Abirede 2016 „Ein kleiner Schubs in die Welt“ (Ulla Rellecke und Christhard Löber)

Liebe Abiturientinnen und liebe Abiturienten, Wir haben die große Ehre, heute diese Rede für euch zu halten. Eine Ehre ist es, da ihr für uns ein ganz besonderer, ein äußerst origineller Jahrgang seid. Wir betonen das, denn Originalität ist im Zeitalter der Reproduzierbarkeit von allem und jedem scheinbar nicht mehr so gefragt. Das sieht man beispielsweise auch in der Filmbranche… Wenn es eines ist, was uns die Filmindustrie in den letzten Jahren deutlich gemacht hat, dann, dass Remakes eigentlich immer Mist sind. Und erschreckenderweise sind es scheinbar gerade diese Remakes, die momentan das Filmgeschäft bestimmen. Das schlimmste Beispiel war ja gerade Star Wars VII. Irgendwie hat man sich doch auch auf etwas Neues gefreut. Stattdessen bekommen wir exakt die gleichen Planeten mit exakt den gleichen Außerirdischen präsentiert, die exakt die gleichen Probleme verursachen. Und als wäre das noch nicht schlimm genug: Wir werden mit einem „neuen“ Todesstern abgespeist, der nur „vieeeeel größer“ ist, aber die gleichen Konstruktionsfehler enthält wie der alte aus Star Wars VI. Das misslungenste Beispiel für ein Remake war allerdings „Der Hobbit“. Hier hatte der Regisseur offenbar die Vorgabe: Mach alles nochmal, was beim Herrn der Ringe gut geklappt hat. Der Oberzwerg muss aussehen wie Aragorn. Legolas hat nach dem Herrn der Ringe offenbar einen Anschlussvertrag erhalten, bevor irgendwem aufgefallen ist, dass er im Hobbit eigentlich gar nicht mitspielen dürfte. Egal, er wird mit einer abstrusen Liebesgeschichte und einer feschen Skater-Szene eingebaut. Und weil der Herr der Ringe als Dreiteiler recht gut geklappt hat, wird der Hobbit auch zum Dreiteiler gedehnt

1

und gestreckt, was dann auch nur durch völlig sinnentleerte und einschläfernde Kampf- und Actionszenen gelingt. Das alles zeigt, dass es geradezu symptomatisch ist, dass auf Originalität heutzutage wenig Wert gelegt wird. Da sind wir heilfroh, dass wir nicht in der Filmbranche arbeiten, sondern das Glück und die Freude haben, jeden Tag etwas Neues mit absoluten Originalen, mit Menschen wie euch zu erleben.

Ihr seid eben nicht re-produziert, ihr seid zum Glück einzigartig. Wir können das beurteilen, denn wir kennen die meisten von euch schon aus dem Unterricht in der Mittelstufe und einige sogar schon seit der 5. Klasse. Auch waren wir das Klassenleitungsteam der legendären K1 und mit eurem ganzen Jahrgang zusammen 2011 im Harz. Erinnert ihr euch noch? Es gab jede Menge Schnee und Sonne, jeden Morgen begeisterte Gesichter im Frühstücksraum bei der Ankündigung der – gefühlt – 800 Kilometer langen Tagestouren, tolle Sportturniere

(die

alle

die

Lehrermannschaften

gewannen!),

einen

unvergesslichen „Bunten Abend“ mit hochkarätigen Sketch-, Tanz- und Gesangseinlagen und als Höhepunkt Disco mit „DJ Ronny“! Herrlich! Und am Abreisetag saßen einige von euch schon um halb sieben auf gepackten Koffern, andere standen noch bis kurz vor Abfahrt knietief in ihrem Chaos aus Chipstüten und feucht gewordenem Getränkepulver, das sich in den Jugendherbergsboden geätzt hatte und noch heute in der Wolfsburger Hütte als einmaliges Gesamtkunstwerk zu bestaunen ist. Auch für uns Lehrkräfte ein Fest! Und es hörte ja nicht auf…

Euer Jahrgang ist so einzigartig, dass wir es sicherlich nicht noch einmal erleben werden, dass irgendwelche Schüler ERNSTHAFT auf die Idee kommen, auf dem

