Die Subjektform des unternehmerischen Selbst zwischen Autonomie und Fragmentierung. Eine empirische Untersuchung zum Wandel der Subjektkulturen

Die Subjektform des unternehmerischen Selbst zwischen Autonomie und Fragmentierung Eine empirische Untersuchung zum Wandel der Subjektkulturen Magist...
Author: Eduard Reuter
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Die Subjektform des unternehmerischen Selbst zwischen Autonomie und Fragmentierung Eine empirische Untersuchung zum Wandel der Subjektkulturen

Magisterarbeit zur Erlangung der Würde des Magister Artium der Philologischen, Philosophischen und Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br.

vorgelegt von Christian Müller aus Hanau

Wintersemester 2010/2011

Soziologie

Inhaltsverzeichnis

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Einleitung und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Subjektbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Andreas Reckwitz: Subjektform und Subjektkulturen . . . . . . . . .

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3.1 Das moralisch-souveräne Allgemeinsubjekt der bürgerlichen Moderne . . . . 10 3.2 Das Angestelltensubjekt der organisierten Moderne . . . . . . . . . . . . . . 12 3.3 Das unternehmerische Kreativsubjekt der Postmoderne . . . . . . . . . . . 15 3.3.1 Paradoxien post-bürokratischen Arbeitens . . . . . . . . . . . . . . . 18 4

Michel Foucault: Das Subjekt zwischen Fremd- und Selbstdisziplinierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.1 Disziplinartechnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 4.2 Biopolitik und Gouvernementalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 4.2.1 Pastoralmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 4.2.2 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 4.3 Gouvernementalitätsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 4.3.1 Das unternehmerische Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 5

Die Dialektik des kapitalistischen Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.1 Formen der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 5.2 Paradoxien der Selbstverantwortung in einem anonymisierten Herrschaftsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

5.3 Die Arena-Gesellschaft: Säkularisierte Askese als neuer Geist des Spätkapitalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 5.3.1 Die Sorge um sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 6

Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6.1 Integrative Texthermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 6.1.1 Analysemethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 6.1.2 Sensitizing concepts: Kulturwissenschaftliche Subjektanalyse . . . . . 69 6.2 Das verwendete Interviewmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 6.2.1 Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 7

Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7.1 Einzelfallanalyse Interview IP4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 7.2 Einzelfallanalyse Interview IP5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 7.3 Einzelfallanalyse Interview IP3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 8

Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8.1 Die Delegitimierung einer Subjektform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 8.2 Körperlichkeit und Ich-Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 8.3 Das fragmentierte Selbst und Erfahrungen des Scheiterns . . . . . . . . . . 110 9

Zusammenfassung und Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Einleitung und Fragestellung Zunächst möchte ich sagen, welches Ziel ich in den letzten zwanzig Jahren in meiner Arbeit verfolgt habe. Es ging mir nicht darum, Machtphänomene zu analysieren oder die Grundlage für solch eine Analyse zu schaffen. Vielmehr habe ich mich um eine Geschichte der verschiedenen Formen der Subjektivierung des Menschen in unserer Kultur bemüht. Und zu diesem Zweck habe ich die Objektivierungsformen untersucht, die den Menschen zum Subjekt machen.1 Michel Foucault

Das Konzept des Subjekts kann als eine der zentralen Kategorien moderner und ›postmoderner‹ Theoriebildung bezeichnet werden - als »heuristisches Schlüsselkonzept der Kultur– und Sozialwissenschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts.«2 Von der ›Geburt‹ des modernen Subjekts im Descartschen Postulat des sich selbst als Ausgangspunkt jeglicher Erkenntnis setzenden Ichs bis zu ›Tod‹ und ›Fragmentierung‹ des Subjekts in der Theoriebildung der Postmoderne bildet es Schnitt- und Zielpunkt von Diskursen, Machtpraktiken und Technologien des Selbst. In der Form eines Subjekts zu einem gegebenen Zeitpunkt bilden sich ökonomische, soziale, politische, historische, kulturelle und individuelle Umstände ab. Das Subjekt kann dabei als eine Art von Inkorporierung einer spezifischen kulturellen Lebenssituation betrachtet werden. In diesem Sinne kann das Konzept des Subjekts als »›sensitizing instrument‹ – für materiale Analysen«3 dienen; als Indikator, an dem sich über entsprechende hermeneutische Methoden Praktiken und Technologien von Subjektivierung rekonstruieren lassen. An diesem Punkt möchte die vorliegende Arbeit ansetzen. Sie gliedert sich in zwei Teile: In den Kapiteln 2 – 5 werden zunächst die verschiedenen Ansätze zur Thematik der 1 2 3

Foucault, Michel: Analytik der Macht. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2005, S. 240. Reckwitz, Andreas: Subjekt. Transcript, Bielefeld, 2010, S. 10. Ebd., S. 11.

1 Einleitung und Fragestellung

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Subjektivierung vorgestellt, die den allgemeinen theoretischen Rahmen der Arbeit bilden. Wenn sich im Individuum als Subjekt verschiedene Praktiken und Techniken von Subjektivierung bündeln, dann werden diese ihre Spuren hinterlassen, die sich schließlich in der Empirie nachweisen lassen. Es lässt sich ein Abbild erstellen und eine Bestandsaufnahme durchführen, die den Blick auf die Subjektstrukturen freilegt; auf von ihnen erzeugte und reproduzierte Subjektkulturen, ihr konstitutives Außen, ihre Positionierungen und Verortungen und auf etwaige Brüche oder Inkonsistenzen. Diese Rekonstruktion soll im zweiten Teil der Arbeit in den Kapiteln 6 – 9 erfolgen. Dabei interessieren vor allem Entwicklungen allgemeiner Imperative einer unternehmerischen Lebensführung und Selbsthermeneutik im Kontext des kapitalistischen Geistes der Gegenwart, die tendenziell auf vormals getrennte Lebensbereiche übergreifen und diese entsprechend strukturieren. In diesem Sinne kann von einem Übergangsstadium zu einer neuen hegemonialen Normalform des Subjekts gesprochen werden. Diese trifft dabei auf bereits etablierte Formen, die sich im Zuge dieses Konfliktes mit Prozessen ihrer Delegitimierung konfrontiert sehen. Das Forschungsinteresse gilt dem Umgang der Subjekte mit Subjektivierungsformen im Sinne der Imperative unternehmerischer Selbstführung. In welcher Weise eignen sich Subjekte neue Formen des doing subject an, in welcher Weise geraten sie in Konflikt damit oder entwickeln eigene Formen der Aneignung? Finden sich homogene Formen der Aneigung, lassen sich Brüche feststellen oder Inkompatibilitäten, gibt es eindeutige Delegitimierungsprozesse? Welche neuen Codes etablieren sich oder verschwinden im Zuge einer solchen subjektkulturellen Transformation, welche werden von Subjektkulturen der Vergangenheit übernommen oder erfahren eine Recodierung? Vor diesem Hintergrund wurden sieben qualitativ geführte Interviews untersucht. Alle Informanten waren zum Zeitpunkt der Erhebung Angestellte verschiedener Tätigkeitsbereiche eines deutschen Industrieunternehmens. Das Material wurde nach der Methodik der integrativen Hermeneutik untersucht und wies aus sich heraus den Weg zu unterschiedlichen Analysemethoden. Der Blick auf Subjektivierungsformen stand dabei als heuristischer Rahmen stets im Vordergrund und beschränkt sich auf die beiden Felder Arbeit und

1 Einleitung und Fragestellung

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Privatsphäre. Reckwitz definiert für das moderne Subjekt »Drei primäre Subjektivationsorte: Arbeit, Intimität, Technologien des Selbst.«4 Die beiden letztgenannten sollen hier in eine Kategorie zusammengelegt werden, in der sich auch und vor allem Aspekte von Privatleben und Familie wiederfinden sollen. Durch die derzeitige Dominanz von Imperativen der Arbeitssphäre und deren Ausdehnung auf andere Subjektivationsorte lag es nahe, an dieser Stelle den Schwerpunkt zu setzen. In den folgenden Kapiteln sollen zunächst die theoretischen Konzepte vorgestellt werden, die sich als adäquate Mittel erwiesen haben, um die Ergebnisse verorten und anschlussfähig machen zu können. Dabei handelt es sich um allgemeine Theoriebildung im Bereich der Subjektivierung und Machttheorie und im Speziellen um Auseinandersetzungen mit Phänomenen und Praktiken neoliberaler Gouvernementalität im Geiste des ›Netzwerkkapitalismus‹. Reckwitz entwickelt in Das hybride Subjekt 5 eine Geschichte der Subjektkulturen vom 18. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Dabei weist er drei dominante Subjektkulturen auf und zeigt, wie diese sich in der Geschichte der Moderne in dialektischer Bewegung voneinander abgrenzen, aufeinander beziehen und mitunter hybride Strukturen und Intertextualitäten ausbilden. Die so gewonnene Perspektive erlaubt eine sehr differenzierte Analyse von Subjektformen und ihre Verortung in Relation zu spezifischen Subjektkulturen. Wegweisend für große Teile der Subjekttheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die Arbeiten Michel Foucaults, die auch für diese Untersuchung eine weitere wichtige Grundlage darstellen. Foucault selbst betonte vor allem in seiner späten Schaffensphase immer wieder, dass das umfassende Thema seiner Arbeit nicht die Macht, sondern das Subjekt sei.6 Waren seine frühen Werke wie Wahnsinn und Gesellschaft,7 Die Geburt

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Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Velbrück Wissenschaft, 2010, S. 55. Ebd. Vgl. Foucault, Michel, Analytik der Macht. S. 240. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1978.

1 Einleitung und Fragestellung

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der Klinik,8 Die Ordnung des Diskurses 9 oder Überwachen und Strafen 10 implizit eher von einem negativen, ausschließenden und repressiven Machtkonzept geprägt, verschob sich Foucaults Akzent in den letzten Jahren vor seinem Tode 1984 zum einen stärker auf ein Machtkonzept, das insofern ein Produktives ist, als daß es nicht nur Möglichkeiten einschränkt, sondern Handlungsfelder erzeugt und Normalität innerhalb eines spezifischen Spektrums definiert. Zum anderen wird aber vor allem auch die Rolle der Methoden und Techniken der Selbstoptimierung deutlicher, mit denen Subjekte sich auch aus eigenen Motiven heraus zu dem machen, was sie sind – Subjekte werden produziert, produzieren sich jedoch gleichermaßen selbst. Foucaults Arbeiten werden seit einigen Jahren mit großem Engagement von den sogenannten Gouvernemental Studies aufgegriffen und zur Diagnose kapitalistischer Gesellschaftssysteme neoliberaler Prägung verwendet. In diesem Kontext lassen sich auch die Arbeiten Ulrich Bröcklings verorten, dessen Studie zum unternehmerischen Selbst 11 sich für die vorliegende Arbeit ebenfalls als sehr ergiebig erwiesen hat. Bröckling zeigt darin die Genese des Imperativs unternehmerischen Handelns von seinen Ursprüngen in der Managementliteratur hin zu einem kategorischen Imperativ der Gegenwart, der als grundlegende Form der Subjektivierung für alle Lebensbereiche Gültigkeit beansprucht. Die Studie Der neue Geist des Kapitalismus 12 von Luc Boltanski und Ève Chiapello macht in vergleichsweise großer theoretischer Distanzierung zum Subjekt die Bewegungen des Wandels des kapitalistischen Geistes der vergangenen 150 Jahre sichtbar. Analog zu den drei hegemonialen Subjektkulturen die Reckwitz aufzeigt, weisen die Autoren dabei drei verschiedene Ausprägungen des kapitalistischen Geistes nach. Dabei wird vor

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Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Fischer, Frankfurt a.M., 2005. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Fischer, Frankfurt a.M., 2007. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1994. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2007. Boltanski, Luc und Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz, 2006.

1 Einleitung und Fragestellung

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allem der Rolle der Kritik am kapitalistischen Geist Rechnung getragen und damit auch den Weisen der Aneignung, der Umdeutung und des Widerstandes gegen die jeweiligen Lebens-, Arbeits-, und Existenzbedingungen von Seiten der Subjekte. Dieser Widerstand macht es dem Kapitalismus dabei überhaupt erst möglich die Bereiche wahrzunehmen, in denen Anpassungen notwendig sind, um die Kritik wieder zu beschwichtigen und weiterhin eine reibungslose Funktion des Akkumulationsprozesses gewährleisten zu können. Gabriele Wagner wendet im Anschluss an Boltanski und Chiapello diese Perspektivierung auf den zeitlichen Kontext der Gegenwart an und verbindet diese mit Erkenntnissen der Gouvernemental Studies.13 Der Theorierahmen verweist aus verschiedenen Blickwinkeln in spezifischer Weise auf die dialektische Dynamik von Subjektivierungsprozessen. Nach Boltanski und Chiapello findet der kapitalistische Geist seine jeweilige Form in einer Bewegung zwischen den Polen der kapitalistischen Praxis der Produktionsformen und der Kritik der Subjekte an diesen. Mit Reckwitz vollziehen sich derartige Aushandlungsprozesse analog auch auf dem Feld der Subjektkulturen - und auch Foucault betont das Prinzip der Wechselseitigkeit von Praktiken der Macht und Praktiken des Selbst. Die Theorieansätze werden im Folgenden zunächst ausführlich vorgestellt, um anschließend im Empirieteil der Arbeit zur Anwendung zu kommen. Sie bilden die begriffliche Grundlage und den Kontext, in dem sich die Forschung bewegen wird. An entsprechenden Stellen werden weitere theoretische Konzepte hinzukommen. Zu Beginn soll zunächst in das Konzept des Subjekts eingeführt werden, das die Basis der Arbeit darstellt.

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Wagner, Gabriele: Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien der Selbstverantwortung. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 3/2007 (2007), S. 3–24.

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2 Der Subjektbegriff Konstitutiv für das Subjekt ist seine Doppelstruktur. Bereits die Bedeutung des Begriffes Subiectum weist darauf hin: »[. . . ] es ist das in die Höhe Erhobene und das Unterworfene. Es ist einerseits das Zentrum autonomen Handelns und Denkens – vom Subjekt der Geschichte bis zum grammatikalischen Subjekt eines Satzes. Und es ist das, was übergeordneten Strukturen unterliegt.«14 Als Schnitt- und Fluchtpunkt von Macht- und Diskurspraktiken sowie Technologien des Selbst oder des Sozialen, ist das Subjekt »der gesellschaftlich und geschichtlich konkrete und in sozialen Beziehungen geistig und körperlich tätige Mensch.«15 Der Mensch ist in seiner jeweiligen Subjektform der Punkt, von dem Praktiken der Erzeugung von Welt ausgehen und auf den diese sich wiederum beziehen. Diese Dualität macht die Untersuchung seiner Form vermittels dieses Konzepts zu einem ergiebigen analytischen Werkzeug. In ihr manifestieren sich zu einem gegebenen Moment ökonomische, historische und soziale Umstände, Wünsche, Praktiken oder Ängste. Dabei ist es jedoch keine Entität, die im Zuge dieser Praktiken besetzt und in einer wie auch immer gearteten Ursprünglichkeit verstellt oder entfremdet wäre, sondern es ist per se eine produzierte, historische Kategorie. Das Subjekt existiert erst in seiner Einschreibung in diskursive Oberflächen und Dispositive, es ist für seine Emergenz auf den Diskurs als Ort des Sprechens und Handelns angewiesen.16 Es gilt dabei immer zu beachten, dass es sich beim Konzept des Subjekt lediglich um eine Idee handelt, um das zu denken, was der Mensch in seiner historisch- und kulturell-spezifischen Seinsweise jeweils in Reflexion über sich selbst zu sein meint. Das Subjekt wird also gleichermaßen vermittels Subjekt14

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Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. S. 9. Hillmann, Karl-Heinz: Wörterbuch der Soziologie. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 1994, S. 849. Vgl. Stäheli, Urs: Poststrukturalistische Soziologien. Transcript, Bielefeld, 2000, S. 48.

2 Der Subjektbegriff

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theorie hervorgebracht und stellt somit eine ›Erfindung‹ des Menschen in theoretischer Bearbeitung seiner Existenzbedingungen dar. Vor allem das autonome und rationale Subjekt der freien Entscheidung ist ein Produkt der ›großen Erzählung‹ der aufklärerischen, europäischen Moderne, und damit eine »Figur des (bürgerlichen, weißen, heterosexuellen) Mannes [. . . ].«17 Speziell die Theoriebildung des sogenannten Poststrukturalismus verabschiedet mit dieser Perspektive das Descartsche Subjekt, das sich in Selbstbezug als Ausgangspunkt jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis setzt. Foucaults These vom »Tod des Subjekts«18 meint die Dekonstruktion dieser analytischen Kategorie eines selbstidentischen und autonom handelnden Subjekts. Die Fragmentierung und damit Negation einer Ich-Identität vermittels unterschiedlicher Subjektivierungsorte- und techniken stellt vielmehr die Normalform dar.19 Eine Autonomie des Subjekts existiert nur im Bezug auf die vorhandenen Konstitutionsbedingungen. Diese weisen immer auch über sich selbst hinaus und eröffnen damit Potential für Veränderungen, nichts desto trotz erzeugen aber erst sie spezifische Formen von Subjektivität und strukturieren Möglichkeitsfelder. Darin liegt eine grundlegende Paradoxie: »[. . . ] sie [die Subjekte, C.M.] erhalten ihre Handlungsfähigkeit gerade in der Unterwerfung unter die Bedingungen, zu denen sie sich dann wiederum verhalten können.«20 So definieren sich auch Begehrensstruktur und Weisen der Selbsthermeneutik über die jeweiligen Konstitutionsbedingungen von Subjektivität. Eine wie auch immer geartete persönliche ›Wahrheit‹, nach der das Individuum, etwa im Begehren nach Selbstfindung, -entfaltung oder -verwirklichung in seinem Inneren sucht, ist ebenfalls das Konstrukt historisch-spezifischer Macht-Wissen-Komplexe.21 Somit handelt es sich vor allem beim Subjekt der Postmoderne um eine hybride Form, die sich in einem heterogenen 17

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Meißner, Hanna: Jenseits des autonomen Subjekts. Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault, Marx. Transcript, Bielefeld, 2010, S. 9. Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1974. Vgl. Stäheli, Urs, Poststrukturalistische Soziologien. S. 50. Meißner, Hanna, Jenseits des autonomen Subjekts. Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault, Marx. S. 11. Zur Thematik der Dialektik von Handlung und Struktur vgl. etwa Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. Campus Verlag, Frankfurt a.M.; New York, 1997. Vgl. Dahlmanns, Claus: Die Geschichte des modernen Subjekts. Michel Foucault und Norbert Elias im Vergleich. Waxmann Verlag, Münster., 2008, S. 81.

2 Der Subjektbegriff

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Ensemble von Kontexten ausbildet. In dieser Hinsicht bewegen sich Analysen von Subjektivität immer im Rahmen einer unhintergehbaren Relativität, die es in die Analysen mit einzubeziehen gilt. Dazu sollen die im Folgenden dargelegten Theorien zu Subjektivierungsformen beitragen. Das Subjekt kann hier nur in einem begrenzten Ausschnitt und in Bezug auf kulturell höchst spezifische Konstitutionsbedingungen betrachtet werden. Die derzeitigen Transformationen und grundlegenden Tendenzen des Wandels lassen diesen Blick in die Systematik der Produktionsbedingungen von Subjektvitität unter dem Geiste spätkapitalistischer Kulturen zu Beginn des 21. Jahrhunderts lohnenswert erscheinen. Einem kulturtranszendentalen Anspruch kann und soll ein solcher Ansatz dabei jedoch nicht gerecht werden. Nach einer Einführung in die grundlegende Idee des Subjekts soll dessen Genese zunächst in seiner jeweiligen Form im Zusammenspiel und in Wechselwirkung mit verschiedenen Ausprägungen von Subjektkulturen betrachtet werden. Die beiden Konzepte der Subjektkulturen und Subjektformen bilden in diesem Sinne ein geeignetes Instrumentarium für kultursoziologische Untersuchungen. Daran anschließend bieten die Theorien Foucaults einen spezifischeren Fokus auf Formen der Subjektivierung.

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3 Andreas Reckwitz: Subjektform und Subjektkulturen Das hybride Subjekt 22 von Andreas Reckwitz, stellt eine kulturtheoretische Auseinandersetzung mit den dialektischen Entwicklungsprozessen der Moderne dar, die dabei vor allem auf das Konzept des Subjekts fokussiert. Der Autor untersucht das Auftreten unterschiedlicher Subjektformen und -ordnungen innerhalb von kulturellen Konfliktfeldern, auf denen es zu Aushandlungen über hegemoniale Subjekformen und zu gegenseitigen Abgrenzungsund Aneignungsprozessen kommt. Dabei zeigt sich das postmoderne Subjekt vor allem in seiner hybriden Struktur als Überlagerung verschiedener kultureller Muster. Die unterschiedlichen Konstellationen stellen sehr ergiebige subjekt- und zeitanalytische Kategorien zur Verfügung, vermittels derer sich vorgefundene Subjektformen untersuchen und beschreiben lassen. Dabei werden drei primäre Subjektivationsorte unterschieden: Arbeit, Intimität und Technologien des Selbst. Die vorliegende Arbeit setzt den Schwerpunkt vor allem auf den Bereich der Arbeit und möchte anhand des analysierten empirischen Materials ein Abbild der vorgefundenen Subjektformen herausarbeiten. Reckwitz selbst weist für die Subjektkultur der Postmoderne auf eine Überdetermination in Richtung der Entstehung einer ›kreativ-unternehmerischen‹ Arbeitskultur hin, in der die soziale Normalform der Wettbewerb ist und die Instanz des Subjekts als Unternehmen vorgestellt wird.23 Gerade der Lebensbereich-übergreifende Charakter der Imperative neoliberaler Subjektivierungsregime lassen eine Subjektanalyse mit Schwerpunkt auf den Subjektivierungsort der Arbeit legitim erscheinen. Zudem scheinen Veränderungen auf dem Sektor der Arbeit für die Entwicklungen der Subjektkulturen der Moderne ein entscheidener, wenn 22

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Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Vgl. ebd. S. 506f.

3 Andreas Reckwitz: Subjektform und Subjektkulturen

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nicht der entscheidende Faktor zu sein. Es wird zu zeigen sein, ob und in welcher Art die genannten Unterscheidungen der Subjektivationsorte gerade in der Subjektform des unternehmerischen Selbst überhaupt noch abgrenzbare Sphären darstellen oder ob Tendenzen der Entgrenzung der Subjektivationsorte für sie nicht gar charakteristisch sind. Dennoch werden neben dem Ort der Arbeit die beiden Bereiche der Intimität und der Selbsttechnologien in der Definition als Privatheit/Familie Berücksichtigung finden. Reckwitz macht in der Zeitspanne zwischen dem 18. Jahrhundert und dem 21. Jahrhundert drei unterschiedliche hegemoniale Subjektkulturen aus, die nun in einem für diese Arbeit notwendigem Umfang im Folgenden skizziert werden sollen.

3.1 Das moralisch-souveräne Allgemeinsubjekt der bürgerlichen Moderne Die Subjektkultur der bürgerlichen Moderne positioniert sich zunächst in doppelter Abgrenzung zur Volkskultur und zur aristokratischen Kultur. Erstere war im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert quantitativ dominant, letztere kulturell hegemonial.24 Im Zuge neuer Praktiken der Arbeit, der Ökonomie und persönlicher Beziehungen entsteht die genuin moderne Subjektform, »der ›neue Mensch‹ der Moderne in seiner ersten diskursiven wie körperlich-mentalen Fassung.«25 Im Anspruch kultureller Hegemonie grenzt sich das bürgerliche Subjekt von der aristokratischen Subjektordnung ab und wertet deren kulturelle Praktiken als Patrikularismus einer Gruppe ab. In Distinktion zum exzessivmaßlosen, artifiziellen, amoralischen und dekadenten Lebensstil in Müßiggang und falschem Schein, entwickelt sich das bürgerliche Arbeitssubjekt, das statt parasitär von ererbtem Wohlstand, nun in Eigenverantwortlichkeit und ökonomischer Autonomie seine Existenz 24

25

Vgl. Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. S. 97. Vgl. ebd. S. 97 [Hervorhebung im Original].

3 Andreas Reckwitz: Subjektform und Subjektkulturen

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bestreitet. Es widersteht in disziplinierter Moderatheit den Versuchungen des Körperlichen, vertritt Integrität, Offenheit und Ehrlichkeit. Es ist geradlinig, ehrlich, strebsam und fleißig, kämpft für den Ernst des Lebens und dizipliniert sich in streng methodischer Lebensführung. Dabei gilt es für diesen self made man vor allem auch gegenüber potentiellen Geschäftspartnern das Gesicht und den Ruf zu wahren. Reckwitz merkt an, dass jedoch gerade eine solche strikte Differenzmarkierung zu Exzess und Unberechenbarkeit darauf hinweist, dass eine derartige Kultur gerade auf »Elementen einer solchen ordnungssprengenden Grenzüberschreitung« basiert. Dieses konstitutive Außen der Bürgerlichkeit ist die »Konstellation des unberechenbaren ›Marktes‹ von Waren und Geld.«26 Im bürgerlichen Subjekt findet sich ein hybrides Arrangement von ordnungsstiftenden Praktiken des Maßvollen und solchen der spekulativen Chancenkalkulation – etwa an der Börse in der Haltung des Spielers. In der Kategorie Privatheit/Familie etabliert das Subjekt der bürgerlichen Moderne eine Selbsthermeneutik, nach der nur innerhalb familiärer und freundschaftlicher Beziehungen eine vollwertige und legitime Existenz möglich ist. Diese bildet im Gegensatz zur entgrenzten Sphäre von Verwandtschaft und Patronagesystem der höfischen Gesellschaft eine private Welt. Die Ehe stellt keine arrangierte Zweckgemeinschaft dar, sondern eine intime, nach außen separierte Zweiergemeinschaft.27 Eine Leitsemantik des bürgerlichen Subjekts ist dabei Natürlichkeit, Authentizität und Ehrlichkeit. Der inhaltliche Bezugspunkt ist der ›Mensch‹. Die bürgerliche Philosophie als humanwissenschaftlicher Interdiskurs, der sich in politischer Theorie, Pädagogik oder den Verhaltenslehren konkretisiert, trägt in großem Maße zur Bildung der rationalen Moralität des bürgerlichen Charakters bei.28 Neben demonstrativer Abgrenzung eignet sich das souveräne bürgerliche Subjekt jedoch auch Teile der verworfenen Adelskultur an. Der Adelshabitus bietet etwa Dispositionen 26

27 28

Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. S. 128. Vgl. ebd. S. 134ff. Vgl. ebd. S. 179, 182. Vgl. dazu etwa auch Horkheimers und Adornos allegorische Deutung der Odyssee als Veranschaulichung der Entstehung des bürgerlichen Individuums und des autonomen Selbst in: Horkheimer, Theodor und Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Fischer, Frankfurt a.M., 2008, S. 50ff.

