Franz Jacobsmeyer 1914 . 1944

Spurensuche 2009 Dokumentationen, Bücher, wissenschaftliche Abhandlungen – der Zweite Weltkrieg bleibt unvorstellbar, solange das persönliche Empfinden fehlt, das sich erst an den Orten der Kriegshandlungen und Konzentrationslager einstellt. Erst dann wird die Entfernung von zu Hause begreiflich, erst dann wird die Einsamkeit erfahrbar, die sich bei vielen Ermordeten und Soldaten eingestellt hat, erst dann wird die Verzweiflung fühlbar, nicht mehr nach Hause zurückkehren zu können. Franz Jacobsmeyer starb am 5. April 1944 in Agronomovka, heute Moldawien, damals zu dem mit Deutschland verbündeten Rumänien gehörend, nach dem Kriegsende bis 1991 Teil der Sowjetunion, seitdem eigenständig, damals und heute eines der ärmsten Länder Europas. Franz Jacobsmeyer war kein geborener Soldat. Am 31. Januar 1914 in Burgsteinfurt geboren, bekommt er bereits als Kleinkind einen vagen Eindruck von einem Land, das sich im Krieg befindet, in den Jahren der Weltwirtschaftskrise und der Inflation (da ist er gerade mal 15 Jahre alt) gelingt es ihm, eine berufliche Perspektive zu finden. Er macht zunächst eine Lehre als Friseur, qualifiziert sich dann aber weiter bei der Reichsbahn und wird Eisenbahner. Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kommen, ist Franz Jacobsmeyer 19 Jahre alt und noch nicht wahlberechtigt. Kurz vor 1933 war die allgemeine Stimmungslage nicht schlecht, es ging wirtschaftlich bergauf, zwar langsam, immerhin. Wer wollte, konnte einige Zeichen der Politik so deuten, dass sich die europäischen Staaten in eine von Vernunft geleitete Verständigung und Zusammenarbeit finden. Dass Nationalsozialisten 1933 an die Macht kommen, einen Krieg vorbereiten und in Deutschland Würde, Moral, Ethik, Anstand und Verstand vollständig ausschalten, wer konnte sich so etwas und seine Folgen schon vorstellen? Franz Jacobsmeyer und Agnes Möller heiraten am 24. Augugst 1940. Im Januar 1943 wird die Tochter Marlene geboren. Jetzt ist zwar schon Krieg,

