Erfahrungsbericht zum Auslandsstudium in Estland

Erfahrungsbericht zum Auslandsstudium in Estland Zeitraum: 31.8. - 19.12.15 Ort: Tallinn Am Rande des Baltikums gelegen, scheint das Land Estland vi...
1 downloads 0 Views 80KB Size
Erfahrungsbericht zum Auslandsstudium in Estland

Zeitraum: 31.8. - 19.12.15 Ort: Tallinn

Am Rande des Baltikums gelegen, scheint das Land Estland vielen Europäern völlig unbekannt. Doch obwohl es ein sehr kleines Land ist, und mit seinen nur rund 1,3 Millionen Einwohnern nicht mal an die Bevölkerung von Hamburg heranreicht, steckt mehr dahinter als es scheint. Beispielsweise durch die Entwicklung der Internettelefonie „Skype“ erlangte das unscheinbare 45.000 qkm Fleckchen Land internationale Aufmerksamkeit. Doch bedeutungslos ist es auch im politischen Geschehen nicht. Seit 2004 ist Estland Mitglied der EU und auch im Einsatz in Afghanistan (ISAF) leistet das Estnische Heer (Eesti Maavägi) seinen Beitrag, trotz der vergleichsweise kleinen Zahl von nur ca. 4000 aktiven Soldaten. An der Grenze zu Russland gelegen waren ebenfalls zahlreiche NATO Soldaten anderer Nationen vor Ort, welche die Luftüberwachung übernehmen. So präsentiert sich auch hier das ohnehin seit jeher westlich orientierte Estland als weltoffen und gastfreundlich. Im Gegensatz zu den meisten Ländern Europas ist man in Estland stolz auf seine Herkunft und Kultur. Nationale Identität und Kulturelles Bewusstsein sind vereinbar mit Weltoffenheit und Neugier nach anderen Kulturen.

Allgemeines Auf den ersten Blick war es für mich schwer eine typisch eigene, sprich estnische Kultur ausfindig zu machen. Obwohl ich bereits zuvor Estland bereiste erschien es mir selbst bei längerem Aufenthalt etwas schwer, die rein estnische Kultur zu finden. „Pass-Esten“ der russischen Minderheit sind der Meinung gewesen, dass es überhaupt keine estnische Kultur gäbe. Es sei lediglich eine Mischung aus Russischem und Deutschem. Ein Blick in die Historie zeigt deutlich, das Estland seit jeher Spielball zwischen den großen Einflussgebieten des Ostens (Russlands) und des Westens (Deutschland) war und sich dementsprechend die Kultur entwickelte. Sich selbst verstehen die Esten meist mehr als Skandinavier, denn als Balten. Und so sind dem äußeren Erscheinungsbild nach die Esten klar auch Nachfahren der Skandinavier. Dänen und Schweden

haben in der Geschichte Estlands eine ebenso bedeutende Rolle gespielt. So konnte ich zunächst festhalten: die Esten sind arbeitslüstern wie Deutsche, trinkfest wie Russen, lieben die Sauna wie Finnen und sehen aus wie Schweden. Stereotypisch wird der Este als schweigsam und kühl bezeichnet. Allerdings empfand ich dies als weniger intensiv, da ich im norddeutschen Hamburg nun auch öfters ein einfaches „Moin“, anstatt redseliger „Klönsnakks“ gewöhnt war. Doch es stimmt, er arbeitet still, und lacht und feiert lieber mit Bekannten. Doch wenn man die Esten nach und nach kennenlernt, kann man keinesfalls sagen, sie wären unfreundlich und grob. Im Gegenteil: sie sind herzlich und ehrlich.

An - und Abreise Die An – und Abreise erfolgte per Flugzeug (Lufthansa). Leider gibt es zwischen Hamburg und Tallinn keine Direktverbindung, sodass ich einmal in Frankfurt am Main zwischenlanden musste. Selbst wenn „AirBaltic“ oder „Finnair“ als Reiseunternehmen gebucht werden, kommt man um einen Zwischenstopp in Riga oder Helsinki, ggf. auch Kopenhagen, nicht umhin.