3 Andreas Reckwitz: Subjektform und Subjektkulturen

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einer ausbalancierten, souveränen Selbstregierung, eines körperlichen ›An-Sich-Halten[s]‹ oder Anteile höfischer Sitten wie etwa Konversationskompetenz und Höflichkeit.29 Ebenso finden Sinntransfers zwischen der völkischen Kultur und dem Bürgertum statt, etwa im Sinne einer Moralisierung von Ehe und Familie oder der Übernahme von Elementen protestantischer Arbeitsethik. Eine weitere Disposition die alle sozialen Felder durchzieht, ist die der handlungsorientierten, selbstreflexiven Rationalität als natürlich-universale Eigenschaft des Subjekts. Genauer bilden sich dabei drei Reflexionspraktiken heraus: Selbstbeobachtung, Entscheidungsfindung und moralischer Sinn.30 Derartige Sinntransfers und Intertextualitäten erweisen sich als charakteristisches Merkmal für Konstitution und Entwicklung der Subjektkulturen und -formen der Moderne.

3.2 Das Angestelltensubjekt der organisierten Moderne Der Beginn des 20. Jahrhunderts bringt zahlreiche strukturelle Transformationen mit sich: Auf der Ebene der material-technologischen Kultur, der humanwissenschaftlichen Diskurse (wie etwa Familien- und Sexualpsychologie, Soziologie, Pädagogik) mit neuen Leitcodes des Technischen und des Sozialen, sowie in Form verschiedener sozial-kultureller, ästhetisch-avantgardistischer Gegenbewegungen.31 Auf gesellschaftlicher Ebene vollzieht sich vor allem eine Neustrukturierung von Zeitlichkeit und Räumlichkeit. Phänomene der Massenkultur und eine Beschleunigung von Ereignissen, Bewegungen und Prozessen, etwa auf den Gebieten der Transport und Informationstechnologie, ziehen veränderte soziale Praktiken nach sich. In verdichteter Form wird das Subjekt im urbanen Kontext mit einer neuen Erfahrung von Gleichzeitigkeit konfrontiert, eine Konstellation die auch für neu emergierende Medientechnologien charakteristisch ist. Mit dem bürokratisierten Großbetrieb, der auch eine neuartige soziale Form darstellt, entsteht eine kapitalistische Organisationsstruktur mit rationalisierten Arbeitsprozessen und der industriellen Produk29

30 31

Vgl. Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. S. 183. Vgl. ebd. S. 193. Vgl. ebd. S. 275.

3 Andreas Reckwitz: Subjektform und Subjektkulturen

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tion von standardisierten Massengütern, die für das Zeitalter der ›organisierten Moderne‹ bezeichnend sein wird.32 Vor dem Hintergrund dieser Umwälzungen findet eine allmähliche Delegitimierung der bürgerlichen Subjektform statt, die mit den restrukturierten sozialen Praktiken nicht mehr kompatibel ist.33 Die neue Artefaktkultur zieht neue Subjektdispositionen nach sich, neue Dispositionen des Handelns in sozialen und technischen Kollektiven.34 Der hegemoniale Sozialcharakter ist der des Angestelltensubjekts. Seine Identität bildet sich primär im Kontext sozialer Gruppen. Ein entscheidendes Strukturmerkmal des Sozialen ist dabei die Organisierbarkeit, sowohl in der Sphäre der Arbeit, als auch im Feld des Privaten.35 Das Training dieses Sozialtypus ist eines in sozialer Zugewandtheit. Im Bereich der Arbeit wird dies etwa im Kontext von Großorganisationen notwendig, in denen für einen störungsfreien Betrieb Kompetenzen des ›social adjustment‹ und des ›personal salesmanship‹ prämiert werden: Der Einzelne bewegt sich in einem konfliktträchtigen Raum von Fremden, die voneinander kaum etwas wissen, zu denen er einerseits theoretisch in Konkurrenz um Aufstiegschancen innerhalb der internen Hierarchie steht, sich mit ihnen jedoch andererseits gleichzeitig im Zustand der Dauerinteraktion befindet, um im Interesse der ›Sache‹ das Funktionieren der Organisation zu gewährleisten. Die relative Verlässlichkeit im Kontext der bürgerlichen Kultur, im beruflichen Umfeld mit Mitgliedern des eigenen Milieus umzugehen, entfällt. Statt dessen besteht der Zwang, in für bürgerliche Verhältnisse undenkbarem Umfang, den Arbeitsalltag mit diesen fremden Personen teilen zu müssen. Mit der Disposition der sozialen Anpassung wird in diesem Kontext ein Verhalten belohnt, das für alle sichtbar demonstriert, ein freundliches, umgängliches, konsensorientiertes, tolerantes und interessiertes Subjekt zu 32

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Eine erste bedeutende qualitative Studie der Lebenswelt und Persönlichkeitsstrukturen des neu entstandenen Angestelltenmilieus führte Siegfried Kracauer 1929 durch. Vgl. Kracauer, Siegfried: Die Angestellten. Eine Schrift vom Ende der Weimarer Republik. Verlag für Demoskopie, Allensbach und Bonn., 1959 Vgl. Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. S. 279. Reckwitz weist in diesem Zusammenhang auch auf Walter Benjamin hin, der in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit die Zusammenhänge zwischen Subjekform und Technik zum ersten mal untersuchte. Vgl. ebd. S. 279. Vgl. ebd. S. 283.

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sein, das zum Gelingen der gemeinsamen Operation sein möglichstes beiträgt, sich loyal gegenüber der Organisation verhält und seine Verhaltensweisen für alle berechenbar an einem allgemeinverträglichen Maßstab der Normalität orientiert.36 Das Ideal-Ich ist hierbei das des Manager-Ingenieurs oder des organization man, das sich vom Selbständigenhabitus des self-made man der Bürgerkultur abgrenzt. Dieser erscheint nun unprofessionell, vorwissenschaftlich, unkooperativ und introvertiert. Analoge Differenzmarkierungen und Codes entwickeln sich auf dem Feld des Privaten und der Familie. Der selbstreflexiven Innerlichkeit des bürgerlichen Subjekts gegenüber entwickelt sich eine Kultur der peer society. In sozial verdichteter, idealtypischer Form findet sich diese in den US-amerikanischen suburbs, die auch auf der Ebene der Wohnverhältnisse ein Gegenkonzept zum bürgerlichen Wohnhaus in der Großstadt darstellen.37 Zur Definition der peer society: Nach-bürgerliche Intimitätssubjekte nehmen einander als peers wahr und formen sich als peers, das heißt als ›Gleiche‹ die aus dieser ›unkomplizierten‹ – nichtsdestotrotz voraussetzungsreichen – Gleichheit das zweckfreie Vergnügen des Sozialen ziehen; persönliche Beziehungen erscheinen nun in einem spezifischen Sinne als ›soziale‹ Beziehungen. Dies gilt für nach-bürgerliche Freundschaftsverhältnisse und Eltern-Kind-Relationen ebenso wie für Ehen, die zu ›Partnerschaften‹ werden.38

Die Soziabilität wird dabei zum subjektivierenden ›Identifikationsmechanismus‹. Codes der Bürgerlichen Kultur wie ›Freundschaft‹, ›Liebe‹ oder ›respektable Gesellschaft‹ werden in Modifikation im Kontext des ›peer-Code‹ neu definiert. In der suburbia-Gemeinschaft entstehen Nachbarschaftsnetzwerke, Sportclubs und Organisationsstrukturen zur gemeinsamen Gestaltung der Freizeit. Das Subjekt trainiert sich Dispositionen der Soziabilität an, es gilt ein freundliches, interessiertes und unverbindliches Auftreten zu wahren. Die peer-society wird auch zum Entstehungshintergrund und Darstellungsfeld von Ehe und Kindererziehung; die Partnerschaftlichkeit unter prinzipiell Gleichen muss dabei ähnlich 36

37 38

Vgl. Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. S. 348. Vgl. ebd. S. 359. Ebd. S. 359 [Hervorhebungen im Original].

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unkompliziert sein können wie unter peers. Es entstehen gemeinsame Aushandlungsprozesse über das was als normal gilt, und die Einhaltung eines perfekten Maßes an Normalität gereicht zu Popularität und sozialem Erfolg.39 Am Standard psycho-sozialer Normalität wird dabei auch die nach außen sichtbare Performance von Familie und Ehe (mit dem ›Gemeinschaftsprojekt‹ der Kinder) und damit der Status von Intimbeziehungen im allgemeinen gemessen und soziale Anerkennung und Zurechnungsfähigkeit erzeugt. Auch im Subjekt der organisierten Moderne findet sich ein verstoßenes Außen, das zugleich auch konstitutive Wirkung hat. Das bürgerliche Subjekt diszipliniert sich in Abgrenzung zur aristokratischen Exzentrik im innenorientierten Medium der Moral und Selbstregierung, während im Angestelltensubjekts das Regulativ der Sozialität wirkt. Das Prinzip der Regulierung an überindividuellen Formen bleibt damit jedoch bestehen und wirkt in der Form der sozio-technischen Struktur der Organisation. Die Selbstdisziplinierung des bürgerlichen Arbeitssubjekts wird abgelöst durch die Fremddisziplinierung des Angestelltensubjekts.40 Ein Sinntransfer findet zudem in der Übernahme von Sinnmustern einer strukturierten, geordneten und an Prinzipien der Vernunft und Rationalität orientierten Lebensführung statt.41

3.3 Das unternehmerische Kreativsubjekt der Postmoderne Die hegemoniale Subjektform der Postmoderne soll in der ›gesellschaftlichen Normalform‹ des unternehmerischen Kreativsubjekts 42 Analysegegenstand der vorliegenden Arbeit sein. Und zwar in der von Bröckling (Siehe Kapitel 4.3.1) betonten Weise, dass es sich dabei 39

40 41

42

Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. S. 364. Ebd. S. 430f. Reckwitz merkt an, dass vor allem die Soziologie der USA der 1940er bis 1970er Jahre eine Disziplin zur Analyse der Moderne in der Form der organisierten Moderne war. Auch Strömungen wie die der Frankfurter Schule lassen sich hier einordnen. Sie beurteilen die Angestelltenkultur dabei vor allem am Maßstab der Autonomie der Bürgerlichkeit und pathologisieren Subjektformen der organisierten Moderne. Auch das Prinzip der Außenorientierung wurde zum Gegenstand zeitgenössischer Diagnosen, wie etwa in Erwin Goffmans Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag Vgl. ebd., S. 285f., S. 438. Vgl. ebd., S.506, 519f.

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nicht um eine empirisch beobachtbare Entität handelt, sondern um eine spezifische Art der Adressierung von Subjekten, einer ›Anrufung‹ im Sinne Althussers und einer Richtung der Selbstmodifikation im Interesse der Erhaltung von Anschlussfähigkeit an eine gesellschaftliche Ordnung, die sich zunehmend über Marktmechanismen assoziiert.43 Einer der zentralen Konflikte um die legitime Subjektform der Postmoderne findet dabei zwischen der Subjektform des Angestelltensubjekts und der des unternehmerischen Kreativsubjekts statt. Wie in Kapitel 5 auch Anhand der Studien von Boltanski und Chiapello zu zeigen sein wird, stellt die Avantgardekultur der counter culture mit einem im Sinne der Künstlerkritik geäußerten Autonomie- und Emanzipationsbedürfnis, die Antithese zur Lebens- und Arbeitsgestaltung der Angestelltenkultur dar. Leitmotivisch sind dabei symbolproduzierende Tätigkeiten in projekt- und teamförmiger ›Kreativarbeit‹. Die Mitglieder dieser Teams sind dabei unverbindlich assoziierte Intrapreneurs, die auch innerhalb von Unternehmen die Tätigkeit von selbständigen Unternehmern imitieren.44 Das Modell des Kreativsubjekt ist dabei mit einer Begehrensstruktur verknüpft, die den Stellenwert der Suche nach Status des Angestelltensubjekts als konformistisch verwirft und in der Arbeit nach ästhetischer und authentischer Erfahrung und Verwirklichung des eigenen Selbst sucht. Soziale Statussicherung, Technokratie und Bürokratie werden als von außen auferlegte Zwänge abgelehnt. Stattdessen soll Arbeit post-romantisch zu einer intrinsisch motivierten, ganzheitlichen Aufgabe werden, die die Herausforderung bietet, zusammen mit Gleichgesinnten etwas Neues zu erschaffen.45 Die beiden Teile des Kreativen und des Unternehmerischen des post-bürokratischen Arbeitssubjekts bilden eine Hybridstruktur: Das Subjekt muss sein Handeln zugleich nach Maßstäben ›inneren Wachstums‹ und in einer Außenorientierung an den Anforderungen eines freien Marktes gestalten. Der kulturelle Andere des Angestelltensubjekts der Moderne erscheint in dieser Perspektive als vormodern und defizitär, die Einbindung in starre, hierarchische Strukturen von Großor-

43 44

45

Vgl. Bröckling, Ulrich, Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. S. 46f. Vgl. Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. S. 509. Vgl. ebd., S. 504f.

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ganisationen als unflexibel, artifiziell und fremdgesteuert. Der Wunsch nach Individualisierung steht der Orientierung an einem Horizont der Normalität einer Massenkultur diametral entgegen. ›Stützdiskurse‹ einer ›Humanisierung der Arbeit‹, der Persönlichkeitsund Motivationspsychologie, des radikalen Konstruktivismus und vor allem des politischökonomischen Managementdiskurses fließen auch in politische Programme neoliberaler Gouvernementalität ein, welche in Kapitel 4.3 ausführlicher dargestellt werden. In Abgrenzung zu Codes des Sozio-Technischen im Programm des social engineering der organisierten Moderne, erfolgt ein Rückgriff auf Elemente des bürgerlichen Gesellschaftsund Subjektdiskurses, in dem das Subjekt als Instanz souveräner, freier Wahl vorgestellt wird, statt in soziale und technische Kontexte eingebettet zu sein.46 Prämiert wird personal salesmanship nicht mehr nur durch soziale Konformität, sondern verstärkt durch klassisch bürgerliche, ›innerliche‹ Fähigkeiten der Selbstkontrolle und Selbstorganisation. Gegenstand postmoderner Arbeitspraktiken sind nicht mehr die Planung, Kontrolle, Ausführung und Koordination geregelter Prozesses, sondern die Erzeugung neuer Artefakte, Marken, Produkte, Unterhaltungsangebote, Informationssysteme, Werbestrategien – der ästhetische Effekt der Produkte steht dabei im Gegensatz zu Praktiken des Engineering im Vordergrund.47 Routinisierte und standardisierte Arbeitsabfolgen werden abgelöst von einem Kreativprozess, mit dem Ziel, Neues zu schaffen, und vermittels derer sich das Arbeitssubjekt seiner Individualität zu versichern meint. Kreativität wird zum biographischen Projekt, zu einem unabschließbaren Prozess der Transformation des Ichs, das durch immer neue Erfahrungen in seiner Persönlichkeit ›wächst‹. Dies kommt der Entfaltung eines natürlichen menschlichen Motivationspotentials möglichst nahe, was sozialethisch zugleich zu einer Abwertung der unauthentischen, kontrollierten, emotionslosen, ›coolen‹ sozialen Fassade des Angestelltensubjekts führt.48 Dessen Angst vor abweichendem Verhalten erscheint nun unbegründet, da Abweichung oder exzentrische Emotionalität im

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47 48

Vgl. Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. S. 505f. Vgl. ebd., S. 511f. Vgl. ebd., S. 513f.

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kreativen Prozess als Irritation zur Erzeugung von Neuartigkeit und Differenz genutzt werden kann. Jegliche Form ›nicht-kreativer‹ Emotionalität wie Misstrauen, Destruktivität, Unlust, Trauer oder Agressivität gilt es dabei jedoch wiederum zu vermeiden. 3.3.1 Paradoxien post-bürokratischen Arbeitens Wie jede Subjekform weist auch das unternehmerische Kreativsubjekt immanente Brüche und Inkohärenzen auf. Die innere Authentizität eines Künstlers, orientiert an Selbstverwirklichung und Individualität in der Figur des self-made-man und Unternehmers des eigenen Selbst, steht in direkter Konkurrenz zu anderen ›Unternehmern‹ auf dem freien Markt. Zugleich muss er sich jedoch in einer Teamfähigkeit trainieren, die eine kooperative und kreative Arbeit innerhalb eines sozialen Gefüges überhaupt erst möglich macht. Der self-made-man und das Künstlersubjekt sind dezidiert anti-soziale Figuren, denen ein Projektteam als Hindernis der eigenen Selbstentfaltung erscheinen muss. Die Kooperation in Netzwerken kann rein strategisch erfolgen, widerspricht darin jedoch dem Streben nach Authentizität innerhalb einer expressiven Gemeinschaft.49 Weitere Spannungen ergeben sich aus der Anforderung einer permanenten Selbstoptimierung in individueller Verantwortlichkeit für Erfolg und Misserfolg der eigenen Tätigkeit und der Abhängigkeit dieses Erfolges von der Nachfragelogik des Marktes. Dieser fragt nicht nach subjektiver Leistungsfähigkeit, sondern prämiert die Verfügbarkeit von zufällig aktuell nachgefragten Leistungen.50 Reckwitz spricht in diesem Zusammenhang von einer double-bind -Konstellation: Das Kreativsubjekt will und soll die unverwechselbare Individualität seiner Persönlichkeit autonom finden und entfalten, muss sich in der Form des Unternehmens jedoch immer in Orientierung an den aktuell herrschenden Marktbedingungen verhalten und seine ›Eigenschaften‹ entsprechend anpassen. Würde es also eine konsequente Entfaltung der eigenen idiosynkratischen Persönlichkeitsstruktur und je spezifischen Begabung betreiben, kann dies in mangelnder Flexibilität und Bereitschaft zu permanenter Selbsttransformation und 49

50

Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. S. 524f. Vgl. ebd., S. 525f.

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-optimierung zu einer nachteiligen Marktposition führen. Entscheidet es sich jedoch statt dessen für eine maximal flexible Selbstadaption an die Erfordernisse des Marktes, läuft es Gefahr nicht den Anforderungen und eigenen Wünschen nach Authentizität und einer selbstverwirklichten Persönlichkeit entsprechen zu können.51 Reckwitz merkt im Bezug auf die geschilderten Paradoxien an: Eine genauere Analyse der drei [. . . ] genannten potentiellen Widerspruchskonstellationen würde detaillierte empirische Fallrekonstruktionen der durch die post-bürokratischen Arbeitsformen systematisch produzierten Mangelzustände erfordern, die zur Zeit größtenteils ein Desiderat sind.52

An diesem Punkt möchte die vorliegende Arbeit anschließen. Es soll Anhand folgender Fragen ein Bild von der Situation auf dem Konfliktfeld der Subjektkulturen gezeichnet werden: Auf welche Weise bildet sich diese in den Subjekten ab? Welche spezifischen Persönlichkeitskonstellationen lassen sich aufzeigen? Welche Spuren, also Intertextualitäten, Sinntransfers und Rückbezüge finden sich und zu welchen Subjektkulturen? Gibt es idealtypische Fälle von delegitimierten Subjekformen? Finden sich annähernd konsistente Appropriationen von Formen des unternehmerischen Selbst? Finden sich Anzeichen einer bereits etablierten Hegemonialität? Zeigen sich Spannungen und Widersprüche, möglicherweise unauflösbare Differenzen zwischen der Begehrensstruktur des Selbst und den Anforderungen der hegemonialen Subjektkultur, und wie zeigen sich diese in der konkreten, empirisch untersuchbaren Praxis? Reckwitz’ Untersuchung von Subjektkulturen und Subjektformen stellt eine deskriptive Sichtweise auf Formen der Subjektivierung dar. Mit Michel Foucault soll im folgenden das Transformationsgeschehen der Subjektform als Effekt dispositiver Praktiken und Technologien von Macht, Regierung und Selbstführung gefasst werden. Um diesen Hintergrund zu verdeutlichen, werden die wichtigsten Arbeiten zunächst zu skizzieren sein. Die im Anschluss an Foucaults Werk entstandenen Gouvernementalitätsstudien bieten ergänzend 51

52

Vgl. Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. S. 526. Ebd., S. 524.

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dazu eine Auseinandersetzung mit der ökonomischen und politischen Situation der Gegenwart.

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4 Michel Foucault: Das Subjekt zwischen Fremd- und Selbstdisziplinierung Mit der schlichten Frage »Was sind wir gegenwärtig?«53 verortet Michel Foucault im Sinne Kants das Forschungsinteresse seiner Arbeiten in einem philosophischen Feld, das als Alternative zur klassischen Philosophie bezeichnet werden kann. Statt zu fragen: ›Was ist die Welt?‹, ›Was ist der Mensch?‹, ›Was ist Wahrheit?‹, geht es Foucault darum, den ›Menschen‹ in seiner je historisch-spezifischen Seinsweise in den Blick zu bekommen.54 Die frühen Arbeiten gehen dabei der Frage nach, was unser Selbst auf indirekte Weise konstituiert, die Spätwerke legen den Fokus in Ergänzung dazu auf die ethischen Selbsttechniken, mit denen wir zugleich auf direkte Weise unsere Identität erzeugen.55 Reckwitz bezeichnet Foucaults Werk als »kulturwissenschaftliches Projekt, welches man als das einer ›Geschichte des Subjekts‹ umschreiben könnte.«56 Konstitutiv für das Subjekt ist der ihm inhärente dialektische Charakter. Dieser steht sowohl in Abhängigkeit und Unterworfenheit unter der Herrschaft eines ihm äußerlichen anderen, als auch in der Bewusstheit und Fähigkeit einer Selbsterkenntnis, die es an eine ihm je eigene Identität bindet. Statt einer autonomen Erkenntnisinstanz a priori wie sie in den Analysen Kants angenommen und von Descartes postuliert wird, geht Foucault von je spezifischen historisch-kulturellen Subjektivierungsweisen aus und konterkariert mit dieser Historisierung die Idee von der Moderne als ›große Erzählung‹ (Lyotard) des Fortschritts und der Emanzipation des Sub53 54

55 56

Foucault, Michel: Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2010, S. 46. Vgl. ebd., S. 46; Vgl. Foucault, Michel, Analytik der Macht. S. 250; Vgl. Butler, Mark: Das Spiel mit sich. Populäre Techniken des Selbst. In: expressyourself ! Europas kulturelle Kreativität zwischen Markt und Underground. Hrsg. von Kimminich, Eva u. a. Transcript, Bielefeld, 2007, S. 75. Vgl. Foucault, Michel, Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. S. 46. Reckwitz, Andreas, Subjekt. S. 24.

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jekts. Dieses wird hingegen erst innerhalb einer kulturellen Ordnung zu einem Agens der Selbsterkenntnis und des autonomen Handelns.57 Auf welche Weise wird also ein Subjekt innerhalb dieser kulturellen Ordnungen zum Subjekt? Wie im Folgenden gezeigt wird, ist es eingebunden in Produktionsverhältnisse und Sinnbeziehungen und somit zugleich in hochkomplexe Machtbeziehungen.58 Letztere sind immer in Verbindung mit Diskursräumen zu denken, die wiederum mit Wissensordnungen und Techniken im Zusammenhang stehen, über die sich Subjektformen reproduzieren.

4.1 Disziplinartechnologie In Überwachen und Strafen 59 beschreibt Foucault die Genese der Technologie der ›Disziplin‹ als »politische Anatomie des Details«, als »eine bestimmte politische und detaillierte Besetzung des Körpers, eine neue ›Mikrophysik‹ der Macht«,60 die sich vor allem im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelt. Der Körper wird dabei zum Gegenstand und Ziel der Macht, und zwar nicht mehr wie noch im 17. Jahrhundert als Teil einer Masse, die eine größere Einheit bildet, sondern in einer Bearbeitung des einzelnen Körpers im Detail. Es geht nun darum »auf ihn einen fein abgestimmten Zwang auszuüben; die Zugriffe auf der Ebene der Mechanik ins Kleinste gehen zu lassen: Bewegungen, Gesten, Haltungen, Schnelligkeit. Eine infinitisemale Gewalt über den tätigen Körper.«61 Die Methoden der Disziplinen beruhen auf dem Prinzip der Übung; Ziel ist eine effiziente Ökonomisierung. Es handelt sich um Techniken der Individualisierung von Macht. Wie kann man jemanden überwachen, sein Verhalten und seine Eignung kontrollieren, seine Leistung, seine Fähigkeit verbessern? Wie kann man ihn an einen Platz stellen, an dem er am nützlichsten ist? Darum geht es bei der Disziplin.62

57 58 59 60 61 62

Reckwitz, Andreas, Subjekt. S. 24 [Hervorhebung im Original]. Vgl. Foucault, Michel, Analytik der Macht. S. 241. Foucault, Michel, Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Ebd., S. 178. Vgl. ebd., S. 175. Foucault, Michel, Analytik der Macht. S. 228f.

