Ethische Aspekte der Vorsorge-Medizin

Helmut Renöckl Ethische Aspekte der Vorsorge-Medizin Den Kern der Ethik bilden nicht Vorschriften, sondern die Freiheit, das Bewusstsein, die Denk- u...
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Helmut Renöckl

Ethische Aspekte der Vorsorge-Medizin Den Kern der Ethik bilden nicht Vorschriften, sondern die Freiheit, das Bewusstsein, die Denk- und Entscheidungsfähigkeit der Menschen. Freiheit ist nicht zu verwechseln mit Beliebigkeit und Willkür, sondern ist ein kostbares, aber auch höchst anspruchsvolles Potential: untrennbar damit verbunden sind die Chance und Pflicht, sich mit aller Kraft um bestmögliches Verstehen und darauf aufbauendes Entscheiden zu mühen, die Verantwortung für die einzelnen Handlungen und das Leben insgesamt nicht zu verdrängen. Die Ethik weitet den Blick über kurzfristig-individuelle und Gruppen-Interessen hinaus auf Gerechtigkeit und Gemeinwohl.

Medizin und Ethik haben viel gemeinsam: Über alle Spezialisierungen hinaus geht es um den ganzen Menschen, um heilsame Lebenskultur, um das Gelingen des Lebens, um Gefährdungen, Erkrankungen, um Vorbeugen und Heilen; zum Leben der Menschen gehören wesentlich Umwelt und Kontext. Aufgabe der Ethik ist es, durch Zusammenschau des relevanten Wissens, gemachter Erfahrungen und anstrebenswerter Ziele, die Unterscheidungsfähigkeit zwischen menschenwürdigem und menschenunwürdigem Handeln zu fördern.

Leben, Medizin und Ethik vollziehen sich nicht abstrakt, sondern sind immer stark von den gesellschaftlichen Verhältnissen und von konkreten Personen geprägt. Unsere hochentwickelte Gesellschaft und Medizin funktionieren als Verbund hochkomplexer Systeme. So evident Ethik wie Medizin ganz wesentlich einzelne Personen betrifft, es reicht nicht, Ethik nur als persönliche Angelegenheit zu sehen, vielmehr sind in systemischvernetzten Verhältnissen mehrere Ebenen zu beachten: Freiheit und Verantwortung in komplexen Systemen ● Einstellung/Haltung: Respekt, Wohlwollen, speziell gegenüber Mitmenschen, Lebewesen und Werten ● Wissen - Können: Ziele ↔ Wege/Mittel, Abschätzungen von Folgen und Risiken, Wirkungen und Nebenwirkungen, vorausgehend und begleitend Persönliche Haltung und Praxis ● Strukturelle, institutionelle Regelungen, in den eigenen Institutionen, gesellschaftlich, staatlich, überstaatlich. ● Metahorizont: Glaube, Weltanschauung, epochale Paradigmen: Was ist der Mensch? Woher kommt er? Wohin geht er? Hoffnungen, Ängste, Motivationen, Antriebe → Orientierung, Werte, Prioritäten, Proportionen

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1. Paradigmenwechsel auch in der Medizin? Den medizinischen Bereich sehe ich wie einen Seismograph, der hochsensibel die manifesten und die hintergründigen Vorgänge im persönlichen und gesellschaftlichen Leben anzeigt. Wir leben in einer Zeit außerordentlich rascher und tiefgreifender Veränderungen in allen Lebensbereichen. In solchen Zeiten nehmen die Orientierungs-, Wertungs- und Entscheidungsprobleme in allen Lebensbereichen zu und zugespitzt auch in der Medizin. Erinnern wir uns: Bis etwa in die 1960er Jahre waren die medizinischen Möglichkeiten für Ärzte und Patienten überschaubar. Die ärztliche „hippokratische“ Ethik - heilen, nicht schaden, nicht töten, weder am Anfang noch am Ende des Lebens, kein Missbrauch des ärztlichen Einflusses und Wissens - war eine innermedizinische Fürsorgeethik und wurde als angemessen empfunden. Gewaltige Zuwächse an Wissen und Eingriffsmöglichkeiten veränderten seither die Lage sehr gründlich: Beatmung, Reanimation, Lebenserhaltungssysteme wurden eingeführt und zur ständig leistungsfähiger werdenden Intensivmedizin weiterentwickelt. Eine ähnlich rasante Entwicklung zeigen die Chirurgie und Transplantationsmedizin in allen heute praktizierten Spezialisierungen. 