Zitierhinweis

Abrosimov, Kirill: Rezension über: Marian Hobson, Diderot and Rousseau. Networks of Enlightenment, Oxford: Voltaire Foundation, 2011, in: Francia-Recensio, 2016-4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500-1815), heruntergeladen über recensio.net First published: http://www.perspectivia.net/publikationen/francia/francia...

copyright

Dieser Beitrag kann vom Nutzer zu eigenen nicht-kommerziellen Zwecken heruntergeladen und/oder ausgedruckt werden. Darüber hinaus gehende Nutzungen sind ohne weitere Genehmigung der Rechteinhaber nur im Rahmen der gesetzlichen Schrankenbestimmungen (§§ 44a-63a UrhG) zulässig.

Francia­Recensio 2016/4 Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815)

Marian Hobson, Diderot and Rousseau: networks of Enlightenment. Edited and  translated by Kate E. Tunstall and Caroline Warman, Oxford (Voltaire  Foundation) 2011, XI–366 p., 7 ill. (SVEC, 2011,), ISBN 978­0­7294­1011­3,  EUR 65,00. rezensiert von/compte rendu rédigé par Kirill Abrosimov, Augsburg Marian Hobson gehört zu den bedeutendsten angelsächsischen Experten auf dem Gebiet der  Erforschung der französischen Aufklärung. Die Emerita der Londoner Queen Mary University und  Fellow of the British Academy (1999) hat u. a. mit »The Object of Art. The Theory of Illusion in  Eighteenth­Century France« (1982) ein Standardwerk zum tiefgreifenden Wandel der Kunsttheorie  und ­praxis im Zeitalter der Aufklärung vorgelegt.  Daher stellt die erneute Publikation ihrer zwischen 1973 und 2005 erschienen Aufsätze eine durchaus  angemessene Ehrung für eine verdiente Wissenschaftlerin dar. Doch die Bedeutung der von Kate  Tunstall und Caroline Warman besorgten Edition beschränkt sich keineswegs auf eine respektvolle  Verneigung vor der älteren Kollegin. Statt einer bloßen Werkbesichtigung entpuppt sich die  Aufsatzsammlung als ein inhaltlich kohärenter und methodisch anregender Forschungsbeitrag, der  zahlreichen aktuellen Forschungsdebatten neue Impulse verleihen könnte und sollte. Dieses von den beiden Herausgeberinnen explizit formuliertes Anliegen wird durch den Aufbau des  Sammelbandes zusätzlich unterstrichen, indem die insgesamt 14 Aufsätze nicht nach ihrem jeweiligen  Erscheinungsdatum, sondern nach ihren thematischen Bezügen in vier Kapiteln eingeteilt sind: Die  ersten beiden Kapitel sind jeweils einem Werk von Denis Diderot gewidmet: dem theater­ und  kunsttheoretischen Dialog »Paradoxe sur le comédien« und seiner tiefgründig­grotesken  Selbstreflexion »Le Neveu de Rameau«. Die Aufsätze in den drei weiteren Kapiteln, kreisen um  jeweils eine der zentralen Kategorien aufklärerischer Theorieproduktion: das Kausalitätsproblem, die  Eigenlogik des Ästhetischen und die Vermessung der Welt und des Menschen. Allen diesen Texten ist eine spezifische Vorgehensweise zu eigen, die ihnen eine besondere  Relevanz für die aktuelle Forschungsdiskussion verleiht. Marian Hobsons Analysemethode zeichnet  sich durch eine Verschränkung des literaturwissenschaftlichen mit dem ideengeschichtlichen  Erkenntnisinteresse. Eine Verschränkung, die auf die untrennbare Einheit inhaltlicher Argumente und  ihrer sprachlichen, literarischen Form verweist. Hobsons von der poststrukturalistischen Theorie  inspirierte Einsicht in die genuine Literarizität aller Denkformen erweist sich im Hinblick auf die  Protagnisten der französischen Aufklärung als besonders fruchtbar, da deren Texte sich der Einteilung  nach modernen Kategorien »fiction/non­fiction« hartnäckig verweigern. 

Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative­Commons­Lizenz Namensnennung­Keine kommerzielle Nutzung­Keine  Bearbeitung (CC­BY­NC­ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum  Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by­nc­nd/4.0/

Welche analytische Potenziale die Fokussierung auf die sprachliche Form der Texte bis hin zu den  Eigentümlichkeiten ihrer Satzstruktur in sich birgt, demonstriert Hobson u. a. in ihren beiden »Le  Neveu de Rameau« gewidmeten Aufsätzen. Im Beitrag »Pantomime, spasm und parataxis: Le Neveu  de Rameau« (S. 93–113) geht sie der Analogie zwischen den Pantomimen, die Rameaus Neffe im  Zustand der Selbstvergessenheit vorführt, und dem Phänomen der Konvulsion, in dem die  zeitgenössische Physiologie eine unbewusste, reflexartige Reaktion des Körpers auf den Druck von  außen sah, nach. Die Schilderungen des pantomimischen Spiels zeichnen sich laut Hobson durch die  parataktische Satzstruktur aus, also die Anhäufung von Hauptsätzen bar jeder logischen Ursache­ Folge­Relation, womit Diderots »konvulsives Modell« des künstlerischen und sozialen Handelns  jenseits des Dogmas vom freien Willen performativ umgesetzt werde. Darüber hinaus verweise die  Parataxe, wie der Aufsatz »Lists, parataxis and Le Neveu de Rameau« (S. 127–139) eindrucksvoll  zeigt, auf die der Oralität verpflichtete Form der Auflistung, deren prinzipielle Unvollständigkeit  Diderots Vision des fragmentarischen, in seinen Grenzen stets instabilen Subjekts unterstreiche. Generell zeichnet sich Hobsons Ansatz durch eine souveräne Missachtung sämtlicher Kategorien und  Grenzziehungen, die der heutigen Wissenssystematik entstammen. Lange bevor »Interdisziplinarität«  zu einem sinnentleerten Plastikwort aus dem Vokabular der Projektantragslyrik geworden ist, wurde  dieses anspruchsvolle Forschungsprogramm von der britischen Aufklärungsforscherin erfolgreich  umgesetzt. So kann sie z. B. zeigen, wie die Praxis der Vermessung antiker Statuen auf der Suche  nach einem mathematisch exakten Schönheitsideal, übersetzt in den Diskurs der  Humananthropologie, zur Genese eines universellen physischen »Standards« für die gesamte  Menschengattung geführt habe (»Measuring statues, or, special neutrality«, S. 317–331). Solche  Brückenschläge zwischen den heute weit voneinander entfernten Wissensfeldern sind keineswegs  dem Originalitätszwang der Interpretin geschuldet, sondern korrespondieren mit dem Denkhorizont  der Zeitgenossen, für die alles Wissen in Bezug auf den Menschen und seine Praxis eine Einheit  bildete. Hobsons interdisziplinäre Vorgehensweise eröffnet darüber hinaus neue, überraschende  Perspektiven auf manchen kanonischen Text der französischen Aufklärung. So werden etwa Diderots  Ausführungen zur Schauspielkunst im »Paradoxe sur le comédien« in den Kontext zeitgenössischer  medizinischer Debatten über physiologische Ursachen der Sensibilität bzw. Reizbarkeit gestellt. Damit  kann Hobson die entscheidenden Voraussetzungen für Diderots Konzept des selbstbestimmten und  zugleich nichtintentionalen Handelns rekonstruieren, dem zufolge Schauspieler und Zuschauer  abwechselnd als affizierende Subjekte und affizierte Objekte in einem zirkulären »System der Blicke«  fungierten (vgl. »Sensibility and spectacle. The medical context of the Paradoxe«, S. 65–90).  Das hochkomplexe Verfahren der Kontextualisierung, dem Hobson ihre Untersuchungsgegenstände  stets unterzieht, lässt es kaum zu, im Rahmen dieser Besprechung alle Beiträge des Bandes  angemessen zusammenzufassen und kritisch zu würdigen. Es ist jedoch möglich, das zentrale  Anliegen der Forscherin zu identifizieren, das ihre Aufsätze wie ein roter Faden durchzieht. Hobsons 

Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative­Commons­Lizenz Namensnennung­Keine kommerzielle Nutzung­Keine  Bearbeitung (CC­BY­NC­ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum  Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by­nc­nd/4.0/

