Fabrica et ratiocinatio

Fabrica et ratiocinatio in Architektur, Bauforschung und Denkmalpflege Festschrift für Friedmund Hueber zum 70. Geburtstag herausgegeben von Caroline...
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Fabrica et ratiocinatio in Architektur, Bauforschung und Denkmalpflege

Festschrift für Friedmund Hueber zum 70. Geburtstag herausgegeben von Caroline Jäger-Klein und Andreas Kolbitsch

Wien · Graz 2011

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung von: AI Generali DI Dr. Ruess

Coverabbildung: F. Hueber (Copyright)

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-7083-0757-2 Neuer Wissenschaftlicher Verlag GmbH Nfg KG Argentinierstraße 42/6, A-1040 Wien Tel.: +43 1 535 61 03-24, Fax: +43 1 535 61 03-25 E-Mail: offi[email protected] Geidorfgürtel 20, A-8010 Graz E-Mail: offi[email protected] www.nwv.at

© NWV Neuer Wissenschaftlicher Verlag, Wien · Graz 2011

Druck: Text-Print Nyomdaipari Kft., Györ

Erwin Reidinger

Allgemeines zum Thema Kirchenorientierung Achsknick und Orientierungstage Orientierung Die Beziehung zwischen Kirchenorientierung und Sonnenaufgang versinnbildlicht die Auferstehung Christi.1 Dabei ist die Sonne als Metapher für Christus zu verstehen. Die Orientierung von Heiligtümern nach der aufgehenden Sonne ist nicht eine Eigenart christlicher Kirchen, sondern bereits aus dem Altertum bekannt. Beispiele sind der Große Tempel Ramses II. (1279 bis 1213 v. Chr.) in Abu Simbel 2 und der Tempel des Salomo in Jerusalem (15. Nissan/Pessach 957 v. Chr.).3 Ein frühes Beispiel einer zweifachen Orientierung in einem Heiligtum stellt der muslimische Felsendom in Jerusalem (Baubeginn 686) dar.4 Im Allgemeinen spricht man bei solchen Kirchenorientierungen von „Ostung“. Darunter ist aber nicht die genaue geographische Ostrichtung gemeint, sondern die Ausrichtung nach dem tatsächlichen Sonnenaufgang, der sich im Laufe eines Jahres zwischen Sommer- und Wintersonnenwende bewegt. Bei dieser Aussage bin ich vom Bestand ausgegangen, indem ich an 45 Kirchen im Raum um Wiener Neustadt, NÖ, die Orientierungen gemessen habe

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FIRNEIS, Maria / LADENBAUER, Herta: Studien zur Orientierung mittelalterlicher Kirchen, in: Mitteilungen der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Ur- und Frühgeschichte 28/1; Wien (1978). 1–12, hier 1. GÖRG, Manfred: Die Beziehung zwischen dem alten Israel und Ägypten: Von den Anfängen bis zum Exil. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (1991), 25. REIDINGER, Erwin: Die Tempelanlage in Jerusalem von Salomo bis Herodes aus der Sicht der Bautechnischen Archäologie, in: Biblische Notizen, Beiträge zur exegetischen Diskussion, Heft 114/115; München (2002), 89–150, hier 136, 137, 147. – Ders.: The Temple Mount Platform in Jerusalem from Solomon to Herod: An Re-Examination, in: Assaph Vol.9; Tel Aviv (2004) 1–64. – Ders.: Die Tempelanlage in Jerusalem von Salomo bis Herodes, Neuer Ansatz für Rekonstruktion durch Bauforschung und Astronomie, Wiener Neustadt (2005). – Ders.: Der Tempel in Jerusalem, Datierung nach der Sonne, in: Biblische Notizen, Aktuelle Beiträge zur Exegese der Bibel und ihrer Welt, Neue Folge n.128, Salzburg (2006) 81–104. – Ders.: Die Tempelanlage in Jerusalem von Salomo bis Herodes, Rekonstruktion der Planung, Orientierung und Vermessung, in: D) Pläne (Stand 04.01.2010), URL: erwin-reidinger.heimat.eu (abgerufen am 26.04.2011). Diese zweifache Orientierung führt im Grundriss zur Verdrehung zwischen Oktogon und Rotunde um 2.8°. Der Orientierungstag Oktogon entspricht dem Sonnenaufgang am Tag der Himmelfahrt des Propheten Mohammed (Mi’radsch, 16. Ramadan 66/14.April 686) und jener der Rotunde der Nacht der Macht (Lailat al Qadr, 23. Ramadan 66/21.April 686). Es ist anzunehmen, dass es christliche Bauleute waren, die hier, entsprechend dem Achsknick christlicher Kirchen so geplant haben. – REIDINGER, Erwin: Jerusalem: Tempel Salomo – Felsendom – Templum Domini, in: Blätter Abrahams, München. Manuskript zur Veröffentlichung in Heft 9, 2010 angenommen. – Plan M 1 : 200, NÖ Landesbibliothek, Kartensammlung, Sign.: Kl 4612/2009 (NÖLB). – Ders.: „Jerusalem, Felsendom“, in: D) Pläne (Stand 04.01.2010), URL: erwin-reidinger.heimat.eu (abgerufen am 26.04.2011)

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Abb.1: Orientierung zahlreicher Kirchen im südlichen Wiener Becken und dessen Umgebung SSW ... Sommersonnenwende, WSW ... Wintersonnenwende

