Direkte aktive Sterbehilfe Professor Dr. theol. Reiner Marquard, Evangelische Hochschule Freiburg

Johann Peter Hebel, dessen 250. Geburtstag wir in diesem Jahr gedenken, schrieb 1813 in einer seiner Kalendergeschichten nachdenklich von einer besonderen Zeiterfahrung: „Man achtet’s just nicht groß, wie immer einer geht, und einer kommt, bis man sich zuletzt unter ganz andern Leuten befindet, als im Anfang. Nicht anders als auf einem Jahrmarkt; den ganzen Tag ist der Platz voll Menschen, absonderlich vor dem Stand des Zweibatzenkrämers, oder des Bildermanns, oder wo der Kalender verkauft wird, aber nachmittags sind wieder ganz andere Leute da als vormittags, und niemand hat gemerkt, dass die ersten fortgegangen, und die andern gekommen sind. Also auch auf dem großen Jahrmarkt der Welt und des Lebens. Alle Jahre gehet etwas, und etwas kommt, … ja, man sollte nicht vergessen, dass man auf der großen Scheibe selber immer weiter hinausrücket an den Rand, weil auf der andern Seite immer neue nachrücken, die auch wollen Platz haben.“1 Hebel schildert eine ausgewogene Demographie. Die Subjekte auf der Scheibe verbindet eine unausgesprochene Konvention. Einvernehmlich ist das Kommen und Gehen. Und wer geht, weiß um seine Nachkommenschaft. Das macht ihm das Gehen womöglich leichter oder eben gerade deswegen schwerer. In jedem Fall ist sein Gehen nicht überschattet von Einsamkeit. Hebels Zeiterfahrung ist heute irgendwie auf den Kopf gestellt. Das Bild von der Hebel’schen Scheibe nimmt bedenklich kontrafaktische Züge an. Zahllose ältere Menschen kreisen - mehr und mehr und doch allein - am Rand der Lebensscheibe. Sie warten darauf, erlöst zu werden durch einen gnädigen Tod. Der aber stellt sich nicht ein wie erwartet, weil eine komplexe Medikamentierung dafür sorgt, dass man zwar mit mehrfachen chronischen Erkrankungen alt und lebenssatt geworden ist, aber deswegen noch länger nicht sterben kann. Der Fortschritt der (Intensiv-) Medizin wird als Indikator für Heilung gerne in Anspruch genommen, symptomatische Übertherapie im Sterbeprozess jedoch nicht. Der Wandel der Lebens- und Wertvorstellungen (Individualisierung, Säkularisierung, Autonomie als Entscheidungs- und Handlungsautonomie, absolute Selbstverfügung über das eigene Leben) verändert unser Verhältnis zur Medizin. Fragen der Sterbehilfe und Sterbebegleitung stellen sich heute auch unter medizinischen Aspekten mit anderer Dringlichkeit, weil sich das Sterben unter den Erfolgen und Bedingungen der (Intensiv-)Medizin einschneidend verändert hat. Das Sterben vollzieht sich langsamer und es vollzieht sich multifaktoriell (Demenz, Multimorbidität, chronische Verläufe). „Darf ich – so fragte Walter Jens im Vollbesitz seiner geistigen Kraft 1994 – nach einem selbstbestimmten Leben nicht auch einen selbstbestimmten Tod haben, statt als ein dem Gespött preisgegebenes Etwas zu sterben, das nur von fernher an mich erinnert? Und dieses letzte Bild wird bleiben und überdauert, für die Nachfahren, auf lange Zeit die Impressionen aus Tagen, da ich ein ‚Ich’ und kein ‚Es’, ein denkendes Wesen und kein zuckendes Muskelpaket war, kein Drahtmensch, sondern ein Wesen, dessen Stolz vielleicht in seiner Schwäche bestand – aber einer bedachten und eingestandenen Schwäche.“2 Eine Person, die nicht als Bewusstsein existiert und sich nicht als solche erfasst, wäre demzufolge kein ‚jemand’, sondern ein ‚etwas’. Indem sie ein ‚etwas’ ist, ist ihre bloße Zugehörigkeit zur species ‚Mensch’ kein

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Johann Peter Hebel: Poetische Werke, München 1978, 336f. Podiumsdiskussion mit Albin Eser, Walter Jens, Hans Küng, Dietrich Niethammer. – In: Walter Jens / Hans Küng: Menschenwürdig sterben. Ein Plädoyer für Selbstverantwortung, München/Zürich 21995, 196. 2

