Ein kleiner Ausflug in die Welt der Psalmen

Ein kleiner Ausflug in die Welt der Psalmen Erstfassung 22.3.1994, revidiert zum 22.4.2004 (vgl. Inhaltsübersicht Seite 16) A. Vorbemerkung Es ist ei...
Author: Victoria Beutel
9 downloads 0 Views 168KB Size
Ein kleiner Ausflug in die Welt der Psalmen Erstfassung 22.3.1994, revidiert zum 22.4.2004 (vgl. Inhaltsübersicht Seite 16)

A. Vorbemerkung Es ist ein wenig vermessen, angesichts der reichen Literatur zu den Psalmen, die über Jahrhunderte (seit den Psalmenkommentaren der Kirchenväter) entstanden ist und die seit dem Aufkommen der historisch-kritischen Forschung im 19. Jahrhundert noch enorm zugenommen hat, auf wenigen Seiten eigene Gedanken zu den Psalmen zu formulieren. Warum statt dessen nicht direkt eines der zahlreichen Werke aufschlagen, die eine Einführung in die Psalmen oder ihre Kommentierung bieten, und von denen ein kleiner Teil ohnehin zur Ausformung der hier vorliegenden eigenen Gedanken herangezogen wurde? Nun, es mag gerade wegen der Fülle des überkommenen Materials hilfreich sein, einige Einblicke zusammenzufassen, die ich bei der Beschäftigung mit unserem Thema gewonnen habe. Eine wirkliche "Einführung in die Psalmen" stellt das natürlich nicht dar, deshalb nenne ich diese kurzen Notizen einen "kleinen Ausflug". Die Betrachtung soll an drei Psalmen anknüpfen (Ps. 88, 110 und 58, Texte siehe Anlage 1), die bewusst nicht unter den altvertrauten Texten, sondern gerade aus jenen sperrigeren Psalmen gewählt sind, bei denen die meisten von uns Schwierigkeiten des Verständnisses, des Einverständnisses und schon gar des Nachbetens haben werden.

1

Noch bevor wir diese Psalmen aufschlagen, müssen wir uns darüber klar werden, welche ihrer Fassungen wir lesen wollen. Wir haben einmal die Wahl zwischen den Überlieferungswegen der „Septuaginta“ oder der hebräischen Bibel; zweitens müssen wir uns die Sprachfassung, die uns am besten zusagt, aus einer ganzen Reihe von Übersetzungen dieser Texte ins Deutsche auszusuchen. 1. Septuaginta, hebräischer Kanon, Qumran •





Der in Europa früher gebräuchlichste Text des AT geht auf die „Septuaginta“ (LXX), jene Übersetzung des AT ins Griechische zurück, die etwa aus dem 2. oder 3. Jahrhundert v. Chr. stammt, und über das ganze Mittelalter hin im christlichen Raum weitergegeben wurde. Auf sie bezieht sich durchweg die orthodoxe Kirche; sie lag auch der „Vulgata“ des Hl. Hieronymus und damit den Bibeln des abendländischen Mittelalters zugrunde. In der katholischen Kirche sind Bibelausgaben in der gestalt der LXX auch heute noch weit verbreitet. Der LXX gegenüber stehen die Texte des AT in ihrer ursprünglichen, also hebräischen Fassung, die etwa zum Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts in den „hebräischen Kanon“ (den „Tenach“1) eingebracht und über das ganze Altertum und Mittelalter hin in den jüdischen Schulen weitergegeben wurden, nur behutsam durch die „Masoreten“ revidiert. Die jüdische Tradition beschäftigte sich seit der Zeitenwende nicht mehr mit der LXX sondern nur mit den hebräischen Texten. Die Funde von Qumran (unter ihnen 31 Psalmenbücher aus der Zeit von 66/70 n.Chr.) haben eine Anzahl von Texten in der "Normalform" des hebräischen Kanons ans Licht gebracht, umfassen aber auch Ausgaben des Psalters mit ganz anderer Reihung der Texte. Sie enthalten auch einige Psalmen, die später nicht in den einige Jahrzehnte nach Qumran festgelegten hebräischen Kanon eingegangen sind. Dazu gehört insbesondere ein 151. Psalm, der später auch in die LXX, aber nicht in den hebräischen Kanon übernommen wurde. Er bringt eine „Biographie“ Davids und will damit, ähnlich wie mit einer Unterschrift, den ganzen Psalter nochmals diesem König zuschreiben.

Die Abweichungen zwischen hebräischem Kanon und LXX sind gering. Was uns heute vor allem noch auffallen kann, ist die unterschiedliche Zählung,2 etwa wenn wir etwa die Lutherbibel mit älteren Psalmbüchern der katholischen Kirche vergleichen. Im deutschen Sprachraum hat auch dieser Unterschied heute aber weitgehend an Bedeutung verloren, seit die "Einheitsübersetzung 3" zur hebräischen Zählung übergegangen ist. 1

Tora-Navi-Ketuvim. Der Psalter erscheint unter den « Ketuvim » (Schriften), doch ist das Wort "Psalter" nicht hebräisch, sondern kommt von "Psallein" (griech. für Saitenspiel) bzw. "Psalterion" (Leier/Harfe). In Hebräisch heißen die Psalmen „Tephilim“ (Preislieder) 2 Der Unterschied beruht hauptsächlich darauf, dass in der LXX Ps 9/10 und 114/115 verbunden, 116 und 147 dagegen zerteilt sind. Dadurch verschiebt sich allerdings die Numerierung der meisten Psalmen. Vergleich Hebr. / LXX:

Ps 1-9 Zählung gleich (doch wird Ps 9 aufgeteilt) Ps 10-113: hebr. Zählung geht um 1 voraus Ps 114/115 hebr = Ps 113 LXX Ps 116 hebr = Ps114/115 LXX

Ps 117-146: hebr geht um 1 voraus 147 hebr = 146/147 LXX (diese teilt 147); Deshalb Ps 148 - 150 Zählung gleich

In den älteren Sammlungen im katholischen Raum sind die hier betrachteten Psalmen Nr. 87,109 und 57. 3 Schon 1962 von der dt. kath. Kirche begonnen ("Einheit" meinte zunächst nur den ganzen deutsch-sprachigen Raum, nicht die ökumenische Dimension); seit 1967 (nach dem Vaticanum) ökumenisch fortgeführt: eine gründliche Revision der deutschen Bibel anhand der Urtexte, in neuerem Deutsch, beendet 1979 (NT) und 1980 (AT). Im französischen Sprachraum vollzog sich ähnliches mit der "Traduction Oecuménique de la Bible (TOB)" die ebenfalls der hebräischen Zählung folgt.

2

2. Übersetzungen Hier haben wir uns zu entscheiden, ob wir die Psalmen am liebsten in ihrer altvertrauten Version in Erinnerung behalten wollen, in der frühere Generationen sie kannten, oder ob wir sie lieber in modernerer Sprache neu entdecken möchten. Diese Wahl scheint mir schwieriger, als die zwischen LXX und hebräischer Version, denn Unterschiede und Auswahl sind hier viel größer. Übrigens lassen die hebräischen Texte sehr oft mehr als eine einzige Interpretationsmöglichkeit zu; deshalb enthalten viele Psalmenkommentare ihre je eigene Übersetzung. Mir scheint allerdings, dass Ausdrücke, die wirklich schwer zu verstehen sind, in den modernen Fassungen nicht durchsichtiger werden; neue Übersetzungen bringen selten dort die "Auflösung des Rätsels", wo die alten Texte dunkel sind (etwa in Ps 8 V 3). Abgesehen von allen Übersetzungsschwierigkeiten haben viele Gelehrte und Dichter versucht, den Psalmen einen neuen Klang abzugewinnen. Typische Beispiele dafür geben Martin Buber ("Das Buch der Preisungen", 1953 , eine neudeutschsprachschöpferische Übertragung) und im französischen Sprachraum André Chouraqui (eine Übersetzung ins Französische, die besonders stark auf jüdische Ausdrucksweisen und Vorstellungen zurückgreift). Auch die in unseren Brüsseler Kirchengemeinden wohl gängigsten Bibelausgaben, nämlich die Lutherbibel und die schon erwähnte "Einheitsübersetzung" weichen hier deutlich voneinander ab. Da es mir selbst weniger auf geglättete Sprache und modernes Deutsch ankommt, als auf den griffigen wenn auch manchmal kantigen Klang von früher, so möchte ich unserer Erörterung die Fassung der Lutherbibel zugrundelegen (vgl. Anl.1).