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Nach Foucault ist die Disziplinartechnik während des 17. und 18. Jahrhunderts zur allgemeinen Herrschaftsform geworden. Die Orte ihrer Entstehung und Anwendung durchziehen den gesamten Gesellschaftskörper: Armeen, Schulen, Krankenhäuser, Fabriken. Dabei wird mit Prinzipien der Lokalisierung, der Zuweisung von Funktionsstellen und der Einteilung nach Rängen gearbeitet. Ein Klassenraum etwa wird dadurch nicht nur zu einer Lernmaschine, sondern »auch zu einer Überwachungs-, Hierarchisierungs-, Belohnungsmaschine.«63 Zentral wird auch die minutiöse, vollständige und möglichst effiziente Nutzung von Zeit. Jeder Teil einer Tätigkeit wird in seine Elemente zerlegt; die Haltung des Körpers, der Glieder, der Gelenke wird festgelegt, jeder Bewegung wird eine Richtung, ein Ausschlag, eine Dauer zugeordnet; ihre Reihenfolge wird vorgeschrieben. Die Zeit durchdringt den Körper und mit der Zeit durchsetzen in alle minutiösen Kontrollen der Macht64

Foucault bezeichnet die so gearteten Technologien auch als »Disziplinartechnologie der Arbeit.«65 Unverkennbar geht sie mit der späteren Etablierung des Fordismus auf der Ebene der industriellen Fertigungsprozesse einher. Die beschriebenen Technologien der Disziplinierung der Individuen gehen mit einem für Foucaults Frühwerk charakteristischen Machtkonzept einher. Dieses hat im Laufe der frühen Studien verschiedene Wendungen genommen. Im Sinne einer »Archäologie des Schweigens« sind es zunächst Systeme der Ausschließung, der Verbote und der Verneinungen,66 die beispielsweise in Wahnsinn und Gesellschaft »zumindest implizit« auf dem Prinzip der Unterdrückung einer Ursprünglichkeit eines vorrationalistischen Wahnsinns basieren.67 In weiteren ›archäologischen‹ Arbeiten wie Die Geburt der Klinik oder Die Ordnung der Dinge wird die Frage nach der Macht eher implizit behandelt – politische, ökonomische oder soziale Bedingungen bleiben ausgeklammert.68 Von der Archäologie verschieben sich 63 64 65 66

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Foucault, Michel, Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. S. 189. Ebd., S. 195. Foucault, Michel, Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. S. 66. Vgl. Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Merve, Berlin, 1978, S. 104f. Vgl. Lemke, Thomas: Geschichte und Erfahrung. Michel Foucault und die Spuren der Macht. In: Michel Foucault. Analytik der Macht. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2005, S. 321. Vgl. ebd., S. 322.

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Foucaults Machtanalysen anschließend auf eine Genealogie der Macht. Diese hat den Anspruch die historischen Veränderungen von Machtmechanismen theoretisch zu analysieren und deren Organisation und Funktion konzeptionell aufzuzeigen.69 Mit Überwachen und Strafen kommt die Methode der Genealogie zum ersten mal zur Anwendung. Wie oben gezeigt, handelt die These nun statt von Ausschließung, von den »Einschließungs-Milieus«70 der Disziplinen, die die Kräfte des Körpers zur ökonomischen Verwertbarkeit steigern und zugleich zur politischen Unterwerfung schwächen, somit Nützlichkeit und Unterwerfung miteinander kombinieren. Diese Kopplung von ökonomischen und politischen Imperativen begründet für Foucault erst den Status der Disziplin als den einer Technologie.71 Entscheidend für Foucaults Machtkonzeption seit Überwachen und Strafen ist eine Abgrenzung von einem Machtverständnis, das sich vor allem in Rechtsbegriffen ausdrückt,72 einem Recht, dass das Verhältnis zwischen prinzipiell freien Subjekten und der Instanz der politischen Souveränität regelt. Als Rechtssubjekte geben die Gesellschaftsmitglieder ihre Freiheit an den Souverän ab. Macht repräsentiert sich somit in Form des Rechts und drückt sich damit im Wesentlichen negativ über Verbote, Gesetze und Regeln aus.73 Zudem führt dieser Repräsentationsgedanke zu einem zentralistischen Konzept von Macht, zu einem Verständnis von Machtverhältnissen innerhalb einer Gesellschaft, die Ableitungen einer ursprünglichen und zentralen Macht darstellen. Es existiert jedoch kein Subjekt, das »die Macht besitzt«, sondern nur Strukturen und Beziehungen, die die Bedingungen der Möglichkeit von Machtverhältnissen bilden und in die sich diese einschreiben. Macht ist ein Effekt von komplexen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und menschlichen Praktiken. Foucault betont: Eine Gesellschaft ist kein einheitliches Gebilde, in dem nur eine einzige Macht herrschte, sondern ein Nebeneinander, eine Verbindung, eine Koordination und auch eine Hierarchie 69 70

71 72 73

Vgl. Lemke, Thomas, Geschichte und Erfahrung. Michel Foucault und die Spuren der Macht. S. 332. Ein im Anschluss an Foucault von Gilles Deleuze geprägter Terminus. Vgl. Deleuze, Gilles: Unterhandlungen. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1993, S. 254. Vgl. Foucault, Michel, Analytik der Macht. S. 33. Vgl. Foucault, Michel, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. S. 105. Vgl. Foucault, Michel, Analytik der Macht. S. 221f.

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verschiedener Mächte [ . . . ] Es gibt also regionale Formen von Macht. Die Gesellschaft ist ein Archipel aus verschiedenen Mächten 74

Die Funktion der Disziplinartechnologie liegt darin, Effizienz und Produktivität hervorzubringen, und zwar über die Besetzung der Körper der Individuen. Somit stellt sie den Punkt dar, an dem die Machttechnologien das Subjekt als Ziel entdecken und damit die Körper (und somit auch den gesellschaftlichen ›Körper‹) und die Verhaltensweisen bis ins Detail in Form einer Mikromacht zu durchdringen beginnen.75 Es war der »Übergang von einer lückenhaften globalen zu einer stetigen, atomaren, individualisierenden Macht. Statt einer globalen, auf die Masse zielenden Kontrolle bedurfte es einer Kontrolle jedes Einzelnen in seiner Leiblichkeit und seinem gesamten Tun.76

In diesem Zugriff auf die kleinsten Handlungen der Individuen findet nach Foucault ein entscheidender Umbruch statt: Die so disziplinierten Subjekte internalisieren die Verhaltensweisen und auch die sie beobachtende Kontrollinstanz. Zur Veranschaulichung dieser Internalisierung verwendet Foucault die Metaphorik des Panopticons, einer Gefängnisarchitektur, in der die Insassen von einem zentralen Turm aus in ihren Zellen überwacht werden. Die Aufseher im Turm haben jederzeit die Möglichkeit das Handeln der Gefangenen zu kontrollieren, diese können in den Turm jedoch nicht hineinsehen und somit nicht wissen, ob sie gerade einer Beobachtung ausgesetzt sind oder nicht. Dies führt zur Notwendigkeit sich präventiv diszipliniert zu verhalten: »Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis.«77 Ist dieses Verhalten einmal ausgebildet, ist die Anwesenheit von Aufsehern im Turm zur Disziplinierung nicht mehr

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Foucault, Michel, Analytik der Macht. S. 224f. [Hervorhebung C.M.]. In Die Ordnung der Dinge zeigt Foucault auch auf der Ebene der Wissensordnungen eine Zäsur auf zwischen dem 18. Jahrhundert, das Taxonomien für die verschiedensten Gegenstände entwickelte, den ›Menschen‹ dabei jedoch keinen vorrangigen Platz einräumte und der Wissensordnung der Moderne, die den Menschen als Subjekt entdeckte und ihn als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis erst hervorgebracht hat. Vgl. dazu auch: Reckwitz, Andreas, Subjekt. S. 27. Foucault, Michel, Analytik der Macht. S. 227f. Foucault, Michel, Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. S. 260.

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zwingend notwendig, noch weniger ist wichtig, wer im Turm sitzt.78 »Diese Anlage ist deswegen so bedeutend, weil sie die Macht automatisiert und entindividualisiert.«79 Die Wirkung des Panopticon ist als ein Dispositiv allein durch seine bauliche Form gewährleistet, »der architektonische Apparat ist eine Maschine, die ein Machtverhältnis schaffen und aufrechterhalten kann, welches vom Machtausübenden unabhängig ist.«80 Somit beginnt Macht etwas zu werden, dass das Subjekt sich selbst gegenüber ausübt, zu einer Praktik des Selbst.

4.2 Biopolitik und Gouvernementalität Mit dem Konzept der Biopolitik bezeichnet Foucault die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Besetzung des dressierbaren Körpers des Einzelnen hinzugekommene Entdeckung, dass sich die Macht zudem auf das Individuum als biologisches Wesen – auf Körper und Leben – bezieht. Dies insofern, als dass eine Bevölkerung »als Produktionsmaschine zur Erzeugung von Reichtum, Gütern und weiteren Individuen«81 nutzbar gemacht werden kann. Es geht dabei jedoch nicht mehr nur um den Körper des Menschen, sondern um den Menschen als Lebewesen, als Gattungswesen, als Teil einer Bevölkerung, die eine Geburtenrate hat, eine Alterskurve, eine Sterblichkeitsrate und einen Gesundheitszustand, die zugrunde gehen oder sich entwickeln kann.82 Es ist nicht mehr und nicht weniger als das Leben selbst, das nun zum Objekt der Macht wird. Und es ist eine neue Form der Regierung, ein Begriff der künftig eine zentrale Stellung in Foucaults Arbeiten einnehmen wird. Die »Anatomie-Politik des menschlichen Körpers« wird von der »›Bio-

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79 80 81 82

Auch Norbert Elias rekonstruiert in seiner Studie Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und phylogenetische Untersuchungen die Genese des modernen, zivilisierten Subjekts, für das der Wechsel von Fremd- zu internalisierter Selbstkontrolle konstitutiv ist. Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozess der Zvilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bd. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1991. Foucault, Michel, Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. S. 259. Ebd., S. 258. Foucault, Michel, Analytik der Macht. S. 231. Vgl. Foucault, Michel, Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. S. 66; Vgl. Foucault, Michel, Analytik der Macht. S. 231.

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politik‹ der menschlichen Gattung«83 abgelöst. Diese Veränderung bezeichnet Foucault als »ohne Zweifel eine der wichtigsten in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften.«84 Regieren bezieht sich nun nicht mehr nur auf ein Territorium, sondern auch auf eine Bevölkerung, auf einen Komplex, der sich aus Menschen, ihren Beziehungen, Bräuchen, Sitten, Handlungs- und Denkweisen und Dingen bildet – natürlichen Ressourcen, Nahrungsmitteln, hergestellten Gütern.85 Mit dieser Konzeption leitet Foucault eine neue Form der Machtanalyse ein, die er mit dem Begriff der Gouvernementalität 86 bezeichnet. Nach der Akzentuierung auf dem Körper und seiner Zurichtung in den Disziplinarinstitutionen, vermittelt der Regierungsbegriff der Gouvernementalität nun stärker zwischen Macht und Prozessen der Subjektivierung. Er ermöglicht eine Analyse der von Foucault immer wieder hervorgehobenen Macht-Wissen-Komplexe.87 Diese dienen als Raster, um spezifische Arten von Systemlegitimationen zu erfassen. Derartige Wissensordnungen erzeugen als Diskurse systematisch die Gegenstände von denen sie sprechen, konstituieren einen Raum von Regeln und Beziehungen, die nur einen spezifischen Ausschnitt von Realität überhaupt intellgibel und damit anschlussfähig machen. Subjekttheoretisch ist hier entscheidend, dass Diskurse eine Wirkmächtigkeit entfalten, die in der Lage ist kulturelle Räume und Felder von Regelmäßigkeiten der Klassifikation und Hervorbringung von Subjektpositionen zu erzeugen. Diese Positionen der Subjektivität sind dabei etwa ökonomische Subjekte, sexuelle Subjekte, religiöse Subjekte oder politische Subjekte.88 Somit ist die Geschichte der Gouvernementalität auch eine Geschichte des Subjekts. Es ist dabei eher das Bild des Führens, das dem Charakter der Machtverhältnisse gerecht wird. Diese operieren in einem Feld von Möglichkeiten des Verhaltens

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88

Foucault, Michel, Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. S. 67. Foucault, Michel, Analytik der Macht. S. 232. Vgl. Foucault, Michel, Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. S. 101. Eine Verbindung aus ›gouverner‹ = Regieren und ›mentalitè‹ = Denkweise Vgl. Bröckling, Ulrich, Krasmann, Susanne und Lemke, Thomas: Gouvernmentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Hrsg. von Bröckling, Ulrich, Krasmann, Susanne und Lemke, Thomas. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2000, S. 66; Vgl. Lemke, Thomas, Geschichte und Erfahrung. Michel Foucault und die Spuren der Macht. S. 333. Vgl. Reckwitz, Andreas, Subjekt. S. 26f.

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handelnder Subjekte und richten sich auf deren Handeln und Verhalten. Die Ausübung von Macht besteht darin »Führung zu lenken«,89 das mögliche Handlungsfeld anderer zu strukturieren. Dafür ist die ›Freiheit‹ der Subjekte sogar notwendig, insofern das Handlungsfeld verschiedene Möglichkeiten der Handlung bietet. Freiheit ist somit sogar die Voraussetzung für Macht.90 Subjektivierungsprozesse greifen auf eine spezifische Form der Lebensführung 91 zurück und suchen eben diese Führung zu lenken. Die Technologie der Disziplin wird in dieser Perspektive nur zu einer möglichen Variante der Macht. Wie auch im Zusammenhang mit der Disziplin bereits gezeigt wurde, stellt die Verbindung von Diskursen als Ordnungen des Sagbaren und Ordnungen der Wahrheit und den Technologien der Macht ein Dispositiv dar.92 Spezifische Technologien und Praktiken der Macht sind als Macht-Wissen-Komplex immer auch Ausdruck von Diskursformationen, also einem spezifischen Wissen, das sich in diesen Praktiken manifestiert. Zugleich häufen diese Technologien jedoch auch wieder neues Wissen an, das im Falle der Disziplinen etwa in direktem Zusammenhang mit der Enstehung der Humanwissenschaften steht.93 Foucault sieht hier einen Übergang von den Disziplinargesellschaften zu den Absicherungsgesellschaften, die ein bestimmtes Feld von abweichenden und sogar gegensätzlichen

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93

Foucault, Michel, Analytik der Macht. S. 256. Vgl. ebd., S. 256f. Das Konzept der Lebensführung verweist dabei auf Max Weber. Giorgio Agamben erweitert den Begriff des Dispositivs im Anschluss an Foucault: »[. . . ] nicht nur die Gefängnisse, die Irrenanstalten, das Panoptikum, die Schulen, die Beichte, die Fabriken, die Disziplinen, die juristischen Maßnahmen etc., deren Zusammenhang mit der Macht in gewissem Sinne offensichtlich ist, sondern auch der Federhalter, die Schrift, die Literatur, die Philosophie, die Landwirtschaft, die Zigarette, die Schiffahrt, die Computer, die Mobiltelefone und – warum nicht – die Sprache selbst, die das vielleicht älteste Dispositiv ist [. . . ]« Agamben, Giorgio: Was ist ein Dispositiv? Diaphanes, Zürich-Berlin, 2008, S. 26. Vgl. hierzu Bührmann Andrea, D.: Das Auftauchen des unternehmerischen Selbst und seine gegenwärtige Hegemonialität. Einige grundlegende Anmerkungen zur Analyse des (Trans-) Formierungsgeschehens moderner Subjektivierungsweisen. In: Forum Qualitative Sozialforschung 6.1 (2005), Art. 16. url: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0501165 (besucht am 19. 11. 2010), S. 15.

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Handlungsmöglichkeiten tolerieren, so lange sie sich innerhalb dieses Feldes bewegen.94 Der moderne Staat stellt somit »eine verwickelte Kombination von Individualisierungstechniken und Totalisierungsverfahren«95 dar. Er ist das »Ergebnis einer komplexen Verbindung ›politischer‹ und ›pastoraler‹ Machttechniken«96 . Der Aspekt der Pastoralmacht soll nun zunächst theoretisch erläutert und im Anschluss exemplarisch an dem verwendeten empirischen Material veranschaulicht werden. 4.2.1 Pastoralmacht Der Begriff der Pastoralmacht bezieht sich auf das christliche Konzept der Beziehung zwischen dem Hirten und seiner Herde. Vermittels einer ›Regierung der Seelen‹ sollen die Individuen zu einem jenseitigen Heil geführt werden. Etymologisch leitet sich auch der Begriff des Pfarrers vom spätlateinischen pastor ›Seelenhirt‹, ›Geistlicher‹ her.97 Über Techniken der Analyse und der Reflexion soll ein Wissen von der ›inneren Wahrheit‹ der Seelen erlangt werden.98 Diese Art der christlichen Führungstechnik findet sich nach Foucault in säkularisierter Form in den Subjektivierungsformen wieder, die für den modernen Staat und die kapitalistische Gesellschaft fundamental sind.99 Der moderne Staat ist dabei geprägt von zwei Phänomenen, die sich während des 17. Jahrhunderts herausbildeten: Der ›Staatsräson‹ und der ›Polizey‹. Erstere steht dabei für das Wissen und eine Rationalität 94

95

96 97 98

99

Vgl. Foucault, Michel, Analytik der Macht. S. 141. Jürgen Link führt in seiner Studie Versuch über den Normalismus eine Unterscheidung zwischen verschiedenen normalistischen Strategien ein, der des Protonormalismus und der des Flexiblen Normalismus. Er weist darauf hin, dass Foucault diese beiden unterschiedlichen Formen nicht bedachte, was zu Widersprüchlichkeiten bezüglich seiner Äußerungen zur Repressions-Hypothese führte. Beide Strategien operieren in einem identischen Normalitäts-Bereich. Die protonormalistischen Strategien des Verbots und der Repression bereiten das Feld für eine Bandbreite von alternativen Handlungsmöglichkeiten, die schließlich von Strategien des flexiblen Normalismus in einer Normalitäts-Zone gehalten werden. Vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus: Wie Normalität produziert wird. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden, 1998, S. 75ff., S. 140f. Foucault (1987), S. 248 zitiert nach Bröckling, Ulrich, Krasmann, Susanne und Lemke, Thomas, Gouvernmentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. S. 10. Ebd., S. 11. Vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Deutscher Taschenbuch Verlag, Berlin, 1999, S. 980. Das Verb pascere – ›fressen lassen, weiden, füttern, ernähren‹ entspringt interessanterweise dem gleichen Wortstamm wie pastor. Vgl. Bröckling, Ulrich, Krasmann, Susanne und Lemke, Thomas, Gouvernmentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. S. 11.

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davon, mit welchen Mitteln Staaten entstehen, ihren Bestand sichern, wachsen und im Inneren für Friede und Ordnung sorgen. Foucault spricht in diesem Zusammenhang vom erstmaligen Aufkommen einer ›Kunst des Regierens‹. Der Aufgabenbereich der Polizey bestand darin, sich mit dem Zusammenleben der Menschen auf dem Territorium des Staates zu befassen, »mit dem, was sie produzieren, was auf den Märkten ausgetauscht wird; sie kümmert sich auch darum, wie sie leben, um die Krankheiten und Unglücksfälle von denen sie heimgesucht werden. Mit einem Wort: Der Blick der Polizey gilt dem lebendigen, aktiven, produktiven Menschen.«100 Die Instanz der Polizey hat zur Integration des Einzelnen in den Staat und zur Integration der pastoralen Macht in die Form der Regierung beigetragen.101 4.2.2 Analyse Ein exemplifizierendes Beispiel für das Prinzip der Pastoralmacht findet sich im Interview IP1: IP1: (Zeile 3 - 23) Ja also prinzipiell finde ich schon richtig, dass man die Eigeninitiative fördert. Ganz egal ob des jetzt irgendwo von der Politik gefordert ist. Generell von den Unternehmen ist es eigentlich ein Ziel äh durch Schulung die Eigenkompetenz der Mitarbeiter zu, eben zu fördern. Und äh, sie zu Selbständigkeit und verantwortlich- keit hinzuführen. Ähm ich denke es sollte von jedem Unternehmer eigentlich das Ziel sein solche Mitarbeiter zu haben und zu ziehen. Das müsste dann aber auch generell die Unternehmensphilosophie sein, dass äh, ja dass man erstens mal Mitarbeiter einführ, äh, Mitarbeiter einstellt, die erstens mal die Qualifikation schon hat dazu, und ja, die vielleicht schon zu Vorstellungsgesprächen irgendwo schon ein bisschen auf die Richtung halt hin getrimmt werden, oder durch Fragestellungen halt zu sehen, ob man überhaupt die richtigen Mitarbeiter hat, auch später. Und ähm, vor allen Dingen denke ich in Spitzenzeiten, grad wo es drauf ankommt, Projekte durchbringen will, dass man sich auf die Mitarbeiter so sich verlassen kann, dass sie vielleicht auch mal bereit sind Überstunden zu machen. Dann ist viel erreicht, wie man sich das vielleicht auch vorgestellt hat.

100 101

Foucault, Michel, Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. S. 56. Vgl. Gertenbach, Lars: Die Kultivierung des Marktes. Foucault und die Gouvernmentalität des Neoliberalismus. Parodos, Berlin, 2007 S. 25f.

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Das zentrale Motiv stellt in dieser Passage so wie auch im gesamten Interview das des Führens und Formens dar. Auf der Aufmerksamkeitsebene der Semantik bietet sich diese Passage hervorragend als Gegenstand einer Metaphernanalyse an, wodurch auch das Konzept der Pastoralmacht klarer wird. Die Methodik der Metaphernanalyse geht maßgeblich auf George Lakoff und Mark Johnson zurück,102 die darauf hinweisen, dass Metaphern mehr als nur rhetorische Gesten der Alltagssprache sind, sondern dass metaphorische Konzepte unser Denken und unsere Wahrnehmung auf basale Weise strukturieren und somit auch Erleben und Alltagshandeln durch sie geprägt werden.103 Menschliche Denkprozesse laufen demnach weitgehend metaphorisch ab. Wir sprechen über etwas in der Weise in der wir es uns vorstellen, und handeln gemäß dieser Vorstellungen.104 Auf die vorliegende Passage angewendet und vor dem Hintergrund des Bildes der pastoralen Führung einer Herde durch einen Hirten wird deutlich, dass die Aufgabe »von den Unternehmen (IP1, 5)« darin besteht, die Mitarbeiter an einen Ort zu führen. Es gibt ein »Ziel (IP1, 6)« und es wird ein Weg zurückgelegt (Wegmetapher), der zu gewünschten Charaktereigenschaften (»Selbständigkeit und Verantwortlichkeit (IP1, 7-8)«) führt. Diese Charaktereigenschaften sind also ein Ort. Der Unternehmer kennt den Weg zu diesem Ort und führt dorthin. Zugleich gilt es »Eigenkompetenz zu fördern. (IP1, 6-7)« Die Fähigkeit sich in kompetenter Weise selbst gegenüberzutreten benötigt also Unterstützung, sie muss zutage »gefördert« werden. Sie scheint also verborgen, muss freigelegt werden. Fähigkeiten der Mitarbeiter sind also Ressourcen die erschlossen werden müssen. Ist dies erreicht, so sind die Mitarbeiter in der Lage »eigenkompetent«, »selbständig« und »verantwortlich« zu handeln. Eigenschaften an denen es Mitarbeitern also ohne Führung und Förderung der Unternehmer zu mangeln scheint. Ähnliche Motive finden sich auch in anderen Interviews immer wieder:

102

103 104

Lakoff, George und Johnson, Mark: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Carl-Auer, Heidelberg, 2007. Vgl. ebd. S. 11. Vgl. ebd. S. 14.

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IP4: (Zeile 412 - 413) ich würde es au fordern, aber gleichzeitig fördern, weil ich sage, in jedem steckts. Der eine hats ebe als Kind scho mitbekomme, vorgelebt bekomme. Er kennts nur nit. [...] (Zeile 459 - 464) Und so gibt’s sicherlich auch Situatione wo ich als Vorgesetzter nit erkläre muss. Aus Gründen, sag ich mal, weils der Mitarbeiter sowieso nit versteht. Nit weil er nit intelligent isch, sondern weil er einfach die Zusammehänge oder des was im Hintergrund sich abspielt nit verstehen kann. Z.T. nit verstehen soll oder darf.

»In jedem (IP4, 413)« steckt also etwas, das es herauszuholen gilt. Davon weiß derjenige selbst allerdings nichts, jedoch der Unternehmer. Desweiteren bestehen »Zusammehänge (IP4, 463)« oder etwas, das »im Hintergrund sich abspielt (IP4, 464 – 465)« das nur der Unternehmer versteht und verstehen darf. Zunächst weiß der Mitarbeiter nichts davon was er in sich trägt. Genauso unwissend ist er gegenüber dem, was sich hinter den Kulissen abspielt (im Hintergrund). Dort spielen Zusammenhänge eine Rolle, die ihm verborgen bleiben und dies auch bleiben sollen. Es findet also eine Unterscheidung zwischen Vorder- und Hintergrund im Sinne einer Theaterbühne statt. Der Grad an überlassener Verantwortung und Wissen hat also bewusst gesetzte Grenzen.

IP3: (Zeile 9 - 15) Ähm, dass man halt versucht ähm, ja die Stärke von einem, was der hat, noch mal zu fördern und auch die Schwäche im Endeffekt dann so ähm, ja fördern kann, dass man sagt, diese Schwäche gibt’s dann bald nimmer, sondern es werden dann auch zu Stärke. Und so könne halt dann die Schwäche auch irgendwann emal die Stärke einer Person oder eines Mitarbeiters were.