Studium Da die „Helmut – Schmidt – Universität“ (HSU) und die „Tallinn University“ (TLU) kein ERASMUS - Austauschprogramm verbindet, war ich las „Freemover“ auf das „Open University“ Programm angewiesen. Dies bedeutet theoretisch, dass man keinen Anspruch auf die Leistungen hat, welche ein Erasmus - Student in Anspruch nehmen kann, wie bspw. kostenfreies Studium und Anspruch auf eine Unterkunft im Studentenwohnheim. Praktisch sah es neben der eigenen Wohnungssuche und dem Bezahlen der einzelnen Creditpoints auch so aus, dass ich von jeglichem Informationsfluss abgeschnitten war, was internationale Studentenveranstaltungen anbelangt. Ebenso wenig hatte ich irgendeinen Nachweis darüber, dass ich Student bin: keine Matrikelnummer, keinen Studentenausweis, keinen Stundenplan den ich einsehen konnte etc. Und ein weiterer unverhoffter Zwischenfall erfolgte: Nach Ankunft in Tallinn teilte mir die Leiterin des „Open University Programms“ mit, dass alle meine Kurse nicht stattfinden. Meine Arbeit für das „Learning Agreement“ wurde mit einem Mal sinnfrei. Ich konnte lediglich einen adäquaten Kurs finden, der meinem Learning Agreement wenigstens etwas entsprach. Für alle anderen Kurse

muss ich Kompensationsleistungen, sprich Heimarbeit, erbringen. Insgesamt verkürzte sich also der Uni-Aufenthalt auf einen Anthropologiekurs und einen Russischkurs. Die Sprache in der unterrichtet wurde war jeweils Englisch. Die Universität ist sehr international aufgestellt und einen Schwerpunkt in Humanwissenschaften, was sie für alle Studenten der Bildungs- und Erziehungswissenschaft empfehlenswert macht. Die Benotung der Kurse erfolgt ebenfalls sehr angenehm: Im Gegensatz zur deutschen Methode der Abschlussleistung, wurde an der TLU die gesamte Erscheinung des Studenten im Kurs bewertet. Dies bedeutet, dass Häufigkeit der Anwesenheit, Qualität einer gehaltenen Präsentation, Qualität der Klassenpartizipation und das

Abschlussessay in etwa zu gleichen Anteilen in die Benotung

einfließen.

Unterstützung seitens der Universität Die Unterstützung seitens der HSU kann ich vom militärischen Bereich nur loben. Akademisch sieht es etwas anders aus. Bis auf wenige Dozenten werden bei der Akkreditierung der Creditpoints teils derart immense Kompensationsleistungen verlangt, dass es sinnfrei erscheint ins Ausland zu gehen, wenn die Arbeit zu einem Berg anwächst. Das es mehr Arbeit wird, sollte jedem klar sein, doch kann es aufgrund des Nasenfaktors bei den Dozenten zu großen Unterschieden in den zu erbringenden Leitungen kommen. Gerade bei der Bearbeitung der Ersatzleistungen kam es keineswegs zur steigenden Sympathie zum akademischen Bereich der HSU, da es teils jeglicher Objektivität entbehrte.

Wohnung

Um eine Wohnung musste ich mich selber bemühen. Die Studentenwohnheime sind sehr schnell belegt und eine Wohnungssuche sollte erfahrungsgemäß nicht erst einen oder zwei Monate vorher erfolgen. In Rücksprache mit Einheimischen empfiehlt es sich ein viertel bis halbes Jahr im voraus zu buchen, da die Verfügbarkeit gegen Sommer immer dünner wird. Als Kontaktstellen empfehle ich „airbnb“. Einen Makler zu kontaktieren ist ebenfalls nicht verkehrt, doch sollte auch da eine Vorlaufzeit eingeplant werden. Mit Glück lassen sich auch gute Wohnungen via „couchsurfing“ oder Kontaktanfragen auf Facebook finden. Ab April/ Mai spätestens sind die Esten auch darauf aus

ihren persönlichen Urlaub zu planen, was auch dem langen Winter geschuldet ist. Ebenso finden in der warmen Jahreszeit die Reparaturen am Haus statt, sodass dringend zu empfehlen ist sich möglichst früh, ergo Januar/ Februar, um eine Wohnung zu bemühen. Preislich kann es zwischen 250 Euro bis „open end“ schwanken, je nach dem wo man wohnen möchte. Bedenken sollte man: Tallinn ist die Hauptstadt und ist dementsprechend teuer. Das Preisniveau ist im Bereich Wohnungssuche mit deutschen Großstadtpreisen durchaus vergleichbar.