aber Franz Jacobsmeyer arbeitet bei der Reichsbahn wird dort als Eisenbahner gebraucht, ist unabkömmlich. Zudem kann er hoffen, mit zunehmenden Alter - immerhin ist er jetzt schon 30 -, der Einberufung zu entgehen. Aus den Schlagworten des Kriegsanfangs („Blitzkrieg“) ist längst raue Wirklichkeit geworden. Während es der deutschen Zivilbevölkerung in den ersten Kriegsjahren richtig gut ging (keine Kampfhandlungen auf deutschem Gebiet, gute Versorgungslage, häufig auch mal ein Päckchen von der Front mit Spezialitäten aus den besetzten Ländern), geht es an den Fronten schon bald richtig zur Sache. Längst wird erbitterter Widerstand gegen die deutsche Besatzung und den weiteren Vormarsch der deutschen Truppen geleistet. Die Verluste unter den deutschen Soldaten steigen von Monat zu Monat. Wie schon im 1. Weltkrieg sind die Kriegsjahrgänge der jungen Männer zwischen im Alter von 20 bis 30 schnell aufgebraucht. Anfang 1943 ist die Schlacht um Stalingrad bereits beendet, liegen in den Straßen und Häusern der russischen Stadt ca. 170.000 gefallene deutsche Soldaten, 108.000 gehen in sowjetische Kriegsgefangenschaft, nur 6.000 von ihnen kehren nach Deutschland zurück. 40.000 Soldaten können ausgeflogen werden, um anschliessend an weiteren Kampfhandlungen teilzunehmen. Die 6. Armee, die um Stalingrad kämpfen musste, wird völlig aufgerieben und kapituliert am 31. Januar 1943. Militärhistorisch sind keine Fälle bekannt, dass nach einer derartigen militärischen Katastrophe der Krieg mit der Vision des Endsieges fortgesetzt worden ist. Nun werden in Deutschland auch jüngere und ältere Jahrgänge eingezogen. Franz Jacobsmeyer trifft es Anfang 1944. Er erhält einen Marschbefehl an die Ostfront. Er dient in der 5. Kompanie Grenadier-Regiment 212 (79. Infanterie-Division) als Sanitäts-Unteroffizier Seine Erkennungsmarke: -20591- S.E. Abt. 6 (Sanitätsersatzabteilung 6). Seine Frau ist hochschwanger. Inzwischen hatte sich der nationalsozialistische Angriffskrieg in einen ungeordneten, von Mangel und Chaos geprägten Rückzugskrieg gewandelt. Nur 15 % der fronterfahrenen Offiziere und Unterführer hatten den Rußland-Feldzug überlebt. Neben Treibstoff- und Munitionsmangel fehlten Eingreifreserven und Erfahrung, Flugzeuge fehlten genau wie Panzer und anderes Gerät. Was Franz Jacobsmeyer nicht weiss: Der Gegner, die Rote Armee, ist bezogen auf Mannschaften, Geschütze, Granatwerfer und Panzer mindestens 6 mal so stark wie die Wehrmacht in dieser Region, zudem haben die Russen dreimal mehr Flugzeuge. Was er wohl ahnt: Dass seine Zeit zu leben abläuft. Die Überlebenszeit der eingezogenen jungen, unerfahrenen Rekruten beträgt – einmal an der Front angekommen, nur noch wenige Wochen. Er ist einer von 3,8 Millionen Deutschen, die an der Ostfront starben.

Nach Rückzugsgefechten der 8. Armee im Jahr 1943 (Ukraine) verlagert sich der Krieg in Südosteuropa 1944 nach Moldawien und Rumänien. Hier beginnt am 20. August die große Operation Iasi-Kischinew. Die Rote Armee bestimmt das Geschehen und durchstößt die deutsche Front auf 16 km Breite und umzingelt in mehreren Kesseln die 8. Armee. Diese wird völlig aufgerieben. In nur acht Tagen sterben 150.000 deutsche Soldaten, 80.000 werden vermisst, 90.000 gehen in Kriegsgefangenschaft. Bezogen auf die Opfer von Stalingrad, die in einem Zeitraum von 14 Monaten gezählt wurden, ist die militärische Katastrophe der 8. Armee bei Iasi und Husi eine Apokalypse, wenn auch nicht die letzte des 2. Weltkrieges.

Sowjetischer Panzerangriff, Photografie Sowjetunion, 1943, DHM Berlin, F 66/1530

Franz Jacobsmeyer erlebt das Ende der 8. Armee bei Iasi nicht mehr. Der großen sowjetischen Offensive vom August 1944 war eine kleinere Offensive im März/April 1944 vorausgegangen, diese begann am 8. April. Bei Kampfhandlungen, die im einzelnen nicht nachzuvollziehen sind, ist festzustellen, dass sich Franz Jacobsmeyer am 5. April in dem Dorf Agronomovka befindet. Das Dorf liegt oberhalb der Straße und der Bahnlinie Iasi-Kishinev. Das Dorf selbst hat keine strategische Bedeutung, militärisch interessant sind nur Straße und Bahnlinie. Am Morgen des 5. April wird das Dorf noch von deutschen Panzern kontrolliert. Dann gelangen sowjetische Panzer in das Dorf und drängen die deutschen Panzer heraus. Am Abend wird Franz Jacobsmeyer vermisst. Am 24. Juni 1944 schreibt Feldwebel Wilhem Grube an San.-Offz. Fritz Leibrock, den Schwager von Franz Jacobsmeyer: Mein Komp.Chef hat mich beauftragt, Ihnen auf Ihren Brief vom 22.5.44 zu antworten. Was ich über den Heldentod Ihres Schwagers weiß, will ich Ihnen berichten. Am 5. April 44 morgens 6.00 Uhr griff der Russe unsere Stellung überraschend mit starken Panzerkräften aus der Flanke an und stieß