Hier findet gar eine Metamorphose statt. Neben den »Stärken (IP3, 9)« existieren Fähigkeiten, die offensichtlich unerwünscht sind (»Schwächen (IP3, 10)«). Werden diese nun gefördert, verschwinden sie und werden zu »Stärken einer Person (IP3, 14 – 15)«. Im weiteren Verlauf der oben zitierten Passage aus Interview IP1 finden sich weitere Erwähnungen solcher Umwandlungen. Eine spezifische Art von Mitarbeitern, die sich führen und fördern lassen, sollen im Unternehmen direkt »gezogen« werden. Der Mitarbeiter ist

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also eine Substanz, die mit entsprechender Behandlung ähnlich eines ›Sprösslings‹ (etwa im Sinne einer Pflanze) herangezogen werden kann. Die in Kapitel 4.2 erläuterten biopolitischen Strategien zeigen sich hier auch auf der Ebene der Unternehmensführung. Betont wird auch, dass es sich dabei um Strategien handelt, die umfassende »Unternehmensphilosophie (IP1, 10)« sein sollten, also Strategien, die im Sinne eines Überbaus als MachtWissen-Komplex etabliert werden müssen. Der christlich–pastorale Aspekt der Befragung, der Gewissensprüfung und der Beichte zeigt sich in der Nennung der Notwendigkeit der frühzeitigen Erkennung »richtiger« Mitglieder des Unternehmens. Mittels entsprechender Verfahren der Befragung können deren ›Seelen‹ bereits im Vorstellungsgespräch geprüft und »auf die Richtung halt hin getrimmt werden (IP1, 17)«. Auch hier fällt die Metaphorik des Gewächses auf, das ähnlich eines Rasens oder einer Zierpflanze »getrimmt« werden muss.105 In institutionalisierter Form findet dies durch panoptische Verfahren gegenseitiger Beurteilung wie dem 360-Feedback auch bei allen bereits integrierten Angestellten regelmäßig statt.106 Die Aspekte des »Ziehens« und »Trimmens« verweisen auf Konzepte der Erziehung. In Interview IP4 finden sich analog zu IP1 ähnliche zentrale Motive von Erziehen und Vorleben. In sich wiederholenden Vergleichen mit der Vorbildfunktion eines Vaters und der Notwendigkeit der Ausbildung eines spezifischen Habitus wird die Notwendigkeit des Lernens und der Anpassung weiter betont:

105

106

Vor dem geistigen Auge erscheint unweigerlich Foucaults Illustration der Disziplinartechniken anhand der Zeichnung L’orthopèdie ou l’art de prèvenir et de corriger dans les enfants les difformitès du corps von N. Andry. Vgl. Foucault, Michel, Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Abb. 30. Vgl. Bröckling, Ulrich, Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. S. 236ff.

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IP3: (Zeile 30 - 37) Des hat au für mich etwas mit Vorlebe zu tun. Des beginnt eigentlich, ja in der Familie. Hat es Sinn aufzuräume, macht es Sinn dieses oder jenes Buch zu lese, macht es Sinn zusamme zu singe. Ich denk des sind Sache die Mensche erlebe und die ganz fescht in ihrem Geischt und in ihrer Erinnerung manifeschtiert sind. Und dass sie da dann au Sinn und Zweck in der Arbeit erkenne. [...] SIM: (Zeile 451 - 459) Führungskräfte müssen oft Dinge gegen den Willen von Mitarbeitern durchsetzen. Wie gehsch Du mit damit um? [...] Ich vergleichs jetzt wieder mit der Erziehung. Wenn ich ä kleines Kind hab, dass um 7 Uhr ins Bett gehen muss, muss ich ihm nit erkläre, warum es jetzt um 7 Uhr ins Bett geht. Ich sag, 7 Uhr isch einfach Zapfenstreich. Weil ich weiß, dass es richtig isch und dass es ein Rhythmus isch, den des Kind einhalte muss, um einfach, sag ich mal, gesund und morge ausgeschlafe zu sein. Ich muss ihm nit erkläre, des versteht mich einfach nit.

Vor allem die patriarchale Manier des geforderten Befehlsgehorsam fällt auf. Das Bild vom »Zapfenstreich (IP4, 256)« und die betonte Notwendigkeit der Einhaltung eines zeitlichen Rythmus verweisen auf die Disziplinarinstitution des Militärs, die Begründung dafür auf humanwissenschaftliche Diskurse der Gesundheit durch ausreichenden Schlaf. Die Legitimation der etablierten Struktur begründet sich schlicht auf dem Wissen darum, dass es richtig ist. Eine Erklärung erübrigt sich, da das disziplinierte Subjekt nicht in der Lage ist diese Erklärung zu verstehen, es hat »einfach« zu folgen. Wohlgemerkt geht es im Vergleich mit der Kindererziehung um die Frage der Durchsetzung von Entscheidungen in der Unternehmensführung. Für die Machtstruktur des Pastoralregimes ist diese Passage eher weniger paradigmatisch, da es sich eher um repressive Strukturen eines Protonormalismus (nach Jürgen Link) handelt. Es veranschaulicht jedoch das weiterhin praktizierte Prinzip vom Unternehmer, der am besten weiß, was für seine Angestellten gut ist. Er verfügt über einen Wissensvorsprung und führt den Einzelnen an Orte, an denen er dann in der Lage sein wird, sein Ich frei zu entfalten.

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IP7: (Zeile 7 - 18) Des Problem isch oft, viele Menschen kennen ihre Talente nicht und lernen was ganz anderes. Und dann entdeckt der Unternehmer, Menschenskinder der isch doch hier besser einsetzbar. Aber der sagt, nein ich möchte meinen Beruf machen, ja. Und isch eigentlich da ein Klotz. Des isch des Erste was ich so seh. Des Zweite, z.B. dass der Unternehmer die Talente sieht, wie z.B. in meinem Beruf, ja. Sagt er ja Menschenskinder, die isch doch äh, jetzt in diesem Bereich viel stärker, setzt sich da ein. Dann sag ich mir au, isch es für mich auch ne, ne, Ansporn, wo ich weiß, aha, er steht zu mir, da äh, der Arbeitgeber, er unterstützt mich. Dann bin ich auch bereit mehr zu tun.

Auch hier zeigen sich patriarchale Motive und die Hinführung zur Erkenntnis der eigenen Persönlichkeit. Vor allem die Semantik des »Klotzes (IP7, 11)« bildet einen anschaulichen Gegensatz zum Konzept des Formens und Trimmens. Im Gegensatz zu formbaren Mitarbeitern beschränkt sich die Motivation auf den Aufgabenbereich des gelernten Berufes und eine beliebige Flexibilisierung nach Wünschen des Arbeitgebers wird abgelehnt.107 Wie auch im Ausschnitt aus dem Interview IP1 (S. 30) schließt die Argumentation von IP7 mit dem eigentlichen Motiv der Formung. IP1: »dass man sich auf die Mitarbeiter so sich verlassen kann, dass sie vielleicht auch mal bereit sind Überstunden zu machen. Dann ist viel erreicht, wie man sich das vielleicht auch vorgestellt hat. (IP1, 21-23)« IP7: »Dann sag ich mir au, isch es für mich auch ne, ne, Ansporn, wo ich weiß, aha, er steht zu mir, da äh, der Arbeitgeber, er unterstützt mich. Dann bin ich auch bereit mehr zu tun. (IP7, 16-18)« Die pastorale Umsorgung führt zur Bereitschaft der erhöhten Identifikation (erst ›fördern‹ dann aber auch ›fordern‹) und somit zu erhöhtem persönlichen Einsatz, ergo »auch mal mehr zu tun. (IP7, 18)« Die Mitarbeiter werden sozusagen mit ins Boot unternehmerischer Verantwortung geholt und zeigen dort mit einem erhöhten Grad an persönlichem ›commitment‹ auch eine größere Opferbereitschaft. Dies geht so weit, dass sich die Angestellten in einer Art ›Bringschuld‹ dem Unternehmen gegenüber sehen:

107

Entsprechende Motive finden sich auch im Analyseteil bei der Einzelfallrekonstruktion des Interviews IP5 in Kapitel 7.2.

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IP7: (Zeile 187 - 191) wenn jeder nur 85 % bringt, für 100 % bezahlt wird, bringt er die Leischtung nicht, für die er bezahlt wird. Deswegen isch es wichtig, dass man mehr macht, au mal ne Stund mehr, und so hilft man seiner Firma und au seinen Job zu halte. (Schweigen)

IP4: (Zeile 134 - 139) Freiheite zu vergebe ist für mich schon ein hohes Zeichen von Vertrauen und auch ein Zeichen von bewusstem, ähm, wie soll ich sagen, ja es isch eigentlich scho, eigentlich gleichzeitig au eine Forderung. Wenn ich jemandem viel Freiheit schenke und soviel Vertrauen, dann erwarte ich au etwas.

Im Zusammenhang mit dieser ›Bringschuld‹ weist Wagner auf folgendes hin: Um einen Arbeitsplatz behalten zu können, beutet man sich selbst aus und nimmt gleichzeitig die Erwartungen an die Gegengabe auf ein Minimum zurück: Lohnzurückhaltung, Verzicht auf Sondergratifikationen und die selbstbetriebene rationale Bewirtschaftung von Arbeitszeit und Arbeitsintensität werden gegen die Zusage eines vorerst sicheren Arbeitsplatzes getauscht.108

Das Gefühl der Unsicherheit vermag zu einer erhöhten ›Dankbarkeit‹ führen, überhaupt von Arbeitgeber beschäftigt zu werden, statt dazu, an diesen noch Forderungen bezüglich einer Verbesserung der Situation am Arbeitsplatz zu stellen. Die Konzepte von Biopolitik und Pastoralmacht wurden in den letzten Jahren von Vertretern der Gouvernemental Studies zu sehr ergiebigen Programmen entwickelt, mit denen die Ideen von Michel Foucault auf Phänomene der Gegenwart anwendbar werden.

4.3 Gouvernementalitätsstudien Das Programm der Gouvernemental Studies oder der Gouvernementalitätsstudien hat es sich zur Aufgabe gemacht den Regierungsbegriff Michel Foucaults aufzunehmen, weiterzuentwickeln und zur Analyse in Auseinandersetzung mit Regierungsprogrammen des Neoliberalismus einzusetzen. Dieser wird dabei konzeptionell als politisches Projekt begriffen, 108

Wagner, Gabriele, Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien der Selbstverantwortung. S. 18.

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das die Absicht hat, eine spezifische soziale Realität herzustellen.109 Die von Foucault postulierten Absicherungsgesellschaften des Normalismus stehen dabei in engem Zusammenhang mit dem Aufkommen der liberalen Gouvernementalität des 18. Jahrhunderts, die die Bedingungen der Freiheit, unter denen die Individuen leben, erst produziert und organisiert. Die geschieht unter anderem auch über die Kontrolle des Marktes. Die Rationalität neoliberaler Gouvernementalität erhebt im Gegensatz dazu nun die Form des Marktes selbst zum Organisationsprinzip von Staat und Gesellschaft. Die in diesem Kontext zu regulierende Freiheit der Individuen ist keine natürliche mehr, sondern eine ›künstlich arrangierte.‹ Das rationale Prinzip dieser Freiheit ist das des »unternehmerischen Verhalten der ökonomisch-rationalen Individuen.«110 Das Programm des Liberalismus enthielt die Idee einer ›Sozialen Marktwirtschaft‹, also eines Marktes, der gegebenenfalls Gegenstand politischer Regulierung und sozialer Interventionen sein konnte. Die Gouvernementalität des Neoliberalismus arbeitet hingegen mit einer epistemologischen Verschiebung, die den Gegenstandsbereich des Ökonomischen permanent und systematisch ausweitet. Statt diesen als spezifischen und gesonderten Bereich menschlicher Existenz und gesellschaftlichen Handelns zu betrachten, der eigenen Gesetzen und einer eigenen Rationalität folgt, wird er als allumfassendes und universales Prinzip menschlichen Verhaltens angenommen. Die Differenz zwischen Ökonomie und Sozialem ist in dieser Perspektive eliminiert. Rationalökonomisches Kalkül wird zum Begründungsmodell von Regierungshandlungen und die Regierung an sich zum Unternehmen, dass das Prinzip des Wettbewerbs universalisiert und für sämtliche gesellschaftliche Bereiche Handlungssysteme erfindet, die der Logik eines freien Marktes folgen.111 Das Programm der Gouvernementalitätsstudien geht jedoch über eine Beschränkung auf eine Kritik am Neoliberalismus hinaus. Dieser kann mit Foucault als spezifische Form der Problematisierung definiert werden; als eine Form von Rationalität, die es ermög-

109

110 111

Vgl. Bröckling, Ulrich, Krasmann, Susanne und Lemke, Thomas, Gouvernmentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. S. 7ff. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 16.

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licht, vermittels verschiedener Verfahren, Institutionen und Praktiken und enstspechenden Epistemologien, Objekte und Subjekte zu regieren. Die Gouvernementalitätsstudien sollen aufzeigen, dass sowohl die Kategorie des Sozialen als auch die des Marktes bestimmten Formen des »Denkens der Realität« entspringen, »um sie regierbar zu machen.«112 Der Charakter der Strategien des Regierungshandelns und das Verhältnis von Rationalität und Technologien soll rekonstruiert werden. Foucault legt Wert darauf, dass diese Strategien nichts mit der Absicht eines wie auch immer gearteten meta- oder transhistorischen Subjekts zu tun haben, das diese bewusst hervorgebracht hätte.113 Es sind viel mehr Effekte des Wechselspiels zwischen Programm und Realität, von Widerständen und Konflikten, die nicht nur zwischen unterschiedlichen Programmen stattfinden, sondern Brüche darstellen, die in den Rationalitäten und Technologien selbst angelegt sind und sogar zu deren Funktion beitragen können.114 Des Weiteren stellt sich die Frage nach den Bedingungen der Akzeptanz von Machtverhältnissen, die gerade auch in einem freiheitlichen Raum vorhanden sind. Wie bereits im Bezug auf die Disziplinartechnologien dargestellt, erfordert eine ökonomische Vereinnahmung oder Ausbeutung zunächst eine politische Besetzung des Körpers. Dieser muss zunächst ›urbar‹ gemacht werden, eine Arbeitskraft muss als Arbeitskraft konstituiert werden. Lebenszeit muss zu Arbeitszeit werden, das Individuum muss an die Bindung an einen Produktionsprozess und dessen Zyklen gewöhnt, Zeit und Raum in feste Schemata überführt werden.115 Damit wäre ein weiteres mal die ›Scharnierfunktion‹ von Herrschafts– und Selbsttechnologien genannt, die Form der Regierung durch ›Führung der Selbstführung‹ und die Erzeugung eines spezifischen Modus der Selbstproduktion der Subjekte innerhalb eines Möglichkeitsfeldes. Dieses Feld freier Handlungsoptionen ist untrennbar mit der Forderung verbunden, Gebrauch von diesen Freiheiten zu machen. Entscheidungsfreiheit verwandelt sich mitunter in Entscheidungszumutungen und einen Zwang zum freien Handeln. Die Folgen des Han112

113 114 115

Bröckling, Ulrich, Krasmann, Susanne und Lemke, Thomas, Gouvernmentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. S. 22. Vgl. ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 26.

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delns bleiben jedoch dem Einzelnen zugerechnet, hat dieser sich ja in freiem Willen für eine Option entschieden. Renata Salecl spricht in diesem Zusammenhang gar von einer Tyrannei der freien Wahl: »the dominant ideology of the developed world: the individual is the ultimate master of his or her life, free to determine every detail. [. . . ] we are asked to see our whole lives as one big composition of decisions and choices.«116 . Wer damit überfordert ist, oder sich vielleicht einfach nur dieser Tyrannei entziehen möchte, verliert seinen Status als freies und rationales Subjekt. Die ›autonome‹ Subjektivität wird als gesellschaftliches Leitbild etabliert – politische Zielsetzungen sind über das Motiv der Selbstverwirklichung effizienter zu realisieren als über Verbot und Einschränkung.117 Mit Hilfe der Perspektive der Gouvernementalitätsstudien kann nach strukturellen Homologien und Differenzen in der Konstitution der individuellen und kollektiven Körper gefragt und eine neoliberale Harmonie dechiffriert werden, in der nicht nur der individuelle, sondern auch kollektive Körper wie öffentliche Verwaltungen, Universitäten, Unternehmen und Staaten »schlank«, ›flexibel‹ und ›autonom‹ sein müssen. Indem der Akzent auf dem integralen Zusammenhang zwischen mikro- und makropolitischen Ebenen (etwa: Konkurrenz um ›attraktive‹ Unternehmensstandorte und persönlichen Schönheitsimperativen bzw. Diätregimes), ›ideologischen‹ und ›politökonomischen‹ Instanzen (etwa: Flexibilitätssemantik und Einführung neuer Produktionsstrukturen) liegt, wird es möglich die (Selbst–)Zurichtungs– und Herrschaftseffekte neoliberaler Gouvernementalität präziser in den Blick zu bekommen. Es handelt sich also [. . . ] um eine Recodierung von Ausbeutungs– und Herrschaftsverhältnissen auf der Grundlage einer neuen Topografie des Sozialen.118

4.3.1 Das unternehmerische Selbst Das Subjektivierungsmodell, in dem sich nun viele der Praktiken neoliberaler Gouvernementalität verdichten, ist nach Ulrich Bröckling das des unternehmerischen Selbst.119 In seiner gleichnamigen Studie Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform zeigt er, welche Wirklichkeit dadurch geschaffen wird und auf welche Weise 116 117

118 119

Salecl, Renata: Choice. Profile Books Ltd., London, 2010, S. 1. Vgl. Bröckling, Ulrich, Krasmann, Susanne und Lemke, Thomas, Gouvernmentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. S. 30. Ebd., S. 32. Ähnliches findet sich auch in der Figur des Arbeitskraftunternehmers. Vgl. Voß, Günther und Pongratz, Hans: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. 50.1 (1998), S. 131 –158.

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sie in das Verhalten und das Selbstverständnis der Individuen eingeht.120 Aufschlussreich für das Verständnis des Konzepts unternehmerischer Subjektivierung erweist sich die systemtheoretische Analyse der beiden Rechtssoziologen Hutter und Teubner, die am Beispiel des homo oeconomicus und des homo juridicus darstellen, wie sich das Wirtschafts– und Rechtssystem die für die jeweiligen Operationen notwendigen Akteure als ›Realfiktionen‹ konstruieren. Diese Fiktion erlaubt eine strukturelle Koppelung kommunikativer Operationen in beiden Sphären. Dieses Wechselspiel zwischen Konditionierung und Selbstkonditionierung führt zu entsprechenden psychischen Operationen in der Form des semantischen Artefakts der Person. Die Subsysteme schaffen somit durch spezifische Perzeption vermittels bestimmter Rationalitätsmodelle und in Fokussierung auf konkrete menschliche Eigenschaften die Akteure, die es zum kommunikativen Anschluss benötigt, indem diese als bereits vorhanden und gegeben unterstellt werden.121 Die Rationalität von Subjektivierungsregimen adressiert also jeweils nur spezifische Ausschnitte des Spektrums menschlicher Handlungsmöglichkeiten, universalisiert und naturalisiert diese jedoch bis zur anthropologischen Wesensbestimmung und zur conditio humana.122 Konkret bedeutet die Realfiktion des unternehmerischen Selbst die eigene Person als Bezugspunkt der Logik des freien Marktes zu imaginieren und damit die eigene Ohnmachtserfahrung drohender Arbeitslosigkeit oder des sozialen Absturzes in den Aktivismus eines handlungsmächtigen Subjekts umzuwandeln, das sich in voller Eigenverantwortung und in allen Lebensbereichen als Marktsubjekt verhält.123 Auf inhaltlicher Ebene finden sich diese Motive in den untersuchten Interviews an vielen Stellen:

120 121 122 123

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Bröckling, Ulrich, Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. S. 36. ebd., S. 37. ebd., S. 38. ebd., S. 55f.

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SIM: (Zeile 375 - 380) Würdest Du es Dir zutrauen, ein Unternehmen zu leiten? IP4: ich leit eins (schnell und überzeugt) (Schweigen) SIM: O.K.? (Schweigen) IP4: Ich, ich bin Unternehmer von meinem eigenen Lebe. (Pause) Ja. (leise) (Schweigen) IP4: (Zeile 6 - 14) Weil ich einfach sag, ähm, des unternehmerische Denke sollte sich nit nur rein auf de Beruf oder ins Unternehme, aufs Unternehme beziehe, sondern, sag ich mal, aufs ganze Lebe beziehe. Ich denk Eigeverantwortung für jeden isch ganz wichtig, weil ähm, wenn man sie nicht übernimmt, oder, ja , sich dessen nicht bewusst ist, dass man sie übernehmen sollte, dann ähm, darf man sich nicht wundern, über einen bestimmen, oder wenn Dinge geschehen, die man eigentlich nicht will. (Schweigen)

IP7: (Zeile 375 - 380) Also, irgendwo isch jeder ein Unternehmer. Allein so ein Hartz IVler isch schon ein Unternehmer. Weil selbst er sagt, was eß ich heute. Wie verwend ich des Geld heute. Ich habe nur 5 EUR zur Verfügung. Ich kann nur die Ausgeben. In dem Moment denkt er unternehmerisch. (Pause) für mich. (Pause) Oder (Pause) wenn er nit arbeite geht, für wenig Geld. (Pause)

In der Figurs des unternehmerischen Selbst kehrt die Figur des homo oeconomicus in veränderter Form zurück. In der klassischen Vorstellung ist dieser ein tauschender Mensch und sein Handeln ein Wahlhandeln, das dem Prinzip der Nutzenmaximierung folgt. In der Laissez-faire-Politik des Liberalismus folgen die Individuen dieser vermeintlich vorhandenen ›natürlichen‹ Rationalität im gegenseitigen Tauschprozess auf dem Markt. Im Neoliberalismus ist der homo oeconomicus jedoch nicht nur Tauschpartner, sondern Unternehmer seiner Selbst, eines Selbst, das in behavioristischer Verhaltensmodifikation durch Regierungshandeln permanent geschaffen und aktiviert werden muss.124 Es ist sich selbst Kapital, Produzent und Einkommensquelle.125 Vereinnahmung im ökonomischen Prozess und Selbstverwirklichung sind in der Subjektform des unternehmerischen Selbst kein Wi124

125

Vgl. Bröckling, Ulrich, Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. S. 59f.; Vgl. Foucault, Michel, Analytik der Macht. S. 193. Vgl. ebd., S. 193.

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derspruch mehr, sondern verstärken sich in unabschließbarem Wachstum gegenseitig: Die Individuen sollen ihre Macht über sich selbst, ihr Selbstwertgefühl und Selbstbewußtsein und ihre Gesundheit ebenso maximieren wie ihre Arbeitsleistung und ihren Wohlstand; sie sollen das umso besser können, je aktiver und selbstverantwortlicher sie ihr Leben in die Hand nehmen; und sie sollen professionelle Hilfe suchen, wenn sie mit all dem überfordert sind. [. . . ] das Ethos unternehmerischen Handelns und die Werte der Therapiekultur, wie sie sich insbesondere in den Konzepten der humanistischen Psychologie finden [. . . ] treffen sich in einem Regime des Selbst, das den Einzelnen antreibt, ›an sich zu ›arbeiten‹ und Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Es versucht, das Selbst mit einer Reihe von Werkzeugen für die Bewältigung seiner Angelegenheiten auszustatten, so daß es Kontrolle über seine Unternehmungen gewinnen, seine Ziele definieren und die Erreichung seiner Bedürfnisse durch seine eigenen Kräfte planen kann.‹126

Auch hier lässt sich von einer Simulation sprechen, in dem Sinne, dass etwas vorgetäuscht wird, das nicht existent ist. Individuen und Mitarbeiter sind keine Unternehmer, aber in dem Maße, in dem sie als solche agieren sollen, wird ein solches Verhaltensmodell zur sozialen Norm, der man sich immer weniger entziehen kann.127 In Beispielen aus der Ratgeberliteratur finden sich Empfehlungen, die eigene Person als Ware oder Produkt zu definieren und sich vorzustellen von einem Markt umgeben zu sein, selbst wenn man als Person bereits Angestellter eines Unternehmens ist.128 Das Individuum soll sich darüber hinaus auch selbst als Kunde, König und Lieferant seiner eigenen Bedürnisse wahrnehmen, als sein eigener Geschäftsführer. Wie an o.a. Interview-Auszügen auch schon gezeigt werden konnte, ist dies keine Frage des beruflichen Status, sondern der Lebensführung und des Selbstkonzepts. Die Ich-AG muss dabei eine »unverwechselbare Marke Ich«129 kreieren, den Markt analysieren und das eigene Potential entsprechend entwickeln und vermarkten. Individualität ist dabei die Norm, die sich im »Kult des Besonderen«, der »Norm der Abweichung« und besonders im Glauben zeigt, als Einzelner beinhahe unbegrenzte Fähigkeiten zu besitzen, alles erreichen zu können was man erreichen will und das Leben in 126 127 128

129

Bröckling, Ulrich, Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. S. 61. Vgl. ebd., S. 63. Siehe dazu auch Interview IP1: »jeder Einführung, die ich mit neuen Mitarbeitern hab, sag ich immer, wir haben nicht nur externe Kunden, sondern auch interne Kunden (IP1, 524 – 527).« Der Aspekt der Produkthaftigkeit der eigenen Identität findet sich auch schon in Krakauers Die Angestellten. Vgl. Kracauer, Siegfried, Die Angestellten. Eine Schrift vom Ende der Weimarer Republik. Bröckling, Ulrich, Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. S. 68 [Hervorhebung im Original].

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allen Facetten nach eigenem Wunsch gestalten zu können.130 In radikal-kontruktivistischer Manier und in einem »logischen Kurzschluss«131 wird die Perspektivität allen Denkens zur Begründung für dessen Allmacht. In Autosuggestion wird daraus ein Lebensprinzip: »Eine leicht ins Positive hinein verzerrte Wirklichkeitswahrnehmung ist förderlich für eine leistungsorientierte und sozial förderliche Handlungsregulation.«132 Auch hier finden sich entsprechende Motive im untersuchten Material: SIM: (Zeile 678 - 683) Wenn man wirklich will, kann man alles erreichen. Wie siehst Du das? IP3: (Pause) Schon! Also isch fascht ne Lebensphilosophie, ja. Weil, also wenn man will, äh, ja. Des isch ne Lebensphilosphie. Mehr kann ich nit zu sage. Des sind Tatsache. (Schweigen)

SIM: (Zeile 265 - 278) wie, wie stehst Du zu dem Spruch: Wenn man wirklich will, kann man alles erreichen? IP7: Ich sag ja. Es stimmt! (feste Stimme,laut) [...] IP7: ich kann des, aber ich kanns nur, wenn ichs will. SIM: Man kann dabei aber auch scheitern. IP7: ja. Aber Dein Wille wird nit aufhören. Du kannsch weiter, weiter, bis du es geschafft hasch. Des geht.