1954 erfolgte die erste erfolgreiche Nierenverpflanzung, heute transplantiert man ganze Organpakete. 1978 wurde das erste Baby nach In-VitroFertilisierung geboren, jetzt ist das medizinischer Alltag. Ähnlich rasante Entwicklungen sind in der Diagnostik wie bei den medizinischen Wirkstoffen zu registrieren, man setzt zunehmend auf pränatales Genscreening, auf Präimplantations- und prädiktive Diagnosen, Behandlungen an Embryonen, über gentechnisch hergestellte Medikamente stößt man zur Gentherapie und molekularen Medizin vor. Dies alles wäre nicht möglich ohne riesige, weltweit vernetzte medizinische, pharmazeutische und medizintechnische Forschungs- und Produktionskomplexe, die allerdings auch ihre Eigengesetzlichkeiten als bedeutsame Faktoren in das medizinische System einbringen. Was spricht für einen Paradigmenwechsels auch in der Medizin? Die Leistungsfähigkeit der Medizin schafft Folgeprobleme und Entscheidungssituationen, welche zunehmend die bisherigen Sichtweisen, Bewertungs- und Bewältigungsmuster der Medizin übersteigen: Soziologen konstatieren Tendenzen zu einer alternden Gesellschaft mit einer rasch zunehmenden Zahl hochbetagter, aufwendig pflegebedürftiger chronisch Kranker. Die starke Zunahme demenzkranker Hochbetagter wirft die Frage auf, ob die moderne Medizin die körperlichen Funktionen länger vital erhalten könne als die cerebrale Basis für die geistigen Fähigkeiten. Man fragt zunehmend: ist Lebensverlängerung um jeden Preis anzustreben oder wird mitunter nicht eher das Sterben als das Leben verlängert? Schwierige Fragen stellen sich beim vor- und frühgeburtlichen Einsatz von Intensivmedizin. Die Grenzen werden immer weiter hinausgeschoben, man bringt damit „Frühchen“ durch mit minimalen Geburtsgewichten und noch unreifen lebenswichtigen Organen. Es entstehen ganz schwierige Entscheidungssituationen: wann, unter welchen Kriterien, welche intensivmedizinischen, lebenserhaltenden Maßnahmen einzusetzen bzw. aus guten Gründen zu lassen sind. Die Motivation solcher Fragen reicht von ehrlicher Empathie bis hin zu rücksichtslosem Egoismus, Utilitarismus und neuem Sozialdarwinismus - vor kurzschlüssigen „Lösungen“ ist eindringlich zu warnen. War in früheren Phasen der Neuzeit der hohe Einsatz bewusst, den jeder einzelne Schritt beim allgemeinen wie beim medizinische Fortschritt erfordert, so sind jetzt, in der Spätmoderne, die Versprechungen und Erwartungen grenzenlos: „Alles ist möglich“, leistbar, kaufbar, und zwar möglichst „instant“!? Wie ist umzugehen mit der verbreiteten Erwartungshaltung ständigen „Wohlfühlens“? Ist jede Befindlichkeitsstörung schon behandlungsbedürftige Krankheit? Besteht Anrecht auf hormonales, chirurgisches, psychotherapeutisches Lebens-Design, auf „Full Wellness, full Power for ever“, auf Enhancement, „Anti-Aging“? Entsprechend den Gesetzmäßigkeiten unseres Gesellschaftsund Wirtschaftssystems werden die teuren medizinischen Möglichkeiten vorrangig erforscht und angeboten. Dies trägt zusätzlich bei zur aufklaffenden Schere zwischen rasch