B. Erstes Beispiel: Psalm 88 1. Zur Überschrift von Psalm 88 und zum Aufbau des Psalters Bevor wir uns dem Inhalt dieses Psalm zuwenden, beschäftigen wir uns ruhig mit den "Äußerlichkeiten", mit seiner ausführlichen Überschrift, mit seiner Stellung im gesamten Psalter und mit dessen Aufbau überhaupt. Die musiktechnischen Hinweise haben für uns allerdings keine besondere Aussagekraft mehr. "Ein Psalmlied" bedeutet für den Inhalt nichts (vgl. z. B. die unentschiedene Benennung von 66 und 67 oder die "Dubletten" 14 / 53, mit identischem Text aber verschiedenen Überschriften). Auch der Vermerk "Vorzusingen" (in andren Fassungen „für den Chormeister“; dieser Vermerk erscheint 55 mal in den Psalmen) hatte schon in frühen Zeiten keine erkennbare Funktion mehr (die LXX übersetzt "Bis ans Ende"). Überhaupt wissen wir über die Musiktechnik wenig (über Melodien naturgemäß gar nichts4). Auch das häufige "Sela", (nach V.8 und 11 von Ps. 88) kann niemand mehr erklären. 4

Wo es im Luthertext heißt „zum Reigentanz im Wechsel“, bringen andere Versionen den Hinweis „nach der Weise ‚Krankheit‘“. Diese Weise (andere Weisen siehe Ps.8, 9, 22, 56, 58; die Titel sind oft recht anziehend-poetisch) ist wie alle anderen Melodien verloren. Versuche, sie aus alten manuskripten zu rekonstruieren (so z.B. Suzanne Haï k Vantoura „La Musique de la Bible révélée“ Arles 1976) führen zu umstritenen Ergebnissen. Hinweise auf Musikinstrumente sind geläufig, vgl. z.B. Ps 6, wo wohl die 8-saitige Harfe vorgesehen ist (Messiassymbol).

3

Dagegen ist der Hinweis "Ein Psalm der Korachiter" durchaus von Interesse, denn er verweist uns allgemein auf die Frage, wer die Psalmen "gedichtet" hat und wie das Buch der Psalmen überhaupt zusammengestellt worden ist. a)

Zuschreibungen

Zunächst: Wer waren die in unserem Psalm genannten "Korachiter", wer die ebenfalls in der Überschrift erwähnten Esrachiter ? Die „Söhne Korachs“ gehörten zum Stamm Levi, aus dem die Priester gewählt wurden5. Sie waren zur Zeit der Wüstenwanderung ein aufständischer Familienverband (4 Mose 16), der vernichtet wurde, aber offenbar doch nicht mit all seinen Zweigen (2 Chron.20,19). Im Kontext des Psalters hat man sich die Korachiter als Sippe mit bestimmten Berufen und Aufgaben, insbesondere als „Sängergilde“ vorzustellen (ähnlich wie die Gilde der „Asafiten“; den Korachitern werden 11, den Asafiten 12 Psalmen zugeschrieben). Der in Ps. 88 genannte Heman (wie auch der in Ps. 89 angeführte Etan) stammte offenbar aus der Familie der "Esrachiter" und diese muss als Untergruppe zu den Korachitern gehört haben (Seybold aaO S. 26). Weitaus die meisten Psalmen (73 von 150; in der LXX sogar 84 von 151) werden aber nicht einzelnen Sippen, sondern der Person Davids zugeschrieben6. Und doch sollten wir nicht davon ausgehen, dass David selbst jeden dieser Psalmen Wort für Wort ersonnen hat. Sicher können wir uns vorstellen, dass David musikalisch und dichterisch begabt, gewissermaßen ein „Minnesänger JHWHs“ war (1 Sam 16,14-23 und 2 Sam 6,12-23). Die Zuschreibungen aber sind später vorgenommen worden und wollen dem Betenden sagen, daß er sich mit dem Text in die Welt Davids versetzen und im Geiste Davids beten könne. Sie nennen David also nicht so sehr als Autor, eher als „Helden“ der angesprochenen Gebetssituationen. b)

Erkennbare Schichten

Immerhin erlauben es uns diese Zuschreibungen, zwischen einzelnen Traditionsströmen zu unterscheiden, also "Liederbücher" solcher Gruppen wie derjenigen der Korachiter oder der Asafiter auseinanderzuhalten und auch die Davidslieder als ein früher eigenständiges Buch mit Gebetsformularen im Stil und Sinn Davids zu sehen. Wenn man auf diese Schichten und Gruppeneinteilungen abstellt, so kann man sich die Entwicklung des Buchs der Psalmen etwa wie folgt erklären (vgl. Seybold, a.a.O. S.21-32, nachstehend vereinfacht, s. auch Anlage 2):

5

Levi war der Sohn Jakobs und Leas. Seine Nachkommen wurden zur "Priesterkaste"(5 Mose 10, 8 und 33,8-11) der Königszeit. Nachdem der Kult unter Josia 622 vChr. in Jerusalem zentralisiert worden war, fiel der dort ansässigen Priesterfamilie Zadok aus dem Stamm Levi ein Vorrang zu (aus den Andeutungen in 2 Kön 23,8-9 und Ez.44,10-16 zu entnehmen). Sie brachten die Opfer im Tempel dar, während die Leviten "in der Provinz" wirkten und nur mehr Hilfsdienste versahen (Ez. 44, 13). Die Unterscheidung Priester/Levit spielt z.B. in der Erzählung vom barmherzigen Samariter (Lk.10,31-32) eine Rolle. 6 Zuschreibungen an andere Einzelpersonen sind selten: sie finden sich nur in Ps 90 (Moses) und in Pss 72 und 127 (Salomo)

4



Ein Teil der insgesamt 73 Davidspsalmen findet sich als ein erstes "Liederbuch", wohl einem Grundstock des ganzen Psalters, in Pss 3 - 41. Es sind meist Lieder des Einzelnen; sie enthalten Königs-, Krankheits- und Angeklagten- oder Feindpsalmen. Viele dieser Texte wurden wohl aus dem Kult am ersten Tempel in Jerusalem gerettet und über das Exil hin bewahrt. Allerdings ist die Datierung der verschiedenen Teile des Buches der Psalmen, ganz zu schweigen von derjenigen einzelner Psalmen, sehr schwierig und deshalb auch umstritten. Einige wenige Psalmen dürften bis in die Königszeit zurückreichen, die meisten aber sind nach-exilisch.



Ein zweites Davids-Liederbuch wird durch die Psalmen 51-72 gebildet (siehe Schlusszeile von 72!). Es entstand wohl unabhängig von 3 - 41, wie die "Dubletten" 14/53 oder 40(1418)/70 anzeigen.