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(Abb.1).5 Es hat sich gezeigt, dass nur zwei Kirchen nicht nach einem Sonnenaufgang orientiert sind und daher die allgemeine Regel lautet: Ostung im Kirchenbau heißt: Orientierung nach dem tatsächlichen Sonnenaufgang Sollte eine Kirche genau nach geografisch Ost orientiert sein, dann heißt das noch lange nicht, dass ihre Ausrichtung wegen der Tag- und Nachtgleiche so festgelegt wurde. Vielmehr ist hier nach christlichen Anlässen zu suchen. Bei diesen Betrachtungen ist der jeweilige Kalender maßgebend, der im 12. Jahrhundert durch die Julianische Zeitrechnung bestimmt war.6 Zwischen dem heutigen Gregorianischen und dem damals gültigen Julianischen Kalender gibt es im Zeitabschnitt von 1100 bis 1300 eine Zeitverschiebung von 7 Tagen. So entsprach zu jener Zeit z.B. das Datum der Tag- und Nachtgleiche dem 14. September (gregorianisch 21.9.), an dem das Fest der Kreuzerhöhung7 gefeiert wurde. Gleiche Betrachtungen gelten auch für die Sonnwendtage, mit dem Beispiel Weihnachten. Ab dem 16. Jahrhundert (Konzil von Trient) hat die Orientierung nach der Sonne (Gebetsostung) ihre Bedeutung eingebüßt. Seither entspricht jeder geweihte Altar, ganz gleich in welche Himmelsgegend er ausgerichtet ist, den kanonischen Erfordernissen.8 Die schriftlichen Quellen über die Orientierung mittelalterlicher Kirchen sind spärlich und beziehen sich meistens auf Klöster. Solche gibt es z.B. über den Gründungsvorgang für das Kanonissenstift Schildesche bei Bielefeld im Jahre 939, die erst im 13./14. Jh. niedergeschrieben wurden: 9 „Im Jahre 939 [...] stellten verständige Kunstfertige des Maurerhandwerks, [...] den Mittagspunkt fest, schlugen um diesen einen ebenmäßigen Kreis 10 und legten den Punkt des tatsächlichen Sonnenaufganges fest. Von jenem aus vermaßen sie das Sanktuarium, das im Halbkreis gerundet war. [...]“

5 REIDINGER, Erwin: Planung oder Zufall: Wiener Neustadt 1192. Wiener Neustadt 1995/Wien 2001², 363. 6 Kalenderreform von 1582, bei der der Julianische Kalender vom Gregorianischen Kalender abgelöst wurde. Auf den 4. 10. folgte sogleich der 15. 10. 1582. Die Schaltungen wurden so festgelegt, dass erst nach 3000 Jahren vom Lauf der Sonne um einen Tag abgewichen wird. Beim Julianischen Kalender waren es bis zum Ende des 16. Jahrhunderts 10 Tage, weil das Julianische Jahr um 0.0078 Tage zu lang war. – Zur mittelalterlichen Zeitrechnung und den Kalenderreformen siehe: GROTEFEND, Hermann, Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, 13. Auflage, Hannover 1991. 7 Kreuzerhöhung: Fest am 14. September 335 zur Erinnerung an die erstmalige Verehrung des wieder gefundenen Kreuzes am Tag nach der Weihe der Grabeskirche in Jerusalem. 8 NISSEN, Heinrich: Orientation, Studie zur Geschichte der Religionen. Heft 3, Berlin (1910), 413. 9 BINDING, Günther / LINSCHEID–BURDICH, Susanne: Planen und Bauen im frühen und hohen Mittelalter nach den Schriftquellen bis 1250. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (2002), 153, 155. 10 Weitere Übersetzungsvorschläge: machten darum einen viergeteilten Kreis, oder: machten mit dem Kreis ein Viereck. Nach einem Gespräch mit dem Astronomen Hermann MUCKE dürften auch diese Übersetzungsvorschläge nicht den Inhalt treffen, weil offensichtlich damit eine Konstruktion zur Bestimmung der genauen Ostrichtung gemeint ist. Beim Mittagspunkt handelt es sich um die Südrichtung (Methode der korrespondierenden Höhen) und bei fraglicher Konstruktion um die Bestimmung der Ostrichtung, die senkrecht auf die Südrichtung steht. Die lateinische Wortfolge lautet: „circulo exin quadrato“.

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Achsknick11 In vielen mittelalterlichen Kirchen weist das Langhaus eine andere Orientierung auf als der Chor; diese Tatsache ist als „Achsknick“ bekannt. Der Achsknick ist vom Rang einer Kirche unabhängig; er ist bei Domen genauso anzutreffen wie bei Dorfkirchen oder Burgkapellen. Die Richtung des Achsknicks kann sowohl nach Süden als auch nach Norden zeigen. Beispiele dafür sind: Dom St. Stephan zu Passau12 (Abb. 2), Dom zu Wiener Neustadt13 (Abb. 3),

Abb.2: Dom zu Passau, Achsknick nach Nord (romanische Achse bei gotischem Chor übernommen), Knickwinkel 2.91° LH … Achse Langhaus (Lotlinie im Knickpunkt in der Triumphpforte) = Blickrichtung CH … Achse Chor (Lotlinie am Ende Chor) Pfeil: Bewegungsrichtung der Sonne

Abb.3: Dom zu Wiener Neustadt, Achsknick nach Süden (romanischer Achsknick bei gotischem Chor verstärkt), Knickwinkel 4.6° (romanisch 2.7°). Legende Abb. 2.