Die Leitung des Unternehmens der eigenen Persönlichkeit hat vor allem damit zu tun alle ›einzelnen Ichs‹ miteinander zu koordinieren, alle persönlichen Bedürfnisse in der Form zu befriedigen, dass eine möglichst effektive Zusammenarbeit gewährleistet ist um »Erfolgsblockaden« oder Konflikte zwischen »Karriere-« und »Lebensfreudeanteil« zu verhindern.133 Dass diese Vermittlung zu einer Überforderung führen kann, liegt auf der 130

131 132 133

Vgl. Bröckling, Ulrich, Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. S. 68. Bezeichnend dafür auch Ratgeber mit Namen wie: Das Pippilotta-Prinzip. Ich mach mir die Welt so wie sie mir gefällt. Die Figur der Pippi Langstrumpf mag dabei paradigmatisch für ein emanzipatorischautonomes Lebenskonzept stehen, das vor allem von Vertetern der counter culture in Form der Künstlerkritik als Gegenentwurf zum zweiten Geist des Kapitalismus vorgebracht wurde und sich im zeitgenössischen kapitalistischen Geist integriert wiederfindet. Ebd., S. 69. Kastner 1999, zitiert bei Ebd., S. 69. Vgl. ebd., S. 70.

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Hand. Sie ist jedoch strukturimmanent, hält sie doch dauerhaft in Bewegung und eine Anspannung aufrecht, die niemals zur Ruhe kommen lässt. Das Ich kann sich selbst nicht entlassen und kennt keinen Feierabend. Zudem muss es ständig mit der eigenen Optimierung beschäftigt sein, ein Ausruhen auf dem Erreichten ist nicht vorgesehen. Ein solches Motiv, das man in Anlehnung an Max Weber mit Rastlosigkeit bezeichnen könnte, findet sich mehrfach im untersuchten Material.134 Zum Aspekt der Überfoderung antwortet IP7 etwa: IP7: (Zeile 130 - 132) Nein des köhrt zum Job. Nein, des darf nit, weil du musch weiter. Definitiv! (alles sehr bestimmt geäußert) (Schweigen) [...] (Zeile 301 - 303) musch du mehr mitbringe, schon seit eh und je. Da wird von dir ja schon verlangt, du hasch ja gwiest, welchen Job du maschs.

Nach Disziplinar- und Kontroll- bzw. Absicherungsgesellschaft bezeichnet Han die beschriebenen gouvernementalen Praktiken unternehmerischer Selbstführung als die einer Leistungsgesellschaft. Nicht mehr Verbot und Ausschluss, auch nicht mehr kontrollierte Freiheit, sondern eine Positivität entgrenzten Könnens, der Inititative und ständiger Motivation sind die internalisierten Imperative des Leistungssubjekts.135 Vorgehensweisen von Verbot oder Kontrolle machen eine Produktivitätssteigerung nur in einem begrenzten Maße möglich. »Die Posititivität des Könnens ist viel effizienter als die Negativität des Sollens. Sie schaltet das gesellschaftlich Unbewusste vom Sollen auf Können um. Das Leistungssubjekt ist schneller und produktiver als das Gehormsamssubjekt.«136 Das Sollen ist dadurch freilich nicht verschwunden, sondern die Internalisierung die bereits für die Disziplinen charakteristisch war, hat eine qualitative Änderung erfahren. Die Fremdausbeutung wird zur Selbstausbeutung und funktioniert weitaus effektiver, da sie auf dem Gefühl von Freiheit basiert. Keine äußere Herrschaftsinstanz beutet mehr aus, Freiheit 134 135 136

Mehr dazu siehe Kapitel 5.3. Vgl. Han, Byung-Chul: Müdigkeitsgesellschaft. Matthes und Seitz, Berlin, 2010, S. 17ff. Vgl. ebd., S. 19.

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und Zwang fallen zusammen, Täter und Opfer sind nicht mehr unterscheidbar.137 Die Perspektive auf gegenwärtige Phänomene von Gouvernementalität soll nun durch das Konzept des kapitalistischen Geistes und seinen jeweiligen Ausprägungen ergänzt werden. Diese weisen Parallelen zu den bereits vorgestellten Entwicklungen der Subjektkulturen seit Ende des 18. Jahrhunderts auf. Vor allem die Rolle der Kritik findet sich dabei im Konfliktfeld um die jeweils hegemoniale Subjektform wieder.

137

Vgl. Han, Byung-Chul, Müdigkeitsgesellschaft. S. 22f.

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5 Die Dialektik des kapitalistischen Geistes Mit dem Begriff des kapitalistischen Geistes knüpfen die beiden Autoren Luc Boltanski und Ève Chiapello im Werk Der neue Geist des Kapitalismus 138 an die zum soziologischen Klassiker avancierte Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus 139 von Max Weber aus dem Jahre 1904 an.140 Beide gehen der Frage nach, was Menschen dazu bewegt, sich am kapitalistischen Akkumulationsprozess zu beteiligen, und dabei davon aus, dass für diese Beteiligung überzeugende moralische Gründe vorliegen müssen.141 Während sich Weber vor allem handlungstheoretisch für die ethischen Motivlagen und den ›psychologischen Antrieb‹ interessiert, wollen Boltanski und Chiapello die Emergenz der drei verschiedenen historisch bisher existierenden Kategorien des kapitalistischen Geistes nachzeichnen und untersuchen. Die Funktionsweise dieser verschiedenen Ausprägungen des kapitalistischen Geistes wird nicht nur durch reinen Systemzwang gewährleistet. Wie bereits mit Foucault gezeigt wurde, muss ein Zwang verinnerlicht werden und benötigt dazu eine spezifische Art der Legitimation. Der Kapitalismus war immer wieder in der Lage sich durch verschiedene Modifikationen auf »handlungsanleitende Vorstellungen und gängige Rechtfertigungsmodelle«142 stützen zu können, um die durch ihn begründete Ordnung als annehmbar oder »sogar wünschenswerte, allein mögliche bzw. als beste aller möglichen Ordnungen«143 erscheinen zu lassen. Es handelt sich also um eine »Gesamtheit

138 139 140

141 142 143

Boltanski, Luc und Chiapello, Ève, Der neue Geist des Kapitalismus. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Area-Verlag, Erftstadt, 2005. Boltanski und Chiapello weisen darauf hin, dass der Begriff vom ›Geist des Kapitalismus‹ ursprünglich von Werner Sombart stammt, dort jedoch noch anders definiert wurde als bei Max Weber. Vgl. Boltanski, Luc und Chiapello, Ève, Der neue Geist des Kapitalismus. S. 45. Ebd., S. 46. Ebd., S. 46.

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von Glaubenssätzen, die mit der kapitalistischen Ordnung verbunden«144 und für die Legitimation einer Lebensführung verantwortlich sind. Sie sind auf Akzeptanz angewiesen, obwohl sie verschiedene, mitunter unangenehme Begleiterscheinungen mit sich bringen. Diese Gesamtheit von Glaubenssätzen kann in ihrer Fähigkeit, eine bestimmte Art der Lebensführung zu Akzeptanz zu verhelfen als »dominante Ideologie«145 bezeichnet werden. Die teilhabenden Akteure stimmen diesen Glaubenssätzen zu und empfinden ein Leben im Sinne der Idelogie als lohnenswert. Die Frage lautet: Auf welche Weise werden die Lebensbedingungen in Einklang mit den Anforderungen des Akkumulationsprozesses gebracht, um als legitim anerkannt und für das eigene Leben akzeptiert zu werden? Boltanski und Chiapello weisen darauf hin, dass es vor allem die Rechtfertigungen der Führungskräfte sind, die eng mit der jeweiligen Ausprägung des kapitalistischen Geistes verknüpft sind. Vor dem Übergang zur Postmoderne finden sich zwei dominante Beschreibungen des kapitalistischen Geistes, die sich analog zu den oben vorgestellten dialektischen Prozessen auf dem Feld der Subjektkulturen verhalten. Zum Ende des 19. Jahrhunderts steht die Figur des Bourgeois mit Unternehmen in Familienbesitz im Zentrum, der in der Form des wagemutigen Spekulanten und des Eroberers auf der Suche nach Innovationen ein hohes Maß an Risikobereitschaft zeigt. Idealtypisch ist eine Wirtschaftshaltung, die mit einer allgemeinen Rationalisierung der Lebensführung und einer patriarchalen Betriebsführung mit familienähnlichen Beziehungen zu den Angestellten einhergeht.146 Im allgemeinen Geist der aufkommenden Moderne stützen sich die Rechtfertigungen auf einen Glauben an Fortschritt, Technik, Wissenschaft und das Ideal des allgemeinen Wohlstandes. Gegen Mitte des 20. Jahrhunderts gewinnt eine neue Form des kapitalistischen Geistes an Bedeutung. Die zentrale Instanz ist nicht mehr der Unternehmer, sondern die auf Massenproduktion ausgerichtete, bürokratisierte, zentralisierte Großorganisation mit hierar-

144 145 146

Boltanski, Luc und Chiapello, Ève, Der neue Geist des Kapitalismus. S. 46. Ebd., S. 47. Vgl. ebd., S. 54f.

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chischen Führungsstrukturen.147 Als Anreize dienen das Versprechen eines ungehemmten Wachstums des Unternehmens, die Möglichkeiten des Aufstiegs innerhalb der Unternehmensstruktur und damit Teilhabe an einer Welt des Wohlstandes und der Massenkonsumption. Zudem bietet die Großorganisationen eine Sicherheitsstruktur in Form von Arbeiterwohnungen, Betriebsrente, Freizeitgestaltungsmöglichkeiten, betrieblichem Mitspracherecht oder Fortbildungen, und zeigte eine allgemeine Verantwortlichkeit für das Wohlbefinden der Angestellten und der Allgemeinheit, oft in Kooperation mit staatlichen Institutionen. Entscheidend für das Verständnis der Dynamik der Veränderungen des kapitalistischen Geistes ist die Rolle der Kritik. Das kapitalistische System ist an sich reiner Selbstzweck. Es verfügt über keinerlei moralische Instanzen, die aus Eigenlogik Entwicklungen in bestimmte Richtungen anstoßen würden. Es orientiert sich auch nicht an Idealen des Allgemeinwohls oder des Sozialen. Das Akkumulationsprinzip selbst genügt dabei nicht, um Legitimationen zu erzeugen, die zu einer Beteiligung motivieren könnte. Gerade weil der Kapitalismus eine widersinnige, in ihrer [Boltanski und Chiapellos – Anm. C.M.] Sicht gar ›absurde‹ Veranstaltung ist, bedarf er zu seiner moralischen Legitimation und zur Mobilisierung von Folgebereitschaft zwingend außerökonomische Referenzen.148

Der kapitalistische Geist ist also darauf angewiesen, sich zu seiner Rechtfertigung externer Konstruktionen zu bedienen. Es bietet sich an, auf Diskurse zurückzugreifen, die eine aktuell jeweils hohe allgemeine Überzeugungskraft besitzen und an diesen die eigenen Glaubenssätze zu orientieren. Dazu können auch kapitalismusfeindliche Ideologien gehören, wenn diese im entsprechenden kulturellen Kontext eine hohe Anschlussfähigkeit aufweisen.149 Die Konstruktionen zur Legitimationen des kapitalistischen Geistes einer Epoche sind also durchzogen von Diskursen und kulturellen Erzeugnissen, die ursprünglich Ergebnis anderer, zum Teil gar konträrer, also kritischer Intentionen waren. Das führt zur Paradoxie, dass es oftmals die gleichen Paradigmen sind, die sowohl zur Kritik als auch zur 147 148 149

Vgl. Boltanski, Luc und Chiapello, Ève, Der neue Geist des Kapitalismus. S. 55ff. Wagner, Gabriele, Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien der Selbstverantwortung. S. 6. Vgl. Boltanski, Luc und Chiapello, Ève, Der neue Geist des Kapitalismus. S. 58f.

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Legitimation des Kapitalismus zum Einsatz kommen.150 Neben der Auseinandersetzung mit kritischen Ideologien sieht sich der kapitalistische Geist zu einem gegebenen Zeitpunkt jeweils auch mit der Gewohnheit einer großen Zahl von beteiligten Akteuren an bereits etablierten Legitimationskontruktionen konfrontiert. Eine Legitimationsstruktur muss also auch dafür sorgen, dass dieser Gruppe Veränderungen der Akkumulationsformen attraktiv erscheinen und Anreize für eine weitere Mitwirkung bieten, die idealerweise in deren Alltagsrealität gründen.151 Das Ergebnis ist dabei immer ein Kompromiss zwischen den Interessen beider Seiten, zwischen dem internen Interesse an Gewinnmaximierung und den externen Anforderungen der Orientierung an universellen, z.B. moralischen, Prinzipien. Die Kritik fungiert also als Motor für Veränderungen des kapitalistischen Geistes, sie begleitet ihn »wie seinen Schatten« – der Antikapitalismus kann gar als »wichtigste[r] Ausdruck« des Kapitalismus betrachtet werden.152 Die Orientierung an der Kritik macht es ihm überhaupt erst möglich spezifische Strukturen zu integrieren, die er für sich nicht als relevant erachten würde. Mit dieser Feststellung liefern Boltanski und Chiapello auch eine neue Konzeption einer Soziologie der Kritik, die nicht mehr vom Standpunkt theoretisch ausgearbeiteter Gerechtigkeitskonzepte argumentiert, sondern sich für ihre Analysen auf die Lebenswelt, Situation und Begehrensstrukturen konkreter Akteure bezieht.153

5.1 Formen der Kritik Es lassen sich zwei fundamentale Formen der Kritik am kapitalistischen Geist unterscheiden, die diesen auf je unterschiedliche Arten verändert und in bestimmte Richtungen vorangetrieben haben: Die Künstlerkritik und die Sozialkritik. Im Allgemeinen, jedoch 150 151 152 153

Vgl. Boltanski, Luc und Chiapello, Ève, Der neue Geist des Kapitalismus. S. 59. Vgl. ebd., S: 59f. Vgl. Baechler 1995, zitiert bei Ebd., S. 59. Diese Idee der Postmarxisten Boltanski und Chiapello erinnert nicht zufällig an den Anspruch von Marx, im Geiste des historischen Materialismus die idealistische Philosophie Hegels ›vom Kopf auf die Füße stellen zu wollen.‹ Siehe hierzu auch: Wagner, Gabriele: Anerkennung und Individualisierung. UVK, Konstanz., 2004.

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mit unterschiedlichen Schwerpunkten, beziehen sich die kritischen Positionen auf folgende Aspekte:154 a) Das kapitalistische System befördert die Entzauberung von Dingen, Menschen, Gefühlen und erzeugt eine allgemeine Form des Lebens, der es an Authentizität mangelt. b) Die Produktionspraktiken des Kapitalismus führen zu Unterdrückung, zu Einschränkung der Freiheit, der Autonomie und der Kreativität. Die Herrschaft des Marktes zwingt die Menschen zu entfremdeter Anpassung und dazu, sich in die Abhängigkeit eines Beschäftigungsverhältnisses zu begeben, in dem sie sich der Kontrolle, der Überwachung, der Disziplinierung und den Vorschriften und Verfahren der Vorgesetzten unterwerfen müssen. c) Der Kapitalismus produziert Armut und soziale Ungleichheit in großem Ausmaß. d) Er untergräbt die gemeinschaftliche Solidarität und fördert Dispositionen von Opportunismus und Egoismus. Die Künstlerkritik fokussiert dabei vor allem auf die beiden ersten Punkte – den Aspekten der Entzauberung, der fehlenden Authentizität und der Unterdrückung. Es wird ein allgemeiner Sinnverlust und die Entwertung des Echten und Schönen in einer von Massenproduktion dominierten Warengesellschaft beklagt. Darunter leidet die Kunst ebenso wie der Mensch, der zu Profitzwecken und »unter dem heuchlerischen Deckmantel der Moral einer Zwangsarbeit«155 unterworfen wird. Diese Form der Kritik ist eng verknüpft mit der Lebenform der Bohème und Figuren wie der des Dandys, des freien Künstlers oder des Intellektuellen. Sie etablierte sich zunächst vor allem gegen Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Form der Sozialkritik bezieht sich hingegen auf Positionen des Sozialismus und Marxismus und klagt die beiden letztgenannten Aspekte an. Quelle der Empörung ist die Verfolgung von Partikularinteressen der bürgerlichen Gesellschaft und die Inkaufnahme der Verarmung breiter Bevölkerungsschichten. Es wird eine Berücksichtigung von christlich-moralischen Werten angemahnt.156 Mit dem Interesse an einem größeren Allgemeinwohl distanziert sich diese Art der Kritik von eher individualistischen Positionen der Künstlerkritik.

154

155 156

Vgl. für die folgende Aufzählung: Boltanski, Luc und Chiapello, Ève, Der neue Geist des Kapitalismus. S. 80. Vgl. ebd., S. 81f. Vgl. ebd., S. 82.

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Mit dem Begriff der Bewährungsprobe fassen Boltanski und Chiapello die Auseinandersetzung um eine als legitim erachtete Form des kapitalistischen Geistes. Der amerikanische Kapitalismus hatte beispielsweise gegen Ende der 1960er Jahre mit gewachsenen Legitimationsproblemen zu kämpfen, da er noch auf einer Lebens- und Arbeitshaltung basierte, die stärker von einer Ethik protestantischer Askese geprägt war, zugleich jedoch eine Warenwelt der Massenproduktion erzeugte, die einen materiellen Hedonismus beförderte. Die Konflikte mit veränderten Wünschen und Erwartungen an eine befriedigende Lebensführung führten zu einem Motivationsverlust der Arbeitnehmer und machten entsprechende Veränderungen nötig.157 Unzufriedenheit kann sich auch in radikalerer Form äußern und etwa zu Arbeitsniederlegungen oder der Blockade des gesamten Produktionsprozesses führen. In diesem Fall sind Zugeständnisse notwendig, etwa in Form gerechterer Arbeitsbedingungen, sozialer Absicherung oder betrieblichen Mitspracherechts durch die Genehmigung zur Bildung eines Betriebsrates. Unter Umständen kann Kritik jedoch auch zu einer eher verwirrenden Form der Reaktion führen, die Veränderungen nach sich ziehen, von denen sich nicht eindeutig sagen lässt, ob sie eine Verbesserung oder Verschlechterung der Arbeitsbedingungen bedeuten, die Kritik jedoch zunächst verstummen lassen.158 In Folge des zweiten kapitalistischen Geistes hat sich seit etwa Ende der 1970er Jahre eine dritte Ausprägung entwickelt, die gegenwärtig noch vorherrscht. Die Beschreibung ihrer Funktionsweise stellt das Hauptanliegen der Studie von Boltanski und Chiapello dar. Sie untersuchen zur Analyse dieser spezifischen Legitimationsform Literatur aus dem Bereich des Managementdiskurses. Wie auch für Ulrich Bröckling (siehe Kapitel 4.3.1) zeigt sich ihnen zufolge in diesen Schriften der kapitalistische Geist in seiner deutlichsten Form.159 Der kapitalistische Geist verändert sich hier vor allem auf eine Weise, die ehemals starre hierarchische Strukturen aufbricht und den einzelnen Angestellten nach und nach eine Arbeitsweise nahelegt, die dem eines Managers gleicht, der innerhalb des Unterneh-

157 158 159

Vgl. Boltanski, Luc und Chiapello, Ève, Der neue Geist des Kapitalismus. S. 69. Vgl. ebd., S. 70. Vgl. ebd., S. 91.

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mens eine eigene Unternehmung führt.160 Dies geht einher mit einem gestiegenen Maß an Verantwortlichkeit des Einzelnen und fortschreitender Reduzierung und Verschlankung (Stichwort lean production, just-in-time-production, outsourcing) des organisatorischen Korpus der Unternehmen. In dezentralisierten Strukturen einer Netzwerkpolis wird nun in selbstorganisierten Projekten und Teams gearbeitet,161 so dass auf Kundenwünsche und sich wandelnde Marktanforderungen möglichst flexibel und schnell reagiert werden kann.162 Auch die Figur des Managers in der Rolle des ›Vorgesetzten‹ verändert sich. Er tritt nun als Leader mit einer Vision auf. Einsatzbereitschaft wird bei den Mitarbeitern nun nicht mehr über Zwang ausgeübt, sondern über Identifikation mit einer Schlüsselfigur, die die Projektgruppen mitunter vorher selbst gewählt haben.163 Die Subjektivität der Beschäftigten wird von einem Störfaktor zu einer Produktivitätsressource.164 Ungelöst bleibt dabei jedoch das Problem der Kontrolle der dezentralisierten Arbeits- und Projektgruppen. Diese wird schließlich dadurch gewährleistet, dass die Kontrollinstanz in das Individuum selbst verlegt wird. Die Zwänge müssen internalisiert und auf die eigene Person angewendet werden. Um zugleich jedoch auch noch eine Orientierung an den Zielen des Unternehmens herstellen zu können, bedarf es der Mobilisierung der Eigenmotivation. Am effektivsten erweist sich dafür die Einbeziehung der Mitarbeiter in Entscheidungsprozesse: Der Manager der Zukunft ›motiviert‹ seine Mitarbeiter nicht. Er weckt durch seine alltägliche Aufmerksamkeit ihre Eigenmotivation, die ein jeder tief in sich trägt und die in dem Wunsch besteht, zu verstehen, sich weiterzuentwickeln und seinem Leben einen Sinn 160

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In diesem Zusammenhang sei auf die Studie von Nicole Müller verwiesen, die anhand eines korpusanalytischen Vergleichs von Stellenanzeigen aus den Jahren 1968 und 2008 die Tendenzen des Wandels im kapitalistischen Geist aufzeigt. Vgl. Müller, Nicole: Alltagsroutine gibt es bei uns nicht! Zum Verhältnis von Sprachwandel und Gesellschaftskritik am Beispiel des Recruiting-Diskurses. In: 1968. Eine sprachwissenschaftliche Zwischenbilanz. Hrsg. von Kämper, Heidrun, Scharloth, Joachim und Wengeler, Martin. De Gruyter, Berlin; New York., 2011 (Im Druck). Die Form der Netzwerkpolis bringt spezifische neue Formen des Sozialen und der Arbeit mit sich zieht. Siehe dazu auch Kapitel 3.3. Vgl. Boltanski, Luc und Chiapello, Ève, Der neue Geist des Kapitalismus. S. 112. Vgl. ebd., S. 115. Vgl. Moldaschl, Manfred: Von der Personalwirtschaftslehre zur Wirtschaftslehre der Person? Konsequenzen von Intrapreneuring, neuer Selbständigkeit und Ich-AG. In: Neue Ökonomien der Arbeit. Hrsg. von Moldaschl, Manfred und Thießen, Friedrich. Metropolis, Marburg., 2003, S. 100.

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zu geben.165

Die erneuerte, dritte Form des Kapitalismus stellt vielleicht die umfassendste Integration einer Kritik am kapitalistischen System seit seiner Entstehung dar. Der zweite Geist war stärker von einer Reaktion auf die Sozialkritik geprägt und zeigte damit eine stärkere Orientierung an Prinzipien der Gerechtigkeit und allgemeinem gesellschaftlichen Wohlstand. Seit den 1960er Jahren intensivierte sich im Anschluss an die Bewegung der counter culture der 1968er-Generation der Widerstand in Form der Künstlerkritik. Diese Form der Protestbewegung machte einen fundamentalen Wandel des kapitalistischen Systems nötig. Zum anderen entzog sich der kapitalistische Geist in anderen Bereichen jedoch, wie oben beschrieben, auch einfach einer Stellungnahme gegenüber der an ihm geübten Kritik. In jedem Fall handelt es sich um Veränderungen, die hauptsächlich eine Reaktion auf ein gestiegenes Bedürfnis nach Autonomie, Gestaltungsfreiheit und Selbstverwirklichung darstellen. »Die ›schöne neue Netzwerkwelt‹ kann sich der normativen Zustimmung der Akteuere sicher sein. Wer wollte nicht selbstbestimmt, authentisch und in Teams an wechselnden Projekten arbeiten?«166

5.2 Paradoxien der Selbstverantwortung in einem anonymisierten Herrschaftsraum Gabriele Wagner fasst die Folge dieser letzten dialektischen Transformation und damit der ›Runderneuerung und Perfektionierung des Kapitalismus‹ wie folgt zusammen: Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass diese vormals emanzipatorischen Vorstellungen, Normen und Ideale das politische Lager gewechselt haben. Mitbestimmung, Kreativität und Selbstentfaltung sind nicht länger Kampfbegriffe gegen Entfremdungserfahrungen, Bürokratie und Unterordnung, sie sind nunmehr zu Standarderwartungen von Unternehmen an ihre Mitarbeiter geworden.167

165 166 167

Le Saget 1994, zitiert bei Boltanski, Luc und Chiapello, Ève, Der neue Geist des Kapitalismus. S. 121. Wagner, Gabriele, Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien der Selbstverantwortung. S. 6. Ebd., S. 6.