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zunehmenden teuren medizinischen Möglichkeiten und bestenfalls langsam zunehmenden, eher stagnierenden finanziellen Ressourcen. Unproportionale Ansprüche der einen führen zu Mangel an Notwendigem bei den anderen. Stehen viele, auch wichtige medizinische Möglichkeiten zunehmend nur noch für hochversicherte Reiche zur Verfügung? Werden Gesundheit der Gesamtbevölkerung und Gemeinwohl nachrangig? Die Möglichkeiten moderner Hochleistungs-Medizin setzen ein komplexes medizinisches System voraus, sie vollziehen sich in hohem Ausmaß nicht mehr im überschaubaren ArztPatient-Verhältnis samt Kenntnis des Lebens-Kontextes. Zusätzliche Akteure, Bedeutsamkeiten, Zusammenhänge, Mechanismen, Interessen schieben sich zwischen Ärzte, Pflegende, Therapeuten und kranke Menschen. Man denke nur an die internen Eigengesetzlichkeiten und betriebswirtschaftlichen Erfordernisse von modernen Spitälern, Versicherungsorganisationen, Pharma- und Medizintechnik-Konzerne. Wenn das Medizinsystem in den entwickelten Ländern rund 10 % des Bruttoinlandsproduktes bewegt, so stimulieren diese Größenordnungen entsprechende Verteilungskämpfe. Es gibt starke Trends zu Entsolidarisierung, zu „Sozialdarwinismus“. Ein anderer Trend angesichts der Anspannungen sind technokratische „Optimierungen“, Limitierungen. Auch vom Anspruch auf autonome Selbstbestimmung her wird die ärztliche Fürsorge-Ethik in Frage gestellt. In den 1960er-Jahren bündelte sich in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ein kulturrevolutionärer „Aufstand“ sich ohnmächtig fühlender Bürger gegenüber der „neofeudalen Machtpyramide“ einer wissenschaftlich-technisch-ökonomisch gesteuerten Gesellschaft samt dem damit verbundenen Medizin-System. Auslöser dafür waren riskante unfreiwillige Humanexperimente im boomenden biomedizinischen Forschungsbetrieb und die Ohnmachts-Erfahrungen vieler Patienten in den Hochleistungsspitälern, vor allem in intensivmedizinischen Terminalphasen. Es kam zu einer „Patients Bill of Rights“ mit dem neuen Primat der Patienten-Selbstbestimmung. Das bedeutet eine grundlegende Veränderung gegenüber dem Fürsorgeethos, wofür jetzt die abwertende Bezeichnung „Paternalismus“ geprägt wird. Die Regelungen zielen auf die Sicherstellung der freien Zustimmung nach vollständiger Aufklärung, auf „informed consent“. Über dem berechtigten Anliegen der eigenen Verantwortung für Leben und Therapie sind die mit der Forderung „informed consent“ verbundenen Schwierigkeiten nicht zu übersehen.

2. Größe und Grenze der Neuzeit und der neuzeitlichen Medizin Angesichts der gewaltigen Zunahme an Wissen und Verfügungsmöglichkeiten geht es in neuer Weise um Leben, Tod und Lebensqualität. Gegenüber den Trends zu technokratischen und zu sozialdarwinistischen „Lösungen“, zu als „autonom“ bezeichneten, aber nicht im Sinne Kants mündigen und verallgemeinerungsfähigen, sondern teils rücksichtslosen, teils individualistisch-willkürlichen Einstellungen und Entscheidungs-Mustern brauchen wir ein besonders sorgfältiges Nachdenken über das uns Menschen Gemäße, über das Ganze des Lebens, zu dem Wachsen, Entfalten, Leisten, Reifen ebenso gehören wie Einschränkungen, Ohnmacht, Leiden und Sterben. Umfassende Sichtweisen und Antworten auf fundamentale Fragen sind immer von epochalen Paradigmen geprägt. Vorneuzeitlich galt generell und im Hinblick auf Gesundheit und Krankheit das Gegebene/Überkommene im wesentlichen als naturgemäß und gottgewollt, mit dem man sich, einschließlich Leid, Not und oft frühem Tod, abzufinden hatte. Der therapeutische Einsatz bestand weitgehend in der Unterstützung der natürlichen Heilkräfte und in oft bewundernswerter Pflege. Intensivere Eingriffe galten als sinnlose und unfromme Anmaßung. So hatten bis in die frühe Neuzeit die Chirurgen einen sehr minderen sozialen Status, noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts warnte ein Papst vor Schutzimpfungen: das bedeute, den strafenden Arm Gottes aufhalten zu wollen. Aber auch in gegenwärtigen Alternativ- und Esoterik-Strömungen gelten „die Natur“, „der Kosmos“ und darauf bezogene Normen wiederum in unkritischer Weise als sakrosankt und unantastbar.