11 REIDINGER, Erwin: Mittelalterliche Kirchenplanung in Stadt und Land aus der Sicht der „Bautechnischen Archäologie“: Lage, Orientierung und Achsknick, in: Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich, 21/2005, Wien (2005), 49–66. 12 REIDINGER, Erwin: Passau, Dom St. Stephan 982, Achsknick = Zeitmarke, in: Der Passauer Dom des Mittelalters, Michael HAUCK / Herbert W. WURSTER (Hg.), Veröffentlichung des Instituts für Kulturraumforschung Ostbaierns und der Nachbarregionen der Universität Passau, Bd. 60, Passau (2009), 7–32, hier 18, 27. – Ders.: „Passau, Dom St. Stephan“, in: B) Abhandlungen und D) Pläne (Stand 04.01.2010), URL: erwin-reidinger.heimat.eu (abgerufen am 26.04.2011). 13 REIDINGER, Planung (Anm. 7), 344–360.

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Abb.4 (oben): Pfarrkirche Muthmannsdorf, NÖ, Achsknick nach Süden (romanische Achse bei gotischem Chor übernommen), Knickwinkel 5.06°. Legende Abb. 2. Abb.5 (oben rechts): Pfarrkirche Maiersdorf, NÖ, Achsknick nach Norden (romanischer Bestand), Knickwinkel 0.90°. Legende Abb. 2. Abb.6 (rechts): Burgkapelle Emmerberg, Winzendorf, NÖ, Achsknick nach Süden (romanischer Bestand), Knickwinkel 2.00°. Legende Abb. 2.

Pfarrkirche Muthmannsdorf, NÖ14 (Abb. 4), Pfarrkirche Maiersdorf, NÖ15 (Abb. 5) und die Burgkapelle Emmerberg16 (Abb. 6). Nach meinen bautechnischen Forschungen steht hinter der geknickten Kirchenachse nichts anderes als ein zweistufiger Vorgang bei der Absteckung des Kirchengrundrisses, dem eine getrennte Orientierung von Lang-

14 Pläne und Berechnungen beim Verfasser. 15 Pläne und Berechnungen beim Verfasser. 16 Pläne und Berechnungen beim Verfasser.

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haus und Chor nach der aufgehenden Sonne zugrunde liegt. Vermutlich geht diese getrennte Orientierung auf eine kanonische Anforderung zurück, die ganz deutlich zwischen den Orientierungstagen von Langhaus und Chor unterscheidet. Das Langhaus entspricht im Kirchengebäude dem irdischen und der Chor dem himmlischen Bereich; Schnittstelle ist die Achse Triumphpforte. Dadurch wird im Bauwerk die Hinführung vom irdischen zum himmlischen (ewigen) Leben symbolisiert; der Knickpunkt (Eckpunkt) kann als Grenzpunkt zwischen Tod und Auferstehung verstanden werden. Manchmal ist über den Achsknick zu lesen, dass er durch Ungenauigkeiten bei Chorerneuerungen, Deutung als geneigtes Haupt Christi am Kreuz, Änderung des Patroziniums oder die ungenaue AnAbb.7: „Orientierungsuhr“ mit Welt- und Himmelszeiger. Datumsangaben bei den Sonnwenden und Tagundnachtglei- wendung des Kompasses entstanden sei. chen nach dem Gregorianischen Kalender (Julianisches Diese Ansichten halte ich für nicht zuDatum: minus 7 Tage im Zeitabschnitt von 1100 bis 1300). treffend. Gelegentlich wird ein „übertriebener“ Achsknick vorgetäuscht, zumeist dann, wenn die Achsen von Langhaus und Chor seitlich versetzt sind, wie das z.B. bei der Kirche Maria am Gestade in Wien der Fall ist. Der Umbau von Kirchen erfasste häufig den Chor, seltener das Langhaus. Dies war z.B. bei St. Stephan in Wien der Fall, wo der romanische Chor durch den wesentlich längeren Albertinischen Chor ersetzt wurde.17 Auch in Muthmannsdorf, NÖ (Abb. 4), wurde anlässlich der gotischen Erweiterung des Chores die Orientierung des romanischen Chores exakt übernommen.18 Generell ist mir aufgefallen, dass im Mittelalter die Orientierungen des Vorgängerbaus als „Heilige Linie“ geachtet und deshalb bei baulichen Veränderungen meist beibehalten wurden. Die Zusammenhänge zwischen Orientierung, Achsknick und Sonne lassen sich gut mit einer Uhr vergleichen, die ich „Orientierungsuhr“ nenne (Abb. 7).19 Im Mittelpunkt steht

17 REIDINGER, Planung (Anm. 7), 362. 18 Pläne und Berechnungen beim Verfasser. 19 REIDINGER, Erwin: Mittelalterliche Stadtplanung am Beispiel Linz, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 2001, Linz (2003), 11–97, hier 37. – Ders.: Mittelalterliche Kirchenplanung in Stadt und Land aus der Sicht der „Bautechnischen Archäologie“: Lage, Orientierung und Achsknick, in: Die Kirche im mittelalterlichen Siedlungsraum: Archäologische

