Familienpolitik ist immer auch Bildungspolitik

Von Klaus Hurrelmann, Professor an der Hertie School ofGovernance, Berlin Hamm, 21.11.2012

Alle Untersuchungen der letzten Jahre zeigen: Kindern und Jugendlichen geht es in der Bundesrepublik Deutschland mehrheitlich recht gut, aber etwa ein Fünftel von ihnen lebt in sozial angespannten Verhältnissen, ist von gesundheitlichen Beeinträchtigungen bedroht und kann seine Bildungspotentiale nicht voll entfalten. Die Ursachen hierfür liegen ganz eindeutig im Elternhaus. Die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Lage der Familie entscheidet darüber, wie gut sich ein Kind gleich in den ersten Lebensjahren entwickeln kann. Verfügen Mutter und Vater über ein sehr geringes Einkommen, haben einen niedrigen oder gar keinen Schulabschluss, sind im Erwerbsleben nicht fest verankert und auch in ihrer Nachbarschaft nicht integriert, dann strahlt das negativ auf die Entwicklung ihrer Kinder aus. In der Kinderstudie des Kinderhilfswerkes World Vision Deutschland wurden 2500 Sechs- bis Elfjährige nach der Einschätzung ihrer Lebenslage gefragt. 80% von ihnen sind mit ihrer Lebenslage zufrieden, aber 20% geben teilweise erhebliche finanzielle und soziale Probleme im Elternhaus zu Protokoll. In der Interpretation der Ergebnisse sprechen wir ohne Umschweife von einer „Vier-Fünftel-Gesellschaft“, in der die jüngste Generation hierzulande groß wird. Internationale Studien bestätigen, dass Kinder bei uns besonders stark von den ungleichen Lebensbedingungen der Elternhäuser betroffen sind. Sie sind gewissermaßen „auf Gedeih und Verderb“ von ihren Müttern und Vätern abhängig. Die frühe Benachteiligung eines so großen Teils der jüngsten Generation ist nicht nur sozial ungerecht, sie widerspricht auch den Rechten der jungen Bürgerinnen und Bürger, und sie stellt gleichzeitig ein Risiko für die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes dar. In den nächsten Jahren werden wir alle jungen Leute brauchen, um den Bedarf an Nachwuchskräften in Wirtschaft und Unternehmen erfüllen zu können. Wir brauchen deshalb eine Bildungspolitik, die dem benachteiligten Fünftel gute Förderimpulse sichert. Aber wir brauchen gleichzeitig eine Familienpolitik, die sich ihrer bildungspolitischen Komponente bewusst ist. Familienpolitik ist Querschnittpolitik, und deshalb immer ach unausweichlich Bildungspolitik. Wie kann eine solche Familienpolitik aussehen? Aus der interdisziplinären Forschung lassen sich die folgenden Leitlinien ableiten. Erstens: Kinder profitieren von Familien, die sicher in soziale Netzwerke eingebettet sind. Es gibt das schöne afrikanische Wort: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“. Damit nist gemeint, ein Kind profitiert von einer breiten und vielfältigen Anregung an verschiedenen sozialen Orten. Das Elternhaus ist das Zentrum aller dieser Anregungen, die Eltern die unangefochtenen Koordinatoren für den gesamten Betreuungs- und Bildungsprozess ihres Kindes. Sie setzen die Maßstäbe für seine Leistungsfähigkeit und beeinflussen die psychische und körperliche Gesundheit Tag für Tag. Aber sie können diese Betreuungs- und Erziehungsaufgabe nicht alleine bewältigen. Sie brauchen eine öffentliche Unterstützung durch Nachbarschaft, Verwandtschaft,