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Ganz anders die Neuzeit: sie interpretierte das Überkommene, „die Natur“, die engen Lebensverhältnisse voll Not, Ohnmacht, Sterben vor der Zeit, als Ausgangslage für das menschliche Gestalten. Man betrieb daher aktiv die Erforschung der Wirklichkeit, um sie in Richtung Beseitigung von Not und Leid, umfassende Befreiung (Descartes. „bis hin zur Überwindung der Altersschwäche“) umzugestalten. Man wollte alle Gesetzmäßigkeiten begreifen, um sie zu beherrschen, und zwar mit der Perspektive und den Methoden der Naturwissenschaften. So kam es allgemein wie in der Medizin zur neuzeitlichen Orientierung auf Spezialisierung und Quantifizierung (Newton: „Alles Messbare messen, alles NichtMessbare messbar machen“), auf Erforschen und invasives Eingreifen. Dieses neuzeitliche Programm der Entgrenzung, der quantitativen und qualitativen Erweiterung der menschlichen Eingriffsmöglichkeiten brachte gewaltige Erfolge, man denke nur an die verdoppelte durchschnittliche Lebenserwartung und an die für viele bis ins hohe Alter gute Lebensqualität. Bei voller Anerkennung dieser Erfolge wird aber jetzt die Einseitigkeit des neuzeitlichen Programms deutlich. Man vergleiche die WHO-Definition: “Gesundheit ist ein Zustand vollständigen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht einfach die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen.“ Diese Zielsetzung bewirkte den Aufbau der modernen Medizin-, Sozial- und Wohlfahrtseinrichtungen, weckt aber auch grenzenlose Erwartungen, sie verschweigt besonders schwierige Realitäten des Lebens wie unüberwindliche Einschränkungen, Grenzen und Schwächen, Krisen, bleibende Behinderungen, Invalidität, Altern und Sterben. Diese einseitige Programmatik blockiert das Unterscheiden zwischen beseitigbarem und unvermeidlichem Leid und lässt die Fähigkeit, unvermeidliche Belastungen, irreversible Einschränkungen und Leiden auszuhalten und anzunehmen, verkümmern. Zusätzlich wird in unseren spätneuzeitlichen Konsumgesellschaften suggeriert, für alles gäbe es kaufbare Lösungen, alles wäre „instant“ zu haben, auf Knopfdruck produzierbar, wiederholbar. Mit solchen Illusionen macht man nicht nur unverschämte Geschäfte. Das Verdrängen der wesentlichen Lebensdimensionen des Pathischen, der Begrenztheit, der Ohnmacht, des Alterns und Sterbens führt zu individuellen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen und Schäden. Illusionäre Versprechungen/Erwartungen verstärken die Gerechtigkeitsprobleme: die Durchsetzungsfähigeren beanspruchen in sinnlosem Übermaß auf Kosten anderer die gesellschaftlichen, auch die medizinischen Ressourcen. Übersehen wird: Krankheit und Leiden haben nicht nur einen bedrückend dunklen Charakter, sondern persönlich und gesellschaftlich auch eine ent-täuschende, klärende, prophetische Funktion. Vielfach kommen wir in unserer gefährlich-einseitigen Zivilisation erst beim Kranksein zur „Entschleunigung“. Das kann die Chance eröffnen, scheinbar Selbstverständliches wie Gesundheit und Leistungsfähigkeit als nicht selbstverständlich und nicht grenzenlos zu erkennen und die Unsicherheit, Begrenztheit und Zerbrechlichkeit unserer Existenz und aller unserer Hervorbringungen wahrzunehmen. Weiters: Die neuzeitlich-naturwissenschaftliche Orientierung auf Spezialisierung und