mit seinen Panzern durch. Unsere Einheit wurde gezwungen, die Stellungen vorübergehend aufzugeben und zog sich aus dem Dorf Agronomul (das wir besetzt hatten), ins rückwärts gelegene Dorf zurück. Um 6.00 Uhr hatte ich Ihren Schwager Franz Jacobsmeyer noch gesehen. Ihr Schwager ist dann aber nicht mit dem Komp.Trupp, bei dem er eingeteilt war, zurückgegangen, sondern zog sich auf einem anderen Wege zurück. Bei diesem Zurückgehen muß er dann von Geschossen eines Panzers getroffen worden sein. Er ist aber von keinem Angehörigen unserer Einheit gesehen worden. Ihr Schwager galt dann zunächst als vermißt. Am 23.5. wurde aber der Russe zurückgeworfen und der Ort Agronomul wieder genommen. Nun fand man Ihren Schwager tot auf. Er lag an einem Haus, wo er wohl Schutz gesucht hatte! Er ist dann auf dem Soldatenfriedhof Agronomul beerdigt worden, wo er neben anderen Kameraden unserer Einheit ruht. Die Frage, ob Ihr Schwager noch von der Geburt seines Stammhalters erfahren hat, kann ich nicht beantworten, da alle seine Kameraden, mit denen er zusammen war, entweder gefallen oder verwundet sind. Wenden Sie sich an den Ogfr. Kurt Ronnhoff, ReserveLazarett Rastatt Zim 37. Dieser war mit ihm zusammen im Komp.-xxx. Nehmen Sie meine wärmste Anteilnahme zum Heldentode Ihres lieben Schwagers entgegen. Ich grüße Sie mit Heil Hitler Wilhelm Grube, Feldwebel

Bemerkenswert an diesem Brief ist neben den sachlichen Informationen die Mitteilung von Wilhelm Grube, dass alle Kameraden von Franz Jacobsmeyer gefallen oder verwundet seien, ein Hinweis auf die hohen Opferzahlen auf deutscher Seite, der die ganze Tragik der jungen Soldaten bei den Rückzugsgefechten in der Ukraine, in Moldawien und Rumänien offenbart. Eine wirkliche Überlebenschance gab es nicht mehr, bestand eigentlich nur in einer starken Verwundung mit Rücktransport nach Deutschland und anschliessender Körperversehrtheit. Jeder, der nur halbwegs gesund dem Lazarett entkam, wurde sofort wieder an die Front geschickt. Die dem Brief angehängte Skizze ermöglicht es 65 Jahre später Klaus Jacobsmeyer und seinem Sohn Daniel, Sohn und Enkel von Franz Jacobsmeyer, den Schauplatz des Geschehens von 1944 zu finden und dem Schicksal des Vaters und Großvaters näher zu kommen.

Militärhistorisch ist für die Vorgänge in Moldawien/Nordost-Rumänien für den April 1944 festzuhalten: Der Tod von Franz Jacobsmeyer am 5. April 1944 liegt nur 3 Tage vor dem Beginn der ersten Iashi-Kishinev Offensive der Roten Armee, die vom 8. April bis 6. Juni 1944 dauerte. Ziel der Roten Armee war die Besetzung Rumäniens und die Herauslösung der auf deutscher Seite kämpfenden rumänischen Einheiten. Diese Offensive