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Das allgemein anerkannte Ideal auf dem der kapitalistische Geist ruht, findet sich nach Wagner im Begriff der Individualisierung. Dabei handelt es sich in erster Linie um eine Umstellung von Fremd- auf Selbstbestimmung, damit jedoch auch eine von Fremd- auf Selbstzurechnung. Mit dieser erhöhten Verantwortlichkeit für das eigene Schicksal lässt sich Erfolg den eigenen Handlungen zurechnen, macht jedoch auch Scheitern und Misserfolg zu einem persönlichen Problem, während sowohl das eine als auch das andere weiterhin in Abhängigkeit zu Einflussgrößen stehen kann, auf die das Individuum keinerlei Einfluss hat. Wagner möchte in diesem Zusammenhang die Verwurzelung des kapitalistischen Legitimationszusammenhangs im Individualisierungsdiskurs in Zusammehang mit Semantiken der Sozial- und Firmenpolitik aufzeigen, da diese sehr weit in den Erfahrungsraum der Akteure hineinreichen.168 Auf personalpolitischer Ebene tragen etwa die Einführung von persönlichen Zielvereinbarungen und leistungsabhängiger Entlohnung zu einer Individualisierung der Verantwortung bei. Der Mitarbeiter bricht bei Nichterfüllung ein Versprechen und scheitert als Person an einem selbstgesetzten Ziel. Konkret wird dabei der Risikobereich, in dem sich das Unternehmen am Markt befindet, in die persönliche Verantwortlichkeit des Subjekts erweitert. Die Organisationsprinzipien fordistisch strukturierter Unternehmen vollzogen eine Transformation der Marktunsicherheiten, indem diese über eine bürokratische Struktur aufgeteilt, abgedämpft und damit ansatzweise kalkulierbar wurden.169 Diese Distanz zwischen dem Markt und den Mitarbeitern wird im Netzwerkkapitalismus nahezu egalisiert. Jedes Individuum wird auf semantischer Ebene als Unternehmer angerufen und ist den Turbulenzen und Risiken des Marktes schutzlos ausgeliefert. Auf der Ebene des Managements ist ebenfalls von »unausweichlichen Marktzwängen« die Rede, die Entschei-

168 169

Vgl. Wagner, Gabriele, Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien der Selbstverantwortung. S. 8. Vgl. ebd., S. 10.

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der werden »unsichtbar« und stellen sich selbst als Getriebene des Marktes dar.170 Somit rechtfertigt die »höhere« Autorität »objektiver« Sachzwänge jegliche Maßnahmen.171 »Damit errichtet die semantische Figur »Naturgewalt des Marktes« eine Herrschaftsform, die sich als abwesende Anwesenheit eines dirigistischen Managements beschreiben lässt.«172 Die Beschäftigten sehen sich im ›im selben Boot‹ und müssen je für sich mit der Notwendigkeit der Anpassung an den Markt und den damit verbundenen Risiken zurechtkommen. Es schwinden sowohl die klaren Grenzen der Verantwortlichkeit als auch die eines klar umrissenen Aufgabenfeldes – die gesamtorganisatorische Probleme werden zu individuellen Handlungsaufträgen.173 Wie sich auch in der Analyse des hier vorliegenden Materials zeigen wird, erzeugen die beschriebenen Bedingungen eine neue Form der inneren Rastlosigkeit, wie sie für die Arbeitsethik der protestantischen Askese charakteristisch war, die Weber beschrieben hat. Der unerforschliche Ratschluss Gottes wird durch die Unvorhersehbarkeit des Marktes abgelöst,174 die Angst, nicht zu den ›Auserwählten‹ zu gehören wird zur Angst vor dem Scheitern. Der Antrieb des Arbeitens speist sich jedoch nicht aus einem Pflichtethos, sondern aus dem Wunsch nach Selbstverwirklichung und der gleichzeitigen Semantisierung des Subjekts als übermächtigen Akteur. Ein Scheitern bedeutet also ein Scheitern vor einem vermeintlich unendlichen Horizont an Möglichkeiten: »mit der Individualisierung [ist] eine wirkmächtige neue Semantik des guten Lebens etabliert [. . . ]. Die Deutung, sich selbst als Opfer der Verhältnisse zu beschreiben, ist aus

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Diese Getriebebenheit setzt sich auf politischer Ebene fort. Dazu Ulrich Beck: »Zum einen wird unterschlagen, dass die politische Klasse durch ihr Agieren die angebliche Handlungsohnmacht selbst herbeigeführt hat: Sie hat die Regeln der globalisierten Märkte auf nationaler Ebene als ›Reformpolitik‹ durchgesetzt. Auf diesem Weg erzeugte sie das angeblich nicht länger zu beeinflussende ›Globalisierungsschicksal‹. Merke: Das globale Kapital erlangt nur dann seine ›unantastbare‹ Macht, wenn die Politik aktiv ihre Selbstabschaffung betreibt.« Beck, Ulrich: Die fünf Lebenslügen nationaler Politik. url: http://www.fr-online.de/kultur/debatte/die-fuenf-lebensluegen-nationaler-politik/-/1473340/ 4829014/-/view/asFirstTeaser/-/index.html (besucht am 12. 11. 2010) Wagner, Gabriele, Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien der Selbstverantwortung. S. 11. Ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 13. Vgl. Kocyba, Hermann: Selbstverwirklichungszwänge und neue Unterwerfungsformen. Paradoxien der Kapitalismuskritik. In: Ökonomie der Subjektivität - Subjektivität der Ökonomie. Hrsg. von SubArO, Arbeitsgruppe. Edition Sigma, Berlin., 2005 S. 81.

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dem Kanon anerkannter biographischer Erzählschemata gestrichen.«175 Das gescheiterte Subjekt ist an der Unfähigkeit gescheitert, mit seiner ›Freiheit‹ umzugehen. Boltanski und Chiapello bemerken nach heftigen Protestbewegungen in den 1960er und 70er Jahren und dem Beginn der ersten Transformationen des kapitalistischen Geistes in den 1980er Jahren ein auffälliges Verstummen der Sozialkritik innerhalb weniger Jahre. Mit Beginn der 1990er Jahre beginnt der Anteil an prekären Beschäftigungsverhältnissen zu steigen, die soziale Verteilungsgerechtigkeit zu sinken und die Anforderungen an die Arbeitnehmer schärfer zu werden. Das Leitmotiv politischen Handelns besteht seither zunehmend darin, möglichst ideale Bedingungen für ein Wachstum der kapitalistischen Ökonomie zu schaffen.176 Die Sozialkritik bleibt jedoch weiterhin überwiegend stumm.177 Wagner vertritt die These, dass es vor allem eine neue semantische Rahmung sozialer Ungleichheit sei, die den Anspruch auf staatlichen Leistungen delegitimieren.178 Die vormals etablierte Form eines Wohlfahrtsstaates, der soziale Sicherheit für den größten Teil der Bevölkerung verspricht, ist zur Bedrohung dieser Sicherheit geworden. In Deutschland wird mit den Hartz-Reformen die Pflicht, jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen gesetzlich festgeschrieben und damit das Prinzip der Statussicherung vom Prinzip 175

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Vgl. Wagner, Gabriele, Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien der Selbstverantwortung. S. 13. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Aufkommen des Begriffes des ›Opfers‹ als abschätziges Schimpfwort im Bereich der Jugendsprache. Des weiteren ist in der Psychologie das Phänomen des Victim blaming bekannt. Dabei handelt es sich um die Neigung unbeteiligter Dritter z.B. Vergewaltigungsopfern eine Mitschuld an dem Geschehenen zuzusprechen. Man geht davon aus, dass dabei der Wunsch eine Rolle spielt, sich ›die Welt‹ oder ›das Leben‹ als grundsätzlich gerecht vorzustellen und die Möglichkeit von Geschehnissen zu verdrängen, die außerhalb der Kontrolle des Individuums liegen. Der einzelne ist mit dieser Interpretation in der Lage, sich der Ordnung und Kontrolle über das eigene Leben zu versichern und zu dem beruhigenden Schluss zu kommen, dass ihm so etwas nicht passiert wäre. Vgl. Montada, Leo, Schneider, Angela und Meißner, Adelheid: Blaming the victim: Schuldvorwürfe und Abwertung. url: http://psydok.sulb.uni- saarland.de/volltexte/2006/652/ (besucht am 03. 11. 2010). Dies ebenso nach der Weltwirtschaftskrise des Jahres 2008, die vor allem auf die Deregulierung und den alleinigen Fokus auf Wachstums des ökonomischen Sektors zurückzuführen ist. Die politischen Maßnahmen beschränkten sich vor allem darauf, Mittel zur Verfügung zu stellen, um diese Krise des Konsumismus mit möglichst viel erneutem Konsum zu überwinden. Auf diese Funktion des Staates im Spätkapitalismus, vor allem die Selbsterhaltung der kapitalistischen Ökonomie zu gewährleisten, wies Habermas bereits in den 1970er Jahren hin. Vgl. Habermas, Jürgen: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1973. Vgl. Boltanski, Luc und Chiapello, Ève, Der neue Geist des Kapitalismus. S. 214. Vgl. Wagner, Gabriele, Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien der Selbstverantwortung. S. 15.

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des Arbeitszwangs abgelöst. Dahrendorf weist darauf hin, »dass nicht das Recht auf Arbeit, sondern vielmehr das Recht, nicht zu arbeiten, ein zentrales liberales Prinzip ist.« Und weiter: »Menschen zur Arbeit zu zwingen, auch wenn es durch indirekte Mittel geschieht, ist eine autoriäre Politik.«179 Die Akzeptanz eines solchen Systems gründet auf allgemeiner Akzeptanz einer Individualisierungssemantik, die auch auf politischer Ebene die Ursachen von Hilfebedürftigkeit dem Individuum selbst zuschreibt. Dies gilt ebenso für Einbrüche der Erwerbsbiographie, Armut oder Dauerarbeitslosigkeit – die Gründe hierfür liegen jeweils in einer defizitären Persönlichkeit, mangelndem Engagement oder fehlender Leistungsbereitschaft: »Problematisch an dieser Rahmung ist jedoch, dass zentrale gesellschaftliche wie auch subjektive Voraussetzungen einer faktisch wahrnehmbaren Selbstverantwortung systematisch ausgeblendet werden.«180 Nach Günther geht es dabei darum, die gesellschaftliche Kommunikation über soziale Probleme und Konflikte [. . . ] so zu strukturieren, daß sie einzelnen Personen, Individuen zugeordnet werden, nicht aber überindividuellen Strukturen und Prozessen, der Gesellschaft, der Natur oder dem Schicksal. Im binären Schematismus findet ein Wechsel von der einen auf die andere Seite statt181

Die Sozialkritik greift deshalb kaum noch, weil eine Vereinzelung der Konfrontation mit den Lebensbedingungen stattfindet und diese dadurch ihre kommunikative Anschlussfähigkeit verlieren bzw. die kommunikative Infrastruktur selbst zerstört wird, innerhalb derer Solidarität und Mobilisierung stattfinden könnte. »Mit dem Bedeutungsgewinn der Individualisierungssemantik hält auf einer kollektiven Ebene ein Deutungsmuster Einzug, das – paradoxerweise – gerade die kollektiven Bezüge individueller Erfahrungen ausblendet.«182 Den Imperativen der Eigenverantwortlichkeit nicht zu folgen, verstößt gegen die Pflichten sich selbst und der Gesellschaft gegenüber. Die Weigerung, die gebotenen Freiheiten nicht zu nutzen, verstößt somit gegen eine soziale Norm.183 Im Kontext der Künst179

180 181

182 183

Dahrendorf 2000, S. 1067, zitiert bei: Wagner, Gabriele, Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien der Selbstverantwortung. S. 18. Vgl. ebd., S. 16. Günther, Klaus: Verantwortlichkeit in der Zivilgesellschaft. In: Das Interesse der Vernunft. Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit ‚Erkenntnis und Interesse‘. Hrsg. von Müller-Dohm, Stefan. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2000, S. 471. Vgl. Wagner, Gabriele, Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien der Selbstverantwortung. S. 17. Vgl. ebd., S. 18.

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lerkritik war Selbstaufopferung eine idealistische Haltung und eine emanzipatorische Geste im Widerstand gegen Entfremdung, Unterwerfung und Verdinglichungstendenzen der Arbeitswelt. Nach der Aneigung durch den kapitalistischen Geist der Gegenwart ist sie nur mehr normativer Hintergrund und Pflichtethos.184

5.3 Die Arena-Gesellschaft: Säkularisierte Askese als neuer Geist des Spätkapitalismus. Cai Werntgen bringt mit dem Begriff der Arena-Gesellschaft 185 die Komponenten des kapitalistischen Geistes und der Selbsttechnologien innerhalb der Subjektkultur der Postmoderne in einen weiteren gesellschaftlichen Zusammenhang. Analog zur Aufhebung der Unterscheidung zwischen Beobachter und Beobachtetem in der Internalisierung des Foucaultschen Panopticons, verwendet Werntgen die Metaphorik der Arena als »heimlicher Fluchtpunkt der Disziplinar- und Kontrollgesellschaft« und fragt nach dem »neoliberal flexibilisierte[n] und postfordistisch[en] McKinsey-Mensch[en] als Homo Gladiator ?«186 Parallel zur bei Wagner erwähnten Vereinzelung des Schicksals lässt sich eine allgemeine Konjunktur meist medial inszenierter Massenphänomene wie Sportwettkämpfe oder Casting-Shows aller Couleur beobachten, die mit einem Bauboom von Sport- und EventArenen einhergeht. Es scheint als würden die Selektionsmechanismen des Marktes spektakelhaft und in aller Öffentlichkeit inszeniert. Dabei lautet die Botschaft zwar im Wettbewerb die jeweils Besten zu küren, zentral ist dabei jedoch vor allem das Schicksalhafte des Tribunals der Jury, das über Erfolg und Niederlage entscheidet. Neben der Unkontrollierbarkeit der freien Märkte werden Glück und Schicksal neben der vermeintlichen totalen Abhängigkeit von persönlicher Leistung so also erneut integriert und zum öffentlichen Ereignis erhoben. Das Subjekt hat in dieser Metaphorik die Jury verinnerlicht und

184 185

186

Vgl. Wagner, Gabriele, Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien der Selbstverantwortung. S. 18. Werntgen, Cai: Die Arena-Gesellschaft. In: Werntgen, Cai: Die Arena-Gesellschaft. In: Lettre International 90 (2010), S. 136 –137. Ebd., S. 136 [Hervorhebungen im Original].

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befindet sich im endlosen Prozess der Selbstoptimierung, in dem es sich als omnipotenter Gestalter der Welt zu verstehen hat, dieses Selbst jedoch für ein Leben im »Ausnahmezustand eines Dauercastings«187 zu optimieren hat. In diesem sieht es sich nun einer unbeherrschbaren Übermacht ausgeliefert, der es sich in »neostoischer Schicksalsergebenheit«188 fügt. In Übereinstimmung mit Bröckling189 bezieht sich Werntgen auf den Begriff der Mobilmachung, der zunächst von Ernst Jünger im Bezug auf den ersten Weltkrieg geprägt und anschließend im Zusammenhang mit der Unterwerfung der Individualität des Arbeiters unter die Arbeitsbedingungen des postbürgerlichen Fordismus verwendet wurde. Die zweite Mobilmachung 190 zeichnet sich im Kontrast dazu vor allem durch ihren Status der Selbstpraktik aus. Werntgen spricht von einem »biopolitischen Pygmalioneffekt«191 , der sich bis in das Selbstverständnis und die intime Alltagsrealität der Subjekte bemerkbar macht und eine große Bandbreite kultureller Techniken der Selbstmobilmachung miteinander eint: Meditation, Yoga, Tai-Chi, Chi-Gong, Fitnesstraining, Gesundheits- und Schlankheitsprogramme, ›virtuelles Persönlichkeitsmanagement‹ auf online-Plattformen wie Facbook oder Twitter, Doping im Sport, Nutzung von Retalin in Elitegymnasien und international ›gerankten‹ ›Exzellenzuniversitäten‹ oder eine boomende Spezialistenkultur in Konzepten zur ›Business-Früherziehung‹ oder in TV-Formaten wie der Super Nanny. Entscheidend ist dabei, dass es sich vor allem um einen »Operationalisierungsschub im Selbstbezug der Individuen« handelt, dass »der einzelne einrückt in die Position eines Operateurs, Plastikers, Ingenieurs, Kurators, ja Choreographen seiner selbst.«192 Darin sieht Werntgen eine Selbstbeschreibungsformel einer Gegenwart, in der parallel zur Großoffensive der Lebenswissenschaften nun auch das private Individuum auf die operative Rückseite seiner selbst 187 188 189

190 191

192

Werntgen, Cai, Die Arena-Gesellschaft, S. 136. Ebd., S. 136. Bröckling, Ulrich: Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement, In: Bröckling, Ulrich, Krasmann, Susanne und Lemke, Thomas, Gouvernmentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. S. 131 – 167. Werntgen, Cai, Die Arena-Gesellschaft, S. 136. Ebd., S. 136. Der Pygmalioneffekt ist auch ein in der Psychologie der Mitarbeitermotivation häufig eingesetztes Werkzeug. Ebd., S. 136.

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vorgestoßen ist, um dort die Potentiale der laufenden Naturalisierung für sich aktiv in Gebrauch zu nehmen.193

Neben aktiver Selbstreflexion nun also ein Übergang zu Praktiken der Selbstoperation. Die mit Reckwitz gezeigte Hybridität und Widersprüchlichkeit der Subjektform findet sich auch hier: »eine eigentümliche Gleichzeitigkeit von Selbstbemächtigung und Selbstunterwerfung, kreativer Lust und Zwang, Narzißmus und Notwehr, Emanzipation und Verdinglichung.«194 Der Modus der Selbsterschaffung stellt prinzipiell eine anthropologische Konstante dar, wie etwa Sloterdijk in seinem Werk Du mußt dein Leben ändern! 195 verhandelt hat. Die hier angeführten Techniken stellen so gesehen nur eine Symptomatik dar. Gemeinsam ist ihnen die methodische Form mentaler und leiblicher Gefühls-, Willens- und Körpermanipulation,196 die zu einem Großteil in Prozeduren spiritueller Askese wurzeln und in ihrer Transformation eine Säkularisierung durchlaufen haben. Die Religion kehrt hier also in Form technischer Operationen am Ideal-Ich zurück. Wie schon mit dem Aspekt der Rastlosigkeit (siehe Kapitel 4.3.1) kehrt auch hier das Webersche Motiv der Disziplinierung durch methodische Lebensführung vermittels säkularisierter religiöser Praktiken zurück. Und auch hier findet eine entscheidende Bindung an den kapitalistischen Geist und den mit ihm einhergehenden Akkumulationsformen statt. Dieser institutionalisiert den Zugriff auf genau diese Selbsttechniken: Nach ihrem Umzug aus den Klöstern197 in die Kontore, Schulen, Ateliers und Labors scheint die asketische Selbstperfektionierung heute in den Appartments und Fitneßstudios angekommen, wo der spirituelle Endverbraucher anonym an einer ambivalenten Form von Heiligkeit arbeitet, ebenso entgeistert wie neu begeistert.198

193 194 195 196 197

198

Werntgen, Cai, Die Arena-Gesellschaft, S. 136. Ebd., S. 136. Sloterdijk, Peter: Du mußt dein Leben ändern! Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2009. Werntgen, Cai, Die Arena-Gesellschaft, S. 137. Ein Verweis auf Webers berühmtes Zitat: »Jetzt trat sie [die christliche Askese, C.M.] auf den Markt des Lebens, schlug die Türe des Klosters hinter sich zu und unternahm es, gerade das weltliche Alltagsleben mit ihrer Methodik zu durchtränken, es zu einem rationalen Leben in der Welt und doch nicht von dieser Welt oder für diese Welt umzugestalten.« Weber, Max, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. S. 134 [Hervorhebungen im Original]. Werntgen, Cai, Die Arena-Gesellschaft, S. 137.

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Foucault spricht im Hinblick auf das neu zu fassende Konzept der Regierung von einer ›Krise‹ derselben. Werntgen sieht diese Krise nun auf das Konzept der Selbstregierung des Subjekts verlagert, das sich damit konfrontiert findet, die Form seiner Subjektivität je selbst zu definieren und mit entsprechenden Selbstoperationen erzeugen, modifzieren und optimieren zu müssen. 5.3.1 Die Sorge um sich In der Vorlesungsreihe, die Michel Foucault im Wintersemester 1981/82 am Collège de France hielt, und die unter dem Titel Hermeneutik des Subjekts 199 veröffentlicht wurde, arbeitet er die Genese, Geschichte und Entwicklungslinien zweier verschiedener Weisen der Selbsthermeneutik und Selbstechnik seit der Antike und ihr Verhältnis zu spezifischen Formen von ›Wahrheit‹ heraus. Es handelt sich dabei zum einen um die ›Sorge um sich‹ (epimeleia heautou) und zum anderen um das delphische Gebot des ›Erkenne dich selbst‹ (gnothi seauton). Foucault versucht zunächst zu klären, wie es dazu kam, dass das Gebot der Sorge um sich im Laufe der Geschichte von einem allgemeinen ethischen Imperativ der Lebensführung der Antike, nur mehr zu einer Unterkategorie des Gebots der Selbsterkenntnis werden konnte. Dafür, dass letzteres in der Neuzeit zum dominanten Motiv des Subjekts auf der Suche nach Wahrheit werden konnte, war demnach vor allem das verantwortlich, was er den »cartesianischen Moment«200 nennt. Die Erkenntnismethodik Descartes’ beruht auf der Evidenz dessen, was dem Bewußtsein zweifelsfrei und unmittelbar erscheint und macht diese Evidenz zum Ursprung des philosophischen Vorgehens. Die Existenz des Subjekts wird dem Zugang zum Sein also vorangestellt.201 Das Subjekt ist somit bereits als solches zur Erkenntnis der Wahrheit fähig – so lange es über gesund funktionierende Wahrnehmungssinne verfügt und sich streng an die Methode der Gewissheit hält. Die Struktur der Erkenntnis ist dem Subjekt also bereits gegeben, es bedarf keiner Veränderung. Kant stellt darüberhinaus fest, dass etwas, das sich der Erkenntnis nicht 199 200 201

Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2009. Ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 31.

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erschließt, uns lediglich darauf hinweist, zu welcher Erkenntnis das Subjekt überhaupt in der Lage ist.202 Das Prinzip der Sorge um sich verhält sich zu dieser Erkenntnismethodik radikal verschieden. Foucault weist auf die Definition der Philosophie hin, als dem Fragen danach, was dem Subjekt den Zugang zu, oder die Erkenntnis von Wahrheit ermöglicht und führt den Begriff der ›Geistigkeit‹ ein, als ein Ensemble von Suchverfahren, Praktiken und Erfahrungen, die Läuterung, Askese, Verzicht, Umwendung des Blicks, Lebensveränderungen sein können, und die, zwar nicht für die Erkenntnis, aber für das Subjekt, das Sein selbst des Subjekts, den Preis darstellen, den es für den Zugang zur Wahrheit zu zahlen hat.203

Der Zugang zur Wahrheit ist dem Subjekt also nie unmittelbar gegeben, es muss sich dazu verändern, an sich arbeiten. Foucault spricht von der Notwendigkeit verschiedener »Technologien des Selbst«: Riten der körperlichen wie seelischen Reinigung, der Konzentration oder Meditation, des Rückzuges, Übungen der Ausdauer und Prüfungen des Gewissens.204 Bei der richtigen Anwendung dieser Techniken handelt sich um ein zentrales Thema des Platonismus und (mit Ausnahme von Aristoteles) der gesamten antiken Philosophie.205 Der Grundsatz der Sorge um sich wurde in verschiedenen Ausprägungen vom 1. und 2. Jahrhunderts an zum allgemeinen Imperativ der Lebensführung. Von einer politischen Haltung im Bezug auf die Gestaltung der Polis, über eine Sorge um sich, um damit auch eine Sorge um andere entfalten zu können, entwickelt sich das Prinzip schließlich zum Zweck an sich. Das Selbst wird sich selbst zum Objekt und Zweck der Sorge.206 Hier finden sich direkte Anknüpfungspunkte zur säkularisierten Askese des Spätkapitalismus bei Werntgen. Foucault weist in der Hermeneutik des Selbst auf die Bedeutung des Subjekts in seiner Beziehung zu sich für das Konzept der Gouvernementalität hin,207 und es scheint, als sei eine Wiederkehr des Prinzips der Sorge um sich, im Kontext postmoderner 202 203 204 205 206 207

Foucault, Michel, Hermeneutik des Subjekts. S. 241f. Ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 71f. Vgl. ebd., S. 96, S. 241. Vgl. ebd., S. 224f. Vgl. ebd., S. 314.

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Subjektkulturen und in Aneignung durch den spätkapitalistischen Geist, zu verzeichnen. Wie oben gezeigt ist sie weiterhin reiner Selbstzweck, nur stellt das Selbst als Zweck an sich nun primär keine Instanz dar, die eine wie auch immer geartete Wahrheit zu erkennen sucht, sondern über dieses Prinzip vor allem die Form eines Selbst ausbildet, das eine größmögliche fitness am freien Markt aufweist, um in unentwegter Rastlosigkeit die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen, um im Wettbewerb zu bestehen (ergo: to survive). Damit ist die Perspektive der Arbeit nun erneut beim Subjekt angelangt, bei der Frage nach der Selbsthermeneutik, den konkreten Technologien des Selbst. Somit folgt nun die empirische Analyse, um zu den Deutungsmustern, Konzepten, Bewältigungsstrategien und Formen der Selbstsorge derer vorzudringen, deren Subjektform sich in Konfrontation mit den hier beschriebenen Umständen herausbildet. Der Analyse vorangestellt sollen jedoch zunächst die methodischen Prämissen dargelegt werden, unter denen das empirische Material bearbeitet wurde.