2 hinreichender Grund zu existieren! Jens denkt den Gedanken bis zum bitteren Ende: „Eins bittet, eins gewährt; eins braucht Hilfe, eins hilft.“3 Jüngere erblicken im Schicksal der Alten sorgenvoll etwas von ihrer eigenen Zukunft. Unter bestimmten Bedingungen macht das Verweilen auf der Lebensscheibe weder Freude noch Sinn. Die Aussicht, statistisch auch unter die Knute einer dementiellen Erkrankung zu geraten, verdüstert die Perspektive erheblich. Wer den Schaden hat, hat den Spott gratis dazu. Übeltäter liegen auf der Lauer nach älterenen Menschen, denen sie Gewinn-Auszahlungen von bis zu 30.000 € zusichern für den Fall einer Überweisung von 50 €. Das mir vorliegende Briefschreiben ist wie zur Verhöhnung des hilflosen Adressaten mit dem Namen „Hubert Einfalt“ unterzeichnet worden. Wie sehr darf man sich auf die Einfalt immer noch mehr alt gewordener Menschen verlassen, dass man es sich erlauben kann, derartig menschenverachtende kriminelle Energien zu entwickeln?! Zu Hebels Zeiten gab es noch keine Demoskopie. Heute schon. 58 % sind laut Allensbach für aktive Sterbehilfe bei schwerer Erkrankung4. Direkte aktive Sterbehilfe bedeutet, dass das Leben eines Patienten durch einen aktiven, nicht einer Behandlung dienenden Eingriff (z.B. bewusste Überdosierung von Medikamenten oder Giftgabe) gezielt verkürzt wird, um weiteres Leiden zu ersparen. Die gezielte Tötung eines Patienten durch einen nicht einer kurativen oder palliativen Behandlung dienenden Eingriff ist strafbar (als – allerdings milder bestraftes - Tötungsdelikt nach §§ 212, 216 StGB). Auch der Patient mit klarem Bewusstsein hat kein ‚Recht’ auf Tötung durch eine Ärztin/einen Arzt oder eine/n Pflegende/n, er kann ethisch gesehen einen Dritten nicht zu dieser Verantwortungsübernahme zwingen. Das Zauberwort heißt Selbstbestimmung. Es wird momentan vor allem im Zusammenhang der Patientenverfügung als Kennwort gebraucht. Der Rechtsphilosoph, Staats- und Verwaltungsrechtler Horst Dreier meint, dass „die Rechtsordnung im Allgemeinen und die Grundrechte im Besonderen … dem Einzelnen … (zutrauen), seine Freiheit eigenverantwortlich zu nutzen.“5 Dreier kann deshalb zwar im Selbstbestimmungsrecht ein Spannungsverhältnis zum Fürsorgewillen Dritter zugestehen, doch kann das Selbstbestimmungsrecht „nicht in ein Spannungsverhältnis zum eigenen Lebensrecht (geraten).“6 Eine grundrechtliche Schutzpflicht wäre in ihr Gegenteil verkehrt, „wenn sie zu dem Zweck mobilisiert, den subjektiven Willen des einzelnen Grundrechtsträgers zu überspielen.“7 Der subjektive Wille hätte demzufolge auch dann zu gelten, wenn eine aktuelle Willenserklärung nicht (mehr) möglich ist, aber eine Verfügung vorab erlassen worden ist. „(E)ine bessere Alternative ist (hier) nicht in Sicht.“8 Ansonsten müssten Dritte die Verfügung ignorieren und an deren Stelle eigene Überzeugungen treten lassen.9 Sein Resümee: Wer die Last der Verantwortung zur Abfassung einer Patientenverfügung trägt, „darf Respekt für seine überlegte und verantwortungsbewusste Entscheidung verlangen und hat infolgedessen einen auch und gerade durch die Grundrechte verbürgten Anspruch, dass der in der Patientenverfügung fixierte Wille befolgt wird.“10 „Die aktuellen normativen Debatten um Sterbehilfe lassen sich in drei Kontroversen unterteilen: a) in die um die

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A.a.O., 197. epd-Wochenspiegel 2008/33, 11. 5 Horst Dreier: Die Freiheit des Andershandelnden. – In: F.A.Z. Nr. 203 vom 30. August 2008, S. 8. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Dreier geht so weit, die Idee eines beratenden Konzils abzulehnen. 10 Ebd. 4