Auseinandersetzung mit der französischen Aufklärung gleicht einer Suche nach einem spezifischen  Denkstil, den man als asystematisch, diskontinuierlich, situativ, probabilistisch und multiperspektivisch  bezeichnen könnte und der aus ihrer Sicht mit der atheistischen Ablehnung der auf den göttlichen  Ursprung des Universums verweisenden, teleologischen Ordnungsmodelle korrespondiert. Aus Hobsons Sicht wurde diese Spielart des aufklärerischen Denkens ursprünglich von Rousseau und  Diderot gleichermaßen verkörpert, deren Wege jedoch im Verlauf ihrer intellektuellen Entwicklung weit  auseinander gingen. Rousseau habe sich spätestens seit seiner Rückkehr zum Calvinismus im Jahr  1754 vom geschichtsphilosophischen Probabilismus seiner beiden Abhandlungen verabschiedet  (vgl. »›Nexus effectivus‹ and ›nexus finalis‹. Causality in Rousseau’s Discours sur l’inégalité and the  Essai sur l’origine des langues«, S. 165–199) und sein Selbstverständnis als Autor einer radikalen  Revision zugunsten der Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit unterzogen (vgl. »From Diderot to  Rousseau via Rameau«, S. 15–29). Dagegen habe Diderot das aufklärerische Projekt als einen  Prozess der permanenten, ergebnisoffenen Selbstbefragung und Selbstrevision am konsequentesten  umgesetzt und mit seiner assoziativ­fragmentarischen, durch ständige Perspektivwechsel  gekennzeichneten Schreib­ und Argumentationsweise die zeitgenössischen Diskursgrenzen am  radikalsten offengelegt (vgl. »The Paradoxe sur le comédien is a paradox«, S. 33–64; »Jacques le  fataliste: the art of the probable«, S. 143–163; »Diderot’s Lettre sur les sourds et muets: language and  labyrinth«, S. 213–259).  Hobsons Rekonstruktion der »dialogischen« Strömung innerhalb der französischen  Aufklärungsphilosophie, die von Diderot idealtypisch repräsentiert werde, hebt sich vor dem  Hintergrund der landläufigen monolitischen Vision der Aufklärung als einer Spielart des  frühneuzeitlichen Rationalismus vorteilhaft hervor. Sie überzeugt nicht zuletzt durch eine hohe  Sensibilität für jene mediale Voraussetzungen und literarische Ausdrucksformen, die für Diderots  Denken konstitutiv waren. Dazu gehören sowohl seine Verortung jenseits der anonymen Öffentlichkeit  der Druckmedien (in Briefkorrespondenzen und v. a. in der geheimen »Correspondance littéraire« von  Friedrich Melchior Grimm) als auch seine Vorliebe für bestimmte Textgattungen (Dialog und  Anekdote) und Formen diskontinuierlicher Narrativität (Unterbrechungen, Abschweifungen,  Logikbrüche). Ob man vor diesem Hintergrund Diderots Werk der ebenfalls irregulären Ästhetik des  Rokoko zuordnen sollte, wie Hobson das tut (vgl. »Phiolosophy and Rococo style«, S. 203–212),  erscheint angesichts seiner eigenen scharfen Polemik gegen die zeitgenössischen Vertreter des style  rocaille mehr als fragwürdig. Zum Schluss soll die Leistung der Herausgeberinnen gewürdigt werden. Abgesehen von einem etwas  irreführenden Titel, in dem der Netzwerkbegriff lediglich metaphorisch statt in seiner soziologischen  Konnotation gebraucht wird – denn von interpersonalen Relationen innerhalb der république des  lettres handeln Hobsons Aufsätze nur am Rande –, ist ihnen eine vorbildliche Edition gelungen, die 

Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative­Commons­Lizenz Namensnennung­Keine kommerzielle Nutzung­Keine  Bearbeitung (CC­BY­NC­ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum  Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by­nc­nd/4.0/

gerade eine fachliche Rezeption und Weiterverwendung der Beiträge erheblich erleichtert. Entgegen  dem angelsächsischen Usus wurden sämtliche Quellenzitate nicht nur in der englischen Übersetzung,  sondern auch im französischen Original wiedergegeben. Hobsons ursprüngliche Verweise auf  unterschiedliche Diderot­Ausgaben wurden nachträglich harmonisiert und soweit wie möglich durch  Angaben nach der (noch nicht abgeschlossenen) kritischen Werkausgabe ersetzt, die seit 1975 im  Pariser Hermann­Verlag erscheint. Eine aktualisierte Bibliografie sowie ein für eine Aufsatzsammlung  besonders nützliches Sach­ und Personenregister runden die Ausgabe ab. Insgesamt gelingt es der  Neuedition, Hobsons Aufsätzen die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen. Man wünscht  ihnen eine breite Leserschaft auch im deutschsprachigen Raum.

Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative­Commons­Lizenz Namensnennung­Keine kommerzielle Nutzung­Keine  Bearbeitung (CC­BY­NC­ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum  Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by­nc­nd/4.0/