Die Theorie der Novelle. von Rafael Koskimies

Die Theorie der Novelle von Rafael Koskimies Die Praxis der Kritik, sowohl der Tageskritik als auch der eigentlichen literarhistorischen Kritik, beru...
Author: Insa Jaeger
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Die Theorie der Novelle von Rafael Koskimies

Die Praxis der Kritik, sowohl der Tageskritik als auch der eigentlichen literarhistorischen Kritik, beruht naturlich zum Teil auf der Theorie, der Poetik. Das kann man fast taglich in den Kritiken von Romanen, Gedichtbiichern, Novellensammlungen und Schauspielen beobachten. Es ist ja recht gewohnlich, dass ein Kritiker von Novellen seinem Leser zu verstehen gibt, wann seiner Meinung nach der Schriftsteller die richtige, wirkliche, regelmassige und tra­ ditionelle Novellenform und -struktur sowie den richtigen Novellenstil getroffen hat. E r ist im allgemeinen sehr geneigt, auf den Unterschied hinzuweisen, der sich zwischen der eigentlichen, sozusagen klassischen Novelle einerseits und der Erzahlung, dem Augenblicksbild, der Anekdote, der Sage, der Geschichte u. dgl. andererseits feststellen lasst. E r hat, falls er auch nur ein wenig als Sachverstandiger fiir die Literaturgattungen auftritt, immer ein Fingerspitzengefiihl fiir die Mannigfaltigkeit der kurzen Erzåhlform, fiir ihre Unterschiedlichkeit, fiir ihren nahezu unbegrenzten Spielraum. Wenn aber irgendeine kleine Erzahlung, die er gelesen hat, seinem Urteil nach dem Typ der Novelle entspricht, erwahnt er das gewohnlich als Anerkennung und Lob. Aus dieser immer noch deutlich sichtbaren Einstellung kann man wohl ohne weiteres schliessen, dass die Theorie der Literaturgattungen weiterhin die Urteile und Auffassungen beeinflusst, dass sie wenigstens als Grundstromung unter ihnen verlåuft, vielleicht meist unsichtbar, aber dennoch gut erkennbar. Im Lauf der Zeiten, der Jahrhunderte, gehen die theoretischen Erorterungen der Asthetiker und Schriftsteller in dieser Stromung mit, zuweilen starker die Richtung bestimmend, als man es hic et nunc im Gedachtnis hat und beriicksichtigt. Es ist angebracht festzustellen, dass gerade die Novellisten seit dem Mittelalter und der Renaissance intensiv an diesen Erorterungen teilgenommen haben und dass unter ihnen auch heute noch recht oft versucht wird, Linien und Grenzen zur Klarstellung jener wirklichen Novellenform abzustecken. Der Anteil der Schriftsteller an der Diskussion beschrankt sich naturlich in erster Linie auf

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den Teil der Theorie, fiir den wir vielleicht am liebsten die Benennung Technik gebrauchen. Als Vertreter der Praxis sind sie hauptsachlich daran interessiert, wie man schreiben soli, welche Mittel bei der schopferischen Arbeit angewandt werden, welches die »Berufsgeheimnisse« sind. Oft aber nahert sich auch alles als technisch zu Bezeichnende so offensichtlich der eigentlichen Theorie, der wissenschaftiichen Poetik, dass es nicht ganz leicht und auch nicht immer notig ist, die beiden Gebiete voneinander zu trennen. In den folgenden theoretischen Ausblicken ist diese Trennung wenigstens nicht bis zum aussersten durchgeflihrt, sondern Technik und Theorie treten oft parallel auf, indem die Gesichtspunkte der Praxis eine Stiitze fiir die Feststellungen der Wissenschaft mit ihrem Definitionscharakter bieten und umgekehrt. I.

Wir beginnen mit einem rein theoretischen Gesichtspunkt, also mit einem solchen, der in der »Technik« nicht von nennenswerter Bedeutung ist, kurz gesagt mit dem »idealen« Erzåhler. Fiir die Theorie ist es klar, dass jede Erziihlung - sei sie nun eine kurze Novelle oder ein riesenhafter Rom an - in hohem Mass dadurch Charakter und Stil erhalt, wer das oder die erzahlenden Subjekte sind. In friiheren Zeiten, vor dem Durchbruch des Realismus und N a­ turalismus, gehorte ein solches »Ich« oder »Wir« fast ohne vveiteres dazu. Als man danach sowohl in der Praxis als in der Theorie unbedingte Objektivitat zu fordern begann (und ans Dram a erinnerndes Sichfreimachen vom Ich des Erzahlers), wurde es auch in der Asthetik und besonders in der praktischen Kritik beinahe ein Axiom, das man, um kiinstlerischen Anforderungen zu entsprechen, jenes »Ich« oder »Wir«, das sich in den alteren Erzahlungen und Romanen so deutlich ausgebreitet, das erlautert, gelenkt, beurteilt, zuweilen auch geschwatzt hatte, unterdriicken oder sogar vollig beseitigen sollte. Das erschien vielen Kritikern schon als einigermassen klar, aber was geschah? In den als umwalzend anerkannten experimentierenden oder wenigstens hochst mo­ dernen und modernistischen Romanen eines Marcel Proust, André Gide, Tho­ mas Mann und James Joyce schnellte das Ich des Erzahlers in verschiedenen Gestalten wieder hervor, wie Tauben oder Eier aus dem Zylinder des Zauberkiinstlers. Wir bemerken das - um Werke zu nennen, die auch den finnischen Lesern bekannt sind, in Manns Josephroman oder »Doktor Faustus«. Es lassen sich auch verschiedene Stufen in der Anwendung des Erzahler-Ich feststellen: ihr Extrem erreicht sie dann, wenn das ideale (fiktive) Ich dem wirklichen, biographischen Ich des Schriftstellers sich nahert, mit anderen Worten, wenn gerade z. B. Thomas M ann selbst in der Erzahlung das Wort

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ergreift. A ber zu diesem Mittel nimmt man doch verhåltnismåssig selten seine Zuflucht und auch dann nur wie im Voriibergehen, denn meistens ist das Ich irgendeine zum Them a selbst gehorende Person, die also am Lauf der Ereignisse teilnimmt oder wenigstens dem Erzåhlten nicht sehr fernsteht, auch wenn sie als Aussenstehender zu bezeichnen ist. Das Einfachste und in der alten Rom ankunst Haufigste ist unbestreitbar, dass der Schriftsteller den »Originaltext« irgendeines anderen wiederholt (in Gestalt einer Obersetzung, Bearbeitung, Reinschrift, usw.); so verhalt es sich ja bei »Don Quijote«, den Cervantes als spanische Ubersetzung eines arabischen Originalwerkes des M auren Cid Hamete Benengeli darstellt. M an kennt auch durch zahlreiche Beispiele jene uralten Chroniken, mittelalterlichen oder sonstigen Handschriften oder Archivschatze, nach denen der Romanschriftsteller oder Novellist als eine A rt blosser Schreiber seine angeblich unselbstandige Erzahlung verfasst. Oder der Erzahler hat einen wunderlichen weisen Alten getroffen, dessen fliissige Erzåhlfertigkeit ihm die fertigen Motive in die H and gibt. Dies alles gehorte seinerzeit zu den Koventionen der Erzahlkunst, und wir haben Grund, uns auch daran zu erinnern, dass diese Gewohnheiten und Mittel auch in der heutigen Literatur ståndig erneuert werden. Die grosse Novellentradition hat ebenfalls diese Gewohnheiten, mit denen der charakteristische ideale oder fiktive Erzahler von Novellensammlungen entstanden ist. Boccaccio gibt in seinem »Decamerone« das erste ganz klare und literarisch hochstehende Beispiel dafur. Ihm stand ein reichhaltiges und buntes M aterial zur Verfiigung, eine A rt von Rohstofflager, in dem man, wie die Forschung erwiesen hat, nicht nur Gaben der europaischen Anek­ doten- und Geschichtenliteratur antrifft (Gesta Rom anorum , fabliau usw.), sondern auch - teils durch diese vermittelt, teils unmittelbar erhalten - alten indischen und vorderasiatischen Erzahlstoff. Aber Boccaccio schuf die neuzeitliche, wirklich kiinstlerische Novelle, in der der Stoff weniger bedeutete als die Form und der Geist. In ganz entscheidender und vorbildlicher Weise schuf er zugleich den idealen Erzahler der Novellensammlung. Dessen typisches und augenf alliges Wesen zeigt sich darin, dass er pluralisch auf tritt, mit anderen Worten, in Gestalt jener allen bekannten Gesellschaft junger florentinischer Damen und Herren, die aus der pestverseuchten Stadt in eine landliche Villa flieht und dort die Zeit der zwangsweisen Absonderung damit verbringt, dass jeder der Reihe nach eine der in die Rahmenerzahlung eingefiigten, gesonderten Novellen erzahlt. Die Rahmenerzahlung hat seither ihre bekannte wichtige Rolle in all der Novellenkunst gespielt, die man mit gutem Grund klassisch im weiten Sinne des Wortes nennen kann. Der eigentliche