scheiterte, die strategischen Ziele Stalins wurden noch nicht erreicht. Die 2. und 3. Ukrainische Front dieser 1. Iasi-Kishinev-Offensive ist eine Schlacht in der recht langen Liste von vergessenen Schlachten der Roten Armee (vgl. Militärhistoriker David M. Glanz). Dabei gilt die 2. IasiKishinev-Offensive als strategische Innovation innerhalb der Roten Armee, indem erstmals der starre Verbund der Panzereinheiten zugunsten kleinerer, flexibler Einheiten aufgegeben wurde. Warum in der sowjetischrussischen Mililtärgeschichtsschreibung diese Schlachen ignoriert werden, darüber kann nur spekuliert werden, zumal die 2. Offensive im August eine bemerkenswerte Veränderung der sowjetischen Taktik belegt. Nun griffen die Panzerverbände nicht mehr in großen, recht starren Einheiten an, sondern zergliederten sich in viele kleinere Gruppen und konnten so viel flexibler den deutschen Stellungen ausweichen. Möglicherweise sollten in der Sowjetunion die Heldentaten der Roten Armee mehr den russischen und nicht den ukrainischen Einheiten zugeordnet werden. Auf jeden Fall gelangt das Regiment 212, in dem Franz Jacobsmeyer dient, Ende März 1944 in den rumänischen Raum. In einem Bahnhof nördlich von Odessa wurde die 79. Division verladen, Endstation war Cornesti. Sofort war die Division bei noch sehr winterlichen Verhältnissen den Angriffen der Roten Armee ausgesetzt. Die 79. Division wird mannschaftlich verstärkt durch Genesene und Urlauber, die aus Iasi zu ihrer Division stoßen. In der Kriegsgeschichte der 79. Division (Hans Sänger) ist ständig von der Überlegenheit der russischen Armee zu lesen.

Deutsche Kriegsgefangene in Bobruisk, Photografie Bobruisk, 1944, DHM Berlin F 62/352

Ende März hat die Rote Armee bereits die Ausläufer der Karpaten erreicht, befand sich also bereits weit im Westen und nutzte die günstige Gelegenheit, nach Süden durchzustoßen und so die weiter östlich stehenden Truppen deutschen Truppen in der Südwestukraine

abzuschneiden und zu vernichten. Ziele waren die Eroberung von Odessa, Iasi, Chisinau (Kishinev), um dann weiter nach Bukarest und zu den Ölfeldern durchzustoßen und die Rumänen als Verbündete der Deutschen auszuschalten. Die 2. Ukrainische Front griff Ende März 1944 noch als Teil der UmanBotosany Winteroffensive das Gebiet zwischen dem Pruth (Grenzfluß zwischen dem historischen Bessarabien und Rumänien) im Westen und dem Dnestr im Osten an und wurde auf dem Weg nach Iasi Ende März/Anfang April von den Deutschen gestoppt. In der letzten Märzwoche eroberte die 2. russische Panzerarmee Baltsy und Falesty und stieß schnell weiter nach Süden vor über Todoresti und besetzte am 27. März 1944 bei Pirlitsa (2 km südlich von Agronomovka) die Bahnlinie Iasi-Chisinau. Dadurch drohte die 8. deutsche Armee zersplittert zu werden. Mit einem hastig organisierten Gegenstoß der 23. Panzerdivision und der Panzer-Grenadier-Division Großdeutschland wurde Pirlitsa am 28. März 1994 bereits wieder eingenommen und die 2. russische Panzerarmee zum Halten gebracht. Die Tankeinheiten und motorisierten Infanterieeinheiten der 6. Panzerarmee, die infolge der Winteroffensive seit dem 5. März 1944 deutlich geschwächt waren, erreichten am 28. März 1944 Ungheni, wo sie begannen, Brückenköpfe über den Pruth zu errichten. Deutsche Einheiten bezogen zwischen Ungheni und Pirlitsa Defensivpositionen nördlich der Eisenbahnlinie, wo weiter gekämpft wurde. Am 8. April 1944 begann die Apriloffensive der 2. Panzerarmee, als Teil der 1. Iasi-Chisinau-Offensive (8. bis 23. April 1944), und die Kämpfe verlagerten sich westlich von Iasi. Bereits am 29. März 1944 ordnete der Befehlshaber der 2. Ukrainischen Front die Umgruppierung der 2. Panzerarmee an: Die Panzerverbände wurden über den Pruth nach Westen nach Rumänien verlegt, um Iasi von Westen angreifen zu können. Am 5. April 1944, um 19.45 Uhr, wurde der Befehlshaber der 2. Ukrainischen Armee per Mitteilung durch das sowjetische Oberkommando dazu gedrängt, die Offensive zur Einnahme von Iasi alsbald fortzusetzen, was am 8. April geschah, wobei er bereits seit dem 29. März 1944 Truppen nach Rumänien umgruppierte. Die russische Winteroffensive der 2. Ukrainischen Front (Uman-Botosany vom 5. März bis 17. April 1944) ging eigentlich nahtlos in die 1. IasiChisinau-Frühjahrsoffensive der 2. und 3. Ukrainsichen Front (8. April bis 6. Juni 1944) über. Die Kämpfe bei Pirlitsa und Agronomovka können noch der russischen Wineroffensive zugeordnet werden, da diese Offensive im Bereich der Bahnlinie Iasi-Chisinau am 28. März 1944 noch gestoppt werden konnten. Der amerikanische Militärhistoriker Glanz sieht Gründe für das Scheitern der sowjetischen Frühjahrsoffensive darin, dass sie zu früh begonnen wurde. Erst die Sommeroffensive im August (2. Stalingrad) mit ergänzten,