Quantifizierung wird immer effizienter auf immer mehr menschliche Lebensbereiche ausgeweitet: Unter Zielsetzungen wie „Rationalisierung“, „Optimierung“, „Effizienz-Steigerung“, „Qualitätssicherung“ werden alle Bereiche der Gesellschaft, auch Medizin und Pflege, zunehmend auf das Quantifizierbare, Digitalisierbare, auf „Effizienz“ und „Kapitalerträge“ ausgerichtet. Das Nicht-Quantifizierbare, Unverzweckbare, Freie, Schöne, Geschenkhafte, Unverkaufbare finden entsprechend wenig Raum und Aufmerksamkeit. Wenn diese „Rationalität“ und „Effizienz“ unser Leben, unsere Zivilisation und unser Medizinsystem immer stärker bestimmen, dann werden im gleichen Ausmaß die Menschen auf produzierende und konsumierende Rädchen in einer gesellschaftlichen Maschinerie, auf Kostenfaktoren und Kalkulationsgrößen reduziert. Die Konsequenz sind zunehmende Beziehungs-Schwächen, eine „Hirn- und Herz-Lähmung“, eine heillose Verarmung mitten im materiellen Wohlstand! Viele Diagnostiker unserer Zeit sprechen angesichts der skizzierten Lage vom „Ende der Neuzeit“. Jedenfalls nimmt die Faszination/Plausibilität der neuzeitlichen Fortschrittshoffnung ab, die Skepsis gegenüber einer Dominanz von eindimensionaler Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und auch gegenüber einer so geprägten Medizin nimmt zu. Diese Skepsis betrifft die

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bestimmenden Muster unserer neuzeitlichen Zivilisation und das hat auf Gesundheit und Krankheit, auf Medizin und Vorsorge erhebliche Auswirkungen. Selbstverständlich betrifft das sehr direkt Ärzte, Pflegende, alle im Medizinsystem beruflich Tätigen: Wir Menschen sind zu großen Anstrengungen für sinnvolle Ziele fähig und brauchen solche Ziele für die Mobilisierung und Integration unserer Fähigkeiten und Kräfte. Wer ausreichend Sinn in seinem Leben und Tun findet, ist erstaunlich belastbar und ohne ausreichendem Sinn werden schon geringe Belastungen und Anspannungen zuviel. Unsere Zivilisation und die davon bestimmten Menschen sind total auf das Leben hier und jetzt fixiert und entwickeln in diesem Horizont grenzenlose Erwartungen. Deshalb ist man ungeübt oder sogar unfähig, das Pathische in unserer menschlichen Existenz, unverfügbare Grenzen und Perspektiven über den Tod hinaus zu bedenken. Viele Maßlosigkeiten und deformierte Lebensmuster in unserer Zivilisation sind unschwer als Kompensationen dieser verdrängten Fragen zu dechiffrieren. Konfrontiert mit irreversiblen Einschränkungen, Leid und Tod sind heute viele Menschen sprachlos, verlegen und versuchen, dies zu überspielen und zu verdrängen. Die Unfähigkeit, sich mit unverfügbaren Grenzen, Altern, Sterben und Tod auseinander zu setzen, führt zu fatalen Fehlentwicklungen im Leben und überlässt am Ende des Lebens Verstorbene wie Hinterbliebene einem Sinn-leeren Dunkel. Mit dem Schwächerwerden des bisherigen Paradigmas fragen viele mehr oder weniger explizit: gibt es tragfähige Ziele und Hoffnung im Leben, für unsere Welt und über den Tod hinaus? Die sich anbahnende „Nach-Neuzeit“ ist aber noch undeutlich, hoffnungsarm und orientierungsunsicher. Die großen religiösen Traditionen artikulieren unterschiedliche Antworten auf die Ohnmachtund Leid-Frage, auf die Fragen nach transzendenter Herkunft und Zukunft. „Transzendenz“ kann die Erdenwirklichkeit sowie Wert und