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Kern und Sinn der Rahmenerzahlung ist denn auch meines Erachtens gerade darin enthalten, dass es mehrere Erzåhler gibt, was jedoch durchaus keine unbedingt feststehende Tatsache ist, denn angefangen mit den orientalischen M archenerzåhlern und mit Scheherazade kann sich dieser ideale Erzåhler auch als eine einzige Person zeigen. Fiir die Pluralitat spricht aber andererseits der Umstand, dass, wie es in den Marchen aus »Tausendundeiner Nacht« der Fall ist, zu dem Zyklus von Erzahlungen neben dem einen Erzåhler scheinbar auch andere, sozusagen konzentrische Erzåhler gehoren, also eine A rt von Hilfserzahlern, auf die sich der Rahmenerzahler beruft, wenn er jene von uns als konzentrisch bezeichneten M archen ausspinnt. Die Ursituation der Novellenform ist also in einer vielkopfigen Gesellschaft zu Hause, und das bedeutet das Vorhandensein einerseits einer verfeinerten Gesellschaftskultur, andererseits einer A rt von irdischer und weltlicher Vorurteilslosigkeit. Boccaccios Erzahlergesellschaft bietet auch hierfur ein moglichts anschauliches Beispiel: in den Novellen des »Decamerone« sieht man ja sowohl eine verfeinerte aristokratische Kultur (»Hofkultur«) als eine bis zur Burleske und Frivolitat reichende weltmånnische Freisinnigkeit in den Schilderungen der sinnlichen Liebe. Rahmenerzahlung und vielkopfige Erzahlerschaft sind seit den Tagen des Realismus sicherlich bei den meisten Novellensammlungen weggeblieben, aber das bedeutet nicht, dass das ideale Erzahlerkollektiv ganz verschwunden und nicht mehr fiihlbar wåre. W irkonnen fast jede beliebige kiinstlerische Novellensammlung nehmen und darin miihelos feststellen, dass nicht bloss eine einzige Erzahlerstimme zu horen ist, sondern dass der Ton der Erzahlungen of fenbar wechselt. Die Schriftsteller haben auch ohne historische Vorbilder die Bedeutung der Anderung des Gesichtswinkels instinktiv begriffen und deshalb gleichsam mehreren fiktiven Erzahlern das W ort erteilt, ohne das allerdings geradezu mitzuteilen. So verhalt es sich auch bei solchen Novellisten, die — wie bei uns in Finnland M aria Jotuni - deutlich nach der Aufrechterhaltung einer einheitlichen Stimmung streben; auch sie wechseln die »Stimme«, wenngleich dahinter beinahe durchweg das individuelle, einheitliche Lebensgefuhl des Verfassers und seine Lebensanschauung fiihlbar sind. Der Klarheit halber muss gesagt werden, dass der Wechsel des Gesichts­ winkels auch fiir Romane grossen Stils charakteristisch ist, einerlei um was fiir Arten von Rom anen es sich handelt. In einem streng konzentrierten, novellenartigen Rom an ist dieser Umstand nicht ebenso auffallend wie in umfangreichen Kompositionen. Cid Hamete Benengeli ist nicht die einzige E r­ zahlerstimme im »Don Quijote«. Die Anwendung von Zwischenerzahlungen,

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Tagebiichern, Briefen, Nebenepisoden in Romanen riihrt im Grunde gerade und ausschliesslich daher, dass der Erzahler gewechselt werden soli, und zwar nicht allein der wirkliche oder angenommene, sondern auch der ideale und fiktive. In der W eltliteratur gibt es wenigstens ein ausserst sprechendes Beispiel dafiir, wie die Grenzen des grossen Romanbaus und des umfangreichen Novellenzyklus einander beriihren, ja fast verschmelzen: Ich meine Goethes »Wilhelm Meisters W anderjahre«. Ein ahnliches Sichnahern oder Zusammenfallen der Grenzen sieht man auch im »Tristram Shandy« von Laurence Sterne. Und in William Faulkners »Wildpalmen« gliedert sich der Rom an in zwei voneinander ganz getrennte Erzahlungen, zwischen denen nur der Zusammenhang eines ideellen Gegensatzes besteht. Die Verschiebung des Gesichtswinkels, die also durch Abwechslung der Erzahler geschieht, lasst sich im Grunde wohl nicht aus einer uberlegten Technik erklaren, sondern von Anfang an haben die Schriftsteller es nur vermeiden wollen, ihre Leser (oder Zuhorer) zu langweilen, und sie wollen es nach wie vor; wenn man immer auf demselben Pfad geht, wird die Landschaft bald eintonig, und darum muss von Zeit zu Zeit eine neue Richtung eingeschlagen, ein neuer Aufbruch geinacht werden. Der Erzahler bezweckt ja weder die Erziehung noch die Belehrung der Leser, sondern ihre Unterhaltung, mit an­ deren Worten, die Aufrechterhaltung ihres Zuhorerinteresses. M it einem Wort, er wirbt um die Gunst seiner Zuhorer —wenn ihm das misslingt, sind seine Anstrengungen vergeblich gewesen, und er bleibt ohne Zuhorer bzw. Leser. Also scheinen eine Novellensammlung, die auf die eine oder andere Weise als organische Ganzheit entstanden ist, wofUr das »Decamerone« vielleicht immer noch das anschaulichste Beispiel abgibt, und ein grosser Rom anorganismus die gemeinsame Eigenschaft zu haben, dass ihr Erzahler in erster Linie als Erzahlerkollektiv zu denken ist. Andererseits kann man jedoch mit guten Grunden behaupten, dass Novellen und Erzahlungen im allgemeinen einzeln entstehen, ohne verbindenden Faden, ohne organische Zusammengehorigkeit. Der Novellist, etwa Heinrich von Kleist oder Juhani Aho oder M aria Jotuni, schreibt dann und wann eine fertige, geschlossene Erzahlung, wenn die Inspiration es verlangt, und veroffentlicht sie vielleicht, wie ein Lyriker seine Gedichte, zuerst einzeln in Zeitungen oder Zeitschriften. Beim Schleifen der einzelnen Perlen denkt er nicht an das kunftige Buch, in dem die E r­ zahlungen seinerzeit gesammelt werden, wie Perlen zu einer Kette. Ausserlich gesehen stimmt das naturlich. Aber auf der anderen Seite, kann ein wirklicher Kiinstler iiberhaupt etwas schaffen, was ausserhalb seiner Personlichkeit und seiner Erlebniswelt stande? Erlaubt ihm sein Geschmack und sein

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kiinstlerisches Gewissen die mechanische Ruckkehr zu immer dem gleichen Schema, dem gleichen Gesichtswinkel, dem gleichen Stil? So verhålt es sich w°hl kaum, wenn wir auch zugeben, dass ein M aupassant oder ein Tschechov, also einer von den wirklich grossen Meistern der Novelle, sich in seinen kleinen Schopfungen von Zeit zu Zeit wiederholt. Das hat jedoch seine Grenzen. Gewissermassen wiederholen sich ja auch die Erzåhler des »Decamerone«: sie sind ja nur zehn, auf jeden von ihnen entfallen zehn Novellen, und der Schriftsteller hat jeden von ihnen auch dem von ihm Erzåhlten sein personliches Gepråge geben lassen. So verteilt sich das Erzåhlerkollektiv der Novellen von Juhani Aho oder M aria Jotuni auf verschiedene ideale Erzåhlersubjekte: bei Aho bietet jemand dem Leser eine lyrisch gefårbte Erinnerungsskizze an, ein anderer eine reine rhytmische Dichtung, ein dritter eine streng komprimierte wirkliche Novelle, ein vierter ein humoristisches Charakterbild, und in den Sammlungen von M aria Jotuni bringt ein Erzåhler ein fast abstraktes GedankenbruchstUck, ein anderer ein dichtes, aus der Nåhe gesehenes Bild kleinbiirgerlichen Lebens, ein dritter ein erotisches Leidenschaftsdrama, ein vierter ein scherzhaftes Fragment, das die ungenierte Art von Menschen aus dem einfachen Volk, Dinge der Liebe und Ehe zu behandeln, zum Gegenstand hat. M einer Ansicht nach hatte jeder beliebige neuzeitliche Novellist recht leicht seiner Sammlung eine Rahmenerzåhlung geben konnen, wo der ideale Erzåhler, das Erzåhlerkollektiv, kernig und anschaulich skizziert wiirde. M au­ passant tut das noch zuweilen (in »Contes de la Bécasse«), und bei uns in Finnland tut es z. B. Eino Leino in seiner Sammlung »Nuori nainen« (Die junge Dame). Manchmal wird dadurch wirklich etwas gewonnen - denken wir an die typische Stellung der Gesichtswinkel in Leinos Buch - , aber diesen Gewinn hat man in der neuen Literatur vermutlich im allgemeinen als etwas mager angesehen, sonst håtte man kaum so selten Rahmenerzåhlungen angewandt. Im Obigen ist hauptsåchlich versucht worden zu zeigen, dass eine Rahmenerzåhlung vom theoretischen Standpunkt duchaus nicht notwendig ist, denn der ideale Rahmen låsst sich auch ohne sie klar genug feststellen und erkennen. II. Der Ausgangspunkt der Novelle ist also Gesellschaft und gesellschaftliche Unterhaltung. Schon der Vorgånger der Sammlung Boccaccios, der toskanische (florentinische) »Novellino«, der am Ende des 13. Jahrhunderts entstand, bietet ein anschauliches Beispiel dafiir. Die Kultur, namentlich die verfeinerte Gesellschaftskultur, hatte sich innerhalb des Biirgertums der ita-