Dieses zweite Davidsbuch wurde dann mit dem alten (vor allem Traditionen aus dem untergegangenen Nordreich überliefernden) Liederbuch der Asafgilde kombiniert; dieses wurde den Davidspsalmen hintangestellt (Ps.73-83), nur Ps 50 wurde vorgezogen, gewissermassen um das zweite Davidsbuch mit Asaf einzurahmen.



Später wurde zwischen das erste Davidsbuch und die Kombination zweites Davidsbuch/ Asafbuch das Liederbuch der Korachgilde eingeschoben (42-49).

Ÿ

Dann wurde eine zusätzliche Redaktion in drei Schritten vorgenommen: -

-

eine "elohistische Redaktion": der Name JHWH wurde im 2. Davidsbuch und den voran und nachgestellten Korach- und Asafteilen durch Elohim ersetzt (man nennt daher die Psalmen 42 - 83 auch den „elohistischen Psalter“); an das zweite Davidsbuch/Asafbuch wurde nochmals ein Korachteil 84-89 (darin eingestreut: David 86) angehängt, darunter unser Ps.88; ein Vorspann in Gestalt von Psalm 2 wurde beigegeben.



Nach den ersten drei Büchern, also bei den Psalmen 90-150, ist der Psalter wesentlich heterogener. Die Überschriften und Zuschreibungen werden seltener (obwohl auch dort noch Davidspsalmen, z.B. 101,103,108 - 110, 138-145 auftauchen). Manche der Psalmen aus den beiden letzten Büchern lassen sich aber ihrerseits zu Gruppen zusammenfassen. Das gilt zum Beispiel für das "Liederbuch der Wallfahrer" (120-134; so die Überschriften, deutlich von einer Wallfahrt sprechen allerdings nur Ps. 121,122 und 132), oder für bestimmte Preislieder (insbesondere die „Hallel-Psalmen“, d.h. die Reihen 111-113 und 146 - 150). Zugleich finden sich dort aber auch schwer zu typisierende Einzelstücke, zum Teil von großer Pracht und Tiefe (z.B. unsere Vergänglichkeit, 90; Lobpreis der Schöpfung,104, die unsichtbare Gegenwart, 139), oder Texte die zum Teil mehr als Stilübungen erscheinen (wie das "Güldene ABC", 119, der längste Psalm; der kürzeste, 117, hat nur 2 Verse).



Schließlich wurde das Gesamtbuch mit einem Rahmen umgeben, einem "Eingangstor" (Ps 1 "wohl dem Mann, der über diese Texte nachsinnt") und einem "Ausgangstor" auf die ganze Welt hin (150:"alles was atmet").

5

c)

Fünf Bücher

Die Einteilung des Psalters in 5 (ungleich lange7) Bücher mit Schluss-Doxologien 41,14 72,19 - 89,53 - 106,48 (die Doxologie am Ende von 41,14 dürfte die ursprüngliche Fassung, die anderen dieser Schlußformel wohl nachgebildet sein) ist entwicklungsgeschichtlich jung und nicht sehr aussagekräftig. Sie entspringt nämlich einer Redaktion der nach-exilischen Zeit, welche die Parallele Pentateuch ./. Psalter herausstellen wollte (der Psalter gewissermaßen als Antwort Israels auf den Anruf Gottes im Gesetz). Eine Parallele ist so auch zwischen Moses und David gezogen. So wie man früher annahm, Moses habe weite Teile des Pentateuch selbst geschrieben, so werden hier nun 73 Psalmen dem Sängerkönig David in den Mund gelegt. d)

Weitere Psalmen in der Bibel

Wir sollten nicht vergessen, dass es im AT wesentlich mehr Psalmen gibt, als die 150 Lieder des Psalters. Abgesehen von 6 zusätzlichen Texten, die in der Psalmenrolle in Höhle 11 von Qumran gefunden worden sind (z.B. ein 151. Psalm mit einer Kurzbiographie Davids; im übrigen erscheinen dort die uns bekannten Psalmen, wenn auch in anderer Reihung) sind zu nennen die Siegeslieder nach dem Exodus, die zu den ältesten Texten der Bibel überhaupt gehören (2 Mose 15), das Debora-Lied (Ri 5), das Danklied der zunächst kinderlosen Hanna, Mutter Samuels (1 Sam 2), das große Dankgebet Davids (2 Sam 22), das Danklied des geheilten Königs Hiskia in Jes.38,9-20, die Klagelieder des Jeremias, die Lieder der Jünglinge im Feuerofen (Daniel 3,51-90) das Gebet des Jona aus dem Bauch des Fisches (Jona 2,3-10) aber auch das Magnificat Mariens und der Lobgesang des Zacharias im NT (Lk 1,47-55 und 68-79). All dies sind nur Beispiele, viele weitere Texte (z.B. aus Hiob) könnten dazugerechnet werden. 2. Zum Inhalt von Psalm 88 a)

Eine Einzelklage

Der Psalm ist eine "Einzelklage" (dazu mehr in der nachstehenden Besprechung von Ps.110). Man könnte sich vorstellen, daß der Beter an Aussatz litt, oder dass er im Gefängnis, oder sonst von allen Freunden abgeschnitten war (V. 9). Wir sollten aber nicht davon ausgehen, daß einem poetisch begabten Menschen im Leid der Text gerade so eingefallen sei, wie er jetzt vor uns steht. Der Psalter ist kein Poesiealbum, sondern Textbuch für den Tempelgottesdienst („Kulttheorie“, siehe unten C 1). Denken wir an das „Gotteslob“ der katholischen Kirche oder das Evangelische Gesangbuch: man müsste schon ein Paul Gerhardt oder ein Huib Oosterhuis sein, um dort eigene Gedanken direkt

7

Die Bücher sind nicht nach Inhalten geschieden, jedes Buch enthält Psalmen aller Gattungen. Immerhin schildert Chouraqui in der Einleitung zu seiner Psalmenübersetzung (a.a.O. S. 39 ff), dass das erste Buch vorallem die Verfolgung des Gerechten durch die Bösen zu Thema habe. Auch für die anderen Bücher arbeitet Chouraqui Hauptakzente heraus. So komme im vierten Buch mehr und mehr die Macht Gottes, im fünften dann der Gang zum Zion und der Lobpreis Gottes zum Ausdruck.

6

einzubringen. Meist finden dort wie im Psalter nur Lieder Aufnahme, die sich im Gottesdienst schon eingebürgert, haben, weil sie der ganzen Gemeinde „liegen“. b)

Kein „Stimmungsumschwung“

Etwas spekulativ und doch plausibel ist die Vermutung, dass der Beter dieses Psalms den Text seines Liedes im Tempel hinterließ und nach einer Gebetserhörung dort ein Dankopfer stiftete - und dass deshalb die Erhörung nicht im Text selbst aufscheint. Das würde erklären (und darüber hinweg trösten), daß unser Psalm so ganz ohne Auflösung ("Stimmungsumschwung" nach der "Elendsschilderung") bleibt, wie sie etwa im bekannten, in ähnlicher Verzweiflung anhebenden Sterbepsalm Jesu, Ps. 22, eintritt. c)

Der Tod als das große "Aus"?