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die Kirche, das Zifferblatt bildet der natürliche Horizont der Landschaft und der Zeiger ist die Verbindungslinie zur aufgehenden Sonne. Bei einem derartigen Zeiger handelt es sich um einen „Tageszeiger“, der sich nach dem jahreszeitlichen Lauf der Sonne zwischen Sommer- und Wintersonnenwende bewegt, von Sonnenaufgang zu Sonnenaufgang springt und diesen Weg zweimal pro Jahr zurücklegt. Jahreszeiger gibt es dabei leider keinen. Symmetrieachse des Zifferblattes ist die geografische Ostrichtung, von der die Sonnwendpunkte je nach Horizont bis ca. ± 36°entfernt liegen, woraus ein Öffnungswinkel von rund 72° resultiert. Wenn ich nun dem Langhaus und dem Chor einen derartigen Tageszeiger zuordne und diese „Weltzeiger“ und „Himmelszeiger“ nenne, lässt sich damit der Achsknick astronomisch beschreiben. Werden die Zeiger an den Orientierungstagen festgehalten, dann geben die Zeigerstellungen die getrennten Ausrichtungen von Langhaus und Chor an, Abb. 8: Achsknick im Laufe der Jahreszeiten deren Differenz als Achsknick im Kirchengebäude verewigt ist. Ob dieser Achsknick augenscheinlich zum Ausdruck kommt, hängt von der Größe des Knickwinkels ab. Aus verschiedenen Rekonstruktionen weiß ich, dass am Grundriss gelegentlich Korrekturen vorgenommen wurden, damit der Achsknick zu keiner ästhetischen Störung führt. In einzelnen Fällen wurde nur die Achse Triumphpforte schief gestellt und auf den Knick in der Längsachse verzichtet, wie das z.B. im Kaiserdom zu Speyer zur Ausführung kam.20 Für die Zeigerstellungen ist außerdem die Reihenfolge aufschlussreich, denn der Weltzeiger (Langhaus) wurde stets vor dem Himmelszeiger (Chor) festgelegt, sodass pro Jahr nur eine Lösung möglich ist. Steht der Himmelszeiger nördlich (links) vom Weltzeiger, dann erfolgte die Orientierung vor der Sommersonnenwende (Sonne wandert nach Norden). Im anderen Fall, wenn der Himmelszeiger südlich (rechts) vom Weltzeiger steht, wurde die Orientierung nach der Sommersonnenwende vollzogen (Sonne wandert nach Süden). Orientiert wurde in der Regel innerhalb einer Woche. Die veränderlichen Richtungen des Achsknicks im Laufe der Jahreszeiten zeigt Abb. 8. Aspekte zu Standort, Architektur und Kirchenorganisation, Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich 21/2005, Wien (2005), 49–66, hier 51–53. 20 REIDINGER, Erwin: „Speyer, Kaiserdom“, in: D) Pläne (Stand 04.01.2010), URL: erwin-reidinger.heimat.eu (abgerufen am 26.04.2011).

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Den geometrischen Wert des Achsknicks nenne ich „Knickwinkel“; die dazugehörige Zeit „Knickzeit“, die als Zeitdifferenz zwischen den Orientierungstagen definiert ist. Sie war für die Absteckung des Grundrisses mit Festlegung des „Knickpunktes“ in der Achse Triumphpforte notwendig. Erst nach dieser Vorbereitung konnte der Chor orientiert werden. Nach meinen Beobachtungen nehme ich an, dass der Orientierungsvorgang mit direktem Blick zur Sonne erfolgte. Das musste in ein bis zwei Minuten geschehen, weil die Sonne rasch weiter wandert. Ein absolut einfacher Vorgang, für den nur der Orientierungstag gewählt werden musste. Berechnungen waren jedenfalls nicht erforderlich. Ob der erste Sonnenstrahl, die halbe oder ganze Sonnenscheibe dem Orientierungsvorgang zugrunde gelegt wurde, könnte entweder von der angestrebten Lichtgestalt der Sonne oder vom Grad der Blendung abhängig gewesen sein. Für den Fall eines bedeckten Himmels stelle ich mir vor, dass auf Grund vorhergegangener täglicher Beobachtungen die Orientierung (der Sonnenaufgang) des gewünschten Tages extrapoliert wurde. Die „Tagesschritte“ (Winkeländerungen) der Sonnenaufgänge sind jahreszeitlich unterschiedlich. Das bedeutet, dass gleich große Knickwinkel unterschiedlichen Knickzeiten (Anzahl von Tagen) entsprechen können. Im Bereich der Tagundnachtgleichen erreichen die Tagesschritte ihr Maximum mit etwa 0,6°/Tag, während diese im Bereich der Sonnenwenden den Wert 0° durchwandern. Der natürliche Horizont ist ebenfalls ein wichtiger Parameter für die Orientierung nach dem Sonnenaufgang. Hier kann es Probleme geben, wenn der Horizont sehr nahe liegt und nicht mehr exakt nachvollzogen werden kann (Wald, Bebauung). Gute Bedingungen sind dann gegeben, wenn der Horizont weit weg und scharf begrenzt ist (z.B. entferntes Gebirge). Absteckung von Kirchengrundrissen Nach Festlegung der Orientierungstage für Langhaus und Chor sind die Voraussetzungen für die „orientierte Absteckung“ am Bauplatz gegeben (Abb. 9). Zuerst wird am Orientierungstag Langhaus vom Absteckpunkt „A“ die Richtung nach der aufgehenden Sonne festgelegt (Achse Langhaus). In der nächsten Stufe wird entsprechend dem Bauplan der Absteckpunkt „X“ für den Chor bestimmt und von ihm aus am Orientierungstag Chor wieder nach der aufgehenden Sonne orientiert (Achse Chor). Weil zwischen den Orientierungstagen von Langhaus und Chor ein oder mehrere Tage vergangen und in dieser Zeit die Sonnenaufgangspunkte weiter gewandert sind, ergibt sich der bereits bekannte Achsknick „α“. Wie auf dem Bauplatz die Absteckung des Kirchengrundris- ses vollzogen wurde, zeigt das Schema in Abb. 9 an zwei charakteristischen Beispielen. Das erste bezieht sich auf einen Achsknick α in der Längsachse und das zweite auf einen Achsknick α, der nur in der Querachse (Achse Triumphpforte) umgesetzt wurde. Es gibt eine Vielfalt von Kombinationen, wie z.B. den häufigen Fall des Achsknicks in der Längs- und Querachse. Dabei ist es belanglos, ob es sich um eine Burgkapelle, Dorf- oder Stadtpfarrkir- che handelt, die Methode ist dieselbe. 96