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6 Methodik Die verwendeten Interviews wurden nach dem qualitativen Verfahren der integrativen Texthermeneutik 208 ausgewertet. Grundlegend für den Charakter qualitativer Forschung sind trotz vielfältiger methodischer Ausdifferenzierung einige gemeinsame erkenntnistheoretische Prämissen und methodische Prinzipien, die zunächst kurz dargelegt werden sollen. Das Theorieprogramm der Ethnomethodologie basiert auf der Annahme, dass Mitglieder einer Gesellschaft ihre alltäglichen Handlungen und damit die Konstruktion der Wirklichkeit, innerhalb derer sie handeln, nach bestimmten Methoden und Praktiken hervorbringen, die ihren Sinn stets in sich selbst tragen.209 Der symbolische Interaktionismus geht zudem davon aus, dass Menschen soziale Wirklichkeit dabei auch und vor allem in Interaktionen miteinander erzeugen. Dabei stehen symbolische Codierungen, also konventionalisierte Interaktionsformen wie Sprachhandlungen, Gesten oder Rituale im Vordergrund. Beide Prinzipien eint schließlich die epistemologische Position des Sozialkonstruktivismus,210 derzufolge Wahrnehmungskategorien des subjektiven Bewusstseins Wirklichkeit nicht abbilden, sondern Erkenntnisprozesse eine basale Eigenlogik besitzen, die Wirklichkeit erst aktiv erzeugen.211 »Die soziale Wirklichkeit [. . . ] ist als immer schon interpretierte, gedeutete und damit interaktiv »hergestellte« und konstruierte Wirklichkeit Forschungsge-

208 209

210

211

Vgl. Kruse, Jan: Reader: Einführung in die Qualitative Interviewforschung. Freiburg, 2009, S. 139ff. Vgl. ebd., S. 9; Vgl. Meuser (2003), S. 53 in Bohnsack, Ralf, Marotzki, Winfried und Meuser, Michael: Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. Hrsg. von Bohnsack, Ralf, Marotzki, Winfried und Meuser, Michael. Leske + Budrich, Opladen, 2003. Hier wäre vor allem zu nennen: Berger, Peter Ludwig und Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Fischer, Frankfurt a.M., 2004. Vgl. Hirschauer, S. 102f. in Bohnsack, Ralf, Marotzki, Winfried und Meuser, Michael, Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung.

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genstand.«212 Diese Konstruktionen sind Gegenstand der qualitativen Forschung. Sie hat den Anspruch Sinnstrukturen subjektiver Sichtweisen zu rekonstruieren. Dabei können Deutungsmuster, Wirklichkeitskonzepte, Bewältigungsmuster, Alltagstheorien oder narrative Identitäten freigelegt werden. Hierüber grenzt sich die qualitative Forschung von standardisierten Verfahren quantitativer Sozialforschung ab: Sinnstrukturen lassen sich nicht allein mit Messwerkzeugen erfassen. Die narrative Identität stellt ebenso wie die interaktiv hergestellte soziale Wirklichkeit eines Interviews eine ad hoc-Konstruktion dar. Die erzählende Person erzeugt über den zeitlichen Verlauf der Interaktion Sinnstrukturen und konstruiert Identität.213 Der Forschungsauftrag ist dabei das Rekonstruieren und Verstehen, genauer: das Fremdverstehen dieser Konstruktionen. Dass dieses Fremdverstehen, also die Rekonstruktion von Sinn selbst wieder eine Deutung darstellt, liegt auf der Hand. Kruse weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Fremdverstehensprozess rekonstruktiver Sozialforschung [. . . ] somit nicht nur ein Verstehensprozess zweiter Ordnung (das Verstehen von bereits Verstandenem) [ist], sondern im Prinzip [. . . ] ein Verstehensprozess dritten Grades: Es ist ein Fremdverstehen des fremdverstandenen Fremdverstandenen. Denn rekonstruiert wird ja stets sozialer Sinn, also individuelle Sinngebungsprozesse in einer Wirklichkeit, der bereits sozialer Sinn verliehen wurde, bzw. in einer Wirklichkeit, in der Sinn stets interaktionell hergestellt wird.214

Dies erfordert eine möglichst exakte Kontrolle der methodischen Werkzeuge. Schließlich möchte man Sinn möglichst induktiv ›bergen‹, statt ihn deduktiv in das Material hineinzulegen. Dies erfordert eine neutrale, offene, »suspensive«215 Grundhaltung dem Material gegenüber, eine Verzögerung des Deutungsprozesses, sowie die Erwägung einer Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten, um so lange als möglich ein vermeintliches und eventuell vorschnelles ›Verstehen‹ zu vermeiden. Zudem stellt auch die Unterstellung von Sinnhaftigkeit eine wichtige Prämisse dar. Nach Karl Mannheim weist ein Wort immer auf einen 212

213

214 215

Helfferich, Cornelia: Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. VS Verlag, Wiesbaden, 2005, S. 20. Vgl. Lucius-Hoene, Gabriele und Deppermann, Arnulf: Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. VS Verlag, Wiesbaden, 2004, S. 10ff. Kruse, Jan, Reader: Einführung in die Qualitative Interviewforschung. S. 26f. Lucius-Hoene, Gabriele und Deppermann, Arnulf, Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. S. 96.

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objektiven und einen dokumentarischen Sinngehalt; nach Garfinkel verfügt Sprache über eine Indexikalität, in der sie über den eigentlichen Inhalt des Gesagten hinausgeht. Die Frage lautet demnach: Was meint ein verwendeter Begriff, welche Assozationen und welcher Sinn dokumentieren sich darin für den Sprecher? Wichtig ist also zu verstehen, wieso etwas für den Erzähler Sinn ergibt und wodurch sich ein Begriff für diesen definiert.

6.1 Integrative Texthermeneutik Die integrative Hermeneutik versucht vorschnelle Deutungen zu vermeiden, indem versucht wird, das Selbstverständliche zunächst zu verfremden, um vom Material ›überrascht‹ werden zu können. Dies soll im Aufbrechen der Erzählstruktur über die Sequenzanalyse geschehen. Dabei werden Passagen zunächst Wort- und Satzweise zerlegt und interpretiert. Es ist dabei wichtig zu bedenken, dass Sinn sukzessive gebildet wird – etwas das zu einem späteren Zeitpunkt des Interviews gesagt wird, darf also nicht zur Erklärung einer früheren Aussage herangezogen werden.216 Die Sequenzanalyse erfolgt über fünf verschiedene Aufmerksamkeitsebenen: Inhalt: Die rein formale Analyse des Faktengerüsts. Worüber spricht der Erzähler, an welchen Orten und mit welchen Personen findet das Erzählte statt? Interaktion: Das Interview stellt bereits an sich eine soziale Wirklichkeit und eine kommunikative Situation dar, eine Realität sui generis, die zwischen dem Interviewer und dem Interviewten interaktiv erzeugt wird. Die Konstitutionsbedingungen der Situation sollten also Gegenstand der Reflexion sein. Welche Art der Rollenverteilung entsteht im Interview? Welche Positionierungsstrategien verwendet der Erzähler in der von ihm produzierten Narration? (Mögliche Analyse-Verfahren: Positioninganalyse, Gesprächsanalyse) Syntax: Die grammatikalische Struktur einer Aussage kann aus lingustischer Sicht als 216

Vgl. Kruse, Jan, Reader: Einführung in die Qualitative Interviewforschung. S. 139.

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Ausdruck kognitiver Strukturen betrachtet werden. Dabei kann es sich um die Verwendung von Passivkonstruktionen handeln, um direkte oder indirekte Rede, Negationen oder reflexive Verbkonstruktionen. Auch Phänomene wie häufige Reformulierungen, Satzabbrüche, Stottern oder Pausen sind hier zu verorten. (Mögliche Analyse-Verfahren: Positioninganalyse, Gesprächsanalyse, Diskursanalyse, Objektive Hermeneutik, Inhaltsanalyse) Semantik: Eine ähnlich repräsentative Rolle wie der Syntax kommt der Wortwahl zu, der Darstellung des Gesagten über Metaphoriken, Allegorien oder Metonymien, der Verwendung von Fachsprache oder Redewendungen. (Mögliche Analyse-Verfahren: Metaphernanalyse, Objektive Hermeneutik, Deutungsmusteranalyse, Inhaltsanalyse, Diskursanalyse, Kognitive Linguisitik) Erzählfiguren und Gestalt: Auf der Ebene der Erzählfiguren sollen eher gröbere Muster der Narration sichtbar werden. Der Fokus liegt auf der Dynamik der Erzählung, auf den sprachlichen Bewegungen und Strategien der Rede. (Mögliche Analyse-Verfahren: Gesprächsanalyse, Kognitive Linguistik, Pragmatische Linguistik)217 Die Perspektive der fünf Aufmerksamkeitsebenen eröffnet verschiedene Sichtweisen auf das erhobene Material und ermöglicht so, spezifische, durchgängige Muster herauszuarbeiten. Im Ergebnis werden diese zu zentralen Motiven und Thematisierungsregeln gebündelt. Zentrale Motive sind dabei sinnhafte Muster, konsistent über das gesamte Material auftauchende Motive im Sinne von Bildern, Modellen oder symbolischen Figuren, die immer wieder auf gleiche Konzepte verweisen. Unter Thematisierungsregeln ist die Art und Weise zu verstehen wie eine Person das thematisiert, worüber sie spricht und wie ausführlich sie das tut. Dabei sind auch die Thematisierungsgrenzen zu beachten, die milieuspezifisch, subjektiv, konventionell oder diskursiv sein können.218

217 218

Vgl. Kruse, Jan, Reader: Einführung in die Qualitative Interviewforschung. S. 147ff. Vgl. ebd., S. 156f.

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6.1.1 Analysemethoden Charakteristisch für die hier verwendete integrative Texthermeneutik ist der Anspruch, sich in der Analyse zunächst nur von den Sinnstrukturen des Textes leiten zu lassen und die Autonomie des Materials so weit als möglich zu bewahren. Das bisher beschriebene Verfahren orientiert sich stark an mikrosprachlichen Phänomenen um die Nähe zum Text Aufrecht zu erhalten. Die Perspektivierung über die verschiedenen Aufmerksamkeitsebenen macht es möglich, Schwerpunkte über zentrale Motive und Thematisierungsregeln herauszuarbeiten. Anschließend erlauben verschiedene Auswertungsmethoden wie Metaphernanalyse, Diskursanalyse, objektive Hermeneutik, dokumentarische Methode, Positioninganalyse oder Inhaltsanalyse eine weitere Vertiefung. Die integrative Hermeneutik bietet so die Möglichkeit, verschiedene Ansätze miteinander zu vereinen. Bei der Auswahl der einzelnen Methoden fand eine Orientierung am Material statt. Sie wurden nur selektiv und insofern angewendet, als daß sie für die Analyse ergiebig schienen. Sie sollen im Einzelnen hier nicht weiter beschrieben, sondern jeweils in der Anwendung kurz erläutert werden. Die Darlegung der Auswertung über die verschiedenen Aufmerksamkeitsebenen und Interpretationsstufen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, weshalb die Analyse nur in Ansätzen dargestellt wird. Neben der suspensiven Grundhaltung der integrativen Hermeneutik, möglichst keine Kategorien deduktiv an das Material heranzutragen, besteht in jeder Forschungsarbeit ein spezifisches Erkenntnisinteresse. Es ist zudem auch in der Praxis kaum realisierbar, theoretisches Vorwissen bei der Arbeit mit dem erhobenen Material auszublenden. Diesem Umstand wird Rechnung getragen, indem Erkenntnisinteresse und Vorwissen in reflektierter und offener Weise in den Arbeitsprozess integriert werden, damit die Perspektivierung unter ›kontrollierten‹ Bedingungen stattfindet. Dazu werden sogenannte Sensitizing concepts gebildet – Analyseheuristiken mit denen die Texte untersucht werden. Sie nehmen sozusagen eine Scharnierfunktion ein, zwischen der Objektivität gegenüber dem Material und der Subjektivität der Forschungsfrage. Sie stellen eine je nach Forschungsfrage eigenständige Analysemethode dar.

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6.1.2 Sensitizing concepts: Kulturwissenschaftliche Subjektanalyse Für die Fokussierung auf Veränderungen der Subjektkulturen und der Subjektformen wurde in Anlehnung an Reckwitz eine subjektanalytische Heuristik angewendet,219 und zusätzlich um Aspekte erweitert, die für das Forschungsvorhaben von besonderem Interesse waren. Analog zur theoretischen Perspektive auf die Konfliktfelder verschiedener Subjektkulturen, die in Kapitel 3 ausführlich dargestellt sind, wurde vermittels unterschiedlicher Kategorien nach ›Markierungen‹ der Subjektform Ausschau gehalten: Praktiken und Codes: – Praktiken des Arbeitens oder der verbalen Kommunikation – Sozial typisierte, intersubjektive Formen des zeichenverwendenden Verhaltens – Implizites Wissen und darauf aufbauende Interpretationsschemata – Selbstreferentielle Aspekte, Technologien des Selbst – Zentrale Unterscheidungen, Differenzmarkierungen Performanz, Wissen, Sinne und Affekte: – Wissen darüber wie man Dinge tut, Scripts für verschiedene Situationen – Sinnzuschreibungen gegenüber konkreten oder abstrakten Gegenständen – Selbstverständnis, Ich-Konzepte, Implizite und explizite Deutungen der eigenen Identität – Affektstrukturen, Wünsche, Begehren Diskurse: – Thematisierung von wissenschaftlichen, massenmedialen, politischen Diskursen oder auch Ratgeberliteratur – Ausdruck gesellschaftlich verfügbarer Subjektrepräsentationen – Verflechtungen von Praxis- und Diskursformationen, z.B. Diskursen der Managementliteratur mit Praktiken der Arbeit

219

Vgl. Reckwitz, Andreas, Subjekt. S. 135ff.

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Differenzen und Identitäten: – Kulturelle Codes als Systeme von Unterscheidungen, z.B. Angestellter/Arbeiter, Politisch Links/Rechts, ›Cool‹/›Spießig‹, Männlich/Weiblich – Positionierungen gegenüber diskreditierter Subjektivität – Anti-Subjekte als Negativform – Wechselspiel zwischen Identifikation und Abgrenzung – Ich-Konzepte bezüglich der Subjektform des unternehmerischen Selbst. Umgang mit Imperativen unternehmerischer Lebensführung Subjektformen und der Einzelne: – Dialektik zwischen Subjektform als Anforderung und »misslungener« Subjektivierung – Phänomene des Scheiterns – Brüche und Idiosynkrasien – Subversive Akte, alternative Subjektformen – Grenzziehungen zwischen Arbeit und Privatleben, Vereinbarkeit von beruflichen Anforderungen mit Fragen des Privat- und Familienlebens Soziale Felder und Klassen: – Konstitution von sozialen Feldern durch Subjektpositionierungen – Milieuspezifische Praktiken der Arbeit – Ökonomische Subjektformen wie z.B. das unternehmerische Selbst, Arbeiter, Angestellter Homologien und Hegemonien: – Spezifische Subjektcodes, also zentrale Unterscheidungen, die in verschiedenen Feldern auftauchen, etwa Codes der Moral, des Marktes oder des Sozialen Historische Kulturkonflikte: – Subjektgeschichte auf makrosoziologischer Ebene als Analyse kulturellen Wandels

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– Kulturelle Konflikte um Formierung und Delegitimierung von Subjektkulturen – Öffnung und Schließung der Kontingenz von Subjektformen Hybriditäten und Mechanismen der Destabilisierung: – Überlagerung, Verschmelzung oder Widersprüchlichkeit kultureller Codes und Subjekformen – Hybridität von Subjektformen – Überlagerung verschiedener Codes in einer Subjektform – Konstitutives Außen. Verworfenes Objekt oder Subjekt als Basis für eigene Identität Diskontinuitäten und Intertextualität: – Rückbezüge auf Elemente vergangener Subjektkulturen, z.B. Bezüge zwischen der Subjektform des unternehmerischen Selbst und der bürgerlichen Kultur Im Verlauf der Auswertung strukturieren die verwendeten sensitizing concepts das weitere Vorgehen. Von den sieben Interviews sollen drei in einer Einzelfallauswertung näher untersucht werden. Vor allem die Informanten aus den Interviews IP4 und IP5 stellen exemplarische Beispiele für konträre Subjektformen dar. Verschiedene Passagen aus weiteren Interviews kommen zum Teil bereits in den Theorieteilen exemplifizierend zur Anwendung oder eignen sich im Kontext der Auswertung als Beispiele für Charakteristika spezifischer Subjektkulturen.

6.2 Das verwendete Interviewmaterial Das ausgewertete Forschungsmaterial wurde vom Autor der Arbeit nicht selbst erhoben, sondern stellt eine Reanalyse von Interviewdaten einer bereits durchgeführten Studie dar. Dabei handelt es sich um sieben, mit Angestellten eines größeren Unternehmens der Automobilindustrie geführte Einzelinterviews. Gegenstand der Gespräche war der Umgang mit der Forderung nach unternehmerischem Handeln im Unternehmenskontext sowie im Rahmen der persönlichen Lebensführung. Es handelte sich dabei ursprünglich um Materi-

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al zur rein unternehmensinternen Verwendung, das von einem Angestellten des mittleren Managements im Rahmen einer Weiterbildungsmaßnahme erhoben wurde. In der Regel wären diese internen Daten einem externen Wissenschaftler nicht zugänglich gewesen. Dank der Vermittlung des Kontakts durch Dr. Jan Kruse vom Institut für Soziologie der Universität Freiburg wurde dieser Zugang jedoch ermöglicht. Weitere Details zur verwendeten Forschungsarbeit können aus datenschutzrechtlichen Gründen an dieser Stelle jedoch nicht angeführt werden. Aufgrund dieser Distanz zum Erhebungsprozess werden die Interviews im Sinne einer Diskursanalyse betrachtet. Neben o.g. methodischen Ansätzen soll die Betrachtungsweise der produzierten Texte die einer nicht-öffentlichen Rede sein,220 die daraufhin analysiert wird, inwieweit und in welcher Form sich darin gesellschaftliche Diskursordnungen wiederspiegeln und wie diese in individueller Kommunikation repräsentiert sind. Diskurse als Ordnungen des Sagbaren spielen in der sozial konstruierten und durch kommunikative Praktiken und sprachliche Handlungen hergestellten Wirklichkeit eine bedeutende Rolle.221 Die mikrologische Perspektive soll also durch die überindividuelle, makrologische ergänzt werden, um soziale Ordnungs-, und Regelprinzipien sowie Wissensstrukturen sichtbar zu machen. Die erhebende und die auswertende Person fallen also nicht zusammen. Die Schnittstelle zwischen dem Forscher und dem Forschungsmaterial verlagert sich dadurch von der Interaktion zwischen Interviewer und Proband auf die zwischen dem Forscher und dem gesamten Interview als Text 222 , dem dieser tendenziell eher als Gegenstand einer Beobachtung zweiter Ordnung gegenübertritt – ohne dabei jedoch den Forschungsablauf an sich zum direkten Gegenstand zu haben.

220 221 222

Vgl. Kruse, Jan, Reader: Einführung in die Qualitative Interviewforschung. S. 270. Vgl. ebd., S. 267. Etwa als kulturelles Artefakt im Sinne der cultural studies.

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6.2.1 Einschränkungen Die ›Zweitverwertung‹ von Interviews bringt einige methodische Einschränkungen mit sich, die hier nicht unerwähnt bleiben sollen. Es wäre höchstens über Mutmaßungen möglich, das Verhältnis zwischen den interviewten Personen und dem Interviewer beurteilen zu können. Es könnte sich um eine Interaktion zwischen Arbeitskollegen gehandelt haben, aber auch um einen Vorgesetzten, der hierarchisch unterschiedlich positionierte Angestellte des Unternehmens befragt. Inwieweit dies Einfluss auf die Aussagen der Probanten hatte, lässt sich nicht beurteilen. Durch diese Rollenverteilung haben die getätigten Aussagen zumindest einen gewissen bias in Richtung einer Stellungnahme aus beruflicher Perspektive. Auch der Anteil rein narrativ konstruierter Identitätsräume ist gering, schon da das Interview kein dezidiert offenes war, sondern mit streckenweise sehr geschlossener Fragestellung den Gesprächsverlauf in einem engen Rahmen hielt. Auch der geteilte konjuntive Erfahrungsraum zwischen den Erzählern und dem Interviewten stellt einen Gesprächs- und Wissenshintergrund dar, der sich dem methodisch kontrollierten Zugang entzieht. Gleiches gilt prinzipiell für die Dynamik der Interviews und die Gesprächssituation. Des Weiteren lagen die Interviews in bereits transkribierter Form vor und ein Zugang zu den Audio-Aufnahmen war nicht möglich.223 Die Transkription erfolgte nicht nach einem standardisierten System (wie etwa GAT), wodurch einige Details des Gesprächs nur begrenzt abgebildet sind. Das sample der Angestellten eines Industrieunternehmens stellt keine umfassende qualitativrepräsentative Stichprobe dar.224 Es handelt sich nicht um eine Fallauswahl, die in der Lage wäre, die Heterogenität des Untersuchungsfelds sämtlicher Arbeitnehmer abzubilden. Je nach Berufsbranche werden unterschiedliche Typologien zu finden sein und es werden sich auch die Motivationsstrukturen unterscheiden. Da es sich bei den Subjektivierungsstrategien jedoch um Phänomene auf politischer und gesellschaftlicher Ebene handelt, 223 224

Diese wurden nur in analoger Form angefertigt und nach der Transkription wieder gelöscht. Zur den Unterschieden zwischen qualitativer Repräsentation und dem Ziel der Repräsentativität im Paradigma der quantitativen Sozialforschung vgl. Kruse, Jan, Reader: Einführung in die Qualitative Interviewforschung. S. 79ff.

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lassen sich zumindest Trends abbilden und mit dem Blick auf Subjektformen und auf die Dynamik des Feldes der Subjektkulturen übertragbare Ergebnisse erzielen. Dies zeigt sich vor allem über die Perspektivierung der Diskursanalyse, die eine spezifische Formen der ›Anrufung‹ (Althusser) des Subjekts in seiner Rolle als Staatsbürger und Arbeitnehmer, unabhängig von Variablen wie etwa Branche, Alter oder Unternehmen sichtbar werden lässt.

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7 Analyse Im Folgenden sollen zunächst zwei Fallrekonstruktionen von Interviews durchgeführt werden, in denen sich Subjektformen zeigen, die sich an entgegengesetzten Polen des Spektrums gegenwärtiger Subjektkulturen einordnen lassen – die Analyse wird sich also von der Rekonstruktion der Subjekformen leiten lassen, und alle weiteren Aspekte in diesen Rahmen integrieren. Zunächst Interview IP4, das sich durch eine relativ kohärente und beinahe bruchlose Aneignung einer von unternehmerischer Eigenverantwortlichkeit geprägten Lebensführung auszeichnet. In Kontrastierung dazu anschließend Interview IP5, einem Mitarbeiter, der kürzlich erst aus dem Unternehmen entlassen wurde, da seine Subjektform offensichtlich ›inkompatibel‹ mit den Anforderungen der Unternehmenskultur war. IP5 mag als exemplarischer Fall einer delegitimierten Subjektkultur stehen und zeigt zudem eine misslungene Subjektivierung nach Maßstäben einer unternehmerischen Selbstführung.

7.1 Einzelfallanalyse Interview IP4 In einer zentralen Passage kurz nach Interviewbeginn findet sich bereits eine erste Argumentationsfigur, die die Funktion eines indirekten Identity claim hat. Vermittels einer positionierenden, selbstreflexiven Schilderung werden Dispositionen der Persönlichkeitsstruktur des arbeitenden Menschen (und damit zugleich dessen normative Definition) geschildert.225 Diese definiert sich zunächst über die Schichtzugehörigkeit: »Also grundsätzlich glaube ich nicht, dass man da über alle Schichte so, so globale Aussage mache kann. 225

Zur Selbsthermeneutik bezüglich der menschlichen Arbeitsnatur des bürgerlichen Subjekts vgl. Kapitel 3.1 oder etwa Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. S. 109f.

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(IP4, 18 – 20)« Über diese Schichtzugehörigkeit wird eine spezifische Art der Lebensführung und der Arbeitsethik vemittelt, diese »wächst [. . . ] in der Familie (IP4, 30)« und wird »vorgelebt (IP4, 31).« Zentral ist dabei die Generierung von sozialem Sinn 226 über die Gewohnheit an bestimmte soziale Praktiken und die Vermittlung von traditionellbürgerlichen Tugenden wie Ordnungssinn, Bildung und familiäre, häusliche Gemeinschaftlichkeit: »Hat es Sinn aufzuräume, macht es Sinn dieses oder jenes Buch zu lese, macht es Sinn zusamme zu singe (IP4, 32 – 33).« Diese Praktiken »manifeschtieren« sich nun »in ihrem Geischt und in ihrer Erinnerung (IP4, 35 – 36)« und führen schließlich zu einer eigenen Art der Sinnzuschreibung im Bezug auf Arbeit, nämlich jene, »Sinn und Zweck in der Arbeit [zu] erkenne (IP4, 36 – 37).« Dies führt zu erhöhter Selbstreflexion in Bezug auf die eigenen Arbeitspraktiken und somit zum unternehmerischen Handeln: IP4: (Zeile 38 - 44) eher Gedanken drüber mache warum arbeite ich, warum mache ich des so und sobald ich halt die Frage hab, warum mach ich des so, mach ich mir ja au über die Arbeit Gedanke. Könnte ich sie besser mache, könnt es besser laufe? Ähm, macht es Sinn es ganz anders zu tun? Also somit bringt sich ja der Arbeitnehmer ein.

Die Subjektform des unternehmerischen Selbst wäre somit eng an einen spezifischen Habitus geknüpft und somit auch an die Verfügung über kulturelles Kapital.227 Jener steht in engem Zusammenhang mit der Subjektform der bürgerlichen Moderne. Im Anschluss wird durch Kontrastierung und Differenzmarkierung eine Selbstpositionierung vorgenommen, gegenüber »Menschen [. . . ] die einfach nur arbeiten gehen, und halt Geldverdiene [. . . ] au nit sag ich mal über, ähm, über die Freude oder [. . . ] die Zufriedenheit, die Arbeit ähm bringt [. . . ] Gedanke [. . . ] mache (IP4, 20 – 26).« Vermutet werden dahinter mangelndes Interesse: »es isch ihm grad egal (IP4, 55)», ›falsche‹ Erziehung: »nit besser glernt (IP4, 57)« oder »sich selber aufgegebe (IP4, 58).«228 Mangelnde Bereitschaft oder Fähigkeit sein 226

227

228

Vgl. dazu etwa: Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1993. Zum Konzept des Habitus und den unterschiedlichen Kapitalsorten vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1987. Eine ähnliche Passage findet sich auch noch ab Zeile 417.