3 genauen Kriterien eines Behandlungsverzichts, b) in die um die grundsätzliche ethische Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe und c) in die um die Zulässigkeit ärztlicher Suizidhilfe.“11 Anders als in europäischen Nachbarländern (z. B. Holland, Belgien) wird diese Debatte im Kontext von Notständen (und nicht für den Regelfall!) diskutiert. Der gewohnheitsrechtlich anerkannte ‚übergesetzliche Notstand’ fand 1969 Eingang in das Strafgesetzbuch. Es gibt den ‚rechtfertigenden’ und den ‚entschuldigenden’ Notstand. Eine im Hinblick auf den ‚entschuldigenden’ Notstand ausgeführte Tat bleibt nach wie vor rechtswidrig. In beiden Fällen bleibt die Tat straflos, wenn nur durch ihre Durchführung eine gegenwärtige Gefahr für Leben und Leib sowie andere Rechtsgüter abgewendet werden konnte. Kann der Staat - gerade weil die Geltung genereller Regeln nicht in Zweifel steht - eine Einzelfallgerechtigkeit zulassen? „Eine Möglichkeit wäre die, dass man zwar am Schuldspruch festhält, aber in solchen Fällen von Strafe absieht.“12 Albin Eser schlägt eine Ergänzung des §216 StGB vor: „(2) Das Gericht kann unter den Voraussetzungen des Abs.1 von Strafe absehen, wenn die Tötung der Beendigung eines schwersten, vom Betroffenen nicht mehr zu ertragenden Leidenszustandes dient, der nicht durch andere Maßnahmen behoben oder gelindert werden kann.“13 Im Juli 2006 hatte der Nationale Ethikrat in einer Stellungnahme unter dem Titel „Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende“ geäußert14. Die Stellungnahme spiegelt die Einschätzung wider, dass deskriptive und präskriptive Ethikansätze geradezu unversöhnlich in Konkurrenz zueinander stehen: Zwar spricht sich der überwiegende Teil dieses Gremiums gegen die Zulassung des ärztlich assistierten Suizids und gegen die Etablierung der organisierten Beihilfe zum Suizid aus; aber ein anderer Teil des Gremiums bejaht solche Entwicklungen und stellt damit den in Deutschland bestehenden Konsens über das ärztliche Ethos in Frage. So plädierte z.B. Bettina Schöne-Seifert (Mitglied des Nationalen Ethikrates [20012008]) dafür, aktive Euthanasie oder assistierten Suizid bei schwersten und unstillbarem Leiden bei einer terminalen Erkrankung ermöglichen zu können15. Worauf jedoch basiert eine solche Gestattung? Wenn der Selbstbestimmungsgedanke Pate stand, steht er doch auch dort Pate, wo es sich nicht um terminale (infauste) Erkrankungen handelt, sondern um sicherlich dramatische, aber eben nicht lebenslimitierte Frühstadien von z.B. Demenz oder onkologischen Erkrankungen. Unrühmliches Beispiel einer solchen Entwicklung stellt der Fall des ehemaligen Hamburger Justizsenators Roger Kusch dar, der eine 79jährige Würzburgerin in ihren Suizid ‚begleitete’: Bettina Schardt – so Kusch wenige Tage nach ihrem Tod - sei am 28. Juni 2008 freiwillig aus dem Leben geschieden, indem sie nach ärztlicher Anweisung zwei selbst besorgte Medikamente zu sich genommen habe. Kusch war bereits vorher durch die Präsentation eines von ihm konstruierten Injektionsapparates unangenehm aufgefallen. Dieser Apparat sei jedoch im vorliegenden Todesfall nicht eingesetzt worden, um die Anonymität des Arztes zu schützen, der dazu die Kanülen hätte setzen müssen. Kusch hat einen sog. Sterbehilfe-Verein gegründet, der die Geltung des Selbstbestimmungsrechts „bis zum letzten Atemzug“ rigoros auch unter

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Bettina Schöne-Seifert: Grundlagen der Medizinethik, Stuttgart 2007, 128f. Vgl. auch Reiner Marquard: Ethik in der Medizin, Stuttgart 2007, 116. 12 Albin Eser: Möglichkeiten und Grenzen der Sterbehilfe aus der Sicht eines Juristen. – In: Walter Jens / Hans Küng: Menschenwürdig sterben. Ein Plädoyer für Selbstverantwortung, München/Zürich 21995, 176. 13 A.a.O.: 180. 14 Vgl. Nationaler Ethikrat (2006). 15 Bettina Schöne-Seifert: Grundlagen der Medizinethik, Stuttgart 2007, 128f. Vgl. auch Reiner Marquard: Ethik in der Medizin, Stuttgart 2007, 182 (dort Verweis auf Albin Eser: Möglichkeiten und Grenzen der Sterbehilfe aus Sicht eines Juristen. – In: Walter Jens/Hans Küng: Menschenwürdig sterben. Ein Plädoyer für Selbstverantwortung, München/Zürich 21995).

