Prävention/Gesundheitsförderung Präv Gesundheitsf 2014 ∙ 9:60–65 DOI 10.1007/s11553-013-0419-9 Online publiziert: 27. November 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

Valentina A. Tesky1 · Nervin Hermann1 · Anne Kümmel1 · Arthur Schall1 · Tarik Karakaya2 · Johannes Pantel1 1Arbeitsbereich Altersmedizin mit Schwerpunkt Psychogeriatrie und klinische Gerontologie, Institut für Allgemeinmedizin, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland 2Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland

Förderung kognitiv-stimulierender Freizeitaktivitäten bei türkischen Migranten Hintergrund Aufgrund des demographischen Wandels erhöht sich die Anzahl von Menschen mit demenziellen Erkrankungen stetig. In Deutschland leiden aktuell ca. 1,4 Mio. Menschen unter einer Demenz, jährlich kommen ca. 400.000 Neuerkrankungen hinzu [4]. Demenzielle Erkrankungen verlaufen chronisch und sind überwiegend nicht heilbar. Insofern sind Präventionsmaßnahmen sehr bedeutsam. Diese sollten auch den in Deutschland lebenden älteren Migranten zu Gute kommen [18], auch wenn es bisher sehr wenige Präventionsmaßnahmen speziell für diese Zielgruppe gibt [9]. In Deutschland repräsentieren Migranten > 19,3 % der Wohnbevölkerung [21]; der Großteil sind Menschen aus der Türkei. Das Verständnis von Krankheit und Gesundheit dieser Migranten weist kulturspezifische Besonderheiten auf [1, 14, 20]. Krankheiten werden von türkischstämmigen Patienten eher äußeren Umständen zugeschrieben, die nicht beeinflussbar sind. Dies kann zu einem reduzierten Gefühl der persönlichen Verantwortlichkeit führen [8]. Im Hinblick auf demenzielle Erkrankungen bedeutet dies, dass deren Symptome oft als normale Alterserscheinung angesehen werden, die nicht zu diagnostizieren und zu behandeln sind. Insofern werden auch präventive Angebote eher nicht in Anspruch genommen [18]. Zur Prävention von Demenzen wird die Reduzierung vaskulärer Risikofakto-

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ren empfohlen, ebenso kognitive, physische und soziale Aktivitäten sowie eine mediterrane Ernährungsweise [2, 6, 10, 19, 27]. Um das kognitive Aktivitätsniveau zu steigern, gibt es neben den klassischen kognitiven Trainingsprogrammen einen Ansatz, der auf der Durchführung kognitiv-stimulierenden Freizeitaktivitäten beruht. In Beobachtungsstudien ist z. B. das vermehrte Ausüben von intellektuellen Tätigkeiten wie Lesen, Musizieren oder Schach spielen mit einem reduzierten Demenzrisiko assoziiert [27]. Angenommen wird, dass diese Tätigkeiten den Aufbau sog. kognitiver Reserve fördern. Dieses hypothetische Konstrukt postuliert, dass das Gehirn auf kognitive Reservekapazität zurückgreift, wenn die Gehirnfunktion, z. B. bei Demenz, beeinträchtigt ist [19]. Ein hohes Maß an kognitiver Reserve wird mit einem verringerten Demenzrisiko assoziiert. Es wird angenommen, dass diese nicht nur durch einen hohen Bildungsstand, sondern auch durch aktuelle geistige Aktivitäten bis ins hohe Alter aufgebaut und erhalten werden kann [22]. Hierauf basierend wurde das Gruppenprogramm „AKTIVA“ (Aktive kognitive Stimulation – Vorbeugung im Alter) entwickelt, durchgeführt und evaluiert [23– 25]. Als eines der Hauptergebnisse der Intervention konnten wir für Untergruppen der deutschen Gesamtstichprobe eine signifikante Zunahme von kognitiv-stimulierenden Freizeitaktivitäten belegen. Darüber hinaus zeigten sich psychometrische Verbesserungen der Arbeitsge-

schwindigkeit und der Einschätzung subjektiver Gedächtniseinbußen [25]. Im Rahmen einer kontrollierten Trainingsstudie wurde durch ein Satellitenprojekt auch älteren türkischen Migranten die Möglichkeit einer Teilnahme an AKTIVA offeriert. Aus methodischen Gründen wurden die Daten der türkischen Migranten jedoch nicht in die Auswertung der Gesamtstudie mit einbezogen. Im Folgenden werden die Ergebnisse dieses Projekts dargestellt und hinsichtlich der Frage analysiert, ob ältere türkische Migranten ebenfalls von einer Teilnahme an AKTIVA profitieren können.

Studiendesign und Untersuchungsmethode Design Es handelt sich um eine Pilotstudie ohne Kontrollgruppe im Rahmen einer umfangreichen kontrollierten Trainingsstudie mit Prä-post-Follow-up-Messung. Rekrutiert wurden kognitiv gesunde Probanden ≥ 50 Jahren. Mittels verschiedener psychometrischer Testverfahren wurde das kognitive Leistungsniveau überprüft, um Personen mit einer Demenzerkrankung oder Verdacht auf Demenz auszuschließen [23, 25]. Die genannten Personenbezeichnungen umfassen gleichermaßen die männliche und die weibliche Form. Lediglich aus Gründen der Übersichtlichkeit wurde auf die ausdrückliche Nennung beider Formen verzichtet.

Tab. 1  Ablauf des Trainingsprogramms Wochen 1 4–11 Türkische Stichprobe (n = 15, 13 Frauen)

Rekrutierungsmaßnahmen 12

13–29

30–31

32

Posttest

EP

TS 9–10

Follow-up-Test

Deutsche Stichprobe n = 74

df

F-Wert

60,2 (5,40) 7,47 (2,33)

72,14 (6,56) 10,58 (1,92)

1/84 1/82

44,89*** 32,63***

25,53 (2,77) 9,80 (3,34) 65,21 (23,21) 172,5 (66,63) 0,13 (0,23) 48,34 (6,73) 53,64 (10,84) 20,67 (5,57) 7,28 (4,04) 23,27 (5,09)

28,45 (1,06) 7,34 (2,85) 47,35 (21,52) 105,27 (49,44) 0,34 (0,13) 34,48 (7,51) 41,39 (11,53) 24,97 (3,99) 10,13 (5,71) 23,43 (10,45)

1/89 1/89 1/88 1/88 1/89 1/89 1/89 1/89 1/89 1/89

48,44** 8,78** 7,92 19,38** 5,66** 44,39** 14,35** 12,58 3,39 0,00

Prätest

TS 1–8

TS  Trainingssitzungen, EP Erprobungsphase.

Tab. 2 Stichprobenbeschreibung Erfasste Variablen Türkische Stichprobe n = 15 Alter, Mittelwert (SD) Schuljahre, Mittelwert (SD) Testverfahren, Mittelwert (SD) MMST ADAS-Kog TMT A TMT B CDR SDS NSL MAC-Q PGCMS LBZ

Die Daten der deutschen Stichprobe wurden bereits an anderer Stelle publiziert [23, 24] MMST  Mini-Mental-Status-Test, ADAS-Kog Alzheimer’s Disease Assessment Scale kognitiver Teil, TMT A TrailMaking-Test Teil A, TMT B Trail-Making-Test Teil B, CDR Clinical Dementia Rating, SDS Self Rating-DepressionScale, NSL Nürnberger Selbsteinschätzungsliste, MAC-Q Memory Complaint Questionnaire, PGCMS Philadelphia Geriatric Center Morale Scale, LBZ Skala zur Erfassung der Lebenszufriedenheit **p