öffentliche Bildungseinrichtungen und Freizeit-, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen. Sie brauchen Zugang zur Jugend- und Familienhilfe, Erziehungsberatung und auch zu öffentlichen Einrichtungen in der Gemeinde. Das oberste Ziel der Politik für Kinder muss es deswegen sein, die Verantwortung der ganzen Gemeinschaft zu wecken und das Kind über die Familie in das „Dorf“ einzubeziehen. Die Familienpolitik sollte im Idealfall so ausgerichtet sein, dass sie dieses Ziel unterstützt. Das Erziehen der Kinder und die Anregung ihrer Bildungspotentiale sollten nicht als eine reine Privatsache der Eltern, sondern als eine öffentliche Aufgabe verstanden werden. Zweitens: Die traditionelle Ausrichtung der Sozial- und Familienpolitik in Deutschland ist netzwerkfeindlich. Deutschland ist von seinen sozialpolitischen Strukturen her ein konservativer Wohlfahrtsstaat, bei allein die Familie im Zentrum der Sozial- und der Kinderpolitik steht. Mütter und Väter, so die zugrunde liegende Philosophie, wissen am allerbesten, was gut für ein Kind ist und welche Unterstützung es benötigt. Entsprechend sind alle Hilfen für Kinder überwiegend auf das Elternhaus ausgerichtet. Dahinter steht das „Subsidiaritätsprinzip“, das besagt: Nur wenn die Familie nicht mehr aus eigener Kraft weiterkommt, dann darf der Staat von außen eingreifen. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist das auch im Blick auf die Erziehung klar geregelt. In Artikel 6 werden Erziehung und Pflege der Kinder als das „natürliche Recht der Eltern“ bezeichnet. Entsprechend gehen alle Ressourcen, vor allem auch alle finanziellen Unterstützungen, an die Eltern. Wegen dieser Grundausrichtung gelingt es in Deutschland nur schwer, Familien in ein soziales Netzwerk einzubeziehen und die Erziehungs- und Bildungsinstitutionen im öffentlichen Raum mit der Familie zu verzahnen. Diese Neuausrichtung wäre aber hilfreich, weil eine Familie heute, wo sie klein und störanfällig geworden ist, ein weit gefächertes und stabiles Umfeld benötigt, um stark sein zu können. Eine Familie besteht heute mitunter nur aus einem Elternteil und einem Kind, und so kleine soziale Einrichtungen haben große Schwierigkeiten, die Erziehung und Betreuung des Kindes zu steuern. Hier zeigt sich ein enormer struktureller Nachteil unserer bisherigen Familienpolitik. Obwohl wir im internationalen Vergleich sehr hohe finanzielle Transferleistungen an Familien zahlen (etwa das Kindergeld) und ihnen steuerliche Vorteile zukommen lassen (etwa über das Ehegattensplitting), schneiden wir bei Untersuchungen zum Wohlbefinden der Kinder, ihrer wirtschaftlichen Lage und ihrer Bildungserfolge nicht gut ab. Die Vier-Fünftel-Gesellschaft der Kinder hat sich in den letzten zwanzig Jahren sogar noch verfestigt, die Anteile der Kinder, die in relativer Armut leben, sind im Vergleich zu anderen Ländern erschreckend hoch. Drittens: Familienpolitik ist nicht in allen Punkten identisch mit Kinderpolitik. In Deutschland folgen wir der Grundannahme, was gut ist für die Eltern, das ist auch gut für ihre Kinder. Abstrakt ist die These richtig, aber konkret kann sie ad absurdum geführt werden, wenn das Umfeld der Familie missachtet wird. Unser Problem ist die Überschätzung der Steuerungsleistung der Familie und die Missachtung der Tatsache, dass Eltern -- heute wahrscheinlich mehr als früher -Unterstützung, Hilfe und Vernetzung aus dem öffentlichen Raum benötigen. Kindergarten und Schule, Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheits- und Versorgungssystem, Freizeitbereich, Stadtplanung, kommunale Einrichtungen, alle diese Dienste müssen ansprechbar sein und auf das Kind zugehen,