voll ausgerüsteten Truppen hatte für die Sowjets den erwünschten Erfolg. Dabei schätzen die sowjetischen Oberbefehlshaber die Lage richtig ein, in dem sie davon ausgingen, dass die deutsche Front zusammenbrechen würde, da die deutschen Truppen bereits stark geschwächt und kaum in der Lage waren, die Defensive immer wieder neu zu organisieren. Das Gesetz des Handelns hatte die Rote Armee mit pausenlosen Offensiven in der Hand. Iasi, in Nordosten Rumäniens gelegen, ist eine Universitätsstadt mit langer Tradition. Auch heute noch ist die Stadt das universitäre Zentrum Rumäniens. Studenten prägen das Stadtbild, das neben den unverzichtbaren Bau- und Betonrelikten des sozialistischen Realismus auch schöne Parkanlagen und anheimelnde Wohnbereiche zu bieten hat. Es ist nicht ganz einfach, dorthin zu gelangen. An den Flug nach Bukarest schließt eine ca. 7-stündige Bahnfahrt durch die Wallachei an. Hier ist Geduld gefragt, bis die 400 km bis Iasi zurückgelegt sind. Schon bei der Fahrt durch die Wallachei schleicht sich die Frage ins Bewußtsein: „ Was haben die damals hier nur gewollt?“ Gut, man weiß von den rumänischen Industrieanlagen und von der dortigen Ölgewinnung. Aber Öl aus Rumänien unter Kriegsumständen nach Deutschland bringen, raffinieren, weiter transportieren an die Fronten. Unvorstellbar. Verrückt. Lebensraum im Osten? Raum ist genug da, wahrlich, aber wer wollte da hin? Oder wer hatte Notwendigkeit, dorthin zu gehen? Niemand. Hier haben Verrückte mit dem Leben von Millionen junger Menschen gespielt. Franz Jacobsmeyer kommt zu einem Zeitpunkt an die Front, wo die indviduelle Chance zum Überleben praktisch nicht mehr besteht. Im Jahr 2009 sind die Spuren dieser Zeit nicht mehr so ohne weiteres zu finden. Lutz Müller (48) ist ein Spurensucher. In Ost-Berlin aufgewachsen und zum Gleisbauer ausgebildet, hatte die DDR für Gleisbauer keine Verwendung und schulte ihn schnell zum Friedhofshelfer um. Nach der Wende stellte die neue Friedhofsverwaltung schnell fest, dass es viel zu viele Friedhofshelfer gab, also wurde er arbeitslos. Den Job, der ihm wirklich Spaß macht, fand er über den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Der suchte Anfang der 90er Jahre jemanden, der in der Ukraine, Moldawien und Rumänien die Gräber deutscher Soldaten aufspüren, ausgraben, identifizieren und den dortigen bestehenden oder auch neuen Soldatenfriedhöfen überstellen sollte. Lutz Müller wurde so der detailbesessene Sucher nach gefallenen deutschen Soldaten in der Region. Jeder Bürgermeister der moldawischen Gemeinden kennt ihn inzwischen, auch in Rumänien hat er gute Kontakte zu Behörden und bekommt Genehmigungen für seine Ausgrabungen, die er 2009 mit einem moldawischen Assistenten bewerkstelligt. Im April 2009 ist er in Iasi tätig. Direkt hinter der neu errichteten Mensa der Universität, auf einem Parkplatz der Mensa-Bediensteten. Schweres Gerät ist vonnöten, die Erde wird 1,50 m tief geöffnet.