4 Einsatz seines ‚Todesautomaten’ vertritt16. Die darauf einsetzende politische Debatte lehnte das Ansinnen Kuschs entschieden als unethisch ab. Kusch instrumentalisierte ein individuelles Schicksal, indem er es mit einer bedrohlichen Generalisierung verband. Individuelle Not wird zur Metapher allgemeiner Notlagen. Nicht das Sterben wird damit von Kusch ökonomisiert, sondern das Leben: Leben gerät unter Zugzwang, nicht in Notlagen geraten zu dürfen. Autonomie wird zum Gesetz, zur Keule, die sich gegen jene richtet, die immer noch weiter leben (und sterben) möchten, auch wenn sie die von Kusch gesetzte Hürde der Selbstbestimmung unterschreiten. Entwaffnend naiv hatte Kusch an Bettina Schardt gerühmt, dass sie reich, resolut, entscheidungsfroh und selbstbestimmt gewesen sei17. Wenn man die Begriffe umdreht, wissen jene Bescheid, deren Zeit gekommen ist, gehen zu müssen: die Armen, Schwachen und Hinfälligen. Mittlerweile hat das Hamburger Verwaltungsgericht der Hamburger Polizei zugebilligt, die Sterbehilfeaktivitäten Kuschs bundesweit und allgemein zu verbieten, da „Kuschs Tun sowohl die öffentliche Sicherheit gefährdet als auch ‚allgemein anerkannten moralischen und sittlichen Wertvorstellungen’ widerstreitet und mithin keinen nennenswerten rechtlichen Schutz genießt18. Die Richter verwarfen Kuschs Sterbehilfeaktivitäten als „sozial unwertig“ (analog zur Kommerzialisierung gewisser Formen der Sexualität)19. Missbrauch spricht nicht gegen den Brauch: Es geht um eine seriöse Debatte um angemessene Formen der Sedierung. Sedierung am Lebensende wird in Kliniken und Pflegeheimen zunehmend eingesetzt, um Patienten schmerz- und symptomkontrolliert in den Tod gleiten zu lassen. In der Güterabwegung im Dilemma zwischen unerträglichen Schmerzzuständen und der Möglichkeit zu bewusster Kommunikation wird die Beendigung der rational gesteuerten Kommunikation in kauf genommen. Das ethische Problem der finalen Sedierung muss sich abgrenzen lassen zur Tötung auf Verlangen (in Deutschland nach § 216 StGB strafrechtlich verboten) und zum assistierten Suizid. Deshalb wurden im Jahr 2009 von der EAPC Rahmenkriterien vorgelegt, deren deutsche Fassung 2010 veröffentlicht wurde20. Dazu kamen 2010 Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft ‚Ethik am Lebensende’ (AEM)21. Die AEM nennt zwei Sedierungsstufen22. Stufe I: reversibel (der Patient gelangt wieder zum Bewusstsein) und Stufe II: irreversibel (die Sedierung ist andauernd bis zum Eintritt des Todes). In Stufe II wird auf lebenserhaltende oder –verlängernde Maßnahmen verzichtet. Der Sterbeprozess wird nicht aufgehalten23. Eine kontinuierliche tiefe Sedierung24 sollte dann in 16