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In Diskussionen taucht oft die Frage auf, warum man nicht mit einer Orientierung, also ohne Achsknick, das Auslagen gefunden hat. Meine Antwort darauf ist stets, dass man das offensichtlich nicht wollte, weil sich Langhaus und Chor durch die Wahl der Orientierungstage in ihrer Heiligkeit deutlich unterscheiden sollten. Orientierungs-, Gründungs- und Weihetage Wie bereits erwähnt, gab es nach meiner Forschung für die Orientierungstage offensichtlich eine kanonische Rangordnung, nach der der Orientierungstag des Chores dem Himmel (dem Auferstandenen) näher steht als jener des Langhauses. Nach dieser Regel wurden das Langhaus und der Chor des Gotteshauses (Abbild des himmlischen Jerusalem) durch den Sonnenaufgang in das Universum (den Himmel) eingebunden. Grundregel ist also, dass der Grad der Heiligkeit vom Langhaus zum Chor steigen muss. Einfache Beispiele: gewöhnlicher Wochentag – Sonntag, Gründonnerstag – Ostersonntag.

Abb. 9: Orientierung und Absteckung von Kirchengrundrissen Schematische Darstellung mit Achsknick in Längsachse und Achsknick in Querachse (Achse Triumphpforte).

Während sich das Datum der Orientie- A ... Beobachtungspunkt für Orientierung Langhaus rungstage meist bestimmen lässt, ist die X ... Beobachtungspunkt für Orientierung Chor = Knickpunkt Ermittlung des Jahres nicht so einfach. t – t ... Teilungslinie zwischen Langhaus und Chor = Achse Triumphpforte Hier sind schriftliche Quellen von be- α … Winkel des Achsknicks (Knickzeit in Tagen) sonderer Bedeutung. Bei Angabe historischer Rahmenbedingungen kann die Zuordnung zu beweglichen Festen hilfreich sein. Dies kann z.B. für Ostern zutreffen, wenn der Orientierungstag des Chores innerhalb der Ostergrenzen (22. März bis 25. April) liegt und die Bedeutung der Kirche bzw. Anlage (Gründungsstadt, Kloster) das vermuten lässt. Die Orientierungstage von Langhaus und Chor gab vermutlich der Bauherr vor. Der Sonntag dürfte für den Chor in der Häufigkeit an erster Stelle stehen,21 weil er als „erster Tag 21 SCHALLER, Hans Martin: Der heilige Tag als Termin mittelalterlicher Staatsakte. Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, 30. Jg./Heft 1, Köln–Wien (1974) 1–24, hier 21.

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der Woche“, als „Tag des Herrn“, dem Tag der Auferstehung (Wiederholung des Osterfestes) entspricht. Der Ostersonntag stellt demnach den absoluten Höhepunkt eines Orientierungstages dar. Beispiele dafür sind die Stadtpfarrkirchen von Marchegg (1268),22 Linz (1207)23 und Laa an der Thaya (1207)24, deren Achse Langhaus überdies mit der Geometrie der Stadt verknüpft ist. Hier offenbart sich die Absicht der Heiligung einer politischen Handlung (z.B. Stadtgründung mit Pfarrkirche), indem sie an einem heiligen Tag stattfand.25 Gleiches gilt ebenso für alle anderen Feste, wie z.B. Palmsonntag, Pfingstsonntag oder Heiligentage. Die Bedeutung des Ostersonntags als Orientierungstag für besondere Heiligtümer haben auch die Kreuzfahrer wahrgenommen, indem sie das „Templum Domini“ in Jerusalem am Ostersonntag 1115 (18. April) nach der aufgehenden Sonne orientierten.26 Meine erste Begegnung mit einer geknickten Kirchenachse war im Dom zu Wiener Neustadt (Patrozinium: Mariä Himmelfahrt und hl. Rupert).27 Die astronomische Auswertung ergab die Orientierungsfolge: Pfingsten 1192 (24. Mai) – Pfingsten 1193 (16. Mai). Zu Pfingsten 1192 wurde Herzog Leopold V. von Kaiser Heinrich VI. mit der Steiermark belehnt, zu der damals das Gebiet um Wiener Neustadt gehörte (Georgenberger Vertrag). Der Belehnungstag hat hier in die verknüpfte Stadt- und Kirchenplanung Eingang gefunden. Auf Grund meiner Forschung wurde das Gründungsjahr von Wiener Neustadt von 1194 (800-Jahrfeier) auf richtig 1192 korrigiert.28 Wiener Neustadt ist aber ein Sonderfall, weil die Orientierungen in zwei aufeinander folgenden Jahren vorgenommen wurden, um den Pfingsttag mit der Stadtplanung verknüpfen zu können. Die Pfarrkirche von Marchegg, NÖ, (Patrozinium: hl. Margaretha) ist „das Musterbeispiel“ für eine Kirche mit Achsknick und besonderen Orientierungstagen. Die Achse Langhaus wurde am 5. April und jene des Chores am 8. April nach der aufgehenden Sonne orientiert.29 Da Marchegg 1268 von König Ottokar gegründet wurde und es sich um eine verknüpfte Stadt- und Kirchenplanung handelt, stellt sich die Frage nach dem Orientierungsjahr der Kirche nicht, es ist ebenfalls 1268. Die beiden Orientierungstage