Ausgrabung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Iasi, Rumänien, April 2009, hinter der neuen Mensa der Universität. Foto: Lutz Kroneberg

Eine von vielen Tafeln auf dem Deutschen Soldatenfriedhof in Iasi. Foto Lutz Kroneberg, April 2009

Schon bald kommen hunderte von Skeletten zum Vorschein. In mehreren Abschnitten wird der gesamte Parkplatz untersucht. Zum Schluß mögen es ca. 800 Skelette sein, die Müller und sein Assistent hier bergen. Ohne Erkennungsmarken, ohne Möglichkeiten zur Identifizierung. Wahrscheinlich handelt es sich um Soldaten, die im deutschen Lazarett von Iasi lagen. Nach der Besetzung durch die Rote Armee benötigte diese ebenfalls Lazarett-Kapazitäten. Also wird das Lazarett geräumt (Soldatenjargon: aufgeräumt), den Männern werden die Identifizierungs-Marken abgenommen, und dann, auf einem nur wenige hundert Meter entfernten Platz mitten in der Stadt, erschossen. Erde auf und zu. Ein etwas gnädigeres Schicksal haben die Soldaten, die auf dem deutschen Soldatenfriedhof in Iasi beerdigt worden sind. Wenigstens ihre Namen sind geblieben. Auffallend und für den heutigen Betrachter tief beeindruckend das Alter der Soldaten: die meisten sind zwischen 19 und 25 Jahren.

Deutscher Soldatenfriedhof in Iasi, Foto: Lutz Kroneberg, April 2009

Der Volksbund - in Moldawien, Rumänien und Iasi repräsentiert durch Lutz Müller - unterstützt private Bemühungen um die Aufkärung vermisster Soldaten vorbildlich. Im Gespräch mit Lutz Müller stellt sich schnell heraus, dass er von einer Grabungsstelle in Agronomovka weiss. Gut zwei Jahre sei es her, dass er dort „gebuddelt“ habe. Seine Informationen zieht er aus Karten und Aufzeichnungen, im wesentlichen aber aus den Berichten von Einheimischen. Die Älteren wissen oft ganz genau, wo deutsche Soldaten begraben worden sind. Und haben ihre Kenntnisse häufig schon an die nächste Generation weitergegeben. Dennoch ist nicht bei allen Moldawiern und Rumänen Interesse zu verspüren, die alten Ereignisse aufzuklären. „Das ist zu lange her, lasst die und uns doch in Ruhe.“ Aber auch: „Was soll aus meinem Apfelbaum werden, wenn ihr in meinem Garten buddelt?“ Verständliche Sorgen, zumal die Armut im Lande sehr verbreitet ist.

An einem heissen Junitag 2009, kurz vor Monatsende, holt uns Lutz Müller am Hotel in Iasi ab und fährt mit uns nach Moldawien. Schnell ist die quirlige Stadt Iasi verlassen und schon nach wenigen Kilometern wird die Grenze zu Moldawien erreicht. Hier ist alles noch mal anders als in Rumänien. Wenige Autos auf der Landstraße, mehr Pferdewagen. Die Straßen abseits der Landstraßen sind nicht asphaltiert, gut dass wir im Geländewagen sitzen. Auf den Feldern keine Maschinen, Handarbeit. Agronomovka ist ein typisch moldawisches Dorf: keine befestigten Straßen, im Frühjahr und Herbst bestehen die Straßen aus tiefem Schlamm, um die kleinen Holzhäuser Gärten für die Selbstversorgung, viele Obstbäume, Hühner, Gänse, ein paar Kühe, hie und da mal ein Pferd. Keine Autos. Die Häuser mühevoll zusammengehalten, die Dächer dicht, ab und zu mal eine Satellitenschüssel, Wasser kommt aus dem Brunnen. Ansonsten ist anzunehmen, dass Agronomovka minus Elektrifizierung noch aussieht wie vor 65 Jahren.