Erschüttern kann uns gleichwohl, daß der Betende den Tod als das große Nichts sieht und vor ihm ohne irgendeine Jenseitshoffnung zittert. Machen wir uns aber klar, daß der Klagende, ganz anders als wir Heutigen, wenn wir über den "Sinn des Leids" rätseln, keinen Augenblick an seinem Glauben irre wird. Er hält ganz selbstverständlich an Gott fest, ob er nun dessen Fügung billigt, ja versteht, oder nicht. Er schreit seine Angst zu Gott hin, er gibt sie Ihm in die Hand, er hofft natürlich auf Rettung (im Diesseits). Wie wollen wir mit einem solchen Gebet heute umgehen ? •

Fast alle Ausleger halten die Fragen in den Versen 11 bis 13 für rhetorisch (die Antwort laute selbstverständlich: nein) und sehen hier noch keine Anzeichen aufkeimenden Jenseitsglaubens in Israel (wie sie sich zaghaft in Jesaja 25, 6 und 26,19, und im Buch Hiob, bes 14,13 - 15, in apokalyptischer Form in Daniel 12 und in den nachexilischen Psalmen, z.B. 49 und 738 finden). Doch kündigt Frank Crüsemann in einem neueren Aufsatz den Konsens über die herrschende Lehre auf, nach welcher der Glaube an eine Unsterblichkeit in Israel erst spät (etwa in der Folge des Makkabäer-Aufstandes von 167 v. Chr.) und nur als Einzelströmung (bei den Pharisäern, nicht den Sadduzäern) aufgekommen sei (ganz im Gegensatz zu den Anschauungen schon des ältesten Ägypten und der anderen Nachbarvölker). Gewiss lässt sich die Frageform der Verse 11 bis 13 (sie erinnert an Hiob 14,14) als vorsichtiges Ansprechen einer Möglichkeit deuten, drückt aber sicher keine Heilsgewissheit aus.



Der Psalm sieht also wahrlich düster aus, und doch zeigt er nicht den geringsten Zweifel. Auch in der furchtbarsten Angst sieht der Betende sich direkt vor Gott stehen, bereit in den unbekannten Abgrund der "Scheol" zu versinken (dieses hebräische Wort hängt mit der Wurzel "scha-al"/fragen, die große Frage, zusammen): ein unbedingter, reiner Glaube, der uns die Seelengröße der alttestamentlichen Beter vor Augen stellt. Steckt im Vergleich dazu in vielen von uns nicht immer noch ein gewisser Hintergedanke an ein "do ut des" - "ich glaube wenn und weil ich mir davon ein ewiges

8

Dagegen ist der bekannte Vers 10 des Psalms 16 (trotz Apg. 2,25 und 13,35) eher als Rettung vor dem Tod, nicht als Unsterblichkeitsgedanke zu deuten.

7

Leben verspreche"? Wenn wir uns das klar machen, dann kann uns die Kraft und Eigenart jüdischen Glaubens erst richtig deutlich werden.

C. Zweites Beispiel: Psalm 110 1. "Sitz im Leben": Zur Entstehung der einzelnen Psalmen Wenn wir vor einem zunächst schwer verständlichen Psalm wie diesem stehen, dann hilft uns ein Nachdenken über die Gattung, zu der er gehören könnte, oft erst in den Text hinein. Wir haben anhand der überschriften von Ps 88 (Abschnitt B) einen gewissen Einblick in den Aufbau des Psalters insgesamt bekommen. Aber dieser Aufbau sagt über den Inhalt des Einzelpsalms nichts aus. Klagen, Hymnen, Segenssprüche, alles kommt im Psalter in eher willkürlicher Reihung vor. Ein System, nach welchem am besten Ordnung unter die verschiedenen Psalmenarten zu bringen ist, wurde von Gunkel9 entwickelt. Danach ist neben dem Wortlaut jedes Textes (Klage, Lob, Bitte ...) die kultische Situation, in der er gesungen werden konnte, entscheidend für seine Einordnung. Diese Situationen oder Anlässe nannte Gunkel den "Sitz im Leben". Der "Sitz" in diesem Sinne ist für den Psalm 110 deutlich (Thronbesteigung) und auch für Psalm 88 leicht vorstellbar. Erinnern wir uns dazu nochmals des Psalms 88, dieser bewegenden Einzelklage. Der Mensch im Leid, der dieses Gebet sprach, trug es Gott in Gegenwart der Gemeinde oder zumindest der Priester vor. Man betete damals nicht stumm und nur in seinem Herzen (die Verse 1 Samuel 1,12-14 sind dazu aufschlussreich). Laute Klagen, mit prägnanter Formulierung ausgesprochen, gesungen, ja hinausgeschrien, fanden ihren Niederschlag in den Aufzeichnungen der Priester. Sie konnten so einem folgenden verzweifelten Beter, der vielleicht weniger beredt war, als Muster zur Verfügung gestellt und allmählich zum "Formular" für solche Anlässe werden. Beim Zusammenstellen der Textsammlungen wurden Verse geglättet, ergänzt, in gehörige Form gebracht.10 So gingen sie schließlich in die Sammlungen der Sängergilden oder in die Tempelarchive ein und fanden erst von hier ihren Weg in den Kanon. Es ist deshalb wichtig, und das stellt die sogenannt „Kulttheorie“ besonders heraus, viele der Psalmen als Elemente des Tempeldienstes im weitesten Sinn (Rechtswesen, Entscheidungen über kultische Reinheit, Fürsorge für Kranke, Abgaben, „politische“ Akte wie Orakel und Salbungen) zu begreifen, nicht als Gebete für das "stille Kämmerlein".11 Es ist andererseits aber unbestreitbar, dass auch individuelle "geistliche Lieder" in den Psalter Eingang gefunden haben, so etwa das 9

Hermann Gunkel (1862-1932) war Professor für AT in Gießen. Er gab 1917 "Ausgewählte Psalmen", dann einen Psalmenkommentar und 1927/1933 seine "Einleitung in die Psalmen" 10 Manchmal ist dabei zu beobachten, wie spätere Beter ihre "Fingerabdrücke" an einem Text hinterlassen, oder wie die Tempelautoritäten die Individualaussagen später redigiert haben. Einen solchen "Fingerabdruck" zeigt etwa Ps.104, dessen Verse 31, 33, 35, wie angehängt erscheinen. Ähnlich dürfte Vers 21 an den Psalm 51 von priesterlicher Hand als eine Korrektur angefügt worden sein, die den Gedankengang der vorhergehenden Verse geradezu umdrehen will. Ähnlich zeigen Verse 1b und 8b von Ps. 129, dass hier wohl eine Einzelklage aus dem ländlichen Raum, wie die Bilder von Pflug, Gras, Schnitter sie anklingen lassen, zum Gemeindelied umfunktioniert wurde. 11 Das geht so weit, dass sogar der so vertraute und tröstliche Psalm 23, als das Schlusswort des Angeklagten in einem Gottesgericht gelesen werden kann. Seybold (a.a.O. Seite 123) hält den gedeckten Tisch, die Salbung mit Öl und den vollen Becher für Riten der Freisprechung nach einem Gottesurteil. .

8

von Gelehrtenhand künstlich gedichtete "güldene ABC" des Psalms 119. Die "Kulttheorie" kann also Leitfaden sein, darf aber nicht starr jedem beliebigen Psalm als Erklärung übergestülpt werden. 2. Psalmengattungen Wenn wir Psalm 110 mit dem vorher betrachteten Psalm 88 vergleichen, so sind uns die Unterschiede zwischen beiden Texten, einem Königspsalm und einem Klagelied, natürlich sofort klar. Doch besteht neben diesen beiden Arten eine Reihe weiterer deutlich von einander abgegrenzter Gattungen von Psalmen. Wenn es gelingt, einen Psalm der einen oder anderen von ihnen zuzuordnen, so verdeutlicht das oft den Sinn seiner einzelnen Verse. Doch muss man zugeben, dass viele Psalmen sich nicht ohne weiteres unter eine bestimmte Kategorie bringen lassen, so dass auch in der Forschung viele Zuordnungen strittig bleiben. Im allgemeinen jedoch herrscht Einigkeit über folgende Gattungen: a)

Hymnen:

Sie bestehen meist aus einer Aufforderung zum Lob und einer Begründung desselben (imperativisch oder partizipialisch - etwa: "Lobet Gott in Seinem Heiligtum, denn ..." ./. "Lobe den Herrn meine Seele, Ihn der ...." ; so z.B. Ps 100 ./. Ps 104); eine besonders schöne Reihe findet sich am Ende des Psalters (145-150). b)