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lienischen Stadte in den letzten Jahrzehnten des Mittelalters zu hoher Stufe entwickelt: das zeigt sich in der selbstandigen und geachteten Stellung, die die Frau bereits damals erreicht hatte, und andererseits auch darin, dass man bestrebt war, schon literarisch zu sprechen und zu schreiben (bel parlare). Es fållt auf, dass von den Erzåhlern des »Decamerone« die Mehrzahl Frauen sind und dass auf der Grundlage der lateinischen Stilistik eine neue Volkssprache entstand, die noch junge italienische Sprache, die in den Novellen vom »Novellino« angefangen eine reiche, mannigfaltige Schriftsprache ist. Auch der Name der neuen Gattung erzahlender Literatur erklart schon etwas. E r stammt bekanntlich aus dem lateinischen und italienischen Wort, das ‘Neuheit’ bedeutet (novus, novela, novella, franzosisch nouvelle, deutsch N o­ velle usw.). Der unbekannte Sammler des »Novellino«, dessen Motive weithin bis ins Mittelalter, in die Antike und in den alten Orient zuriickreichen, wollte schon die Bedeutung der Neuheit hervorheben. Einfach ausgedriickt, der mittelalterliche italienische Erzahler war bestrebt, durch den M und seines fiktiven Erzåhlerkollektivs Dinge zu bieten, die wenigstens den Reiz relativer Neu­ heit sowohl fiir die Personen der Rahmenerzahlung als auch demgemass fiir die Leser der Novellen besassen. Insofern war er vergleichbar mit jedem beliebigen heutigen Anekdotenerzahler, der bekanntlich Erfolg in der Gesellschaft hat, wenn er imstande ist, jeden Augenblick neue Geschichten oder Witze zu erzahlen. U nter den Erzahlungen der friihen Italiener, einschliesslich Boccaccios, lassen sich denn auch solche aufzeigen, die eigentlich nur Anekdoten sind. Andererseits aber ist es offensichtlich, dass diese im Schatten der eigent­ lich literarischen, gefeilten und psychologisch vertieften Novellen stehen. Somit sind bereits seit den Urquellen auch bei der kiinstlerischen Erzahlung zwei Gattungen zu unterscheiden, deren Grenzen besonders die Franzosen stets klar zu halten vermocht haben: die eine heisst auf franzosisch conte (Anek­ dote, Geschichte), die andere nouvelle (Novelle). Ein ironischer Widerspruch liegt darin, dass die klassischen toskanischen Novellisten ihren Lesern kaum irgendwelche dem Thema nach neue Erzahlungen boten, sondern dass die Neuheit sich letzten Endes auf die literarische Form beschrankte; die Gattung war neu, aber keineswegs der Inhalt der Geschichten. Es handelt sich um eine A rt von Konvention, um eine Einnahme bewusster Haltungen, die zu den friihen Erscheinungen aller Dichtungsgattungen gehort: Interesse und Aufmerksamkeit der Leser (bzw. der Zuhorer) musste mit Hilfe zweckmassiger, sogar etwas unaufrichtiger und durchaus nicht direkt zur Sache fiihrender Mittel erobert werden. Kennzeichnend ist in diesem Punkt insbesondere die Haltung des Erzahlers, denn fast ausnahmslos kann man beobachten, dass er

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glauben machen will, er stelle etwas wirklich Geschehenes dar, etwas »Historisches«, obwohl das, was er bietet, ein blosses Erzeugnis der Phantasie ist, worin es »Historisches« lediglich als Bindematerial gibt. Die Leser der Literatur, die das, was sie lesen, wirklich verstehen, haben ohne weiteres stillschweigend diese Konventionen, diese konventionelle Pose des Schriftstellers akzeptiert, denn sie sehen auch ohne weiteres ein, dass diese konventionellen Mittel nur Werkzeuge fiir den Entstehungsprozess von etwas Wesentlicherem, der tieferen Botschaft der Novelle sind. Die relative »Neuheit« scheint nach wie vor in erster Linie zu der kurzen Erzåhlungsgattung zu gehoren, fiir die die Franzosen die schwer ubersetzbare, hochst genaue Benennung conte anwenden. Dabei handelt es sich, wie wir gesehen haben, um eine Anekdote, eine witzig zugespitzte Geschichte, die mathematisch luckenlos geschlossen ist. Boccaccio, Honoré de Balzac, Maupassant bieten uniibertreffliche Beispiele dafiir, aber auch der charakteristische amerikanische Anekdotenerzåhler O. Henry. Als M uster sei seine Erzåhlung von einem armen Newyorker Paar angefiihrt, von dem sowohl die F rau als der M ann dem anderen eine frohe Uberraschung in Gestalt eines Geschenkes bereiten wollte. Die junge Frau hatte schones goldgelbes Haar, der junge M ann eine goldene Uhr. Sie sehnte sich sehr nach einem spanischen Zierkamm, er nach einer goldenen Kette fiir seine Uhr. Beide beschlossen bei sich, ihr Liebstes zu opfern, um dem Geliebten den ersehnten Gegenstand zu kaufen. So verkaufte die Frau ihr goldenes H aar einem Peruckenmacher und der M ann seine U hr einem Goldschmied: sie kaufte die Kette, er den Kamm. Die grossen, selbstlosen Opfer waren vergebens. Der irische Schriftsteller Sean O Faolain, der in seinem Werk »The Short Story« (S. 154) diese typische conte, die Anekdotennovelle, kommentiert, weist ganz richtig darauf hin, dass ein derartiges vollig geschlossenes Thema, wenn auch seine Erfindung sicherlich seinerzeit dem Schriftsteller grosses Vergniigen bereitet hat, auf die Dauer den Leser nicht gerade befriedigt; wir lesen es gern einmal, aber kaum ein zweitesmal. Dagegen lesen wir immer von neuem die Novellen von Tschechov und Henry James, in denen man diese Anekdotenstruktur nicht findet und die deshalb neben vielen Geschichten von O. Henry locker aufgebaut wirken, und wir lesen sie vor allem wegen ihres tiefen Lebensgefiihls und ihrer unfehlbaren Menschenkenntnis. Karl Vossler stellt ebenfalls fest, dass man den kalten »Formalismus« der Renaissancenovellen, auch derer von Boccaccio, recht bald uberdriissig werden kann; er meint damit unbestreitbar in erster Linie die tadellos aufgebauten novellistischen Rechenaufgaben von der A rt der conte. Die Geschichte der festgeknoteten, anekdotenhaften Novelle hat besonders

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in den romanischen Literaturen als ununterbrochene Tradition Uber ein halbes Jahrtausend lang angedauert. Die Franzosen haben sich darin - als die sichersten Meister erwiesen - nebenbei bemerkt: auch Boccaccio war ja blutsmåssig ein Halbfranzose. Andererseits aber begann Cervantes seine eigene tippige und vollbliitige Novellenart, zwar als Schiiler Boccaccios, aber dennoch selbståndig. Seine Novelle hat dann ein fruchtbares Vorbild besonders fiir die germanischen, vorzugsweise fiir die deutschen Schriftsteller abgegeben, angefangen von Wieland und Goethe Uber die Romantiker, Kleist, Keller, Meyer, Stif­ ter, bis zu Heyse. In der Theorie berufen sich die Bruder Schlegel als gute Kenner der romanischen Literaturen und der Renaissance deutlich auf Boccaccio und Cervantes, und Goethe stiitzt sich offenbar in seinem vollkommensten Novellenzyklus, den »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«, auf technische Lehren der Meister der Renaissance. Goethes definitionsartiger Ausspruch uber die Asthetik der Novelle (zu Eckerm ann am 5. 1. 1827) ist auffallend mager und erinnert an die Worte einiger Theoretiker des 18. Jahrhunderts uber das Wesen des Romans. E r spricht nur davon, dass die Novelle sich auf einer besonderen oder seltenen Begebenheit aufbaut, die wirklich geschehen (?) ist. Dagegen erweitert er in den Novellenbeilagen beider Teile des »Wilhelm Meister« die Struktur der Erzahlung merklich und schafft, wie iibrigens spater auch Keller, Meyer und Stifter, eine A rt von germanisiertem Cervantes-Stil, worin Stimmung und psychologische Vertiefung einen wichtigeren Anteil haben als die scharfumrissene Gestalt. Der am meisten beachtete Theoretiker der Novelle unter den deutschen Schriftstellern ist unbestreitbar Paul Heyse. E r ausserte seine Gedanken am vollstandigsten in der Vorrede seiner umfangreichen Novellenanthologie »Deutscher Novellenschatz«, die im Jahr 1871 erschien, sowie in seinen »Jugenderinnerungen und Bekenntnissen« vom Jahr 1900. Die Lehre des hervorragenden Novellisten Heyse scheint sich in erster Linie auf die sog. Falkentheorie zu konzentrieren, auf die man sich immer noch oft beruft. Die Benennung weist bekanntlich auf die neunte Erzahlung des fiinften Tages des »Decamerone« hin: ein junger Adliger opfert bei seinen Bemiihungen, eine schwer zu erringende Donna fiir sich zu gewinnen, sein ganzes Vermogen, so dass ihm nicht viel anderer beweglicher Besitz iibrigbleibt als ein ausgezeichneter Jagdfalke; als die von ihm bewunderte Dame sich dann herbeilasst, ihn zu besuchen, schlachtet er, um ihr eine Mahlzeit anbieten zu konnen, sei­ nen einzigen Schatz und setzt dessen Fleisch dem Objekt seiner Liebe vor; und das Opfer ist auch nicht vergeblich, denn die Frau gibt ihm schliesslich ihr Jawort.