Agronomovka. Foto: Lutz Kroneberg, April 2009

Hier, inmitten eines friedlichen Dorfes, dessen Bewohner wohl immer nur an der Sicherung ihres Lebensunterhaltes und nicht an Krieg interessiert waren, starb Franz Jacobsmeyer am 5. April 1944. Beerdigt wurde er am 23. Mai 1944, sechs Wochen nach seinem Tod, mit acht Kameraden in Agronomovka. Wahrscheinlich ist es die lange Zeitspanne zwischen Tod und Beerdigung, welche das Begräbniskommando veranlasst hat, die neun Soldaten sofort hier in Agronomovka zu beerdigen und nicht auf einen nahegelegenen Sammelplatz zu bringen. In der Wehrmachtsunterlage ist als Todes- und Beerdigungsort Parliti Targ (Pirlitsa) vermerkt. Wahrscheinlich ist aber nach allen anderen

vorliegenden Informationen das Begräbnis in Agronomovka. Das Begräbniskommando hat in Parliti-Targ lediglich mitgeteilt, dass Franz Jacobsmeyer und die anderen acht beerdigt worden sind. So genau nahm es die Militärverwaltung mit ihren Helden nun auch nicht. Lutz Müller hat in Agronomovka – genau an der in der Skizze bezeichneten Grablage - vor zwei Jahren neun Soldaten ausgegraben, nebeneinander ordentlich bestattet, davon konnten acht anhand ihrer Erkennungsmarke identifiziert werden. Alter und Körpergröße des neunten Skeletts konnten aufgrund neuer Verfahren bestimmt werden. Diese stimmen mit denen überein, die Franz Jacobsmeyer 1932 in seinem Lebenslauf aufgeschrieben hat.

Hier, wo früher noch eine Straße nach Hristoforovca abzweigte, fand Franz Jacobsmeyer 1944 seine vorletzte Ruhe. Nach der Exhumierung 2007 ist er unter den Umbettungsnummern 4903-4911 von hier auf den deutschen Teil des Zentralfriedhofes in Chisinau umgebettet worden. Foto: Lutz Kroneberg, April 2009

Die Daten zu dieser Ausgrabung waren über die Wehrmachtsauskunftstelle Berlin (WAST) und den Volksbund noch nicht intern verarbeitet worden. Oft sind Schicksale von Soldaten über die leicht zugängliche Datenbank des Volksbundes schnell aufzuklären. Da derzeit in Russland und anderen osteuropäischen Ländern viele Grabungen durch den Volksbund initiiert worden sind, können immer noch Schicksale von Soldaten aufgeklärt werden. Der Volksbund geht davon aus, dass in den nächsten Jahren noch über eine Million Namen Namen in die Datenbank aufgenommen werden. Im Idealfall kann sogar der Soldatenfriedhof gefunden werden, wohin die

Überreste des Soldaten verbracht worden sind und wo ein Gedenkstein oder eine Gedenkplakette an ihn erinnert. Wenn auch die allerletzte Gewißheit, ob der neunte Mann im Grab tatsächlich Franz Jacobsmeyer war, noch nicht hergestellt werden kann, so sprechen doch alle Umstände und Wahrscheinlichkeiten, insbesondere die Aussagen und die Skizze von Feldwebel Wilhelm Grube dafür, dass Franz Jacobsmeyer unter den neun Beerdigten in Agronomovka ist. Bei den anderen acht handelt es sich um Kameraden seines Grenadierregiments 212, 5. Kompanie. Es gab und gibt nur diese eine Straße durch Agronomovka. Sein Leben endet hier. Er hinterlässt Frau und zwei Kinder. Die 1943 geborene Tochter stirbt schon 1948 an einer Gehirnhautentzündung. Der am 27. Februar 1944 geborene Klaus Jacobsmeyer hat seinen Vater nie gesehen. Die Mutter heiratet 1949 wieder. Sie ist – im Jahr 2009 – 93 Jahre alt und hat zeitlebens den Wunsch gehabt, Näheres über das Schicksal ihres ersten Mannes zu erfahren.