Königspsalmen

Entsprechend dem hier betrachteten Ps. 11012. c)

Klagelieder des Einzelnen

Entsprechend dem vorhin betrachteten Ps. 88; sie sind die größte Gruppe, der man etwa 35 Psalmen zurechnen kann, und d)

Klagelieder der Gemeinde

Ihren Sitz im Leben kann man sich in großen Volksklagefesten, etwa bei Krieg, Dürre oder Seuchen denken, ein typisches Beispiel ist Ps. 60. e)

Bußpsalmen

In das Umfeld der Gemeinde-Klagelieder gehören auch diejenigen Texte, welche die Kirche seit Jahrhunderten als Sondergruppe führt, nämlich die 7 „Bußpsalmen" 6, 32, 38, 51, 102, 130 und 143. 12

Zu ihnen gehören (manchmal ist die Zuordnung in der Wissenschaft freilich umstritten) die Psalmen 2, 18, 20, 21, 45, 72, 89, 101, 110, 132. In den Psalmen 46, 93 und 96 geht es um die Königsherrschaft von JHWH. In 48 und 76 wird ein alter Zionskult angesprochen, der den Tempelberg in Jerusalem als die heilige Stätte schlechthin erscheinen lässt.

9

f) Dankpsalmen des Einzelnen13 Es handelt sich um etwa 20 Lieder, die oft eine Gebetserhörung anzeigen, also gewissermaßen an die "Votivtafeln" in manchen katholischen Kirchen erinnern. Typische Beispiele sind Ps. 30 oder 66. Man kann davon ausgehen, dass im Falle einer Gebetserhörung neben das Dankopfer oder an seine Stelle das Danklied treten konnte: So ist es in Ps 40,7-8 recht klar ausgesprochen. Daraus bildeten sich wohl die meisten Dankpsalmen (oder die Psalmen mit einem "Stimmungsumschwung" in denen Klage und Dank verbunden, die Erhörung sozusagen während des Betens eingetreten ist).14 g)

Texte zum Tempelbesuch

In diese Gruppe kann man die Wallfahrtslieder (den Überschriften nach 120-134, dem Inhalt nach deutlich nur 121 und 122) und die "Torliturgie" beim Eintreffen der Pilger vor dem Tempel (Ps 24) mit dem "Beichtspiegel" (Ps 15) rechnen. h)

Geschichtspsalmen

Zu denken ist hier vor allem an die Psalmen 78, 105, 106, die G. v. Rad zum Entwurf seiner heilsgeschichtlich orientierten Theologie des AT angeregt haben, weil sie nicht nur Geschichte erzählen, sondern Gottes Plan und Seine Führung aufzeigen und preisen; i)

Lehrgedichte (Weisheitslieder)

Zu dieser Gruppe schließlich gehören das "Güldene ABC"(119) aber auch 9/10 oder 25 oder die Weisheitssprüche in Ps 127 oder 133. Während die meisten anderen Psalmen aus einem Anlass zu Klage oder Lob entstanden sind, also ihren Sitz im Leben eines Einzelnen oder der Gemeinde haben, geht es hier um dichterische (ohne persönlichen Anlass komponierte) Gebete aus der Spätzeit Israels. 3. Der "Sitz" von Psalm 110 und dessen Auslegung a)

Thronbesteigung

Der ursprüngliche "Sitz im Leben" von Psalm 110 ist eindeutig, wir dürfen ihn uns zunächst ganz historisch-konkret vorstellen. Ein Hofdichter komponiert ein Lied zur Thronbesteigung (Salbung) des Königs, ähnlich wie er ein anderes Mal ein Hochzeitslied für den König

13

Danklieder der Gemeinde scheint es dagegen nicht zu geben Manchmal ist es möglich, aus einzelnen dieser Psalmen individuelle Situationen herauszulesen, aus denen Teile von ihnen entsprungen sind (z.B.107, 23-30: die Schiffbrüchigen; 113,9: die kinderlose Frau). 14

10

schreibt (Ps 45). Die zunächst rätselhaften Worte 15 "Der HERR sprach zu meinem Herrn:..." sollen also im Munde des Sängers heißen: "So spricht JHWH zu Dir, Du neuer König Israels: Du wirst Deine Feinde bald als Fußschemel behandeln dürfen" (ein Bild, das in Herrscherbildern der Frühzeit wirklich auftaucht). Das Altorientalische dieser Vorstellung lässt viele vermuten, daß da Ideen aus einem kanaanäischen Herrscherkult und einer vorisraelitischen Zionsverehrung eingeflossen sind. Psalm 110 ist eng verwandt mit Ps. 2, wo die Salbung deutlicher angesprochen und der Herrscher, wieder altorientalisch, als Gottesohn bezeichnet wird.16 b)

Messianische Umdeutung

Der Psalm hat seinen "Sitz" jedoch im Laufe der Geschichte verändert. Königspsalmen hatten nämlich nur in der vorexilischen Zeit einen historisch-konkreten Sinn. Nach dem Exil (586-538) gab es keinen König mehr. Die Psalmen aber wurden weitergebetet. Ihre Paradigmen veränderten sich und wurden Ausdruck messianischer Hoffnung. Das davidische Königtum hatte als indirekte Gottesherrschaft in der Welt gegolten, als militärischpolitisch von JHWH eingesetzes Bollwerk für Israel, das Recht und Frieden schaffen sollte. Nach dem Exil konnte Israel nur mehr auf einen künftigen Friedensfürsten hoffen, aber dann gleich auf einen, der Priester und König in einem war. Daher der sicher nach-exilische Hinweis auf Melchisedek in 110,4. In der Davidszeit wäre kein Hofdichter auf die Idee gekommen, den König als Priester zu bezeichnen, schon weil der Tempeldienst dem Stamm Levi vorbehalten, dem Davidsstamm Juda also nicht zugänglich war (s. Fn. 5). c)

Verlagerung des Sitzes ins Neue Testament

Mit diesem neuen Sitz im Leben verwendet Jesus unseren Psalm, wenn er die Pharisäer nach dem Messias fragt17. Wie kann David (in Jesu' Vorstellung der Sänger des Psalms) sagen "Es sprach JHWH zu meinem messianischen Herrn...", wenn der Messias Davids Sohn ist ? Jesus will offenbar die Zeitlosigkeit und umfassende Größe des Messias hervorheben, während die Pharisäer sich nur einen politischen Messias (einen neuen 15

Dies ist die einzige Stelle im Psalter, an welcher die prophetische Formel "Wort (Orakel) des Herrn" gebraucht wird; eine wörtliche Übersetzung für V.1 wäre: "Spruch JHWHs an meinen Herrn:..." und ähnlich dann in V.4 "Geschworen hat JHWH" 16 Die Verse 3 und 7 von Psalm 110 sind besonders schwer verständlich. Zu Vers 3: Die 'Einheitsübersetzung' lautet abweichend von der Lutherbibel "Dein ist die Herrschaft am Tage Deiner Macht, wenn du erscheinst in heiligem Schmuck; ich habe dich gezeugt noch vor dem Morgenstern, wie den Tau in der Frühe". Deissler a.a.O. S. 438 meint, das Wort 'chelecha / Deine Macht' müsse eigentlich als "Deine Geburt" gelesen werden und kommt so auf die plausiblere Fassung: "Dein ist die Fürstenwürde seit dem Tag deiner Geburt, in heiligen Prachtgewändern bist du vom Mutterschoß an, aus dem Morgenrot kommt dir der Tau deiner Jugend". Chouraqui wiederum übersetzt ziemlich frei "Ton peuple généreux, au jour de ta vaillance, dans les magnificences du Sanctuaire, matriciel dès l'aube, est pour toi la rosée de ton enfance."