Würde konkreter Menschen bis zur Wertlosigkeit relativieren, wie in bestimmten esoterischen und fernöstlichen Traditionen, oder durch Erweiterung der Perspektive über die Phase in Raum und Zeit hinaus fundieren. Die biblischchristliche Sicht stellt eine nüchterne Hoffnung vor: Welt und Menschen stammen aus der schöpferischen Zuwendung Gottes. Auf den oft schwierigen Wegen des Lebens und der Geschichte ist zu erlernen, wie menschenwürdig gelebt werden kann. Dem menschlichen Forschen, Gestalten und Heilen werden nicht vorschnell Grenzen gesetzt: Unwissenheit, Nichtkönnen und Zufall sind dem biblischen Gott nicht wohlgefälliger als verantwortliches Forschen, Gestalten und Heilen. Effizienzsteigerung und „Entgrenzung“ sind allerdings ambivalent: Nur wenn es gelingt, die Erweiterungsräume zu kultivieren, gewinnen wir echte Fortschritte. Andernfalls kann sich „Entgrenzung“ im persönlichen Leben ebenso wie in Gesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft und Medizin sogar destruktiv auswirken. In biblischer Perspektive gelingt Leben, Befreiung, „Heil“ letztlich nicht durch „Beherrschung“, sondern in „Beziehung“. Wo Menschen sich wohlwollend zuwenden, wo Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue gelebt wird, geschieht Göttliches zwischen den Menschen (vgl. Mt.25,31ff). Die Erfahrung der Grenze eigener Macht muss jeder Mensch in verschiedenen Grenzerfahrungen und definitiv im Sterben machen. Christliche Hoffnung ist, dass nach dem Dunkel des Todes Gott vollendet, was hier auf Erden angefangen hat: In einer glückseligen Beziehung der Geschöpfe untereinander und mit ihrem Schöpfer wird es Trauer und Leid nicht mehr geben, „Gott wird jede Träne vom Auge wischen.“ (Offb. 21,4)

3. „Nachneuzeitliche“ Orientierung: Kultivierter Umgang mit Begrenztem, generell und hinsichtlich der Vorsorge-Medizin Bei diesen Überlegungen zu einer „nachneuzeitlichen Neuorientierung“ geht es nicht um eine Geringschätzung der Neuzeit und der Errungenschaften moderner Medizin. Durch Erreichen von Zielsetzungen verlieren aber Paradigmen und davon geprägte Programme an orientierender, mobilisierender und integrierender Kraft und es werden - aufbauend auf dem Erreichten - Neuorientierungen sinnvoll und notwendig. Der angemessene Horizont für „Vorsorge“ ist „Entfaltung, Gelingen des Lebens“.

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● So plausibel das neuzeitliche Setzen auf „Entgrenzung“ war, jetzt ist von illusionärer Grenzenlosigkeit zu lassen und eine ideelle und materielle Kultivierung des Begrenzten anzustreben. Galt neuzeitlich das Begrenzte als minder und Grenzen als „zu überwinden“, so geht es jetzt um die Wahr-Nehmung, dass alles auf Erden begrenzt ist. Wichtig ist, diese faktische Feststellung auch qualitativ zu interpretieren: Das Begrenzte ist nicht das Mindere, sondern ist etwas Einzigartiges, Kostbares. Um das am Beispiel von Wasser anschaulich zu machen: solange es unbegrenzt verfügbar ist, schätzt man es kaum, erst wenn es knapp wird, lernt man es schätzen und geht damit sorgfältig um, in der Wüste ist Wasser kostbarer als Gold. Das gilt analog für alle materiellen Ressourcen, aber auch für Zeit, Kraft, Aufmerksamkeit, Beziehungen, für die Tage und Jahre unseres Lebens. All das ist begrenzt und deshalb einzigartig und schätzenswert. Diese Desillusionierung