Alltägliches Nicht nur im Bereich Wohnen ist das Preisniveau dem deutschen ähnlich. In Tallinn sind aufgrund der vielen Touristen (vornehmlich Deutsche und wohlhabende Russen) die Preise vergleichsweise hoch. Doch auch außerhalb der schönen mittelalterlichen Altstadt mit zahlreichen Hansebauten, lassen sich zahlreiche Restaurants und Bars finden die mit einem leckeren Angebot und studentenfreundlichen Preisen überzeugen. Das Essen ist deftig, was dem russischen und deutschen Einfluss einerseits und dem Klima andererseits geschuldet ist. Das Brot nimmt eine besondere Rolle ein. Insbesondere das dunkle Roggenbrot ist den Esten heilig. So gab es selten Essen, zu denen man nicht kostenfrei Brot gereicht bekommen hat. Auch für Bier und deftiges Schweinefleisch ist Estland bekannt, was wohl eher dem deutschen Einfluss geschuldet ist. Das Wetter ist eher norddeutsch und maritim: oft Wind und Regen und grau. Die Winter sind lang und die Sommer kurz. Doch so pessimistisch es sich anhört, die Sonne weiß im Nordosten Europas jeder zu schätzen und deshalb ist das ohnehin naturnahe Volk der Esten so oft wie möglich in der Natur und an der Luft. Die großen Wälder und Seen laden ein zum Skifahren, Laufen, Kanufahren, Wandern, Fischen u.v.m. Besonders das Sammeln von Pilzen und Beeren lieben die Esten.

Kulturelles und Reisemöglichkeiten

Kulturell kann insbesondere Tallinn einiges bieten: Die Altstadt ist für sich genommen jedem Geschichtsinteressierten ein Augenschmauß. Zu empfehlen ist das Maritime Museum und das Kunstmuseum. Wer ein echtes mittelalterliches Essen wie zur Hanse-Zeit genießen möchte, sollte im „Olde Hansa“ speisen. Die Nikolaikirche, die St. Olafs Kirche und die Alexander – Nevsky -

Kathedrale sind imposante christliche Bauwerke. Doch generell sind die Esten ein eher heidnisches Volk, welches Sommer- und Wintersonnenwenden zelebriert oder auch mal im Wald heiratet, was für mich sehr beeindruckend war. Durch seine günstige Lage bot es sich an auch außerhalb Estlands zu reisen. In das nahegelegene Helsinki gelangte ich mit der Fähre in nur 2 Stunden. Allerdings ist ein Abstecher in die Hauptstadt Lettlands, Riga, aus architektonischen als auch finanziellen Gründen mehr zu empfehlen. Mit der Fähre „St. PeterLine“ kann auch ein dreitägiger Besuch nach St. Petersburg ohne Visum möglich werden, wenn eine Hotelbuchung vorliegt. Prinzipiell kann man nicht nur in Estland selbst günstig reisen, sondern in den benachbarten Ländern ebenso, weshalb auch daher ein Auslandsstudium in Tallinn absolut zu empfehlen ist.

Fazit

Ein Auslandsstudium in der estnischen Hauptstadt Tallinn ist für mich ein voller Erfolg und unvergessliches Erlebnis geworden. Das kleine, aber charakterstarke Volk der Esten steht den größeren Nationen in vielen Punkten in nichts nach. Im Gegenteil sogar: im Umgang mit eigenen Bräuchen und der Identität, scheinen sich unter den baltischen Staaten neben den Letten insbesondere die Esten hervor zu tun. Doch nicht nur kulturell und landschaftlich war es ein tolles Erlebnis. Akademisch konnte ich neue Impulse für mich mitnehmen. Das Studium der Anthropologie

hatte

viele

Schnittstellen

zu

meinem

Studium

der

Bildungs-

und

Erziehungswissenschaften. Auch sprachlich konnte ich sowohl Englisch und Russisch verbessern, sodass ich auch privat an Erfahrungen gewonnen habe, welche gleichzeitig dienstlich von Nützen sein können. Da der aufkommende Tourismus in Estland sicher immer weiter anhalten wird, erhoffe ich mir, dass es einigen anderen Studenten meiner Universität möglich sein wird diese Perle des Baltikums besuchen zu dürfen. Ich für meinen Teil bin sehr dankbar diese Erlebnisse ermöglicht bekommen zu haben, auch wenn es als erster meiner Universität anfangs nicht leicht war mich zu recht zu finden.