Zu Vers 7: Auch der Sinn dieses Verses ist dunkel. Überraschend ist vor allem der Wechsel des Subjekts. Weder das "Du" der Verse 3 und 4, noch etwa gar das "Er (der Herr)" der Verse 5 und 6 ist hier das Subjekt, sondern ein aus neuem Blickwinkel auftauchendes "Er": der König (so wie David auf der Flucht) trinkt vom Wasser und kann so gestärkt wieder das Haupt heben (ähnlich Ps. 27, 6). Das Wasser mag kein beliebiger Bach, sondern Wasser des Lebens, in der Wüste hervorbrechender Strom sein (nach Jesaja 35,4). 17 Mt.22,41-45; Mk.12,35-37; Lk. 20,41-44

11

David) in einer bestimmten (künftigen) Phase von Israels Geschichte vorstellen können. Damit hat Psalm 110 gewissermaßen nochmals seinen Sitz im Leben gewechselt: er wurde zum Psalm, der im NT am häufigsten zitiert ist. Die Urkirche bezog ihn selbstverständlich auf Jesus, ja dieser selbst bezeichnet sich während des Prozesses vor dem Hohenpriester als den, welcher zur Rechten Gottes sitzt (Mk.14, 62). Diese Formulierung findet sich dann mehrfach in der Apostelgeschichte (z.B. 7,56) und den Apostelbriefen (z.B. Eph 1,20 und Hebr 1,13) wieder.

D. Drittes Beispiel: Psalm 58 1.

Sind die Psalmen Gedichte ?

Bevor wir uns auf den wieder recht schwierigen Text von Ps. 58 einlassen, ein Wort zur Form der Psalmdichtungen: sind diese eigentlich Poesie? Man hielt sie früher für Prosa, bis Herder in seinem Werk "Vom Geist der ebräischen Poesie" (1782) ihre dichterische Sprache analysierte. Viele Psalmen weisen danach die Versform des "Satzreimes" (parallelismus membrorum) auf. An unserem Psalm 58 lässt sich das deutlich zeigen, wenn in V.2, 4, 5, 7 genau der gleiche Gedanke, in 6,8,9 zumindest ein ähnlicher Gedanke zweimal ausgesprochen, ein Gegenstand von zwei Seiten beleuchtet (sozusagen in "Stereo" gezeigt) wird. Während in der klassischen Antike der Rhytmus (z.B. Hexameter) und in Europa bis in die neuere Zeit der Reim den Vers bestimmte, reimt die Psalmenpoesie ganze Gedanken oder Sätze. Dabei gibt es kunstvolle Varianten, etwa die Formen Synonym Synthetisch Antithetisch Klimaktisch

(Lobe den Herrn meine Seele/was in mir ist Seinen heiligen Namen,103,1) (Lobe den Herrn meine Seele/vergiss nicht was Er dir Gutes getan);103,2 (Nähme ich Flügel der Morgenröte/oder18 bliebe am äußersten Meer). (Es erhoben Ströme, o Herr, Ströme erhoben ihre Stimme, es erhoben Ströme ihr Brausen, 93,3).

Wenn wir mit diesem Wissen nochmals auf Ps. 88 zurückschauen, finden wir auch dort viele solcher Gedankenreime (deutlich synonym etwa Verse 7, 11, 12 und 13). 2.

Der "Sitz" von Psalm 58 und dessen Auslegung

Der Psalm ist zur Gattung der Einzelklagen zu rechnen. Das ist aber in sich wieder eine breite Kategorie, die wir in konkretere Lebenssituationen auffächern können. Klagt jemand von der Ferne her oder im Tempel ? Klagt er in Krankheit oder weil er von Feinden angegriffen wird? Eine besonders wichtige Kategorie ist in diesem Rahmen das rituelle Gebet des Angeklagten, der sich einem Gottesurteil unterwerfen musste. Solche Riten kamen zum Zuge, wenn ein Rechtsstreit auf andere Weise nicht entschieden werden konnte, z.B. wenn Zeugen einander widersprachen. Spuren derartiger Urteile finden sich im ganzen AT und zum Teil noch im NT (s. Apg 1,26), auch wenn wir nicht genau wissen, wie 18

Meist wird hier "und" übersetzt, doch liegt für Israel das Meer im Westen, der Morgenröte gegenüber.

12

diese Verfahren aussahen (z.B. des Elias' Gottesurteil auf dem Karmel, 1 Kön.18). Vielleicht ging es um das Werfen oder Ziehen von Losen, s. Ps.16,5.6, oder um Opferdeutung, wie deren eine in der Erzählung von Kain und Abel anklingen mag. Fälle aus dem Zeugenrecht (5 Mose 17,6 und 19,15; Joh.8, 13.17) und Meineidsfälle (z.B. Nabots Weinberg, 1 Kön 21,10, oder "Susanna im Bade", Daniel 13) sind typische Stoffe der Bibel. Die Rolle des Prozessrechts im täglichen Leben Israels (vgl. auch Mt. 5,34 und 23,16) kann kaum überschätzt werden und war ja auch im Prozess Jesu' entscheidend (Mt.26,59-60). Kein Wunder, daß viele Psalmen also Gebetsformulare für den sind, der ein Gottesurteil über sich ergehen lassen musste. Deutlich ist das bei Ps.7. Aber auch Ps.27 scheint in diese Kategorie zu gehören (Vers 12). Ja man kann sogar Psalm 23 vor diesem Hintergrund lesen (vgl. oben Fn. 11) Nun ist allerdings Psalm 58 nicht typisch für ein solches "Formular". Da ist nicht die Rede von falschen Zeugen, wohl aber von falschen Richtern; das hebräische Wort „El“ in Vers 2 bezeichnet wörtlich die falschen Götter19, im übertragenen Sinn wohl die Mächtigen im Lande. Ihnen gegenüber beruft sich der Betende auf den wahren Gott (V.12). Man darf sich aber vorstellen, daß einer, der sich unschuldig angeklagt sieht, seine ganze Wut und Verzweiflung hinausschreit, so wie Jesus das vor dem Hohen Rat hätte tun können, oder mancher Angeklagte vor dem Volksgerichtshof der NS-Zeit, um sich auf das Urteil des echten Gottes, heute würden wir sagen: auf die Menschenrechte zu berufen. Das mag uns den Psalm vielleicht nicht sympathischer machen, aber es könnte uns die Ohren öffnen für die gerechte Empörung, die in ihm steckt. Sein erster Teil (Verse 4 -10) lautet frei zusammengefasst etwa: "Weg mit den Henkern, den Spitzeln, den Folterern, diesen Giftschlangen, die kein Beschwörer mehr in ihre Körbe zwingen kann. Weg mit den Zähnen, die nach mir schnappen. Weg damit wie mit verrinnendem Wasser, verdorrendem Gras, zerfliessenden Schnecken, wie mit Totgeburten, wie mit Dornenranken20, die der Wind fortbläst, bevor sie Wurzel schlagen können." Ein Aufschrei vor allem Volk, orientalisch heftig, aber eben doch ein vorgegebenes sprachliches Ventil für solche Situationen. 3.

Wie gehen wir mit solchen Härten im Psalter um ? a)

Wer sind die Feinde ?

