und legen neue monokulturelle Pflanzungen an. Neue Verarbeitungsbetriebe 14

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werden geplant und gebaut. Allein im ärmsten Bundesstaat Piaui wurden im Jahr 2004 drei neue Zucker-Alkohol-Komplexe eingeweiht. Die Expansion des Zuckerrohrs bedroht dabei vor allem Kleinbauern und Kleinpächter, die keine Investitionsmöglichkeiten haben und die mit ihrem Kleinbesitz nicht in den Zuckerrohranbau einsteigen können. Ihre Flächen werden in die agroindustriellen Komplexe einbezogen und wer nicht freiwillig weicht, wird brutal vertrieben. Gerade die posseiros, Kleinbauern ohne Bodenbesitztitel, die aber von der Verfassung durch ihre langjährige Nutzung als Eigentümer anerkannt sind, verlieren in diesem Prozess ihre traditionell bewirtschafteten Felder. Sie wandern in die Elendsviertel der Städte ab oder verdingen sich als Tagelöhner im Zuckerrohranbau. Aus dem Bundesstaat Pernambuco sind Fälle bekannt geworden, in denen ehemalige Zuckerrohrgroßgrundbesitzer, die jahrelang ihre Flächen nicht bewirtschaftet hatten und deren Flächen daher für Zwecke der Agrarreform enteignet werden sollten, nun der Agrarreformbehörde neue Investitionspläne vorgelegt haben, um die Agrarreform abzuwenden und in den Zuckerboom einzusteigen. Die Landlosen, die diese unproduktiven Flächen vor mehreren Jahren besetzt und seither bewirtschaftet haben und im Namen der Agrarreform angesiedelt werden sollten, aber ihre Landtitel noch nicht erhielten, werden wohl wieder vertrieben werden. Die Expansion des Zuckerrohranbaus hat aber längst den Nordosten verlassen und ist auch im zentralen Osten und im Mittelwesten sowie im Südosten, besonders in den Bundesstaaten Sao Paulo, Mato Grosso und Minas Gerais seit Jahrzehnten zu verfolgen. Hier haben sich moderne Zuckerrohrbetriebe mit geringen Beschäftigungseffekten installiert und eine moderne Infrastruktur inklusive den notwendigen Transportwegen wurde aufgebaut. Ökologisch ist der Zuckerrohranbau aufgrund der extremen Monokultur mit kilometerlangen Feldern durch ganze Landstriche (z.B. der Zona da Mata, der „Waldzone“ im Hinterland des Küstengebirges in Pernambuco) äußerst bedenklich. Von den Wäldern ist dort nichts übrig geblieben. Die Ausdehnung der Zuckerrohrflächen bedroht besonders die Savannengebiete (Cerrados), die zu den ökologisch vielfältigsten Regionen Brasiliens zählen. Weniger bedroht sind vom Zuckerrohr die tropischen Regenwaldgebiete, da es hier gegenüber dem Soja nicht konkurrenzfähig ist. In den EU-Mercosul-Verhandlungen deutet sich derzeit ein Deal an, der für die Kleinbauern im Süden besonders fatal wäre: Brasilien erleichtert der EU den Zugang zum brasilianischen Milchmarkt, damit diese dort ihre Überschüsse absetzen können und Brasilien erhält im Gegenzug einen graduell wachsenden Zugang zum europäischen Zuckermarkt. Im Klartext würde dies bedeuten, dass Millionen von Kleinbauern aus der arbeitsintensiven und kleinbäuerlich organisierten Milcherzeugung ihre Arbeit durch die Dumpingpreise der EUMilch verlieren würden, während einige der alten und neuen Großgrundbesitzer und Zuckerbarone wieder kräftige Gewinne machen dürften. Orangensaft: Orangensaft ist ein Produkt, dass sich großer Beliebtheit erfreut und nicht einfach ersetzt werden kann, obwohl es auch einheimische Säfte gibt. In der BRD werden pro Kopf 21 Liter konsumiert, 90% stammen aus Brasilien. Um eigene Märkte zu stützen werden auf den O-Saft-Import hohe Steuern gelegt, ?? USA Steuer von 454 US$, E: Abgabe von 17,5%, Japan 28,5, Südkorea 48%. Orangensaft trägt eine hohe ökologische Last, bis er auf den Tisch kommt: für jeden Liter werden 22 Liter Wasser und ca. 0,4 Liter Kraftstoff verbraucht.

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Sozial und pädagogisch untragbar ist es, dass 35% der Arbeitskräfte Kinder sind, die häufig auch die 25 kg schweren Säcke schleppen müssen und aufgrund ihrer Arbeit die Schule nicht besuchen können.. Der freie Markt würde bedeuten, dass noch mehr Saft erzeugt würde. Wer kann das unter den oben genannten Konsequenzen befürworten?