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Die »Falkentheorie« enthålt, wie Heyse selbst erklart, hauptsåchlich die Feststellung, dass es in jeder wirklichen Novelle eine moglichst klare »Silhouette« geben muss, und in der Praxis bedeutet das gerade den »Falken«, d. h. einen scharfen, plotzlichen Wendepunkt. Damit sprach Heyse durchaus keine ganz neue W ahrheit aus, denn iiber die Theorie des novellistischen Wendepunktes waren sich schon Tieck und die Briider Schlegel, Goethe und Kleist im klaren. Kleist gab in allen seinen ausgezeichneten Novellen, vielleicht am deutlichsten im »Zweikampf«, vorbildliche, bewundernswerte Beispiele fiir ihre wirksame Anwendung. Die Auffassung Heyses beschrånkt sich jedoch nicht auf dieses fast selbstverståndliche åussere Mittel, sondern er betont ausserdem die erstrangige Wichtigkeit der inneren Entwicklung. Der W endepunkt muss derart sein, dass er wie von selbst den weiteren Verlauf der Handlung und die DurchfUhrung der inneren Motive veranlasst und gleichsarn natiirlich zu der epischen Schlusswendung und -losung fiihrt. Das geschilderte Menschenschicksal soli so viel Gewicht haben, dass es nicht gleichgiiltig oder oberflåchlich wirkt, und erst dann, wenn es sich um einen Menschen handelt, der etwas bedeutet, halt der Unterbau der Novelle den Druck aus, den der iiberraschende oder vom Gewohnten abweichende »Falke« ausiibt. Ebenso wie Goethe verlangt auch Heyse hier etwas vom Gewohnlichen Abweichendes, aber dies soli in erster Linie im psychologischen und ethischen Inhalt liegen. Indem Heyse, die romanischen Vorbilder vor Augen, die scharfe Silhouette und die iiberraschende oder ungewohnliche Wendung, den »Falken« hervorhebt, trifft er - unleugbar von einem rein formalistischen Standpunkt ausgehend - einen sehr zentralen und wichtigen Punkt. Die erwåhnten zusåtzlichen Begriindungen von ihm zeigen ferner, dass er namentlich Inhalt und Form hat ins Gleichgewicht bringen wollen, so dass keins von beiden auf Kosten des anderen zu sehr hervortreten sollte. Das Ideal wåre kurz gesagt eine solche Novelle, in der Form kunst und -virtuositåt der franzosischen Meister (Mérimée, Musset, M aupassant) sich mit deutschen Gemiit und Humor, deutscher Stimmung und Innerlichkeit vereinigen wiirde. Heyse vermutete, dass auch gute Versuche deutscher Schriftsteller oft nur deshalb im Sande verlaufen seien, weil diese die Formgesetze der Novelle nicht kannten. An­ dererseits aber gibt er zu, dass die Franzosen von dem tiefen und warmcn Lebensgefiihl der Deutschen lernen konnten und auch Anlass hatten, diese darum zu beneiden. In seinem Erinnerungswerk erwåhnt Heyse auch die russischen Novellisten, insbesondere Turgenjev - dagegen scheint er Tschechov, den Bahnbrecher einer neuen Richtung, damals noch nicht gekannt zu haben.

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Tschechov und seine Schule, wenn man so sagen kann, sollten jedoch beweisen, dass die als vollkommen anzusprechende kiinstlerische Novelle ohne »Falken« auskommen kann. Das kann als eine erstaunliche Feststellung erscheinen, lasst sich aber durch Analyse solcher Novellen des russischen Schriftstellers nachweisen wie »Weibervolk« und »Die Dame mit dem Hund«. Wenn man auch die neueste Geschichte der Novelle beriicksichtigt, muss man wohl sagen, dass Heyses Theorie vom »Falken« ausgezeichnet, fast rest­ los, auf die A rt der Novelle, fiir die der Franzose die Benennung conte anwendet, und dass sie ohne weiteres auf die meisten, wenn nicht auf alle anekdotenartigen Erzahlungen passt, wie sie O. Henry und viele andere verfasst haben. Hingegen ist es offensichtlich, dass diese Theorie keinen Schlussel zu vielen grossen Novellen von Goethe, Tieck, Storm oder Keller bietet und auf gar keinen Fall zu der zentralen Novellistik von Tschechov oder Katherine Mansfield. Heyse selbst war fiir einen Deutschen ein aussergewohnlicher Formkunstler und betonte - vielleicht gegen seine urspriingliche Absicht - allzusehr die Asthetik des straffen Aufbaus und der scharfen Silhouette. Einige philosophierende Theoretiker - zur Zeit der Romantik die Bruder Schlegel, spater Fr. Th. Vischer, in unseren Tagen Oskar Walzel und Robert Petsch haben somit letzten Endes in Deutschland das Wesen der Novelle tiefer und vor allem innerlicher erkannt als der freilich hervorragende Praktiker und zugleich Theoretiker Heyse. Das zu klare Formgefiil gereichte ihm auch in der Praxis ein wenig zum Nachteil, wie es in einer spateren Periode unbestreitbar auf Paul Ernst, der ebenfalls als Theoretiker der Novelle hervorgetreten ist, »austrocknend« wirkte.

III. Weil die kiinstlerische Erzahlung und namentlich die regelrechte Novelle ohne weiteres zu den kurzen Literaturform en zu zahlen sind, haben Schrift­ steller und Theoretiker von Zeit zu Zeit sogar mit grosser Sicherheit behauptet, diese Formen standen dem Schauspiel nåher als dem Roman. Schon die scharfe Silhouette und der klar umrissene W endepunkt (oder die Wendepunkte) sowie der notwendig geschlossene Schluss erinnern darin mehr ans Drama als an die Epik, und so verhalt es sich naturlich besonders dann, wenn die N o­ velle hauptsachlich auf Dialog aufgebaut ist. Auf diese Weise erklåren die Sache u. a. Fr. Th. Vischer und Theodor Storm. In diesem Gedankengang gibt es Ziige, die an die Theorie von Otto Ludwig und Fr. Spielhagen uber den sog. dramatischen oder objektiven Rom an erinnern. In beiden Fallen wird meines Erachtens wegen einiger personlicher Vorlieben und halbausgereifter

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Grundsåtze in eine falsche Richtung gegangen. W eder bei der Novelle noch beim Rom an hat man Grund, von Uberwiegender Dramatik zu sprechen. Fast bei jedem V ertreter der kiinstlerischen Epik gibt es selbstverståndliche dramatische oder ans Drama erinnernde Auftritte - man kann ja Teile aus den »Sieben Briidern« von Aleksis Kivi unveråndert auf der Buhne auffuren - , aber das bedeutet keineswegs, dass irgendein episches Werk sich gleichsam innerlich in ein Schauspiel verwandelte. Der wirkliche oder ideale Erzåhler der Novelle kann naturlich seine Erzåhlung hauptsåchlich als Dialog vorbringen, aber die Buhne ist dann ausschliesslich in der Phantasie des Erzåhlers und des Florers bzw. Lesers aufgebaut. Ein geborener Novellist kann auch ein geborener Schauspieldichter sein - das darf man wohl z. B. von M aria Jotuni sagen - , so dass der Dialog der Novelle ihn gleichsam zum eigentlichen Drama hinzieht und dass ihn die Aufgabe reizt, die kurze Dialognovelle in Richtung des wirklichen Schauspiels zu erweitern. Aber schon die »gesellschaftliche« Ursituation der Novelle und vor allem die vor ihr erforderten und benutzten epischen Grundformen verkniipfen diese Gattung so eng mit der Erzåhlkunst, dass man bei tieferdringender Oberlegung der Sache nicht in die obenerwåhnten Irrtiim er verfallen kann. Verhåltnismåssig selten scheint in der theoretischen Diskussion die Auffassung aufgetreten zu sein, die ich in meinem Buch »Yleinen runousoppi« (Allgemeine Poetik, 1937) dargelegt habe und deren Kern in folgender Stelle enthalten ist: »Meiner Ansicht nach liegt der Unterschied (nåmlich zwischen dem R o­ man und der Novelle oder Erzåhlung) letzten Endes lediglich darin, dass man in der Novelle die epischen Stilmittel sparsamer anwendet als im Roman, der Moglichkeiten zu grosserer Ausbreitung und zur Entwicklung aller seiner grundepischen Form en hat. Grenzfålle lassen sich jedoch sehr reichlich finden, besonders in den letzten Jahrzehnten, in denen die urspriingliche, umfangreiche Romanform immer deutlicher der allgemeinen Tendenz nachgegeben hat, die auf Verkiirzung hingeht und deren erste Symptome wir bei der Besprechung des Verhåltnisses des sog. dramatischen und nach Objektivitåt strebenden R o­ manes zum alten epischen Stil behandelt haben. Es ist ja nicht selten, dass man heute von einem Novellenroman oder einer Romannovelle, von einer langen Novelle oder einem kleinen Rom an u. dgl. spricht.« Von Zeit zu Zeit habe ich selbst an der Zutreffendheit dieser meiner De­ finition gezweifelt, aber jetzt beim Schreiben dieser Untersuchung kommt es mir vor, dass man sie wohl noch verteidigen konnte. Die von R obert Petsch eingefiihrten »Grund(darstellungs)formen des epischen Stiles« lassen sich wirk­ lich sehr klar umrissen, wenn auch zuweilen nur angedeutet, fast in jeder N o­