Mit Vers 11 ("Wenn er die Vergeltung sieht, freut sich der Gerechte; er badet seine Füße im Blut des Frevlers") scheint wirklich die Grenze dessen überschritten, was für uns 19

Deissler a.a.O. S. 227 wie Zenger (Feindpsalmen) a.a.O. S. 88 ff (Zenger, S. 145, spricht sogar von einem "Götterkonflikt", der in Vers 12 aufgelöst werde). 20 Auch in Psalm 58 stehen die Übersetzer wieder vor großen Problemen. Beispielsweise kann das Wort "Pfeile" in Vers 8 auch als "Gras" (das verdorrt) gelesen werden. Für das von Luther gebrauchte Wort "Wachs" in Vers 9 ist den meisten Übersetzungen von der "Schnecke" die Rede, die zerfließt. Am dunkelsten ist der Sinn von Vers 10. Deissler a.a.O. weist auf die Ähnlichkeit der Worte für "Töpfe" und "Dornen" hin und übersetzt: "Ehe sie Stacheln treiben wie ein Dornstrauch, ob frisch, ob verbrannt, es wehe ihn weg!" (entspr. Zenger "Feindpsalmen")

13

Heutige noch akzeptabel ist. Diese Worte klingen, als seien wir nicht mehr in einer christlichen Welt. Wir nennen solche Sprache wohl manchmal "alttestamentarisch". Ja, Psalm 58 ist (wie 83,109, oder 137,8) ein Fluchpsalm, den Lektionare und Breviere aus dem christlichen Gebetsschatz getilgt haben. Immerhin könnte man sagen, daß es früher, als Staatsvolk und Gemeinschaft der Glaubenden noch deckungsgleich waren, noch habe angehen können, um die Vernichtung der Feinde zu bitten: die Gemeinde Gottes stand als Gruppe gegen andere Gruppen, es ging um Sein oder Nichtsein, Ich oder Du, Israel oder Amalek, JHWH oder Baal. Das mag richtig sein, greift aber doch noch zu kurz. Bedenken wir: in den ältesten Psalmen betet Israel unbekümmert gegen seine Feinde an, jubelt am Schilfmeer daß die Ägypter ertrunken sind, meint in der Saulstragödie, daß Gott dem König zürne, weil er nicht alle Gefangenen habe umbringen lassen (1 Sam 15, ein Drama von antiken Ausmaßen). In der nach-exilischen Zeit ist Israel politisch bedeutungslos, es schlägt keine Schlachten mehr. Wir sehen, daß die Psalmen dieser Zeit denn auch nicht mehr von Feinden sprechen, sondern von Gottlosen. Israel ist gespalten in die Frommen, die auch ohne König und Tempel an JHWH festhalten, und in Abtrünnige, die sich um Gesetz und Propheten nicht mehr kümmern, sondern nur mehr auf den eigenen Vorteil, auf Reichtum und Wohlleben bedacht sind. Gewiss, auch in dieser neuen Lage scheint es uns unheilvoll überzogen, im Blut der Frevler waten zu wollen. Sind wir also, selbst wenn nicht äußere Feinde sondern Verräter im Inneren verwünscht werden, nicht immer noch in „alttestamentarischer Grausamkeit“ gefangen? Sollen wir uns nicht darauf berufen, dass erst Christus dem Gesetz des Stärkeren, einem der Strickmuster der "Evolution", eine Grenze gezogen und uns geboten habe, auch unsere Feinde zu lieben, ja lieber am Kreuz unterzugehen, als zu verfluchen und zu töten? Auch das würde wieder zu kurz greifen. Gewiss predigte Jesus die Feindesliebe, aber ist seine Botschaft denn damals und heute schon angekommen? Denken wir nur an Auschwitz oder Ruanda: schlummert in den Menschen aller Zeiten nicht jene Grausamkeit, die wir unzulässig von uns wegschieben, wenn wir sie dem AT anlasten, das wenigstens noch ehrlich genug war, die eigene Grausamkeit in Rechnung zu stellen und auszusprechen? Wäre es jetzt, 2000 Jahre nach der Bergpredigt, nicht an der Zeit, einen erneuten Wandel in dem Stil unseres Betens zu vollziehen, ähnlich dem, der im alten Israel statt der äußeren Feinde die inneren Verräter anklagte, um unser Herz heute auszuschütten gegen die Finsternis in uns, die Angst, die uns Gottes Liebe immer wieder vergessen lässt, gegen unsere eingeborene Habsucht? Viele der Klagen und Feindworte in den Psalmen (etwa auch die Verse 2 und 3 des 27. Psalms) lassen sich auf diese Weise neu mit Sinn füllen: als Worte gegen unsere eigenen Versuchungen. b)

Wagen wir ein Aufbegehren?

Doch dürfen wir die Worte der Psalmen nicht nur ins Subjektive und Innerliche wenden. Daher unsere weitere Frage: Sind wir über das Unrecht in unserer Welt noch ebenso erschüttert, wie es das Alte Israel war? Zenger (Feindpsalmen S. 162) schreibt: "Nicht die Psalmen sind das Ärgernis, .. sondern die Menschen und ihre Welt..". Das auszu-

14

sprechen, ja herauszuschreien, das Ungerechte und das Böse zu benennen, dient der Eindämmung von Gewalt besser als frommes Wegschauen, Schlucken und Schweigen. Und dies zumal, da der Beter ja nicht sagt, er wolle den Frevlern die Zähne einschlagen, sondern weil er dies Seinem Gott überläßt. Gewiss ein naiver Begriff von ausgleichender Gerechtigkeit Wir haben in unserem Beten eine Dimension verloren, die wir im rechten Rahmen wieder erlernen könnten: das Klagen vor Gott. Unser Christentum hat uns zum Ertragen des Leids, zum Hinnehmen erzogen, während es doch oft ehrlicher wäre, sich auch einmal "bei Gott zu beschweren", wie es das alte Israel zu tun wagte. c)

Auf welcher Seite stehen wir?

Erst richtig verständlich aber würde ein solches Aufbegehren im Munde von Eltern im Irak oder in Tschetschenien, in Ruanda oder in Palästina, denen ein Kind getötet wurde. Deshalb sollte unsere Frage wohl auch nicht nur dahin gehen, ob wir selbst noch so anklagend beten können (wahrscheinlich nicht), sondern ob die hungernden Menschen in Afrika oder die Slumbewohner in Südamerika es können - und ob sie etwa uns Bürger reicher Industrieländer meinen, wenn sie ihr Elend einmal in solchen Gebetsworten vor Gott bringen würden. Wenn wir uns so auf die Finsternis in uns und auf das Rätsel des Leids in der Welt einlassen, dann könnten wir auch einem Fluchpsalm am Ende noch etwas abgewinnen und könnten die ersten Verse von Ps. 58 etwa in folgende Richtung verstehen: 2 Sprechen wir wirklich Recht, wir Mächtigen ? Geben wir etwas auf Teilen und Bewahren ? 3 Wie oft schalten wir im Lande nach unserem Eigennutz. Unser Herz ist verstockt, unsere Hände lassen das Unrecht immer wieder durchgehen. 4 Das steckt einfach so in uns, wir planen es nicht, doch irren wir immer wieder von Deinem Weg und verfallen in Unehrlichkeit. 7 Zerschlag' doch die Steine in unserem Herz, die Riegel vor unseren besseren Gefühlen, damit der Mensch dem Menschen endlich kein Wolf mehr sein muss. 11 In Deinem Blut getauft laß uns neue Hoffnung schöpfen: daß uns vergeben wird, wenn wir vergeben.