und Qualifizierung kann eine Kultivierung, einen wertschätzenden Umgang mit dem Begrenzten stimulieren. ● Bei aller Anerkennung des erreichten Wissens und Könnens in den speziellen Fächern brauchen wir eine Umorientierung vom neuzeitlichen Vorrang der Spezialisierung und Segmentierung sowie von punktueller „Reparatur-Medizin“ hin zu einer stärkeren Beachtung der Zusammenhänge in der Medizin, zwischen Lebenswelt und Medizin, sowie mit Vorsorge und Nachsorge. Anstelle eines mitunter auch in der Medizin vorherrschenden eindimensionalen „Mehr, Mehr, Mehr“ ist als neue Orientierung zu formulieren: „Optimale, nicht maximale Medizin!“ Daraus ergeben sich veränderte Prioritäten und Proportionen für den Einsatz von Zeit, Geld und Aufmerksamkeit: für den Anteil spezialisiert-somatischer Interventionen, für die Beachtung von Lebensstil und personaler Aspekte, mehr übergreifende Diagnosen und Therapien (Beispiel Psychosomatik), Beachtung der heilsamen wie krankmachenden Dimension „Beziehungen“, der Sinn-Fragen im persönlichen und öffentlichen Leben und auch in der Medizin. Solche Umorientierungen sind in Gang, deutliche Beispiele sind die verstärkte Beachtung von Lebensstil und Prävention, der Psychosomatik, der schrittweise Aufbau von Palliativmedizin und –Pflege, stationärer und mobiler Hospizpraxis, aber diese Umorientierung hat erst begonnen. ● Die meisten, folgenschwersten und aufwändigsten Krankheiten sind gegenwärtig die Zivilisationskrankheiten. Ursächliche Abhilfe bringt da nicht eine weitere Steigerung der Investitionen in das Medizinsystem, weder flächenhafte Prävention mit geringfügig medikamentösen noch aufwendige invasive Interventionen, sondern eine Veränderung unserer Lebensmuster, ein heilsamerer Lebensstil persönlich und öffentlich. (Stichworte: Rhythmen von Aktivität und Unterbrechung der Aktivität, kontemplative Phasen von Rückblick und Ausblick, Bewegung, Ernährung, verbesserte Prioritäten, Proportionen, Balancen, Überwindung defizienter, pathogener Spaltungen, von Einseitigkeiten und falschen Verabsolutierungen, Dialektik Leibliches – Geistiges). ● Besonders wichtig und schwierig ist eine kultivierte Bewältigung der angesprochenen Ressourcen-Schere: Wir brauchen eine sorgfältige Kalkulation des Kalkulierbaren, dazu gehören Evaluationen des tatsächlichen Nutzens medizinischer Aufwände bei der konventionellen wie der präventiven Medizin, korrekte und vollständige Rechnungen, Beachtung der Wirkungen und Nebenwirkungen, ein ökonomischer Umgang mit den begrenzten Ressourcen. „Ökonomisch“ heißt, die verfügbaren Mittel und Verfahren optimal auf anstrebenswerte Ziele auszurichten. Das anstrebenswerte Ziel ist nicht die Auflösung der Humanität in materielle Profitabilität. Angesichts spätneuzeitlicher Regressionen und Einengungen der Horizonte muss eindringlich auf der unverfügbaren und unveräußerlichen Würde jedes Menschen, unabhängig von Leistungsfähigkeit und Nützlichkeit und einer darauf achtsamen persönlichen, öffentlichen und medizinischen Kultur insistiert werden. Gesundheit ist nicht ein technisch herstellbares und handelbares Gut, das Produzenten an Konsumenten verkaufen. Patienten sind nicht souveräne Kunden, sondern Menschen in Notlagen, die sich nicht souverän selbst helfen können, sondern auf menschliche Zuwendung und kompetente Hilfe angewiesen sind.