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velle und in allen Zweigen der kurzen Erzahlung antreffen. Dagegen ist es wohl wahr, wie schon Goethe (in einem Brief an Schiller vom 22. 4. 1797) und Vischer in seiner Asthetik erklårt haben, dass die sog. retardierenden Momente in der Novelle ganz fehlen konnen, wåhrend sie im Rom an unbedingt notwendig sind. Goethe schrieb an Schiller, dass seine bekannte Erzahlung »No­ velle« ganz frei von retardierenden Momenten ist, dass es in ihr uberhaupt nichts derartiges gibt. Meiner Ansicht nach kann es sich zwar hier und da so verhalten, aber in den meisten Novellen, die auch nur zu etwas grosserem Umfang entwickelt sind, kan man diese Momente wohl sehen. Sean O ’Faolain behauptet in seiner Novellentheorie, dass die »moderne« Novelle, womit er offenbar die Entwicklung etwa von Maupassant, Anton Tschechov und Henry James bis zu unseren Tagen meint, an eine A rt von Verkiirzung, von »Kurzschrift« gewohnt ist, was vielleicht am deutlichsten der Anfang und das Ende der Erzahlungen zeigt. Er bringt ausserdem Proben davon, wie ein typischer Rom an und eine typische Novelle angefangen werden. der Rom an zeigt dabei seines Erachtens immer eine A rt von Langsamkeit und GrUndlichkeit, wåhrend die Novelle mit raschen Schlågen in medias res fuhrt, indem sie eine Andeutungs- und Suggestionstechnik anwendet. In diesem Zusammenhang weist er auf einen Ausspruch von Tschechov hin, wonach jeder Anfånger, wenn er eine Erzåhlung geschrieben hat, sein Papier zusammenfalten und ohne weiteres die ganze erste Hålfte zerreissen sollte, weil diese fast zwangslåufig wegen der mangelhaften Technik nichts anderes sei als Einleitung und Erklårungen des Verf assers dariiber, wovon er zu schreiben beabsichtige; alles derartige ist jedoch nach Tschechov uberfliissig, denn der Leser wird die Erzåhlung ohnehin verstehen, und er wird sie mehr gerade dann geniessen, wenn sie auf das Notwendige reduziert ist. Tschechov ist in diesen Dingen naturlich eine unbestrittene Autoritåt, vom Standpunkt der Gegenwart die bestmogliche, weil gerade seine Novellen oder wenigstens deren bester und dauerhaftester Teil - einen vollståndigen W endepunkt in der Geschichte der modernen Novelle bedeuten. An den obenerwåhnten Behauptungen des irischen Schriftstellers und Theoretikers ist auch viel Wahres. Man kann jedoch feststellen, dass beide sozusagen we­ gen der reinen Theorie zuspitzen und iibertreiben, sogar sehr offensichtlich. Wenn man den Fall genau untersucht, kann man bald wahrnehmen, das einige von Tschechovs besten, bahnbrechendsten und erstaunlichsten Novellen mit einer erklårenden oder schildernden Einleitung beginnen. Die Beispiele im Folgenden stammen aus den Novellen »Weibervolk« und »Furcht«, von denen namentlich die erstgenannte eine geradezu unwahrscheinlich gelungene Probe

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davon ist, was die Neuheit der Novellenkunst von Tschechov wirklich enthålt. 1. Im Dorf Raibuscho erhebt sich auf hohem Fundam ent ein zweistockiges Haus mit Eisendach genau gegeniiber der Kirche. Im unteren Stockwerk wohnt mit seiner Familie der Besitzer selbst, Filip Ivanovitsch Kaschin, mit dem Spitznamen Djudja, aber im oberen Stockwerk, wo es im Sommer sehr heiss und im W inther sehr kalt ist, sind auf der Durchreise befindliche Beamte, Kaufleute und Gutsbesitzer untergebracht. Djudja verpachtet Landparzellen, fUhrt eine Gastwirtschaft an der grossen Landstrasse, handelt mit Teer, Honig, Vieh und Kleidern und hat schon etwa achttausend Rubel zusammengebracht, die in der Stadtbank liegen und Zinsen bringen. 2. Dmitri Petrovitsch Silin hatte seine Studien an der Universitåt beendet und danach als Beamter in Petersburg gedient, als Dreissigjåhriger aber sein Amt aufgegeben, worauf er Landwirt geworden war. Die Landwirtschaft gelang ihm einigermassen gut, aber mir schien es doch, als ob er nicht am rechten Platze wåre und klug handeln wiirde, wenn er nach Petersburg zuriickreiste. Wenn er, sonnengebråunt, grau von Staub und ermattet von der Arbeit, mich an der Pforte oder auf der Treppe traf und dann beim Abendessen gegen den Schlaf kåmpfte, bis ihn seine Frau wie ein Kind zu Bett brachte, oder wenn er, nachdem er die Schlåfrigkeit iiberwunden hatte, mit seiner weichen, herzlichen, gleichsam flehenden Stimme seine guten Absichten darzulegen begann, so schien es mir doch, dass er kein Landwirt oder Agronom war, sondern ein geplagter Mensch, und es war mir klar, dass nicht die Landwirtschaft ihm so notwendig war wie der Umstand, dass der Tag verging —und das war alles. M an muss wohl sagen, dass es in diesen Novellenanfången gar nicht den »kurzschriftartigen« Stil des schlagartigen Beginns gibt, von dem unser Ire sprach, und dass jeder beliebige Roman, auch ein umfangreicher, sehr wohl mit derartigen »Einleitungen« anfangen konnte. Tatsåchlich beginnen Gogols »Tote Seelen« und Dostojewskis »Schuld und Siihne«, um nur zwei Beispiele anzufiihren, novellistischer und schlagender als diese Erzahlungen. Vergleichshalber seien auch aus den beiden Romanen Proben gebracht: 1. Durch die Pforte eines Fremdenheims in der Gouvemementshauptstadt N. N. fuhr ein ziemlich hubscher, kleinerer Wagen hinein, ein solcher, womit gewohnlich unverheiratete M anner reisen: Oberstleutnants ausser Dienst, Hauptleute, Gutsbesitzer, die etwa hundert Seelen Bauern haben, kurz gesagt, alle, die man mittlere Herrschaften nennt. Im Wagen sass ein Herr. E r war nicht schon, aber auch nicht håsslich. 2. An einem ausserordentlich heissen Tag Anfang Juli, gegen Abend, ver-

Die Theorie der N ovelle

liess ein junger M ann das kleine Zimmer, das er in einer Seitenstrasse gemietet hatte, und begann langsam, wie zogernd, zur Briicke von K. hinzugehen. Sean O ’Faolain weist auf Maupassants Novelle »Der Schmuck« (La Parure) hin, weil sie einen fiir die moderne Novelle kennzeichnenden Anfang hat: »Sie war eins jener hiibschen und reizenden Mådchen, die ...« , und erkiårt ganz richtig, dass der heutige Leser an derartige Novellenanfånge gewohnt ist, in denen die Personen ohne weiteres mit den Pronomina »sie« oder »er« bezeichnet werden. Beispiele fiir Novellen, die mit diesen Pronomina beginnen, lassen sich leicht uberall im Gelånde der neuzeitlichen Novelle fin­ den; so wiederholen sie sich mehrfach in Strindbergs »Giftas«. Andererseits aber muss man sich daran erinnern, dass ein solcher Anfang bei M aupassant durchaus nicht die Regel ist: er beginnt nåmlich seine Novellen oft in der Ichform oder mit einer sehr beschreibenden, romanhaften Einleitung oder mit allgemeinen, halbphilosophischen Gedanken, die iibrigens von einigen Theoretikern fiir ganz unvereinbar mit der Novellenform gehalten werden. Die folgenden Beispiele stammen aus seinen Novellen »Auf dem Wasser« (Sur l’Eau), »Das Abenteuer von Walter Schnaffs« (L’Aventure de W. S.) und »Die Tote« (La Morte). 1. Ich hatte im vergangenen Sommer ein kleines Landhaus am Strande der Seine gemietet, mehrere Kilometer von Paris entfernt, und fuhr jeden Abend zum Schlafen dorthin. Nach einigen Tagen lemte ich einen meiner Nachbarn kennen, einen M ann von dreissig bis vierzig Jahren, der wirklich der wunderlichste Typ war, den ich je gesehen hatte. E r war ein alter Rudersportler, sogar ein leidenschaftlicher Ruderer, immer am Wasser, immer auf dem Was­ ser, immer im Wasser. E r war sicherlich im Boot geboren, und zweifellos sollte er auf seiner letzten Bootfahrt sterben. Als wir eines Abends am Strande der Seine spazierengingen, bat ich ihn, einige Anekdoten aus seinem Rudererleben zu erzåhlen. Sofort wurde mein Månnchen lebhaft, verånderte sich, wurde beredt, beinahe ein Dichter. In seinem Herzen war eine grosse Leidenschaft, eine alles verschlingende, unwiderstehliche Leidenschaft: der Fluss. 2. Als Walter Schnaffs mit der Eroberungsarmee nach Frankreich gekommen war, hielt er sich fiir den ungliicklichsten der Menschen. Er war dick, marschierte miihsam, geriet leicht ins Keuchen und litt sehr an seinen Fus­ sen, die sehr platt und sehr dick waren. Er war im iibrigen friedliebend und wohlwollend, in keiner Weise von grossen Ideen beseelt oder blutdurstig, vergotterte seine vier Kinder und war mit einer jungen, blonden Frau verheiratet, deren allabendliche Zårtlichkeiten, deren kleine Fiirsorglichkeiten und Kusse