Hauptsächlich benutzte Quellen André CHOURAQUI, „Les Psaumes“ - Louanges, Editions du Rocher, 1996 Frank CRÜSEMANN, „Rhetorische Fragen!? Eine Aufkündigung des Konsenses über Ps. 88:11-13 und seine Bedeutung für das alttestamentliche Reden von Gott und Tod“ (in „Biblical Interpretation“. A Journal of Contemporary Approaches XI (Heft 3/4), 2003, 345-360) Frank CRÜSEMANN, Religion und Gewalt in der Bibel, in Gewalt erkennen – Gewalt überwinden, hg. v. M. Klessmann und J. Motte, foedus-Verlag 2002 Alfons DEISSLER, „Die Psalmen“, 7.Aufl. Patmos Verlag 1993 Klaus SEYBOLD, „Die Psalmen“, Eine Einführung, Kohlhammer, 2. Aufl. 1991 Claus WESTERMANN, „Ausgewählte Psalmen“ Göttingen 1984 Erich ZENGER, "Mit meinem Gott überspringe ich Mauern", Herder 8810 (1994) Erich ZENGER, "Ein Gott der Rache ? Feindpsalmen verstehen" Herder (Freiburg 1998)

15

EIN KLEINER AUSFLUG IN DIE WELT DER PSALMEN A. VORBEMERKUNG

1

1. Septuaginta, hebräischer Kanon, Qumran 2. Übersetzungen

2 3

B. ERSTES BEISPIEL: PSALM 88

3

1. Zur Überschrift von Psalm 88 und zum Aufbau des Psalters a) Zuschreibungen b) Erkennbare Schichten c) Fünf Bücher d) Weitere Psalmen in der Bibel

3 4 4 6 6

2. Zum Inhalt von Psalm 88 a) Eine Einzelklage b) Kein „Stimmungsumschwung“ c) Der Tod als das große "Aus"?

6 6 7 7

C. ZWEITES BEISPIEL: PSALM 110

8

1. "SITZ IM LEBEN": ZUR ENTSTEHUNG DER EINZELNEN PSALMEN

8

2. Psalmengattungen a) Hymnen: b) Königspsalmen c) Klagelieder des Einzelnen d) Klagelieder der Gemeinde e) Bußpsalmen f) Dankpsalmen des Einzelnen g) Texte zum Tempelbesuch h) Geschichtspsalmen i) Lehrgedichte (Weisheitslieder)

9 9 9 9 9 9 10 10 10 10

3. Der "Sitz" von Psalm 110 und dessen Auslegung a) Thronbesteigung b) Messianische Umdeutung c) Verlagerung des Sitzes ins Neue Testament

10 10 11 11

D. DRITTES BEISPIEL: PSALM 58

12

1. 2. 3.

12 12 13 13 14 15

a) b) c)

Sind die Psalmen Gedichte ? Der "Sitz" von Psalm 58 und dessen Auslegung Wie gehen wir mit solchen Härten im Psalter um ? Wer sind die Feinde ? Wagen wir ein Aufbegehren ? Auf welcher Seite stehen wir ?

QUELLEN INHALTSÜBERSICHT ANLAGE 1: TEXTE DER PSALMEN 88, 110 UND 58 ANLAGE 2: ZUM AUFBAU DES PSALTERS (NACH SEYBOLD)

15 16 17 18

17

Anlage 1: Texte Ps. 88,110,58

Gebet in großer Verlassenheit und Todesnähe [88.1] EIN PSALMLIED DER SÖHNE KORACH, VORZUSINGEN, ZUM REIGENTANZ IM WECHSEL, EINE UNTERWEISUNG HEMANS, DES ESRACHITERS. [2] HERR, Gott, mein Heiland, ich schreie Tag und Nacht vor dir. [3] Laß mein Gebet vor dich kommen, neige deine Ohren zu meinem Schreien. [4] Denn meine Seele ist übervoll an Leiden, und mein Leben ist nahe dem Tode. [5] Ich bin denen gleich geachtet, die in die Grube fahren, ich bin wie ein Mann, der keine Kraft mehr hat. [6] Ich liege unter den Toten verlassen, wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen, derer du nicht mehr gedenkst und die von deiner Hand geschieden sind. [7] Du hast mich hinunter in die Grube gelegt, in die Finsternis und in die Tiefe. [8] Dein Grimm drückt mich nieder, du bedrängst mich mit allen deinen Fluten. SELA. [9] Meine Freunde hast du mir entfremdet, du hast mich ihnen zum Abscheu gemacht. Ich liege gefangen und kann nicht heraus, [10]mein Auge sehnt sich aus dem Elend. HERR, ich rufe zu dir täglich; ich breite meine Hände aus zu dir. [11] Wirst du an den Toten Wunder tun, oder werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken? SELA. [12] Wird man im Grabe erzählen deine Güte und deine Treue bei den Toten? [13] Werden denn deine Wunder in der Finsternis erkannt oder deine Gerechtigkeit im Lande des Vergessens? [14] Aber ich schreie zu dir, HERR, und mein Gebet kommt frühe vor dich: [15] Warum verstößt du, HERR, meine Seele und verbirgst dein Antlitz vor mir? [16] Ich bin elend und dem Tode nahe von Jugend auf; ich erleide deine Schrecken, daß ich fast verzage. [17] Dein Grimm geht über mich, deine Schrecken vernichten mich. [18] Sie umgeben mich täglich wie Fluten und umringen mich allzumal. [19] Meine Freunde und Nächsten hast du mir entfremdet, und meine Verwandten hältst du fern von mir.

Der ewige König und Priester [110.1] EIN PSALM DAVIDS. Der HERR sprach zu meinem Herrn: "Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße mache." [2] Der HERR wird das Zepter deiner Macht ausstrecken aus Zion. Herrsche mitten unter deinen Feinden! [3] Wenn du dein Heer aufbietest, wird dir dein Volk willig folgen in heiligem Schmuck. Deine Söhne werden dir geboren wie der Tau aus der Morgenröte. [4] Der HERR hat geschworen, und es wird ihn nicht gereuen: "Du bist ein Priester ewiglich nach der Weise Melchisedeks." [5] Der Herr zu deiner Rechten wird zerschmettern die Könige am Tage seines Zorns. [6] Er wird richten unter den Heiden, wird viele erschlagen, wird Häupter zerschmettern auf weitem Gefilde. [7] Er wird trinken vom Bach auf dem Wege, darum wird er das Haupt emporheben.

Gott ist noch Richter auf Erden [58.1] EIN GÜLDENS KLEINOD DAVIDS, VORZUSINGEN, NACH DER WEISE "VERTILGE NICHT". [2] Sprecht ihr in Wahrheit Recht, ihr Mächtigen? Richtet ihr in Gerechtigkeit die Menschenkinder? [3] Nein, mutwillig tut ihr Unrecht im Lande, und eure Hände treiben Frevel. [4] Die Gottlosen sind abtrünnig vom Mutterschoß an, die Lügner gehen irre von Mutterleib an. [5] Sie sind voller Gift wie eine giftige Schlange, wie eine taube Otter, die ihr Ohr verschließt, [6] daß sie nicht höre die Stimme des Zauberers, des Beschwörers, der gut beschwören kann. [7] Gott, zerbrich ihnen die Zähne im Maul, zerschlage, HERR, das Gebiß der jungen Löwen! [8] Sie werden vergehen wie Wasser, das verrinnt. Zielen sie mit ihren Pfeilen, so werden sie ihnen zerbrechen. [9] Sie gehen dahin, wie Wachs zerfließt, wie eine Fehlgeburt, die die Sonne nicht sieht. [10] Ehe eure Töpfe das Dornfeuer spüren, reißt alles der brennende Zorn hinweg. [11] Der Gerechte wird sich freuen, wenn er solche Vergeltung sieht, und wird seine Füße baden in des Gottlosen Blut; [12] und die Leute werden sagen: Ja, der Gerechte empfängt seine Frucht, ja, Gott ist noch Richter auf Erden.

18

Anlage 2: Aufbau des Psalters (nach Seybold, a.a.O. S. 28) siehe auch http://userpage.fu-berlin.de/~pmartins/psalmen.pdf

19