damit es sich gut entwickeln kann. Wir brauchen eine bürgerschaftliche Infrastruktur für Kinder, in der die Familie eine Schlüsselrolle spielt. Wir brauchen aber nicht noch mehr Unterstützung für Familien, die von ihrer sozialen Umwelt isoliert sind. Das bekommt den Kindern nicht gut. Viertens: Die soziale Benachteiligung von Kindern kann nur durch die Kooperation von Elternhaus und öffentlichen Einrichtungen überwunden werden. Nicht obwohl, sondern weil wir so viel Geld in die direkte und indirekte Familienförderung hineinstecken, ist bei uns die soziale Ungleichheit und Benachteiligung eines Teils der Kinder in den letzten zwanzig Jahren gestiegen. Durch Kindergeld, Elterngeld, durch die Steuerpolitik mit dem sogenannten „Ehegattensplitting“ als wichtigster struktureller Komponente setzen wir Anreize, mit der wir die Familie von der sozialen Umwelt abschotten, statt sie mit ihr zu verzahnen. Es ist aussichtslos, den Eltern immer mehr Verantwortung für die Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu übertragen, ohne auch ihre Kompetenzen für diese Aufgabe zu steigern. Gerade die Eltern, die wirtschaftlich schwach sind und einen niedrigen Bildungsgrad haben, sind gar nicht in der Lage, die finanziellen Zuweisungen so zu nutzen, dass sie ihren Kindern für ihre Entwicklung direkt zugute kommen. Das ist der Hintergrund dafür, dass in den letzten beiden Jahrzehnten die Ungleichheit in den Lebensbedingungen der Familien weiter angestiegen ist. Das Leben ist komplexer und die Ansprüche an die Lebensführung sind vielfältiger geworden, und ein Teil der Eltern ist hierdurch überfordert. Diese Väter und Mütter schaffen es nicht, ihre Kinder in der richtigen Weise auf die Herausforderungen in Freizeit, Bildung und Gesundheit einzustellen. Von anderen Ländern können wir lernen, wie viel besser die Kinder dastehen, wenn nicht alleine die Eltern mit diesen Aufgaben betraut werden, sondern öffentliche Einrichtungen im Einverständnis mit den Eltern und wenn möglich mit ihrer Kooperation mit einspringen. Fünftens: Die Förderung der Eltern darf nicht auf eine Familienform fixiert sein. Wird die Förderung der Kinder nur über die Institution Familie geleitet, kommt es zu ungerechten Verteilungen. Die Transferleistungen und Steuerstrukturen, die unser System kennt, sind im Kern auf eine traditionelle bürgerliche Kleinfamilie ausgerichtet: Vater und Mutter sind verheiratet, der Vater ist der Berufstätige und Broterwerber, über ihn ist die Familie finanziell und sozial abgesichert, die Mutter wird durch steuerliche Strukturen wie das Ehegattensplitting daran gehindert, voll berufstätig zu sein. Wer diesem Modell folgt, kann in unserem System ganz gut leben. Alle Familien, die von diesem Modell abweichen, und das werden in den letzten Jahren immer mehr, erfahren Nachteile. Entscheiden sich Eltern für mehr als zwei Kinder, dann funktioniert das Fördersystem nicht mehr. Alle Statistiken zeigen, dass Familien mit drei und mehr Kindern zu denen mit dem höchsten wirtschaftlichen Risiko und der größten sozialen Benachteiligung zählen. Das zusätzliche Kindergeld reicht nicht aus, um die gestiegenen Kosten abzufangen. Eine weitere Familienform, die strukturell ungeheuer benachteiligt wird, ist die Ein-Eltern-Familie. Der größte Teil der alleinerziehenden Mütter und Väter schafft es nicht, einer Berufstätigkeit nachzugehen, und dadurch sind die wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Familienform äußerst stark beeinträchtigt. Schließlich werden durch unser Steuersystem auch alle Eltern benachteiligt, die Doppelverdiener sind.