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er schmerzlich vermisste. E r stand gern spåt auf und ging friih schlafen, ass langsam gutes Essen und besuchte Bierstuben. E r war iibrigens der Meinung, dass alle Geniisse des Daseins mit dem irdischen Leben verschwinden, und fuhlte in seinem Herzen einen schrecklichen, zugleich instinktiven und verstandesmåssigen Hass gegen Geschutze, Gewehre, Revolver und Såbel, vor allem aber gegen Bajonette, weil er sich unfåhig fuhlte, diese schnelle Waffe flink genug zu gebrauchen, um seinen grossen Bauch zu verteidigen. 3.

Ich hatte sie unsinnig geliebt! W arum liebt man? Es ist doch eigenartig

dass m an in der Welt nichts anderes mehr sieht als das eine Wesen, dass man nichts anderes im Sinn hat als den einen Gedanken, im nichts anderes als die eine Sehnsucht, im M unde nichts als den einen Namen: einen Namen, der unaufhorlich aufsteigt, der wie Wasser aus der Quelle aus den Tiefen der Seele aufsteigt, der auf die Lippen steigt und ausgesprochen wird, der wiederholt wird, der immerzu und uberall gefliistert wird, genau wie ein Gebet. Ich beabsichtige nicht, unsere Geschichte zu erzåhlen. Die Liebe hat nur eine Geschichte, die immer gleich ist. Ich war ihr begegnet und hatte sie ge­ liebt. Das ist alles. Und ich hatte ein Jahr lang in ihrer Zårtlichkeit gelebt, in ihren Armen, in ihren Liebkosungen, in ihrem Blick, in ihren Kleidern, in ihren Worten, verstrickt, verliebt, gefesselt an all das, was von ihr kam, und zwar so vollståndig, dass ich nicht mehr wusste, ob es Tag oder Nacht war, ob ich tot oder lebendig war, ob ich im alten Lande lebte oder anderswo. Und so starb sie. Wie? Ich weiss es nicht, ich weiss es nicht mehr. Paul Heyse spricht mit einem freilich treffenden Wort vom »Romanhorizont«, der nicht zur wirklichen, gefeilten, regelmåssigen Novelle gehort, weil in dieser Gattung immer nur ein Streifen des Horizonts erlaubt ist. M an kann jedoch fragen, ob nicht der »Kohlhaas« von Heinrich von Kleist, viele umfangreiche und auch kiirzere Novellen von M aupassant (»Der Fettball«, »Telliers Haus«, »Die Geschwister Rondoli«, »Der schweinische Morin«), »Der alte M ann und das Meer« von Ernest Hemingway einen sehr romanhaften, weiten Horizont haben. Alexander Kielland erweitert in seinen »Novelletten« den Inhalt der Novellen auffallend in Richtung auf eine A rt von Zentrifugalitåt; kennzeichnende Beispiele dafiir sind »Erotik und Idyll« oder »Das Pfarrhaus«. Den gleichen ausmalenden Stil finden wir in der Erzåhlung »Das Puppenheim« in dem Buch »Giftas« von Strindberg. Tschechovs N o­ velle »Vera« enthålt mit breitem Pinselstrich gemalte Landschaften und Naturstimmungen. M aria Jotunis »Kirjeitå« (Briefe) bieten in Gestalt von neun Briefen einen ganzen psychologischen Roman. Die umfangreichen Novellen von Goethe, Keller, Stifter und Storm stehen wegen ihrer zahlreichen Per­

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sonen und ihrer miteinander verkniipften Motive kleinen Rom anen sehr nahe. Besonders bei månnlichen Schriftstellern kann die Einstellung des Erzahlers breit humoristisch oder parteiisch-satirisch oder, namentlich wenn die Frau und die Liebe das Them a sind, von spielerischer, etwas hochmiitiger Ironie sein; der Erzåhler tritt dann gleichsam aus dem Rahmen, aus den engen Gren­ zen der Novelle, hervor und plaudert, wie auch ein typischer Romanschriftsteller es tut, gleichsam auf eigene Rechnung, fugt zu der Erzåhlung eigene Randbemerkungen hinzu, spielt die Rolle eines deus ex machina. Sowohl die subjektiven Gedanken als die verhåltnismåssig ausgedehnten Naturschilderungen erweitern somit die Novellenform, und zwar viel håufiger, als man in der Theorie meistens zugeben will. Auf diese Begrlindungen mochte ich vor allem hinweisen, wenn ich sage, dass die Kunstform der Novelle trotz der dazu gehorenden Ebenmåssigkeit und Dram atik doch in der Praxis in erster Linie eine epische Einstellung und Struktur vertritt. IV. Oben ist Heyses bekannte »Falkentheorie« stellenweise scharf kritisiert worden, wobei aber doch keineswegs zu behaupten versucht worden ist, dass sie keine beherzigenswerte, wenn auch begrenzte W ahrheit håtte. Unsere Kritik hat sich zugleich gegen alle die nicht ganz wenigen ålteren Lehren gerichtet, in denen hochst nachdriicklich die Wichtigkeit des Wendepunktes, seine geradezu zentrale Stellung in der Okonomie der Novelle betont wird. Der Sachverhalt ist nåmlich so, dass die Theorie der »scharfen Silhouette« vollståndig nur auf die typische kurze, anekdotenhafte Erzåhlung von der A rt der conte passt, die andererseits der gewohnlichen mimdlich erzåhlten, unliterarischen Gesellschaftsanekdote, der »neuen« Geschichte am nåchsten steht, und die Daseinsberechtigung dieser Anekdote liegt bekanntlich nur darin, dass der Anekdotenerzåhler fiir einen Augenblick seine Zuhorer unterhålt und zum Lachen bringt, die allerdings gewohnlich die »ausgezeichnete Geschichte« bald vergessen. Als Tschechov dann in seinen gewichtigsten Novellen - er hat ja auch ubergenug gewohnliche »Geschichten« und Plaudereien - die Kunstform in eine ganz neue Richtung fiihrte, als er an die Stelle des Wendepunktes die verdichtete Unterstreichung der Stimmung setzte und die Silhouette in dichterisches Halbdunkel aufloste, konnte man wirklich fast von einer neuen Erzåhlgattung sprechen, von einer Novellenkunst, auf die die klassischen, von Boccaccio und Cervantes herkommenden Regeln nicht mehr passten. Neben Tschechov machten einige andere russische Schriftsteller - Turgenjev, An-

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drejev, Gorki u. a. die um die Jahrhundertwende Weltruhm errangen, und von den Angelsachsen vielleicht in erster Linie Henry James es notwendig, den Blick uberraschenden Moglichkeiten zuzuwenden. Spater haben die Ame­ rikaner, vor allem William Faulkner, weiteres technisches Neuland erschlossen. Wenn man von der m odemen Novellenform im genauen Wortsinn spricht, dann denkt man immer noch hauptsåchlich an Tschechov, den Bahnbrecher und Begrunder der neuen Schule. Betrachtet man die Sache in weiterem Umfang, so muss man sich noch an eine andere theoretische W ahrheit erinnern, namlich daran, dass der deutliche W endepunkt durchaus nicht zu den alleinigen Vorrechten der Novelle gehort, sondern dass man ihn in aller Erzåhlkunst antrifft, auch in umfangreichen Romanen. Wenn Robinson Crusoe die FuBspur Freitags im Sande fin­ det, bedeutet das einen genau ebenso schlagenden und einprågsamen Wende­ punkt wie die Opferung des Jagdfalkens als Braten in der Novelle Boccaccios. Allerdings muss man sagen, dass der genial erfundene W endepunkt hier aussergewohnlich klar ist, wenn man die iibrige Rom anliteratur zum Vergleich heranzieht. Im allgemeinen folgen in der Rom anliteratur die Wendungen aufeinander als natiirliche Peripetien, als eine A rt Kettenreaktion, so dass der »entscheidende« W endepunkt nicht immer leicht zu finden ist. J. A. Hollo hat in seiner Untersuchung »Kåånnekohta suurissa romaaneissa« (Der Wen­ depunkt in den grossen Romanen) iiberzeugend nachgewiesen, wo der »Falke« des »Don Quijote« und der »Sieben Brlider« von Aleksis Kivi liegt; die Aufmerksamkeit wird durch diese Analyse darauf gelenkt, dass die Wendepunkte in diesen W erken verhåltnismåssig verborgen sind, gleichsam auf dem Wege des Denkens entdeckt, denn sie fallen auch einem aufmerksamen Leser keineswegs ohne weiteres auf, jedenfalls nicht annahernd ebenso sonnenklar wie die FuBspur Freitags oder das Opfer des Ritters bei Boccaccio. Dies gibt insofern zu denken, als der »Don Quijote« bekanntlich das eigentliche Erstgeburtsrecht in der grossen abendlåndischen Rom antradition und iiberhaupt in der Rom ankunst beanspruchen kann. Mit ihm wurde ja der Ausgangspunkt fiir die stetig anschwellende Rom anflut der Jahrhunderte geschaffen. Und man muss also feststellen, dass darin die Kulmination und Konzentration der Wendepunkte, der Peripetien, durchaus nicht wie auf dem Tablett dem Leser zur Bewunderung dargeboten wird, sondern dass eher jener von Professor Hollo aufgezeigte Kulmen durch angestrengtes Suchen gei'unden werden muss. Wir sehen darin einen Beweis fiir die Konturlosigkeit, die fiir die Romanform charakteristisch ist, fiir das Fehlen der scharfen Silhouette und des mathematischen Aufbaus in dieser Gattung. In den einzelnen Kapi-