Lutz Müller (Mitte), Volksbund, sowie Klaus (links) und Daniel Jacobsmeyer (rechts). Foto: Lutz Kroneberg, April 2009

Das Schicksal von Franz Jacobsmeyer ist aufgeklärt. Seine Gebeine wurden auf den Soldatenfriedhof nach Chisinau gebracht, da sie in Moldawien gefunden worden sind und nicht nach Rumänien oder Deutschland ausgeführt werden dürfen. In Chisinau befindet sich auf dem Zentralfriedhof ein deutscher Solatenfriedhof, der in der Regie des Volksbundes wiederhergestellt und eingerichtet worden ist. Eine Gedenkplakette wird zukünftig hier in Block 9, Reihe 12, Grab 459,

an Franz Jacobsmeyer erinnern. Ein Fall von vielen, bei denen Lutz Müller geholfen hat, individuelle Schicksale aufzuklären. Ihm und dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. mit Sitz in Kassel sei dafür gedankt. Die Wehrmachtsauskunftstelle (WAST) in Berlin wird die Angaben noch überprüfen.

Soldatenfriedhof in Chisinau, Bild: Lutz Müller, Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge

Am 5. April 1944, dem Todestag von Franz Jacobsmeyer, ist das Ende des Zweiten Weltkrieges schon längst vorhersehbar. Am 6. Juni 1944 landen alliierte Truppen in der Normandie. Amerikaner stehen jetzt auf europäischem Boden. Dem folgt nur gut zwei Wochen später die Offensive der Roten Armee. Gegen 6.000 sowjetische Flugzeuge kann Deutschland noch 40 einsetzen. Allein in der Heeresgruppe Mitte der Ostfront fallen innerhalb von nur vier Wochen rund 350.000 deutsche Soldaten oder geraten in Kriegsgefangenschaft. Stalingrad war nur das Vorspiel zur großen Katastrophe. Bis Oktober 1944 ist der gesamte Balkan unter Kontrolle der Roten Armee, die Wehrmacht muss Griechenland räumen. Noch immer geistern Formulierungen durch Publikationen, dass Hitler einem geordneten Rückzug und einer Frontbegradigung sich widersetzt und damit die Zahl der Opfer unnötig in die Höhe getrieben habe. Fakt ist, dass die militärische Leitung der Wehrmacht den ganzen Unsinn mitgemacht hat und keine Wege gefunden hat, die politische Situation in Deutschland entscheidend zu verändern. Der Widerstand in der

deutschenWehrmacht ist moralisch sehr hoch einzuschätzen, in seiner unmittelbaren realen Wirkung praktisch bedeutungslos. Das war wohl keine Frage der organisatorischen und machtpolitischen Möglichkeiten, über welche die Wehrmacht verfügte, sondern bei fast allen mehr eine Sache des Kopfes. Wenn man heute von den Verbrechen der Wehrmacht spricht und damit primär die Verbrechen der Wehrmacht gegenüber der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten meint, so ist dies ein wichtiges Kapitel der militärund sozialhistorischen Geschichtsschreibung. Die Art und Weise aber, die Ignoranz den militärischen Gegebenheiten gegenüber, die Arroganz den jungen Soldaten gegenüber, die Menschenverachtung den Juden und Osteuropäern gegenüber, ihr Vasallengehorsam der erkennbar völlig durchgeknallten nationalsozialistischen Führung gegenüber, verstricken die Führung der deutschen Wehrmacht in die Schuld am Tod von Millionen jungen deutschen Männern und am Tod von Millionen zivilen Opfern.

Lutz Kroneberg, 2009