Auf diese widersprüchliche Ausgangssituation reagieren die meisten Familien, indem sie trotz der bestehenden Förder- und steuerlichen Anreizstrukturen zum Modell der doppelten Berufstätigkeit beider Eltern übergehen. Sie tun das, obwohl die Bedingungen hierfür in Deutschland außerordentlich schlecht sind, weil sowohl die nötige Flexibilität an den Arbeitsstätten nicht gegeben ist als auch viel zu wenige Plätze in öffentlichen Kinderbetreuungs- und Bildungseinrichtungen zur Verfügung stehen. Diese Plätze kosten außerdem auch viel Geld, das aus der Familienkasse bezahlt werden muss. Sechstens: Die öffentlichen Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sollten flexibel auf die Bedürfnisse von Kindern und Eltern ausgerichtet werden. Im internationalen Vergleich ist das Netzwerk der außerfamiliären Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsinstitutionen und der gesundheitlichen Versorgungseinrichtungen auf einem sehr hohen fachlichen und qualitativen Niveau. Pädagogische, psychologische, psychotherapeutische, sozialarbeiterische, ergotherapeutische, pflegerische und anderer Versorgungsdienste werden von professionell hervorragend geschultem Personal geleitet. Die Fachkompetenz ist hoch, das Engagement ebenso. Allerdings haben wir ein Problem, und das ist die starke Fragmentierung der verschiedenen Dienste. Jeder einzelne Sektor hat seine eigene Ausbildungstradition und die damit verbundenen beruflichen Urteile und Vorurteile. Jedes einzelne Segment des Unterstützungssystems für Kinder arbeitet in relativer Isolation vor sich selbst her. Die Beziehungen zum jeweils anderen Sektor sind schwach. Die verschiedenen Professionen und die Institutionen, in denen sie tätig sind, miteinander zu verbinden, das ist deswegen eine der dringendsten Aufgaben, vor denen wir stehen. Die verschiedenen Berufsgruppen und ihre Institutionen lieben es, ihre jeweilige Zuständigkeit zu betonen und sich deutlich von der angrenzenden Institution abzugrenzen. Das ist nicht souverän, und es schadet der Klientel, nämlich den hilfsbedürftigen Kindern. Der wirkliche Professionelle weiß genau, wo seine Grenzen liegen und die Kompetenzen des anschließenden Bereichs beginnen. Durch diese Fragmentierung ist trotz der hohen Qualität der Angebote bei uns nicht gesichert, ob die verschiedenen Dienstleistungen und Unterstützungen auch tatsächlich dem Kind zugute kommen. Damit hängt ein weiteres Problem zusammen: Wir haben viel zu viele aufsuchende Strukturen. Die Kinder, meist zusammen mit ihren Eltern, müssen sich auf die Beine machen und im Bedarfsfalle auf die psychologische, sozialarbeiterische oder ergotherapeutische Beratung und Hilfe zugehen. Dazu müssen sie viele Barrieren und Hemmnisse überwinden. Viel effizienter sind zugehende Strukturen. Bei denen kommen die professionellen Helfer zum Kind. Am besten gelingt das, wenn die Hilfs- und Unterstützungsdienste in die Einrichtungen im Vorschulbereich, also die Kinderkrippen, Horte und Kindergärten, oder in die schulischen Einrichtungen, vor allem die Grundschulen, integriert sind. In einigen Regionen wurde ist durch die Etablierung von „Familienzentren“ in Vorschuleinrichtungen ein hervorragender erster Schritt in diese Richtung gemacht. Aber insgesamt sind wir im internationalen Vergleich weit zurück. Es gibt kaum noch ein anderes Land der Welt, in dem sich zum Beispiel in den Kindergärten nur Erzieherinnen und Erzieher und in den Schulen nur Lehrerinnen und Lehrer aufhalten. Fast überall sonst um uns herum finden sich die anderen Berufsgruppen aus den pädagogischen, psychologischen, gesundheitlichen und beratenden Berufen direkt in den Bildungsinstitutionen. Diese Einbindung in die Institutionen, in denen sich die Kinder bereits aufhalten, ist in den nächsten Jahren auch in Deutschland anzustreben.