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Die Verteilungskämpfe um Ressourcen im Medizinbereich nehmen an Härte zu. Hier sind nicht die Details der sehr unterschiedlichen Anteile an Macht und Ressourcen zu erörtern. Aber auf einen ethisch wichtigen Punkt mache ich aufmerksam: In diesen Auseinandersetzungen ist proportional von allen Beteiligten neben berechtigten eigenen Interessen auch die Sachwalter-Funktion für die Patienten und die anteilige Mitverantwortung für einen optimalen Ressourcen-Einsatz im medizinischen Gesamtsystem zu beachten. Andernfalls treffen die negativen Konsequenzen unsinniger und ungerechter RessourcenVerteilung bzw. Vergeudung in unverantwortlichem Ausmaß die Patienten, die Schwächsten. Diese sind aber die entscheidende, rechtfertigende Zielgruppe aller Aktivitäten im medizinischen System. Als ethische Leitlinie ist festzuhalten: „Vor Einschränkung notwendiger und sinnvoller medizinischer Leistungen muss eine Minimierung von Vergeudung und Nutzlosem erfolgen.“ Das erfordert viele, schwierige Verbesserungen der Transparenz, heikle Umschichtungen gegen starke Interessen. Limitierungen dürfen jedenfalls nicht gegen Gerechtigkeit und Gemeinwohl verstoßen! ● Wir Menschen haben als denk- und entscheidungsfähige „Sachwalter“ beim Umgang mit Leben generell eine hohe Verantwortlichkeit, speziell bei Entscheidungen im modernen, hochkomplexen medizinischen System. Wir müssen sehr aufpassen, dass wir nicht schleichend („slippery slope“) am Anfang, Ende und in der Mitte menschlichen Lebens unmenschliche Wertungen praktizieren: Haben nur leistungsfähige Menschen ohne Handikaps und Schwächen Geltung und Lebensrecht? Wer hat keine Schwächen, Handikaps und Grenzen? Wer definiert „normal“? Selektionen nach „lebenswert“ und „nicht lebenswert“ hatten wir schon einmal - zur Zeit des Nationalsozialismus. Was ist mit uns, wenn wir irreversible Einschränkungen erfahren, älter und schwächer werden? Sind nicht oft unkalkulierbare Dimensionen wie Zuwendung und Respekt bedeutsamer als evaluierbare und abrechenbare „Leistungen“? Einstellungen, Haltungen, Regelungen und Praxen, die Anerkennung oder Marginalisierung bewirken, nicht selten über Leben und Tod entscheiden, darf man nicht individualistischer Willkür, technokratisch-ökonomischen Maßstäben, utilitaristischen oder sozialdarwinistischen Standards überlassen. Not-wendig sind Menschen mit gut gebildetem persönlichem Ethos sowie sachlich und menschlich optimale Strukturen. Ich fasse abschließend zusammen: Das Ziel aller therapeutischen Aktivitäten sind nachhaltig heilsame Ergebnisse für die Menschen. Dafür sind hohes Fachwissen, optimal trainierte Fertigkeiten und personale Kompetenzen erforderlich. Anstrebenswert sind über das unmittelbar Notwendige hinaus ein fundierter Überblick über das human Relevante und die daraus erwachsende Fähigkeit, den Sinn und Platz der eigenen Beiträge im größeren Zusammenhang einordnen, wünschenswerte oder problematische Entwicklungen im Fach und im relevanten Umfeld einschätzen und konstruktiv damit umgehen zu können. Gerade der Medizinbereich ist nicht isoliert zu verstehen, er manifestiert vielmehr wie ein Seismograph offensichtliche und hintergründige Vorgänge im persönlichen und gesellschaftlichen Leben. Derart schwierige und verantwortliche Herausforderungen können angesichts begrenzter Kräfte lähmende Überforderungsgefühle ("Fernzielbeklemmung") auslösen. Wichtig sind in solchen Lagen klare Grundsätze und die Orientierung an anstrebenswerten Zielen. Hilfreich sind zusätzlich das Anvisieren realistischer Etappen und Zwischenziele sowie "Weggemeinschaften" human Engagierter aus verschiedenen Lagern. In der voranführenden Richtung ist das Mögliche an Schrittlänge und Tempo das Meiste. Eine menschenfreundliche, selbstverständlich auch eine recht verstandene christliche, Ethik überfordert niemanden und sie unterfordert niemanden. Autoren-Information: Univ.-Prof. Dr. Helmut Renöckl: Hon.Prof. für „Ethik in Naturwissenschaften und Technik“ an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der J. Kepler Universität Linz, Leiter des „Instituts für konkrete Ethik“ (Medizinethik, Technikethik, Wirtschaftsethik), Leiter des Lehrstuhls für „Theologische Ethik, Sozialethik und ethische Bildung“, sowie Vorstand des „Instituts für Wirtschaftsethik und Regionalentwicklung“ der Südböhmischen Universität Č. Budějovice/Budweis.

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