Vgl. epd-Wochenspiegel 27/2008, S.11. Vgl. Frank Schirrmacher: Roger Kuschs Appell zum süßen und ehrenvollen Tod. – In: F.A.Z. Nr. 160 vom 11. Juli 2008, S. 33. 18 VG Hamburg, 8 E 3301/08. 19 Oliver Tolmein: Polizeilich verboten. Ein bemerkenswertes Urteil gegen Roger Kusch. – In: F.A.Z. Nr. 33 vom 9. Februar 2009, S. 33. 20 Sedierung in der Palliativmedizin – Leitlinie für den Einsatz sedierender Maßnahmen in der Pallativversorgung. European Association for Palliative Care (EAPC) Recommended Framework for the Use of Sedation in Palliative Care. – In: Z Pallativmed 2010/11, 112-122 (=EAPC). 21 Sedierung am Lebensende. Empfehlungen der AG Ethik am Lebensende in der Akademie für Ethik in der Medizin. – In: EthikMed 2010/22, 139-147 (=AEM); vgl. dazu Hartmut Kreß: Sterbehilfe in Form der Sedierung am Lebensende. Aktuelle medizinethische Empfehlungen und weiter Diskussionsbedarf. – In: Bundesgesundheitsbl 2010/53, 939-942. 22 Die EAPC nennt als diverse Situationen, in denen die Sedierung im palliativmedizinischen Behandlungsumfeld eingesetzt werden kann: 1. kurzfristige Sedierung für belastende Behandlungen, 2. Sedierung zur Behandlung von Brandverletzungen, 3. Sedierung in der Entwöhnung von Beatmung am Lebensende, 4. Sedierung zur Behandlung anderweitig therapierefraktärer Symptome, 5. Sedierung in Notfallsituationen, 6. zwischenzeitliche Sedierung zur Erholung von belastenden Situationen (respite sedation), 7. Sedierung bei psychischen und existentiellen Krisen. 23 Zu Behandlungsstandards (Sorgfalt, umsichtiges Vorgehen und klinische Erfahrung) vgl. EAPC. 17

5 Betracht gezogen werden, wenn sich der Patient in der allerletzten Lebensphase befindet mit einer erwarteten Prognose von Stunden, höchstens wenigen Tagen (EAPC)25. Die Abgrenzung der Sedierung am Lebensende von der Tötung auf Verlangen und dem asstistierten Suizid liegt im jeweilig intendierten Handlungsziel der Maßnahme. Bei der Sedierung am Lebensende dürfe dies „nur eine Linderung der Symptome, nicht aber eine Beschleunigung des Sterbens“ (AEM, 141) sein. Die Sedierung komme überhaupt nur infrage bei therapieresistenten körperlichen Symptomen (z.B. extreme, nicht linderbare Schmerzzustände, schwere Atemnot, Übelkeit), u.U. auch psychiatrische oder psychische Symptome (Unruhezustände, Delir, existentielles Leid). Ist eine Sedierung am Lebensende jeweils ultima ratio, „nachdem alle sonstigen Maßnahmen ausgeschöpft sind und lebenserhaltende Therapien nicht mehr möglich beziehungsweise nicht mehr indiziert sind, weil sie das Leiden und Sterben des Patienten nur verlängern würden“26, oder ist sie eine „wichtige und notwendige Behandlungsoption“ (EAPC, 112) der Sterbebegleitung? In jedem Fall ist ihr ‚Therapieziel’ „Linderung des Leidens“27. Explizit äußert sich die BÄK nicht zur Sedierung am Lebensende (diese Option wurde 2004 noch nicht öffentlich diskutiert), fordert aber eine „Änderung des Therapieziels“, wenn kurative Maßnahme das Leiden nurmehr verlängern würden und die Änderung des Therapieziels dem Willen des Patienten entspricht. Die berechtigte Frage ist, ob in diesem Fall noch von Therapie (als Heilverfahren) gesprochen werden sollte, oder - wie Hartmut Kreß vorschlägt - von ‚Behandlung’ (a.a.O., 940). Die Sedierung kommt ja gerade dann in Betracht, wenn Therapieresistenz