2

Schulhof in dem nagelneuen Pavillon auf den Holztischen mit einem Einmalgrill – ohne Untergestell - zu grillen und den Pavillon dabei fast abfackeln. Wir glauben auch, es wird nie wieder solche Originale wie euch geben, die sich eine perfekt ausgestattete Teeküche mit Toaster, Wasserkocher und Playstation im Videoschrank des Sek-I-Aufenthaltsraumes einrichten und nur deshalb aufgeflogen sind, weil der Schulleiter (leider) einer Gruppe Ehemaliger stolz diesen tollen Raum präsentieren wollte. (Mensch, hättet ihr nicht eure Essensreste damals besser verstecken können?). Aber auch was die Herzlichkeit betrifft, seid ihr unübertroffen, wenn man z.B. an den wunderbaren Abschiedsfilm für Herrn Freese denkt, in dem ihr liebevoll und witzig seine Biographie erfunden habt. Was für ein Geschenk! Ihr wart einfach unvergleichlich und das blieb auch so. Denn kaum waren die Untiefen der Pubertät durchschifft, wart ihr auch schon in der Oberstufe und wir durften eine ganze Reihe von euch dann im Kurssystem unterrichten. Hier zeigte sich schnell, dass aus den oft gedankenlosen Pubertanden differenzierende, nachdenkliche, ideenreiche und engagierte Menschen geworden waren, deren Intellekt sich mehr und mehr entfaltete. Ich glaube, ich werde nie wieder einen Kurs haben, der mit 100%iger Sicherheit am Ende der Stunde über alles Mögliche diskutierte, nur nicht über das, was ich eigentlich vorgehabt hatte – aber dabei immerhin so bedeutende Denker wie Kant, Kierkegaard und Nietzsche widerlegte.. - oder alternativ in etwas anderer Zusammensetzung einmal pro Stunde über Indiana Jones und die Bundeslade zu diskutieren. Leider hatte bisher auch kein Jahrgang vor euch so viel Pech mit einzigartig dämlich gestellten und z.T. fehlerhaften Zentralabiklausuren. Das habt ihr nicht verdient. Ihr könnt uns glauben, dass wir Lehrkräfte wirklich mit euch mitgelitten haben. Tja, Originalität war in diesem Fall fehl am Platze.

3

Das krönende Finale eures unvergleichlichen Jahrgangs durften wir dann aber letzte Woche beim Abischerz erleben. Eine tolle Stimmung, total lustige Aktionen und eine brillante Idee, den Abischerz als GNTM aufzuziehen. Das gab es noch nie und war alles andere als ein Remake - auch wenn ich finde, dass ich hätte gewinnen müssen ...

Nimmt man all diese Erlebnisse zusammen, kann man also sagen, wir kennen euch gut und haben euch in eurer Einzigartigkeit schätzen gelernt. Und nun sollen wir euch gehen lassen, was uns – so müssen wir einräumen – schwerfällt und leicht zugleich. Schwer, weil unser Herz an euch hängt und wir euch haben groß und klug werden sehen. Und deshalb fällt es uns andererseits auch leicht, euch ziehen zu lassen, denn wir sind dankbar dafür und stolz darauf, dies alles mit euch durchgestanden zu haben und euch heute nun in eurer ganzen Schönheit vor uns sitzen zu sehen, am Tag eures bisher größten Triumphes – der Verleihung des Reifezeugnisses. Für manche von euch war es ein steiler Weg hierher, ein ungeheurer Kraftakt nahezu sisyphosischen Ausmaßes. Aber letztlich habt ihr den Stein auf den Berg gewuchtet und dort vertäut, er droht euch nun nicht mehr wieder hinabzurollen. Doch lässt sich das nicht für alle Mitglieder eures Jahrgangs sagen, einige haben es nicht bis zum Gipfel geschafft – aus den unterschiedlichsten Gründen. Auch zu ihnen wenden sich heute unsere Gedanken und wir wünschen ihnen von Herzen, dass sie einen neuen Anlauf nehmen und ihr Glück finden können. Denn auch das Scheitern will gelernt sein und ist ein großer Lehrmeister für uns alle. Daran möchten wir euch erinnern, gerade heute, am Tag eures Triumphes. Denn da draußen im Leben kommen auch andere Tage und nicht alles wird euch gelingen. Manches wird schiefgehen, in der Ausbildung, im Job, beim Kochen oder in der Liebe. Doch kein Grund sich zu fürchten! Im Gegenteil, es gibt große Vorbilder im Scheitern.

4

Der irische Nobelpreisträger Samuel Beckett beispielsweise sagte: „Einmal versuchen, scheitern. Wieder versuchen, wieder scheitern. Besser scheitern.“ Der größte Meister des Scheiterns ist ganz sicher Donald Duck, denn alles, was er anpackt, geht schief. Hat er dann mal ein wenig Glück, zerrinnt es ihm schnell zwischen den Schwimmhäuten. Und doch ist er ein Könner in der Kunst, wieder aufzustehen. Daher spricht man auch vom „Donald-Duck-Prinzip“. In einem Buch mit ebendiesem Titel heißt es: „Wenn eine Ameise scheitert, ist sie tot. Wir Menschen haben demgegenüber die Chance, hinzufallen und wieder aufzustehen, die Chancen, die im Scheitern liegen zu nutzen, neue ungeahnte Stärken zu entwickeln, uns neu zu erfinden. (…) Die Erfolgreichen bewundern wir, aber in denen, die scheitern, erkennen wir uns wieder. Was wäre eine Welt voller Sieger?“