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tein und novellenhaften Episoden des »Don Quijote« lassen sich zwar leicht die »Falken« finden, aber vom Standpunkt der Gesam tstruktur liegt die Sache sehr anders. Was fiir diesen im 17. Jahrhundert verfassten Erstling gilt, das gilt auch fiir die »Sieben BrUder«. Als ich seinerzeit (1934) eine Untersuchung iiber den Aufbau dieses Romans von Kivi schrieb, legte ich kaum Gewicht auf die Aufzeigung des Wendepunktes oder der W endepunkte; und mir kommt es immer noch so vor, dass sie, falls man ihr Vorhandensein nachweisen kann, sich auf mehr als eine Fugungsstelle verteilen: mit einem Wort, in einem grossen Rom an gibt es nur selten einen einzigen W endepunkt, aber oft gibt es mehrere. Eine derartige romanhafte Dezentralisation ist offenbar auch der Struktur der modernen Novelle eigen, wenn man in erster Linie Tschechov und seine Neuschopfungen, die von ihm herbeigefiihrte stille Revolution ins Auge fasst. Kann man iiberhaupt noch von einem »Falken« z. B. in einer solchen Novelle wie »Weibervolk« sprechen? Wåre es nicht ebenso hoffnungslos, ein derartiges erstaunliches kleines Werk in eine formalistische Zwangsjacke zu pres­ sen, wie das Schauspiel »Die Mowe« nach den dramatischen Schablonen zu analysieren, die auf grund der alten Tragodie aufgestellt sind? Die Novelle »Weibervolk« weist eine offensichtlich polyphone Struktur auf, sie enthålt nicht nur eine scharf zum Wendepunkt und zu Ende gezeichnete Kontur, sondern in ihr haben die Motivelemente eines ganzen Romans Platz. Man konnte ihren Gesamtaufbau in Kiirze so definieren, dass in ihr zwei Geschichten konzentrisch ineinanderliegen: die Rahmenerzåhlung oder vielleicht eher die Rahmenschilderung und das in diesem hochst reichen und mannigfaltigen Gewebe untergebrachte Zentrum, die eigentliche Novelle. Im Rahmen werden breit und mit reichlichen Stimmungsfarben das Wirtshaus, seine zahlreichen Bewohner, ihre Charaktere, ihre Schicksale und ihr Leben ausgemalt. Da ist der Inhaber, der schlaue und den W ert des Geldes kennende Djudja, da sind die Sohne und Schwiegertochter, eine wilde und unbåndige Gesellschaft, die in der Erzåhlung alle handeln, in ihrer Weise aktiv sind. Zugleich werden das Dorfleben, die Landschaft, die Tageszeiten veranschaulicht. Das Zentrum bildet die Erzåhlung eines Reisenden, der im Wirtshaus Ubernachtet. E r hat einen kleinen Jungen bei sich und erzåhlt, wie er, ein alleinstehender Mann, diesen als Pflegesohn angenommen hat. Ein Nachbar von ihm, der Vater des Jungen, war zur Armee eingezogen worden. Die junge Frau blieb jahrelang allein, verliebte sich in ihren Nachbar, den Erzåhler, und lebte mit ihm zusammen. Als ihr Ehemann zuruckkehrte, wollte die Frau ihn auf keinen Fall wiedernehmen, sondern ihr gesetzwidriges Verhåltnis fortsetzen. Schliesslich

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totete sie ihren Mann, erhielt eine lange Freiheitsstrafe und starb im Gefångnis. Der Erzahler nahm den Sohn seiner ehemaligen Geliebten zu sich. Die zentrale Geschichte weist also, wie man sieht, alle Formkennzeichen einer klassischen Novelle auf, aber sie ist nur die eine Hålfte des Ganzen. Die Erzåh­ lung wird im Wirtshaus angehort, sie gibt Anlass zu Diskussionen, sie weckt leidenschaftliche, gewaltsame Gefiihle, låsst sogar verbrecherische Plåne entstehen. Und zugleich wird geschildert, wie die Nacht vergeht, wåhrend der Erzåhler schlåft, wie Leidenschaften und Sunden die Leute im Wirtshaus in ihren Krallen halten. Die Rahmenerzåhlung, die sich auf manche Weise verzweigt, entwickelt sich selbståndig, unabhångig vom Zentrum. Letzten E n­ des haben die beiden nichts Gemeinsames, und doch bringt der Meisternovellist sie unglaublich geschickt miteinander in Einklang: es entsteht eine verdichtete Stimmung, wie sie bei Tschechov håufig ist, die fast bis zum Bersten voll von Leben ist, von animalischem Leben. Der Leser kann den Eindruck gewinnen, dass der romanhafte, recht locker gefugte Rahmen letzten Endes der wichtigste Teil der Novelle ist, obwohl er die Grenzen der Novelle sprengt, oder vielleicht gerade deshalb. Nach der M einung derer, die - wie Paul Heyse und Paul Ernst - strenge Anforderungen hinsichtlich der Form stellen, verstosst diese Novelle Tschechovs unleugbar und sogar krass gegen alle Gesetze der wirklichen Novelle. Aber der vorurteilslose Leser ist anderer Ansicht. Das Regelmåssige darin ist zweitrangig, das Unregelmåssige genial und bezaubernd. E t bedurfte der Entwicklung eines halben Jahrtausends, bevor eine solche Novellenform entstand. Aber sie entstand doch nicht von selbst und auch nicht ohne Vorlåufer. Ein Deuter, der die Dinge erklåren will, konnte sicherlich sagen, dass etwas auf Tschechovs Technik und Kunst Vorausweisendes schon in friihen Zeiten zu finden ist - in den kiihnsten Genieblitzen von Cervantes, Heinrich von Kleist und vielleicht noch einigen anderen. Als Bilderstiirmer folgen den Spuren des russischen Schriftstellers in unserem Jahrhundert manche andere, mit Sicherheit auch Thomas Mann, dessen »Tod in Venedig«, eigenartig in seiner Problematik und iiberraschend in seiner Symbolik, sich ganz ausserhalb der klassischen novellistischen Poetik bewegt. Da der Naturalismus von der Erzåhlkunst - und vom Dram a - in erster Linie dokumentarischen C harakter verlangte, verursachte er bei vielen Schriftstellern die Entstehung einer sozusagen steigerungslosen Novellenform oder Erzåhlungsform. Ich sage bei vielen, also nicht bei allen. M aupassant blieb trotz seinen dick aufgetragenen Farben und seinem iiberaus reichlichen Anschauungsmaterial als Novellist immer mehr oder weniger auf der Linie der