22 REIDINGER, Erwin: Marchegg-Ostersonntag 1268, in: Der Sternenbote, Astronomische Monatsschrift, 45. Jahrgang, 551/2002-6, Wien (2002) 102–106. Pläne und Berechnungen im Archiv des Verfassers. 23 REIDINGER, Linz (Anm. 21), 75–79, 89–94. Pläne im Archiv des Verfassers und im Archiv der Stadt Linz (Plansammlung: Pläne Reidinger). 24 REIDINGER, Erwin: NÖ Landesbibliothek, Kartensammlung: Laa an der Thaya (Sign.: Kl 3695/2004): Rekonstruktion der mittelalterlichen Stadtanlage M 1 : 100 (2003), Rekonstruktion der Planung, Absteckung und Orientierung der Stadtpfarrkirche St. Vitus M 1 : 100 (2004). Berechnungen beim Verfasser. 25 SCHALLER, heiliger Tag (Anm. 23), 3. 26 Templum Domini: Bezeichnung der Kreuzfahrer für den muslimischen Felsendom, in dem sie eine Kapelle zu Ehren der Mutter Gottes einbauten. REIDINGER, Erwin: Tempel Salomos – Felsendom – Templum Domini, in: Blätter Abrahams – Beiträge zum interreligiösen Dialog, Heft 9, München (2010), 13–78, hier 37–45. 27 REIDINGER, Planung (Anm. 7), 332–355. 28 Dehio Niederösterreich südlich der Donau, Teil 2, Kapitel Wiener Neustadt, Wien (2003) 2598, 2602. 29 REIDINGER, Marchegg (Anm. 24), 106.

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entsprechen daher zufolge des bekannten Gründungsjahres eindeutig dem Gründonnerstag und Ostersonntag. St. Stephan in Wien ist ein Beispiel für einen Orientierungstag an einem Heiligenfest, nämlich jenem des hl. Stephanus am 26. Dezember. Diesem Tag entspricht die Orientierung Langhaus; jene des Chores (Knick nach Norden) dem 2. Jänner, der Oktave zu Stephanus.30 Als Anhaltspunkt für das Orientierungs- bzw. Gründungsjahr gilt der Tauschvertrag von Mautern, der im Jahre 1137 zwischen Markgraf Leopold IV. und Bischof Reginmar von Passau geschlossen wurde. Der 26. Dezember 1137 und der 2. Jänner 1138 sind jeweils Sonntage, was nach den Regeln der Heiligkeit der Orientierungstage diese Zuordnung zumindest für den Chor erfordert (kein Wochentag wie in den folgenden Jahren). Nach dem damals gültigen Jahresanfang zu Weihnachten am 25. Dezember (dem Weihnachtsstil) fallen beide Orientierungstage in das Jahr 1138.31 Bei der Untersuchung der Schottenkirche in Wien haben sich für die Orientierung des Chores zwei gleichwertige Lösungen ergeben, nämlich die Palmsonntage 1155 und 1160. Beim Schottenstift handelt es sich um eine Gründung Herzogs Heinrich II. Jasomirgott, der seine Residenz von Regensburg nach Wien verlegte. Die Wahl des Palmsonntags könnte als Einzugsmotiv (wie Jesus in Jerusalem) verstanden werden. Der Mediävist Helmut Flachenecker hat sich für das Gründungsjahr 1155 ausgesprochen.32 Ein interessantes Anwendungsbeispiel für die Bedeutung von Orientierungstagen ist der Urkundenstreit zwischen den Pfarren Muthmannsdorf und Waldegg. Beide Pfarren beanspruchen nach einer Pfarrerrichtungsurkunde des Adalram von Waldegg das Gründungsjahr 1136 für sich. Sollte mit der Pfarre gleichzeitig eine Kirche gegründet worden sein, dann wäre die Angelegenheit einfach zu lösen, indem man die Orientierungstage beider Kirchen für das Jahr 1136 bestimmt und bewertet.33 Das habe ich gemacht und dabei festgestellt, dass für Muthmannsdorf (Patrozinium: Peter und Paul) im Jahr 1136 die Orientierungsfolge Langhaus – Chor: Peter und Paul (29. 6.) – 9. Sonntag nach Pfingsten (19. 7.) gilt. Für Waldegg (Patrozinium: hl. Jakobus der Ältere, 25. 7.) ergab sich für dasselbe Jahr die Orientierungsfolge: Dienstag 3. März – Mittwoch 4. März. Da die „Heiligkeitsbedingung der Steigerung“ nur für Muthmannsdorf zutrifft (Chor ein Sonntag) und es sich bei Waldegg um gewöhnliche Wochentage handelt, wäre die Lösung beim Vergleich der Kirchen: Muthmannsdorf. Auch bei kleinen Kirchen, wie z.B. der Rundkirche von Scheiblingkirchen, NÖ, oder der Pfarrkirche von Grünbach am Schneeberg, NÖ, konnte ich besondere Orientierungstage 30 Pläne und Berechnungen im Archiv des Verfassers. 31 REIDINGER, Erwin: Stadtplanung im hohen Mittelalter: Wiener Neustadt – Marchegg – Wien, in: Europäische Städte im Mittelalter, Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, Veröffentlichung des Wiener Stadt- und Landesarchivs, Reihe C, Bd.14, Wien (2009), 155–176, hier 173. 32 REIDINGER, Erwin: Die Schottenkirche in Wien: Lage – Orientierung – Achsknick – Gründungsdatum, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege, LXI-2007-Heft 2/3, Wien (2007), 181–213, hier 210–212. – Ders.: „Wien, Schottenkirche“, in: B) Abhandlungen und D) Pläne (Stand 04.01.2010), URL: erwin-reidinger.heimat.eu (abgerufen am 26.04.2011). 33 Pläne und Berechnungen beim Verfasser.