bzw. eine therapierefaktäre28 (d.h. durch Heilbehandlung unbeeinflussbare) Symptome vorliegen. Eine Grenzverletzung (Missbrauch) der Sedierung liegt dann vor, wenn ein Behandler in Todesnähe mit dem Primärziel behandelt, den Tod beschleunigen zu wollen (EAPC). Eine solche Grenzverletzung wird als ‚slow euthansia’ (langsame aktive Sterbehilfe) bezeichnet. Eine Grenzverletzung liegt auch dann vor, wenn die Sedierung instrumentalisiert wird für ein „überzogenes Bedürfnis nach prinzipieller Leidfreiheit des Sterbeprozesses“ (Hartmut Kreß) und die Last des Sterbens einseitig den Ärzten und Pflegenden oder Angehörigen übertragen wird. Die AEM warnt davor, dass sogar „ein vermeintlicher Rechtsanpruch erhoben (wird), in suizidaler Absicht unter Sedierung die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit einstellen zu können“29. Terminale Sedierung kann zum einen der Todesleugnung und -verdrängung dienen, sie kann aber auch eine Hilfe sein, den Weg zum eigenen Sterben bewusst zu betreten. 24

Eine kontinulierliche und tiefe Sedierung sollte nach EAPC von vornherein angestrebt werden, wenn das Leiden des Patienten ausgeprägt ist, die Beschwerden eindeutig refraktär auf andere Vorgehensweisen reagiert haben, das Versterben unmittelbar (Stunden, wenige Tage) bevorsteht, der Patient dieses Vorgehen explizit wünscht (die EAPC nennt zahlreiche etablierte Kriterien, die der Wahrung des Willens des Patienten zugute kommen sollen). Das Verfahren sollte auch eingesetzt werden in einer Extremsituation am Lebensende (z.B. massive Blutung oder Asphyxie [Atemdepression und- stillstand]). 25 Die AEM thematisiert in ihren Empfehlungen die Beachtung psychosozialer und zwischenmenschlicher Aspekte bei der Sedierungsentscheidung wie beim Sedierungsvorgang. Handelt es sich nicht um eine Extremsituation sollen die Angehörigen frühzeitig mit einbezogen werden. Im Wissen darum, dass nach der Sedierung eine Kommunikation nicht mehr möglich ist, sollte ein „vorverlegter Abschied“ (Hartmut Kreß) ermöglicht werden. 26 Hartmut Kreß: Sterbehilfe in Form der Sedierung am Lebensende. Aktuelle medizinethische Empfehlungen und weiter Diskussionsbedarf. – In: Bundesgesundheitsbl 2010/53, 939-942, 940. 27 Vgl. auch Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. – In: Deutsches Ärzteblatt 2004/101, A 1298-A 1299 (= BÄK). 28 „Palliative Sedierung kann indiziert sein in Situationen unerträglicher Belastung durch psychische Symptome, wenn keine Methode der Palliation innerhalb des akzeptablen Zeitrahmens und ohne unzumutbare Nebenwirkungen zur Verfügung steht (Therapierefraktärität)“ (EAPC). Die EAPC führt unter den psychischen Symptomen auf: depressive Zustände, Angst, Demoralisation oder existentielle Not. 29 Die ‚Exit’-Präsidentin Saskia Frei sagte gegenüber der Wochenzeitschrift „DIE ZEIT“: „Man kann natürlich überlegen, ob künftig generell Menschen im fortgeschrittenen Alter bestimmen können, ob sie ihr Leben beenden wollen“ (epd-Wochenspiegel 2010/35, 25).