7. Gibt es Alternativen? Hier ist nicht der Platz ausführlich auf Alternativen zur Weltmarktintegration und des Freihandels einzugehen, daher kann ich nur kurz anreißen, dass Alternativen möglich sind und in Brasilien zunehmend entwickelt werden. Neben den spektakulären Aktionen der Landlosenbewegung mit Landbesetzungen und Protestmärschen wachsen in Brasilien auch im Kleinen die Alternativen und zeigen durch praktische Arbeit, wohin der Weg führen könnte. Da gibt es die brasilienweiten Tauschringe für angepasstes und erprobtes Saatgut, die z.B. in Capina (Kooperation und Unterstützung für alternative Projekte) organisiert sind und über ihre Zeitschrift „Circular Recopa“ einen Informationsaustausch für die bäuerliche Landwirtschaft geschaffen haben, sich genossenschaftlich zu organisieren, Erfahrungen und gentechnikfreies Saatgut austauschen. Ziele sind die Vernetzung untereinander und die Versorgung der lokalen Märkte mit gesunden Nahrungsmitteln. An dieser Stelle sind auch die vielen verschiedenen Ansätze der Solidarökonomie zu erwähnen, die lokale Erzeugermärkte als Alternative zu den CEASAs (als Großmärkten) aufgebaut haben. Sie fördern den direkten Austausch zwischen Erzeuger und Verbraucher, wickeln teilweise mit dem Hilfsmittel einer eigenen Währung den Tausch von Waren und Dienstleistungen direkt ab und haben mit großer Kreativität eine ganze Vielfalt von Mechanismen für eine lokale bzw. regionale Versorgung „aus der Region – für die Region“ entwickelt. Andere Erfahrungen sind die der Zentren für alternative Landwirtschaft, von denen sich mittlerweile 23 im Rahmen des Netzwerkes für Alternative Technologien (Rede PTA) zusammengeschlossen haben und aktiv im ökologischen, standortgerechten Landbau wie auch der Saatgutfrage aktiv sind. Der ökologische Landbau ist besonders deshalb für die Kleinbauern geeignet, da er als low-input-Landwirtschaft die Abhängigkeit von teuren Spritzund Düngemitteln und damit von Produktionskrediten reduziert. Im Falle von Missernten oder niedrigen Produktpreisen ist somit auch die Verschuldungsfalle geringer, die schon für Tausende von Kleinbauern mit der Zwangsversteigerung ihrer Höfe durch die Gläubigerbanken endete. Die Kooperativen der Landlosenbewegung MST tragen erheblich zur Versorgung der brasilianischen Bevölkerung bei. Tausende von Bauern haben auf den Agrarreformflächen für kollektive Produktions- und Vermarktungsformen optiert und Getreide-, Molkerei und Veredelungskooperativen gegründet, die wichtige Player in der Inlandsversorgung geworden sind. Die Landlosenbewegung ist mittlerweile auch der größte Produzent für alternatives Saatgut. Sie hat seit über acht Jahren an der Saatgutfrage arbeitet und insbesondere im Bereich des Gemüsesaatgutes große Erfolge erzielte. Die Cooperal-Kooperative, Rio Grande do Sul, besetzte erfolgreich 18.000 ha Land, auf dem heute mit Besitztiteln 700 Familien leben. Sie produzieren das „Bio-Natur“ genannte agro-ökologische Saatgut. Mit über 5.000 Tonnen Saatgut pro Jahr sind sie längst ein weit über den Bundesstaat hinaus verkaufendes Unternehmen geworden.

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8. Fazit Freihandel und europäische Agrarpolitik haben keine direkten Auswirkungen auf den brasilianischen Kleinbauern da diese vornehmlich für den Binnenmarkt produzieren und vom Welthandel weitgehend ausgeschlossen sind. Aber die starke Ausrichtung der Landwirtschaftspolitik der brasilianischen Regierungen am Weltmarkt mit einer einseitigen Förderung des Agrobusiness trug und trägt weiter dazu bei, dass sich die Situation der Kleinbauern graduell verschlechtert. Die Rahmenbedingungen für agroindustrielle Betriebe verbessern sich hingegen. Sie werden noch konkurrenzfähiger und verdrängen die kleinbäuerliche Landwirtschaft und übernehmen zunehmend deren Flächen. Dies zeigen deutlich die Beispiele Soja, Zuckerrohr und Orangen. Dabei nehmen gewaltsame Landkonflikte zu und grundlegende Menschenrechte werden massiv verletzt. Wünschenswerte Ziele der Agrarentwicklung – auch aus Sicht der brasilianischen Regierung – wie die Versorgung des Binnenmarktes und ein Ende des Hungers in Brasilien werden verhindert. Ernährungssicherung auf nationaler Ebene und das individuelle Menschenrecht auf ausreichende und gesunde Ernährung können mit der derzeitigen Agrarpolitik und den Freihandelsabkommen nicht sichergestellt werden. Die EU muss im Rahmen der Verhandlungen mit dem Mercosul diese Prozesse in Brasilien begleiten und angemessene Formen finden, wie Agrarreform und familiäre Landwirtschaft gefördert werden können. Das Modell der Weltbank für eine neoliberale Agrarmodernisierung und einer marktorientierten Agrarreform führt zum Exodus der bäuerlichen Familienbetriebe. Durch das favorisierte Modell von Freihandel, Liberalisierung und Marktöffnung werden negative Prozesse, wie die Ausweitung des Agrobusiness gefördert und die Ernährungssicherung in Brasilien erschwert. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf unsere Diskussion.

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