Meist stehen nur die Begabten und Erfolgreichen im Rampenlicht. Niemand erwähnt die Gescheiterten. Und erst recht keiner lobhudelt mal das Mittelmaß. Warum nicht? Weil viele es mit „Mittelmäßigkeit“ verwechseln. Falsch! Der Journalist Markus Reiter erläutert in seinem Buch „Lob des Mittelmaßes“ den Unterschied:

„Mittelmäßigkeit

bedeutet,

aus

Mangel

an

Mut

und

Entschlossenheit unter unseren Möglichkeiten zu bleiben. (…) Dagegen muss sich niemand seines Mittelmaßes schämen, weil es – schon aus statistischen Gründen – immer eines geben wird.“ Nehmen wir euren Abiturjahrgang: 66% von euch haben keine eins vor dem Komma. 66 Prozent!!! Und wer spricht über euch, ihr Zehn-Punkte-Heldinnen, ihr Sieben-Punkte- Eroberer? All ihr Fünf-Punkte-Bezwinger? Niemand! Denn im Blickpunkt stehen meist nur die schillernden Helden, so wie im „Herrn der Ringe“ Aragorn, Arwen, Legolas und Galadriel etc. Zweifelsohne leisten sie Großes, aber nicht minder Großes leisten die scheinbar mittelmäßigen, die

5

„kleinen Leute“: die Hobbits. Die Hobbits sind zu Beginn alles andere als Helden. Sie sind kleine, gemütliche Persönchen, die nicht von zu Hause wegwollen. Aber diese Persönchen gestalten ebenfalls die Welt und sind immens wichtig, weil sie ungeahnte

Stärken haben und über sich selbst

hinauswachsen. Wir finden, dass diese Botschaft Tolkiens auch eine wichtige Botschaft für unsere heutige Zeit ist: Die Welt sollte auch die kleinen Leute in den Blick nehmen, die die Welt im Innersten zusammenhalten. So wie viele von euch es auch tun.

Schillernde Helden und Heldinnen gibt es auch in eurem Jahrgang, die großartige Taten vollbracht haben, die wir bewundern und auf die ihr wirklich stolz sein könnt. Aber viele von euch haben eben auch ungeahnte oder unbekannte Talente, die in unserer Leistungsgesellschaft oft übersehen werden. Astrid Lindgrens Pipi Langstrumpf bringt es auf den Punkt: „Vielleicht sollte man manchmal einfach das tun, was uns glücklich macht, und nicht das, was vielleicht am besten ist.“ Dafür braucht es Einfallsreichtum und Esprit, Menschenfreundlichkeit und auch eine widerständige, anarchistische Komponente. Arme Pipi, in unserer Fixierung auf Leistung, Effizienz und Profit würde bei ihr vermutlich heutzutage ADHS diagnostiziert werden und eine Super-Nanny würde sie auf der stillen Treppe zu Tode pädagogisieren. Aber was wäre unsere Welt ohne Pipis und Michels? Wir haben viele Pipis und Michels unter euch kennengelernt, Querdenker und Freigeister mit enorm großer emotionaler Intelligenz. Diese ist – zum Glück – nicht messbar, nicht in Zensuren darstellbar. Sie wird aber oft wenig beachtet, wenn sie nicht einhergeht mit einem überdurchschnittlichen Maß an kognitiver

6

Intelligenz. Soziale Kompetenz gilt in unserer Gesellschaft oft viel zu wenig, ebenso wie das Leistungsmittelmaß. Was ein Fehler ist.

In dem eben zitierten Buch „Lob des Mittelmaßes“ heißt es entsprechend, dass 60 Prozent mittelmäßige Abiturienten für eine Gesellschaft und Volkswirtschaft ungeheuer viel wert sind. Daher ist es uns ein Anliegen, auch einmal diejenigen in den Fokus zu nehmen, denen das Lernen nicht so leicht fällt und die in unserem Schulsystem kämpfen müssen, um es zu meistern, weil ihre Begabungen in diesem System eben oft übersehen werden. Und deshalb ist es wichtig, unser Bildungssystem so offen wie möglich zu gestalten. Bei der Überfrachtung der Lehrpläne wird oft vergessen, dass nicht das Faktenwissen und abprüfbare Leistungen das wichtigste an Schule sind, sondern dass Schule heute vor allem die wichtige Aufgabe hat, den Schülerinnen und Schülern das selbstständige Denken zu ermöglichen. Aber was genau bedeutet das?

Der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace hat 2005 eine vielbeachtete Rede vor dem Abschlussjahrgang des Kenyon College gehalten, aus der wir gern zitieren möchten, was er zum Thema „Das Denken lernen“ gesagt hat: „Ich glaube, (…) >> das Denken zu lernen