Siebtens: Vorschule und Ganztag sollten als ein integraler Bestandteil des Bildungssektors konzipiert werden. Je früher im Leben eines Kindes ein gutes Angebot von Betreuung, Erziehung und Bildung gemacht wird, je besser es mit den Eltern abgestimmt und mit ihren Interessen verzahnt ist, desto günstiger ist es für die Entwicklung des Kindes. In Kürze greift in Deutschland der Rechtsanspruch der Eltern auf einen Kindergartenplatz geben, entsprechend wächst der Druck auf die Kommunen und die Länder, wenigstens erst einmal die Zahl der Plätze in diesem Bereich auszubauen. Ein gutes Drittel der Kinder soll in wenigen Jahren in den Vorschuleinrichtungen untergebracht werden können. Schon dieses Ziel ist schwer zu erreichen, zusätzlich aber zeigen alle Studien, dass wir dringend an der Qualität der vorschulischen Pädagogik arbeiten müssen, wenn wir den Kindern gute Entwicklungsimpulse sichern wollen. Zur Tradition der deutschen Familien- und Bildungspolitik gehört es, das Kind vom sechsten Lebensjahr an pflichtgemäß in die öffentlichen Bildungseinrichtungen zu schicken, dort aber möglichst nur wenige Stunden Aufenthalt vorzusehen. Das Kind soll möglichst schon zum Mittag wieder im Elternhaus sein, um in die Förderatmosphäre von Müttern und Vätern zurückzukommen. Erst seit wenigen Jahren hat die Erkenntnis an Boden gewonnen, dass die Leistungs- und Sozialentwicklung der meisten Kinder besser ist, wenn auch in dieser Hinsicht die Fixierung auf das Elternhaus aufgegeben wird. Seit einigen Jahren haben die Weichen so umgestellt, dass Nachmittagsangebote in Grundschulen und weiterführenden Schulen schrittweise ausgebaut werden. Aber auch hier fehlt es an den nötigen Plätzen, vor allem an der richtigen Struktur und Qualität des Ganztagsangebotes. Nur in einem kleinen Teil der Einrichtungen, vielleicht bei zehn Prozent, haben wir es mit einem wirklichen, in sich geschlossenen und gebundenen Ganztag zu tun, der einen festen Tagesrhythmus mit klaren Abläufen und verbindlichen Regeln kennt. Der größte Teil der Einrichtungen arbeitet mit einem sogenannten offenen Ganztagsangebot, das im Grunde nur aus unverbindlichen zusätzlichen Angeboten an einigen Nachmittagen besteht, die auch nur von einem Teil der Kinder angewählt werden. Mit solchen Strukturen werden gerade die Kinder nicht erreicht und gefördert, die es besonders nötig haben, nämlich die aus den benachteiligten Elternhäusern. Achtens: Die finanziellen Transfersysteme sollten auf mehr Anreizstrukturen als bisher umgestellt werden. Wir geben im internationalen Vergleich sehr viel Geld für die Familienpolitik aus. Es gelingt uns aber nur wenig, damit die nötigen Struktureffekte zu erzielen, die letztlich den Kindern direkt zugute kommen. Nehmen wir das Beispiel des Kindergeldes. Hier handelt es sich um sehr große finanzielle Summen, die für Familien mit Kindern je nach der Zahl der Kinder zur Verfügung gestellt werden. Was die Eltern aber mit diesem Geld machen, das liegt einzig und allein in ihrer Regie und Verantwortung. In der Regel verwenden sie es für Haushaltsbelange und sehen nur wenig Anlass und Möglichkeit, gezielt die Bildung und gesundheitliche Entwicklung der Kinder mit dem Kindergeld zu unterstützen. Denkbar wäre es auf längere Sicht, in diesem Bereich umzusteuern. International werden sehr gute Erfahrungen mit dem Modell des Conditional Cash Transfer gemacht, bei dem finanzielle Zuwendungen an bestimmte Bedingungen geknüpft sind, die auf einen klar definierten Adressatenkreis ausgerichtet sind. Übertragen wir diese Idee auf das Kindergeld, dann könnte ein bestimmter Betrag hiervon an die Bedingung geknüpft sein, für das Kind Bildungsimpulse zu unterstützen.