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nachweisen.34 In Scheiblingkirchen entspricht der Orientierungstag dem Patroziniumstag Maria Magdalena (22. Juli), an dem heute noch der „Kirtag“ (Kirchtag) gefeiert wird. In Grünbach habe ich als Orientierungstag das Fest der Kreuzerhöhung (14. September) erforscht, das dort im Laufe der Zeit in Vergessenheit geriet.35 Eine Voruntersuchung über die Orientierung der Wallfahrtskirche Maria Kirchbüchl (Höflein, NÖ), hat den 2. Februar ergeben, der dem alten Fest Maria Lichtmess entspricht.36 Kirche

Orientierungstag Chor

Patrozinium

Stadtpfarrkirche Marchegg

Ostersonntag 1268

St. Margaretha

Stadtpfk. Laa an der Thaya

Ostersonntag 1207 (22. April)

St. Veit

Stadtpfk. Wiener Neustadt

Pfingstsonntag 1193 (16. Mai)

Mariä Himmelfahrt

Stadtpfarrkirche Linz

Ostersonntag 1207 (22. April)

Mariä Himmelfahrt

Kaiserdom zu Speyer

Erzengel Michael (29. Sept. 1027)

Maria Mutter Gottes

Pfarrkirche Muthmannsdorf, NÖ

9. Sonntag nach Pfingsten, 1136

St. Peter und Paul

Pfarrkirche Grünbach, NÖ

Fest der Kreuzerhöhung (14. Sept.)

St. Michael

Wallfahrtsk. Maria Kirchbüchl, NÖ

Maria Lichtmess (2. Februar)

Mariä Geburt (8.Sept.)

Schottenkirche in Wien

Palmsonntag 1155 (20. März)

Unsere liebe Frau

Templum Domini, Jerusalem

Ostersonntag 1115 (18. April)

Maria Mutter Gottes

Dom zu Passau

2. Fastensonntag 982 (12. März)

St. Stephanus

Stiftskirche von Heiligenkreuz

Ostersonntag 1133 (26. März)

Mariä Himmelfahrt

Tabelle 1: Beispiele, bei denen sich der Orientierungstag Chor vom Tag des Patroziniums unterscheidet 34 Pläne und Berechnungen beim Verfasser. 35 REISNER, Georg: Geschichte der Kirche und Pfarre Grünbach am Schneeberg, Grünbach (2006) 13, 14 (Berechnungen nach Erwin Reidinger). 36 Vermessung und Berechnung vom Verfasser.

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A L L G E M E I N E S Z U M T H E M A K I RC H E N O R I E N T I E RU N G

Bei den Orientierungstagen sind viele Kombinationen möglich, aber das Grundprinzip der Steigerung der Heiligkeit bleibt grundsätzlich verbindlich. Der Kirchenpatron ist eher selten mit einem Orientierungstag verknüpft (Tabelle 1); sein Tag ist jener der Kirchweihe. Sowohl beim Orientierungstag als auch beim Weihetag handelt es sich um heilige Tage. Sie umschließen im Idealfall den Zeitraum zwischen Absteckung (Vermessung) und Fertigstellung. Große Kirchen werden in der Regel, beginnend mit dem Chor, abschnittsweise gebaut und geweiht. Während das Wissen über die Orientierungstage verloren ging (sie sind oft im Grundriss durch die Orientierung der Achsen verewigt), sind der Tag der Grundsteinlegung und der Weihetag gelegentlich Gegenstand schriftlicher Quellen. Zur Bedeutung des Orientierungstages hat Heinrich Nissen bereits vor rund 100 Jahren Folgendes bemerkt:37 Auch bei Kirchenbauten müssen die Festlegung der Axe und die Legung des Grundsteins als getrennte Handlungen angesehen werden. Im Lauf der Zeiten ist jene, die ursprünglich die Hauptsache gewesen war [die Orientierung], in den Hintergrund gedrängt und vergessen worden. Prinzipiell stellt sich die Frage nach der Definition des Gründungsdatums. Ist es die Gründungsurkunde, der Orientierungstag oder der Tag der Grundsteinlegung. Mit anderen Worten: Willenskundgebung, Planung, Absteckung (Vermessung) oder Baubeginn. Die erste Aktivität am Bauplatz war die Orientierung nach der aufgehenden Sonne. Wenn diese für den Chor z.B. an einem Ostersonntag vollzogen wurde, kann dieser Tag in seiner Heiligkeit von keinem anderen Tag im Jahr mehr übertroffen werden. In dieser heiligen Handlung der Orientierung sehe ich den spirituellen Höhepunkt bei der Anlage einer Kirche (eines Klosters), der sich im Gebäude wieder findet (Achsknick). Aus dieser Sicht erachte ich den Orientierungstag Chor als eigentlichen Gründungstag. Beim Tag der Grundsteinlegung stand der göttliche Segen für die Ausführung im Vordergrund.38 Aus meiner naturwissenschaftlichen Sicht lassen sich nur die Orientierungstage erschließen, wenn sie astronomisch nachvollzogen werden können. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass der Orientierungstag Chor mit dem Tag der Grundsteinlegung zusammenfiel. Im anderen Fall kann die Jahreszeit für einen günstigen Baubeginn, ebenso wie der Terminplan eines Bischofs, für die Wahl des Tages der Grundsteinlegung entscheidend gewesen sein. Von der Stiftskirche in Klosterneuburg ist z.B. der Tag der Grundsteinlegung bekannt, die am Freitag, dem 12. Juni 1114, einem gewöhnlichen Wochentag, vollzogen wurde.39 Die Orientierung der Kirche zeigt aber in eine Richtung, die im Bereich der Wintersonnenwende (vielleicht Weihnachten) liegt. Hier unterscheidet sich eindeutig der Tag des Sonnenaufganges in der Kirchenachse (Orientierungstag?) von jenem der Grundsteinlegung. 37 NISSEN, Orientation (Anm. 10), 406. 38 Lexikon für Theologie und Kirche, vierter Band, Kapitel Grundsteinlegung. Freiburg, Basel, Rom, Wien (1995) Spalte 1077. 39 Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich, Bd. IV/1, bearbeitet von Heinrich Fichtenau und Heide Dienst (Publikationen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 3/4/1, Wien 1968), 48 Nr. 615 von 1114 Juni 12, Klosterneuburg.