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conte nach A rt von Boccaccio, und auch in seinen umfangreicheren Erzåhlungen (z. B. im »Fettball«) lassen sich ohne weiteres die scharfe Silhouette und der W endepunkt erblicken. Aber die Meisternovellisten jener Zeit, von Kielland und Strindberg bis zu Tschechov, erwecken oft den Eindruck, dass sie nur ein Stiick von passender Grosse aus dem gewohnlichen, wirklichen Leben herausschneiden, sozuagen eine alltågliche Episode ohne Steigerung und Senkung, ohne H ohepunkt und Katastrophe erzåhlen. So verfahren auch die Meister der finnischen realistischen Erzåhlkunst, M inna Canth und der junge Juhani Aho. In den Novellen, die kurzen Romanen åhneln, wie »Hanna«, »Die Untiefe«, »Die Pfarrerstochter«, »Allein«, ist das sehr offensichtlich. Entsprechungen dafiir finden sich in der besten europåischen Literatur der Zeit. Kiellands Erzåhlung »Das Pfarrhaus« (Prestegaarden) zeigt fast unverhåltnismåssig breite Schilderung der Umgebung, der Landschaften und der Nebenpersonen, und das Them a erinnert stark an das von den Realisten bevorzugte Normalthema: die erwachende Liebe eines jungen Mådchens, die dann enttåuscht wird, steht im Mittelpunkt. In der Novelle »Ein Mittag« (En Middag) desselben Schriftstellers handelt es sich ausschliesslicht um den Widerstreit zwischen zwei Generationen, die von Vater und Sohn vertreten werden, und dieser Gegensatz wird wohlwollend ironisch beleuchtet, aber eine Zuspitzung oder eine scharfe Wendung sucht man vergeblich. Strindberg wirft in vielen Novellen seiner Sammlung »Giftas« gleichsam nur einen grellen, beweglichen Lichtschein auf irgendeinen fast willkiirlich gewåhlten Streifen der nahen Wirklichkeit, ohne das Them a bis zu Krisen und dramatischen Steigerungen zu entwickeln. Sogar M aupassant gebraucht zuweilen diese Tecknik, z. B. in der Novelle »Allouma«, die eigentlich nur eine sehr wirklichkeitsgetreue E r­ zåhlung davon ist, wie ein Kolonist sich in eine wilde W ustentochter sinnlich verliebt, eine Schilderung von einem Konkubinat ohne Gefiihl, ohne Zuneigung, ohne Zårtlichkeit; typisch ist jedoch, dass der franzosische Meister sich auch hier gleichsam auf Federn bewegt, in einer A rt von ståndigem Spannungszustand, obgleich die Wendung so gewohnlich wie moglich ist und alles eigentlich Uberraschenden entbehrt: der Leser erwartet ohne weiteres, dass das Beduinenmådchen eines Tages seinen H errn verlåsst. In den kleinen, »europåisch gefårbten« Novellen Juhani Ahos, »Beim Segeltrocknen« (Purjeita kuivaamassa), »Ruokarouva« (Die Pensionswirtin), »Vastamyrkky« (Das Gegengift), »Vanha muisto« (Die alte Erinnerung), begniigt sich der Schriftsteller damit, grau in grau zu malen oder die Entwicklung durch irgendeine personliche Bemerkung von oben herab zu ersetzen. Wir haben auch besonderen Grund, uns daran zu erinnem, dass einige der beruhmtesten Novellen von Tschechov

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eigentlich keinen Hohepunkt und besonders kein Ende haben; das Leben geht ebenso unklar und ebenso naturlich weiter wie vorher, wenn wir den Schluss solcher Meisterstucke erreichen, wie »Die Dame mit dem Hund«, »Ariadna« und »Der grosse Volodja«; am Ende der letztgenannten Novelle stehen die bedeutungsvollen Worte: »das Leben ging seinen friiheren Gang weiter«. Es besteht auch eine Liicke in dem Kreis, den die Motive der Novelle »Weiberv°lk« bilden, denn dieser schliesst sich eigentlich gar nicht. Auch dafur kann man allerdings auf die alte Novellenkunst hinweisen, bis zu Goethe hin; es ist mit Recht gesagt worden, dass seine umfangreicheren Erzahlungen (z. B. im »Wilhelm Meister«) nicht immer wirklich geschlossen sind. Was die naturalistische Novellenliteratur betrifft, so erinnert sie in ihren schwåcheren Vertretern oft an einen blossen Zeitungsbericht oder an eine trockene Lebensbeschreibung, und auch gute Wirklichkeitsbeobachtungen retten ein solches M achwerk nicht, wenn keine reiche Kunstlerpersonlichkeit mehr oder wemger deutlich mit ihren Imponderabilien zur Belebung der »objektiven« Schilderung beitrågt. In den mannigfaltigen Jahrzehnten des Naturalismus, die wirklich so mannigfaltig sind, dass der Begriff »Naturalismus« nur einen Teil davon deckt, empfand man in der europåischen Novellistik oft ein geradezu absichtliches und gewissermassen symptomatisches Interesse fur die skizzenhafte, studienhafte kurze Erzåhlform. Kielland nannte seine Erzahlungen nicht Novellen, sondern gebrauchte dafiir die Diminutivform Novellette; das von Juhani Aho erfundene entsprechende Wort war, wie wir wissen, lastn (‘Span’); Hjalm ar Soderberg gab seiner im Jahr 1898 erschienenen Erstlingssammlung den Titel »H istorietter«; M aria Jotunis Sammlung »Beziehungen« (Suhteita) tragt den Untertitel »Studien« (Harjoitelmia). In diesen Benennungen muss man sicherlich Anzeichen fiir das Vordringen der Parallel- und Folgeerscheinung des Naturalismus, nåmlich des Impressionismus, erblicken. Der reinblutige osterreichische Impressionist Peter Altenberg hat in seinen bekannten Novellensammlungen die Theorie der Kleinformen vielleicht am weitesten entwickelt, und neben ihm ist die Wiener Schule iiberhaupt daran beteiligt, etwa Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal. Diese Tendenz hat bekanntlich ihre interessanten Beriihrungspunkte mit der impressionistischen Richtung in der Malerei, aber diese weist auch grassere Namen auf als die artistische Novellendichtung jener Zeit. Je nåher man dem Jahr 1900 kommt, um so klarer wird es, dass die fiihrenden Schriftsteller in verschiedenen Låndern die »Regeln« der klassischen Novelle und die eigentliche Grundlage ihrer Poetik zu zerbrechen such-

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ten. Kiellands Novellen sind trotz ihrem federleichten Namen noch von recht kraftvollem Bau und entsprechen deshalb nicht recht ihrem Titel: der norwegische Novellist lernte seine Fertigkeit in der Schule der Franzosen und kann in den besten Fallen selbst mit M aupassant in Wettbewerb treten. Die »Spane« von Aho aber sind, wenn sie sich der Novelle nåhern, von einem scharfen Hobel ubriggelassene zarte Gebilde, und Soderberg opfert gern sogar das epische Element irgendeinem geistreichen Einfall oder einem intellektuel­ len Raketenfeuerwerk. Die Punktmalerei der Friihnovellen von M aria Jotuni ergibt auch nicht immer eine klare novellistische Linie, und das ist auch gar nicht die Absicht der Verfasserin. In einer »Studie« vermochte sie allerdings oft mehr zu sagen, als in einer folgerichtigen epischen Komposition zu sagen mdglich gewesen wåre, und das war in den besten Fallen deshalb der Fall, weil in ihr ein innerer Druck wirksam war, geradezu eine Leidenschaft der Lebensanschauung, die sich in kurzen, ihre Verfasserin enthiillenden Repliken und in knappen, selten zu Perioden anwachseenden Såtzen entladen musste. Es ist ein spezieller Zug M aria Jotunis, dass die Novelle vielfach ganz auf Dialog aufgebaut ist. Das bedeutet, dass zuweilen das erzåhlende und schildernde Element so sehr verkiirzt wird, dass es fast verschwindet. Unter den fuhrenden Meistern der Zeit dUrfte diese Art keine ganz genaue Entsprechung haben, vielleicht noch allenfalls bei den Feuilletonisten und bei Altenberg. Aber die kleinen Dialoge der finnischen Novellistin sind freilich inbezug auf ihre innere Botschaft grobkorniger und schwermiitiger als ein geistvolles impressionistisches »Feuilleton«. Oben ist es ofters notwendig gewesen, ausser auf die reine Theorie auch auf die Tecknik einzugehen, die man vielleicht kurz die Theorie des schopferischen Schriftstellers nennen konnte. Die Theorie des Dichters ist ja im Grunde seine Berufskenntnis, deren Anforderungen er mehr oder weniger deutlich fiihlt. Auch er kann nicht umhin, iiber die Grundsåtze, Moglichkeiten, Geheimnisse und offenbaren Wahrheiten des beruflichen Konnens und der Kunst nachzudenken. Es besteht Veranlassung, hier auf diese Seite der Sache zuriickzukommen. Zugleich aber muss man doch sagen, dass blosses berufliches Konnen und blosse Tecknik etwas Kaltes und etwas, wenn auch nicht Unwesentliches, so doch bei tieferer Betrachtung Zweitrangiges ist. Eine Meisternovelle ist nicht deshalb eine Meisternovelle, weil sie berufliches Konnen auf diesem Gebiet beweist, sondern in erster Linie deshalb, weil uns daraus all das entgegentritt, was man etwas unbestimmt die Lebensanschauung und das Lebensgeflihl des Dichters zu nennen pflegt. Auch der Novellist ist ein Dichter, der in letzter Linie sich selbst verdolmetscht. Und zwar ist das jedcr erst-

Rafael K oskim ies

klassige Novellist und nicht nur der Verfasser von sog. lyrischen oder romantischen Erzahlungen. Theodor Storm erhob sich noch nicht auf den Hohepunkt seiner Kunst in seiner friihen Erzåhlung »Immensee«, die man als eine typische Vertreterin der lyrisch-empfindsamen Novellenart ansehen kann, sondem erst in seiner letzten, in der Novelle »Der Schimmelreiter«, die aus harten und rauhen Elementen aufgebaut ist und in der alle Nebelschleier der Sentimentalitåt unter den Stiirmen der Nordsee und unter dem Druck der tragischen Kleinheit, Schwachheit, Niedrigkeit des Menschen zerrissen sind. M aupassant war nicht deshalb ein grosser Erzåhler, weil er seinen Lesern besser als die meisten anderen »gute Geschichten« zu bieten vermochte - und wie gut sie sind! - sondern deshalb, weil er seinen Dichterblick tief in den M en­ schen, in das Wesen der Menschlichkeit eindringen liess und das, was er zu sagen hatte, in einer Sprache ausdriickte, die von Schmerz und Jubel, Verzweiflung und Heiterkeit des Dichters zittert und klingt. Das ist die letzte W ahrheit inbezug auf alle grossen Kunstler.