Beim sogenannten „Bildungspaket“ ist die Bundesregierung dicht an dieses Prinzip herangegangen. Zunächst wurde klar der Adressatenkreis definiert, der von diesen finanziellen Transfermitteln profitieren soll: Eltern, die bereits Unterstützung nach dem Hartz-IV-Gesetz bekommen. Dann wurden die Bedingungen festgelegt: Eltern bekommen dann Geld, wenn sie für ihre Kinder zum Beispiel Nachhilfe oder die Mitgliedschaft in einem Sportverein organisieren. Das sind begrüßenswerte Schritte in Richtung eines an Bedingungen geknüpften finanziellen Zuwendungssystems. Leider ist dieser Einstieg in diese aussichtsreiche neue Förderstruktur aber derartig bürokratisiert worden, dass ein Teil der Eltern überfordert sind. Obwohl die Inanspruchnahme langsam ansteigt, sie wird nie auf 100% kommen. Es wäre sehr viel günstiger gewesen, die Bildungsangebote für die Kinder in den Kindergärten oder Grundschulen vorzuhalten und sie den Eltern mit ihrem Einverständnis für ihre Kinder anzubieten. Der heutige Weg, dass gerade die schwachen und bildungsmäßig schlecht aufgestellten Eltern einen komplizierten Antragsweg gehen müssen, um die Leistungen für ihre Kinder abzurufen, erweist sich als kontraproduktiv. Es ist zu befürchten, dass gerade das Drittel der Eltern, deren Kinder besonders von diesen Leistungen profitieren würden, den komplizierten Antragsweg nicht bewältigen kann. Ebenfalls am Modell des Conditional Cash Tranfer orientiert ist das „Elterngeld“. Und zwar insofern, als es von zwölf auf vierzehn Monate aufgestockt werden kann, wenn, aber auch nur wenn, der Vater des Kindes für diese zwei Monate seinen Arbeitsplatz verlässt und in die Kinderbetreuung zu Hause einsteigt. Es gibt also Geld für eine bestimmte Handlung, von der angenommen werden kann, dass sie dem Kind zugute kommt. Dieses Modell funktioniert in der Praxis, wenn man auch nicht übersehen kann, dass es vor allem für die privilegierten und wohlhabenden Eltern nützlich ist. Neuntens: Das Betreuungsgeld passt nicht in eine bildungsorientierte Familienpolitik. Was wir dringend bräuchten, wäre ein Modell dieses Zuschnitts für die sozial benachteiligten Eltern. Stattdessen hat sich die Bundesregierung eine neue Förderung einfallen lassen, die von Mitte 2013 an greifen soll, das „Betreuungsgeld“. Es soll Eltern unter der Bedingung gezahlt werden, dass sie ihre Kinder nicht in eine öffentliche Bildungseinrichtung geben, sondern zu Hause betreuen. Damit wird die Idee, finanzielle Anreize für bestimmte Betreuungshandlungen zu gewähren, die einem Kind zugute kommen, auf den Kopf gestellt. Das in Aussicht gestellte Betreuungsgeld soll das Kind an die Eltern binden und von den Impulsen des „ganzen Dorfes“ abhalten. Damit schafft es Fehlanreize: Ohne dass das Betreuungsgeld an den Adressatenkreis der wirtschaftlich benachteiligten Eltern gebunden wäre, ist es doch genau für diese Eltern von unmittelbarem Interesse. Für sie sind die zunächst 100 Euro pro Monat, die zur Diskussion stehen, viel Geld, und sie werden alles tun, um an dieses Geld zu gelangen. Was sie tun sollen ist, ihr Kind nicht in eine öffentliche Bildungseinrichtung zu geben. Das ist eine derartige Verkehrung der Grundidee von Förderanreizen, dass einem die Haare zu Berge stehen können. Mit der Einführung des Betreuungsgeldes würden alle noch recht vagen bisherigen Ansätze, zum Beispiel die des Bildungspaketes, zurückgeschraubt oder sogar zunichte gemacht. Das Betreuungsgeld fällt in das alte, überwunden geglaubte Muster der Familienpolitik in Deutschland zurück. Es folgt der Logik, die Familienfixiertheit der Erziehung und Bildung zu bestärken, wo wir es doch so dringend nötig haben, sie zu lockern. Das Betreuungsgeld ist insofern ein schwerer Rückschritt auf dem Wege, Familienpolitik und Kinderpolitik auf die heutigen veränderten Lebensbedingungen zuzuschneiden. Das Betreuungsgeld

passt in die traditionellen Muster des konservativen Wohlfahrtsstaates, die in Deutschland ganz offensichtlich immer noch sehr stark sind. Die vielen Millionen Euro, die Jahr für Jahr für das Betreuungsgeld ausgegeben werden sollen, wären dringend nötig, um die öffentlichen Bildungs- und Betreuungsinstitutionen um die Familie herum endlich auf ein Niveau zu bringen, wie es im internationalen Maßstab üblich ist. Sollte sich die Bundesregierung nicht von ihrem Plan abbringen lassen, diesen familien- und bildungspolitischen Rückschritt einzuleiten, dann dürfte das Thema Betreuungsgeld zu einem der wichtigsten Wahlkampfthemen im Jahre 2013 werden.