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E RW I N R E I D I N G E R

Wie schon angedeutet, ist die Bestimmung der Orientierungstage, im Unterschied zu den Jahren, in der Regel kein Problem. Der Idealfall liegt dann vor, wenn das Orientierungsdatum bekannt ist. So einen Fall kenne ich bisher leider nicht. Von der Gründungsstadt Lodi (Lodi Nuovo) in Italien (Provinz Milano) ist das Gründungsdatum mit 3. August 1158 überliefert.40 Meine Vermutung, dass es sich bei diesem Tag auch um den Orientierungstag des Domes handeln könnte, hat sich nach einer Voruntersuchung bestätigt. Ein wichtiges Beispiel für die Verewigung wichtiger politischer Handlungen (hier Stadtgründung) im Grundriss (der Orientierung) eines Domes.41 Ein umfangreiches Kollektiv für die Forschung nach dem Achsknick sind nicht nur die Dome, sondern auch die Kirchen auf dem Lande. Das konnte ich an zahlreichen mittelalterlichen Kirchen im südlichen Niederösterreich durch Beobachtungen und Vermessung mit bauanalytischer Auswertung feststellen.42 In Landstrichen mit höherem Wohlstand wurden alte Kirchen häufig durch Neubauten (insbesondere in der Barockzeit) ersetzt und auf diese Weise Informationen über das Gründungsdatum der Kirchen zerstört. Ganz gleich, ob wir uns in Südtirol (Dom zu Brixen),43 der Schweiz (St. Pierre in Genf ),44 Baden-Württemberg (Dom zu Freiburg im Breisgau),45 Bayern (Dom zu Passau),46 Sachsen-Anhalt (Stiftskirche St. Cyriakus in Gernrode) 47, London (Southwark Cathedral) 48 oder in Österreich befinden, tritt uns bei sorgfältiger Beobachtung mittelalterlicher Kirchen der Achsknick häufig entgegen. Offensichtlich handelt es sich hier um eine christliche Bautradition, deren Grenzen nach Raum und Zeit noch nicht ausreichend systematisch erfasst sind.

40 OPLL – BÖHMER: Regesta Imperii Friedrich I., Wien 1991, Nr. 571 und 572. Der 3. August ist das Fest der Auffindung der Gebeine des hl. Stephanus. 41 Ein Vergleich mit Wiener Neustadt ist angebracht, weil sich dort in der Orientierung des Domes der Belehnungstag von Herzog Leopold V. mit der Steiermark am Pfingstsonntag 1192 wieder findet. – REIDINGER, Planung (Anm. 7), 372–381. 42 Bad Fischau, Leobersdorf, Petronell, Unter-Waltersdorf, St. Egyden am Steinfelde, Saubersdorf, Würflach/Blasiuskapelle, St. Lorenzen am Steinfelde, Scheiblingkirchen, Maiersdorf, Muthmannsdorf, Dreistetten, Grünbach, Waldegg, Gutenstein u.a. 43 Feststellung des Verfassers, 2005, Knick nach Norden. 44 GLASER, Franz: Frühes Christentum im Alpenraum: Eine archäologische Entdeckungsreise, Graz (1997), 106. Knick nach Norden (aus Plan ersichtlich). 45 Pläne und Berechnungen beim Verfasser (Voruntersuchung), 2004. Knick nach Norden. 46 REIDINGER, Erwin: Passau (Anm.14), Detailplan M 1 : 100, NÖ Landesbibliothek, Kartensammlung, Sign.: Kl 4586/2007 und Archiv des Bistums Passau. Knick nach Norden, α = 2.91°. 47 Die Stiftskirche St. Cyriakus zu Gernrode, DKV-Kunstführer Nr. 404/2, 7. Auflage, München. Knick nach Süden (aus Plan ersichtlich). 48 Feststellung des Verfassers, 2006, Knick nach Süden.

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