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Das Patientenverfügungsgesetz vom 1.9.2009 sichert das Grundrecht des Einzelnen auf Selbstbestimmung am Lebensende durch das Recht auf weit reichende Vorausverfügungen (Behandlungsbegrenzung, Unterlassen von Weiterbehandlung, Nichtaufnahme zusätzlicher medizinischer Interventionen, persönliche Bevollmächtigung). Wer jedoch nur auf die Karte der Selbstbestimmung setzt, unterschätzt jene Lebens- und Sterbekultur, in der es elementar um den Beziehungsreichtum menschlicher Nähe geht. Hilfsbedürftigkeit bedeutet leben in einer unfreiwilligen Asymmetrie30. Aber dem Kranken verbleibt auch in der Asymmetrie seines Leidens Autonomie: Das Sinnwissen überlagert das Faktenwissen und schafft demgegenüber neue Sprachfähigkeit. Das Selbst bleibt selbst bestimmt, wo es sich einwilligend auf Nähe und Pflege einlässt. Wer umgekehrt nur auf die Karte der Fürsorge setzt, unterschätzt die Würde eines selbst bestimmten Lebens und Sterbens. Auch wer schwer krank ist, bleibt Subjekt seiner Lebens- und Sterbegeschichte. Der jeweils andere Aspekt bewahrt die eigene Sicht vor dem Extrem. Das Selbstbestimmungs-Paradigma führt ohne das Fürsorge-Paradigma in blanken Individualismus und beschädigt den Gedanken der Sozialität des Lebens. Sein ist jedoch Mit-Sein. Umgekehrt aber würde eine nur fürsorgliche Sicht auf das Leben zu einer entmündigenden, paternalistischen Sicht des Individuums führen. Mit-Sein basiert jedoch auf Sein! Die christlichen Kirchen müssen aber unter den Bedingungen der Moderne in der Lage sein, diesen Gedanken in Koalition mit dem Gedanken der Selbstbestimmung neu zu bestimmen. Hospizarbeit heißt, ein Versprechen zu halten, als Selbst dem Anderen ein Anderer zu sein auch und gerade im Sterben. Die doppelte gattungswesentliche Grundbestimmung von Selbständigkeit und Bezogenheit auf anderes Leben darf gerade in der Palliative-Care-Ethik nicht einseitig zugunsten der Autonomie durchbrochen werden, um sich von der Last des Versprechens billig zu befreien. Direkte aktive Sterbehilfe ist deshalb kein wirkliches Konzept regelhafter Sterbekultur, sondern eine lediglich subjektive (aber in keinem Fall objektive) Reduktion menschlicher Möglichkeiten auf das Vorenthalten von Treue. Palliative-Care-Ethik ist in diesem Sinne ein Parameter für Ethik überhaupt. An der Art und Weise der Kultur des Sterbens lässt sich die Kultur des guten Lebens einer Gesellschaft abschauen. Wir haben mit Johann Peter Hebel eröffnet, mit ihm wollen wir auch schließen. In seine nachdenkliche Meditation über das Kommen und Gehen auf der Scheibe des Lebens fügt er zum Jahreswechsel 1812/1813 einen geradezu geistlichen Gedanken ein, der das Kommen und Gehen in einen anrührenden Zusammenhalt stellt: „Wenn man das am 31. Dezember 1812 oder auch heute schon bedenkt, sollte man sich fast entschließen, den Leuten, mit denen man zu leben hat, im neuen Jahr viel Liebe und Freude zu beweisen, weil man nicht wissen kann, wie lange sie einem noch Zeit dazu belassen.“31 Hebel meint die Gehenden. Indem die noch Verweilenden und schon Gehenden einander liebevoll wahrnehmen, eröffnet sich für das, was Leben genannt zu werden verdient, eine Definition, die über die Person und die Personen hinausweist. Die zwischenmenschliche Liebe verweist als Ressource auf die Quelle des Lebens, die die Liebe selbst ist. Der Schatz der Religion erweist sich darin, dass uns ein ewig reicher Gott barmherzig birgt. Das ist direkte aktive Sterbehilfe!

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In einem sog. ‚Ergänzenden Votum’ zur Stellungnahme des Nationalen Ethikrates über „Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende“ wurde beklagt, dass die Stellungnahme des Ethikrates mehrheitlich ein Menschenbild befürwortet, „das einseitig an den Idealen von Selbstbestimmung, Autonomie und Unabhängigkeit ausgerichtet ist. Die Achtung vor der Selbstbestimmung Schwerkranker und Sterbender ist ohne Zweifel ein Grundgebot des ärztlichen Ethos“ (Ergänzendes Votum [Anton Losinger, Peter Radtke, Eberhard Schockenhoff]. – In: Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende. Stellungnahme Nationaler Ethikrat, Berlin, 2006, 57f.). 31 Johann Peter Hebel: Poetische Werke, München 1978, 337.