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Selbst in umfassender Form in den Arbeitsprozess einzubringen, werden als Selbstaufgabe konzeptionalisiert. Hier zeigt sich eine der zentralen Akzentverschiebung zwischen der Angestelltenkultur und der Subjektkultur der Postmoderne mit dem Normalsubjekt des unternehmerischen Selbst. Das zumindest implizit delegitimierte und verworfene Andere ist hier das Angestelltensubjekt. Gab es in der Angestelltenkultur eine klare Trennung zwischen Privatsphäre und Arbeitssphäre und somit gerade zwischen dem eigenen Selbst und dem ausgeübten Beruf, so gleicht diese Trennung nun einer Aufgabe des Selbst, denn das unternehmerisches Selbst ist per definitionem eines, das erst in der Arbeit zu sich kommt. Der Manifestationsort der bürgerlichen Subjektkultur findet sich in Praktiken des Arbeitens, es ist vor allem ein Arbeitssubjekt.229 Ein intertextueller Rückbezug findet sich hier vor allem in Bezug auf Elemente der frühbürgerlichen Moderne. Dazu Reckwitz: In seiner Arbeitsleistung versichert das moderne Subjekt sich seiner souveränen Selbsterhaltung und moralischen Disziplin, seines vollwertigen Subjektseins, und die Unfähigkeit oder Unwilligkeit zur selbständigen Berufstätigkeit erscheint als Subjekt-Defizienz.230

In der Praxis seines Berufes betreibt es eine ›souveräne Selbstregierung‹ und begreift sich als moralisches Subjekt, das über Praktiken der Arbeit Körper und Geist diszipliniert und Werte schafft.231 Das souveräne Regiment des unternehmerischen Selbst bildet dabei eine homogene Strategie für alle Lebensbereiche: Selbstführung, Erziehung, Familienkonzept, Unternehmensstrategie. Neben den bereits angeführten Stellen betont IP4 diese Zusammenhänge auch im Weiteren:

229

230 231

Vgl. Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. S. 109. Ebd. S. 109. Vgl. ebd. S. 111.

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IP4: (166 - 182) Weil ich einfach sag, ich kann im Unternehme nur deshalb unternehmerisch denke, wenn ich zuhause gelernt hab, selbstbewusst, und in Eigenverantwortung zu lebe, ja. Weil wenn ich zuhause nit mit meinem Geldbeutel, mit dem Inhalt umgehen kann, kann ich au im Betrieb so weitsichtig meine Arbeit nit mache, ja. Also, was ich zuhause als Familienvater, als Mutter, als Familienoberhaupt, wie man au immer des betrachte will, oder als Familie als solches, ja, des isch ja immer ein kleiner sozialer Verbund. Was ich dort schaffe zu betrachte und zu bewerte, des denke ich, isch eine gerechtfertigte Forderung, so sollte ich des au im Betrieb tun. Denn dort isch mein Arbeitsplatz. Und dort verdien ich meine Brötchen und dort sollte ich au mit Weitsicht und mit dem Blick ähm, den ich daheim eigentlich au hab, auf mein Lebe, au meine Arbeit mache(sehr leise). (Pause)

Die wechselseitige Bezugnahme zwischen Privatheit und Arbeitssphäre geht jedoch weiter: [...] IP4 (177 - 223) [...] sollte ich au mit Weitsicht und mit dem Blick ähm, den ich daheim eigentlich au hab, auf mein Lebe, au meine Arbeit mache(sehr leise). (Pause) Klar ischs deshalb ä Spagat, weil ich dann au an die Grenze der Forderunge komme, ja. Ich möchte ja au gleichzeitig möglichst gesund bleibe. Also, denke ich als Unternehmer im Unternehme heißt des au, dass ich bereit sein muss an meine eigene Grenze gehen muss. Au an die körperliche. Ja. Und des isch jetzt so ä Frage, weil äh, diese Grenze isch oft schleichend. SIM: (Fällt ins Wort). Wenn ich jetzt die Frage stellen darf, Du hast ja eben diese Grenze überschritten. Vor einiger Zeit. Richtig? IP4: (Pause) Ja! (Schweigen) SIM: Du warst dann längere Zeit in (Pause) Behandlung IP4: Ja! (schnell und „hart“) SIM: Es war, glaube ich, (Pause) die Summe aus vielen Einflüssen? IP4: (Fällt ins Wort) Ja! (Schweigen) SIM: Die Pflege Deines dementen Vaters, die Probleme und auch Anforderungen am Arbeitsplatz und ... IP4: (Fällt ins Wort) Ja! Also damals war des für mich einfach gerechtfertigt und normal. Für mich war des normal an alle Arten meiner Grenzen zu gehen.

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SIM: (Fällt ins Wort). Wenn ich es noch richtig weiß, gab es zu dieser Zeit auch sehr häufig Auseinandersetzungen mit HI (dem Vorgesetzten)? IP4: (Pause) Ja! Des, kam ähm, au noch dazu. Richtig. (Pause) Wobei ich eigentlich sage muss, des mit meinem Vater und des mit meiner Tochter, des hab ich eigentlich wirklich aus tiefer Liebe gmacht. Des würd ich jederzeit genauso wieder tun. Und des im Gschäft war eigentlich au genauso. Die Arbeit hat mich erfüllt. (Pause) ich habn Job gmacht, des heißt ich mach ihn ja heut noch, ähm, der eigentlich meinen Talenten und Fähigkeiten entspricht. Bis dahin war des ein langer Werdegang. Ich hab au viele Dinge gmacht. Und hab eigentlich erst in dem Job erkannt, dass es genau des Richtige für mich isch. Hab viel Umgang mit Mensche, konnte eigentlich, des was ich privat gelernt hab, aus, ja aus der schwierige Zeit, allein erziehend zu sein und ä Vater mit Alzheimer zu habe, dass ich all des dort eigentlich umsetze kann und das des au viel Erfolg gebracht het. Und somit isch für mich die Grenze, ja, äh, einfach gschwunde. Und dann ähm, funktioniert man irgendwann. (Schweigen)

Die Passage verhandelt zunächst die Frage nach einer Grenzziehung. Die Notwendigkeit zwei Bereiche miteinander zu vereinbaren – die Anforderungen des Arbeitslebens zu erfüllen und auf die eigene Gesundheit zu achten – wird problematisiert. Es liegt in der Natur des unternehmerischen Selbst an diese Grenzen zu gehen. Damit wird ein Problembereich eröffnet und die Gefahr der Entgrenzung thematisiert, aber zunächst nur als offene Frage in den Raum gestellt: »des isch jetzt so ä Frage, weil äh, diese Grenze isch oft schleichend (IP4, 187 – 188).« Die Verschiebung der Grenze kann unbemerkt – »schleichend« – geschehen. In konfrontativer Geste (und damit stark Einfluss nehmend auf die Interaktionsdynamik des Interviews) unterbricht der Interviewer im Folgenden und setzt anstelle des Interviewten die Definition dieser Grenzüberschreitung selbst, indem er (in Bezugnahme auf einen geteilten, konjunktiven Horizont) auf eine zurückliegende »Behandlung (SIM, 188)« des Interviewten hinweist. Die karge und wiederholt bestimmt abweisende (»Ja! (schnell und »hart«) (IP4, 189)«) Reaktion weist auf eine Thematisierungsgrenze des Befragten hin, die wiederum auf der Ebene der Interaktionsdynamik auch als Ausdruck der persönlichen Grenze zwischen Privatheit und Beruf betrachtet werden kann, auch weil es sich zunächst um ein Gespräch unter Arbeitskollegen handelt, dessen übergeordnetes The-

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ma sich eigentlich innerhalb eines sachlichen Rahmens abspielt.232 Der Interviewer ignoriert die Thematisierungsgrenze und setzt eine Erzählaufforderung, indem er eigenständig damit beginnt, Details aus der privaten Situation des Interviewten zu thematisieren, woraufhin der Interviewte sich gezwungen sieht die Erzählung selbst fortzuführen. Zunächst reformuliert IP4 die Geschehnisse retrospektiv relativierend und legitimiert in Form eines Konsequenztopos sein Verhalten mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit seiner Opferbereitschaft und der daraus resultierenden ›Normalität‹, »an alle Arten meiner Grenzen zu gehen (IP4, 202).« Die Erziehung der Tochter und die Pflege des kranken Vaters werden über das Motiv der »Liebe (IP4, 11)« mit hoher emotionaler und persönlicher Involviertheit verknüpft. In diesem Deutungsmuster zeigen sich typische Dispositionen der moralischen Ordnung und eines humanistischen Ideals der bürgerlichen Kultur, den Menschen, und vor allem den Menschen als Angehörigen der eigenen Familie (hier in der sozialen Rolle des Vaters und des Sohnes), zum Maßstab moralischen Handelns zu erheben. Die private Aufopferung wird damit konsequenterweise normativ zur Selbstverständlichkeit. Der Erzähler versieht dies diplomatisch mit der Markierung eines subjektiven Standpunktes (»war des für mich einfach gerechtfertigt und normal. Für mich war des normal (IP4, 200 – 201)«[Hervorhebungen C.M.]), dürfte sich der argumentativen Validität der Deutung jedoch relativ sicher sein, da es sich beim Muster der Selbstaufopferung für die eigene Familie um ein gesellschaftlich und kulturell anerkanntes handelt, und somit um eine Rechtfertigungsinstanz. Zusätzlich legitimiert es sich quasi selbst, da es den Topos des Helden (oder gar Märtyrers) evoziert, für den die individuelle Aufopferung im Namen eines kulturelles Ideals eben »normal (IP4, 95)« ist. Zugleich umgeht der Sprecher mit dieser impliziten persönlichen Attribuierung das Eigenlobtabu, schreibt sich jedoch im Anschluss explizit noch die positiv kodierten Eigenschaften moralischer Verlässlichkeit und einer auch biographisch kohärenten Persönlichkeit zu: »Des würd ich jederzeit genauso wieder tun (IP4, 209 – 210).« Entscheidend ist nun der direkt folgende Anschluss und

232

Wie bereits erwähnt, besteht jedoch gleichermaßen die Möglichkeit der Verfälschung durch eine persönliche Beziehung zwischen dem Interviewer und dem Probanten.

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die Gleichsetzung: »Und des im Gschäft war eigentlich au genauso. Die Arbeit hat mich erfüllt (IP4, 210 – 211).« Wie bereits gezeigt tritt erneut das zentrale Motiv der persönlichen, privaten und familiären Eigenschaften auf, die als inkorporiertes kulturelles Kapital zugleich wertvolle Dispositionen im beruflichen Umfeld darstellen – der vollzogene Analogieschluss stellt zudem eine zentrale Thematisierungsregel des Interviews IP4 dar. Die Versorgung des kranken Vaters und die Kindererziehung trainieren in der Übernahme von Verantwortung und den Umgang mit existentiellen Krisensituationen. Auf existentieller Ebene des Selbst findet sich nun auch die Motivlage und der persönliche Gewinn aus dem Arbeitshandeln: »Die Arbeit hat mich erfüllt (IP4, 211).« Die Erfüllung speist sich dabei aus dem angesprochenen Transfer zutiefst persönlicher Eigenschaften im »Umgang mit Menschen (IP4, 216-217).« In Konsequenz kommt es zu einem gänzlichen Verschwinden der persönlichen Grenze. Für ein Konzept der Lebensführung, in dem Privatheit und Arbeit zwei Seiten der selben Medaille sind, gibt es kein Außen mehr. Diese Entgrenzung wird konstitutiv für ein Selbst, das sich nur in der Verwirklichung des Ideals einer »Erfüllung« als valide Subjektform erfährt. Ist dieses Ich-Ideal erreicht: »dann ähm, funktioniert man irgendwann (IP4, 222 – 223).« Der Terminus des »Funktionierens« evoziert Assoziationen mit Maschinen, Systemen, funktionaler Differenzierung und fordistischer Arbeitsteilung, er steht im Zusammenhang des Interviews jedoch viel mehr für ein perfekt integriertes Konzept der Selbstführung einer Subjektform, für die die Kulmination von Technologien des Selbst und Technologien der Arbeit grundlegend konstitutiv ist. Es ist eben – nicht zufällig ähnlich dem Subjekt der bürgerlichen Moderne – ein Arbeitssubjekt. Die Frage nach einer Grenze im Sinne eines Außen oder Innen, das einer ›intimen Privatheit‹ des Subjekt gleich käme, stellt sich somit nicht. In Folge dessen kam es bei IP4 bereits in der Vergangenheit zu Überlastungssymptonen, die eine (im Interview nicht näher spezifizierte) »Behandlung (SIM, 188)« nötig machten – »Funktionieren« ist hier also eher in einem euphemistischem Sinne zu verstehen. Im Bezug auf den Umgang mit Informationen beschreibt IP4 die im Zuge dieser Erfahrung entwickelten Selbstschutzmechanismen:

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IP4: (291 - 293) Hm Hm, also da hab ich ne ganz tolle Methode entwickelt. Und zwar, ähm, mach ich des mit einem typischen Entmüllen. [...] (296 - 298) einmal in der Woch, ähm, (Pause) trenn ich mich von (Pause) Wissen oder Informationen, wo ich einfach sag, da muss ich mit beschäftigen. [...] (301 - 309) Aber ich hab schon lang abgelegt, alles wisse zu müsse und zu wolle. Deshalb entmülle ich immer wieder mal meinen Geischt und denke (Pause), ich werde sowieso de ganze Tag zugemüllt mit Dinge die ich garnit wisse will. Aber trotzdem aufnimm. Man kann sich nit immer dagege wehre. Na ja, oftmals wird man einfach zugetextet. Oder muss Dinge anhöre die einen garnit betreffe, oder einen garnit voran bringe. Und doch verstopfe sies Hirn. Ja. Trotzdem sind sie da. [...] (318 - 322) Aber, (Pause) mich immer permanent 24 Std.lang damit zu beschäftige, was müsst ich noch wisse, oder was weiß ich nit, halt ich für meine Person, für mein Lebe für Schwachsinn(betont das Wort sehr).

Diese Selbstschutzmechanismen ermöglichen vor allem eines: Sie führen ein Grenze ein. Die Beschreibung evoziert unweigerlich das Konzept der Luhmannschen Systemtheorie. Im Sinne einer methodischen Lebensführung hat das ›System des Selbst‹ einen spezifischen Code entwickelt, um an den Grenzen in doppelter Kontingenz zu selektieren. Alles andere bleibt Chaos, oder – dem Gegenstand angemessen – im Jargon medienwissenschaftlicher Systemtheorie: Rauschen. Im weiteren Verlauf erwähnt der Interviewte explizit durch die Erfahrung der Überlastung das Konzept einer eigenen Grenze erst ausgebildet zu haben:

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SIM: (385 - 399) Wie würdest Du persönlich damit umgehe? Nach der (Pause) Erfahrung mit dieser Grenzüberschreitung? IP4: Ja, weil ich des so erlebt hab, weiß ich was Grenzen sind. Des war mir vorher nit so bekannt. Was ich vorhin au gsagt hab. Ich kanns verstehen was ne Grenze isch, aber ich kanns nit unbedingt leben oder anfühlen. Und es gibt ganz viele Sache, die versteht ma, die hört ma, die werde einem gsagt, aber man kann sie nit anfasse. (Pause) Aber heut weiß ich, wie sich so was anfühlt. Und (Pause) darum wird mir des nimmer passiere. Weil ich einfach die Grenze schon am (Pause) Kreuz erkenn. Jeder Bahnübergang het vorher ä paar Kreuze, ja. (lacht). Und da würd ich nit unbedingt wieder bis an die Schranke fahre. Sondern da würd ich des einfach als Warnzeiche ansehe(leise). (Schweigen)

Das zentrale Motiv des Lernens durch Erfahrung zeigt sich erneut. Erlernt wurde dabei eine ›Hermeneutik der persönlichen Grenze‹, die die Semiotik von Warnzeichen zu entschlüsseln vermag. Metaphorisch zeigt sich an mehreren Stellen, dass Grenzen Orte sind, an die man sich begeben kann. Der Interviewer bringt wiederholt das Konzept der Grenzüberschreitung auf, IP4 nimmt dieses jedoch nicht an, sondern verbleibt in der Metaphorik des begrenzten Bereiches. In der oberen Passage wird nun klar, dass dieser Bereich in metaphorischer Repräsentation von Gleisen eingefasst ist, auf dem sich ein Zug bewegt. Nicht die Überschreitung der Grenze ist also gefährlich, sondern die Grenze an sich ist ein Ort der Kollision mit einem übermächtigen Objekt, das der Einzelne nicht aufzuhalten vermag. Es ist jedoch kein natürliches Objekt, sondern ein technisches, von Menschenhand erschaffenes, das zudem anderen Menschen zu einem spezifischen Zweck dient. Die Gleise auf denen sich dieses Objekt bewegt, sind mit einer Schranke versehen. Schädlich ist bereits das »fahre bis an die Schranke«, nicht erst die Kollision. Die Schranken beschränken den eigenen Weg, schützen damit aber auch (wer oder was sie aufstellt bleibt offen) und lassen erahnen, wovor: Vor der endgültigen Zerstörung. Zudem existieren Zeichen (die Andreaskreuze), die auf den Wegen, auf denen man sich bewegt angebracht sind, um rechtzeitig vor der Gefahr eines Zusammenstoßes zu warnen. Deren Zeichenhaftigkeit und Bedeutung wird, ebenso wie die Grenze an sich, jedoch erst im Rückblick bewusst, erst nach dem konkreten Erleben. Ihre Semiotik erschließt sich nicht vollständig durch Verständnis, es muss eine persönliche, konkrete Erfahrung hinzukommen. Diese Thema-

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tisierungsregel findet sich immer wieder – Dispositionen müssen sich in die Persönlichkeit einschreiben: »Ich denk des sind Sache die Mensche erlebe und die ganz fescht in ihrem Geischt und in ihrer Erinnerung manifeschtiert sind (IP4, 34 – 36).« Die Struktur der Selbsthermeneutik wird an anderer Stelle noch detaillierter ausgeführt und schließt damit wieder an das Ich-Konzept des unternehmerischen Selbst an: SIM: (343 - 354) Ja, z.B. welche Fähigkeiten oder Eigenschaften benötigt ein erfolgreicher Unternehmer?

[...] IP4: sie müssen eigentlich alle ihre 6 Sinne beherrschen. Es gibt keine 5 Sinne, es gibt 6. Den 6. Sinn verkennen meischtens, meischtens verkannt oder vergesse, des isch nämlich der Gleichgewichtssinn. Und von dem spricht niemand und dieser Gleichgewichtssinn isch für mich ebe dieses was au wichtig isch, dieses beherrsche, ebe immer diese Gleichgewicht zwische diesem äh, nach oben (Pause) streben und diesem Menschlichkeit. Ja.

Beruflicher Erfolg (»nach obe strebe (IP4, 353)«) und »Menschlichkeit (IP4, 354)« sind antagonistische Konzepte, die einander ausschließen und in ihrer Gewichtung somit aktiv austariert werden müssen. In nahezu esoterischer Manier wird darauf hingewiesen, dass es einen »6. Sinn (IP4, 349)« gibt, eine Wahrnehmungsinstanz also, von der allerdings nur Eingeweihte wissen, bzw. den nicht-Eingeweihte »vergessen (IP4, 350)« haben oder verkennen. Diese ›anthropologische Konstante‹ des 6. Sinns ist der »Gleichgewichtssinn (IP4, 356)«, jenes homöostatische Regelsystem, dessen Funktionsweise und -logik oben beschrieben wurde. Zusammenfassend lässt sich für das Interview IP4 das Motiv der ›geregelten Entgrenzung‹ benennen. Zunächst wird das gesamte Spektrum menschlicher Privatheit in Bezug zum unternehmerischen Handeln in der Arbeitssphäre gesetzt und als dort verwertbare Ressource ausgewiesen: Inkorporierter sozialer Habitus, Milieuzugehörigkeit, Kindererziehung, Familiensinn, Pflege kranker Angehöriger, christliche Nächstenliebe. Zugleich wird in einem hohen Grad an selbstreflexiver Innenorientierung eine Hermeneutik der Selbstsor-

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ge entwickelt, die einer aus eigenen Erfahrungen gebildeten und damit höchst subjektiven Regelhaftigkeit folgt und damit eben nicht mehr gängigen Oppositionen nach dem Muster Privat/Öffentlich, Familie/Arbeit, vita activa/vita contemplativa.233 Die spezifischen Selektionen an den jeweiligen Distinktionslinien finden sich nicht kulturell heterogen in die Subjektform eingeschrieben, sie sind an ihr nicht mehr äußerlich ablesbar, sondern nur noch über eine Tiefenhermeneutik des Subjekts rekonstruierbar. Der Grenzverlauf ist in das Indivduum selbst verlegt. Es muss über Fähigkeiten und Ressourcen verfügen, ein eigenständiges Regelsystem auszubilden, das es und seine Gesundheit zu schützen vermag.

7.2 Einzelfallanalyse Interview IP5 Das Interview IP5 nimmt im Konfliktfeld um Hegemonialität und Delegitimation von Subjektkulturen eine Gegenposition zu IP4 ein. Es handelt sich um einen kürzlich entlassenen Mitarbeiter, der ein paradigmatisches Beispiel für eine delegitimierte Subjektform darstellt, die innerhalb des kapitalistischen Geistes keine im Akkumulationsprozess verwertbare Ressource bildet und somit ›abgestoßen‹ wurde. Die bei IP4 in den Bereich subjektiver Hermeneutik verlegte Trennung zwischen Privatheit und Arbeitssphäre findet sich bei IP5 als zentrales Motiv noch in einer Weise, die eher für die Subjektkultur der organisierten Moderne charakteristisch ist.234 Bereits die für das unternehmerische Selbst identitätsstiftende Übertragbarkeit unternehmerischen Denkens auf andere Lebensbereiche stößt auf prinzipielle Ablehnung: »dass ich jetzt (Pause) unternehmerisch denken soll in jeder Beziehung, des find ich (Pause) geht, geht mir jetzt persönlich ä bissle zu weit. (Schweigen) (IP5, 19 – 22).« Der allgemeine Imperativ wird

233

234

Vgl. dazu Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben. Piper, München, 2009; Kruse, Jan: Geschichte der Arbeit und Arbeit als Geschichte. LIT Verlag, Münster, 2002, S. 53ff. Vgl. etwa: Prost, Antoine: Grenzen und Zonen des Privaten. In: Geschichte des privaten Lebens. Band 5. Vom Ersten Weltkrieg zur Gegenwart. Hrsg. von Ariés, Philippe und Duby, Georges. Bechtermünz Verlag, Augsburg, 1993, S. 63ff.; Vincent, Gèrard: Eine Geschichte des Geheimen? In: Geschichte des privaten Lebens. Band 5. Vom Ersten Weltkrieg zur Gegenwart. Hrsg. von Ariés, Philippe und Duby, Georges. Bd. Geschichte des privaten Lebens. Band 5. Vom Ersten Weltkrieg zur Gegenwart. Bechtermünz Verlag, Augsburg, 1993, S. 166ff.; Han, Byung-Chul, Müdigkeitsgesellschaft. S.6.

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als Adressierung und Forderung an die eigene Person und als Totalisierung (»in jeder Beziehung (IP5, 20)«[Hervorhebung C.M.]) wahrgenommen und der Legitimationsanspruch der Stellungnahme dazu als persönlich und subjektiv markiert – somit wird der Bereich definiert, auf den sich die Forderung bezieht und ebenso der, in dem sie subjektiv eine Rolle spielt. Sie dringt in diesen Bereich ein und geht damit, im Diminutiv versprachlicht, »ä bissle zu weit (IP5, 22)«. Sie verfügt also über keine Legitimation dort zu sein und wird abgelehnt. Die persönliche Betroffenheit drückt sich auf syntaktischer Ebene auch in der lückenhaften und teils stotternden Versprachlichung aus. Im weiteren wird das gesamte Konzept des Mitunternehmertums – wiederholt im Diminutiv – als »ä bissle naiv (IP5, 88)« diskreditiert:

SIM: (83 - 97) ähm, wenn man jetzt den Wertewandel berücksichtigt im Bezug, äh, zur Forderung der Geschäftsleitung, äh, äh, unseres Unternehmens jetzt, z.B. äh den Mitarbeiter zum Mit-Unternehmer zu machen, dann äh, beißt sich dass oder äh? IP5: Ne, also, des isch schon, schon ä bissle naiv. (Schweigen) SIM: Wegen? (Pause) Kannsch des ein bisschen erklären? IP5: (Pause) Hahhh (laut ausgeatment), ich glaub es beißt sich irgendwo einfach. Äh, isch jetzt die Frage, wie weit sollte er unternehmerisch denken, ja. Soll er jetzt wirklich auf alles kucken, ja. Oder, ah, wie wie soll er sich dann, (Pause) verwirklichen, sag ich mol. Also, wie soll des funktioniere? (Pause) Iiich (langgezogen) kann mir des nit richtig vorstelle. (Schweigen)

IP5 stellt auch hier das Konzept in Frage, das den Kern der unternehmerischen Subjektform darstellt: Die Verwirklichung des Selbst im unternehmerischen Denken. Es wird eine Bezugsgröße, die Notwendigkeit einer klaren Definition des Aufgabenbereiches bemerkt. Ohne diese Definition erschwert die unternehmerische Notwendigkeit »auf alles [zu] gucken (IP5, 94)« die Verwirklichung des Selbst. Die Freiheit und die erhöhte Verantwortlichkeit blockieren das Subjekt in der Konzentration auf seine Selbstverwirklichung.235 Der Verweis auf eine Widersprüchlichkeit deckt sich mit oben genannten theoretischen Konzepten, vor 235

Eine Verhältnis zu Arbeit, das etwa auch für die aristokratische Kultur typisch war. Im Gegensatz zum späteren bürgerlichen Arbeitssubjekt verhinderte Arbeit in deren Verständnis eine freie Entfaltung und Verwirklichung des Selbst. Vlg. Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. S. 109f.

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allem bei Reckwitz (siehe Kapitel 3.3.1) bzw. bezüglich der blockierenden Wirkung der uneingeschränkten Freiheit persönlicher Wahl die Salecl anmerkt (siehe Kapitel 8.3). Der Interviewte beschreibt in mehreren Passagen eine Spirale von Personalabbau, gestiegener Arbeitsbelastung, höherer persönlicher Verantwortung und allgemeiner Überlastung. Auch hier zieht IP5 klare Grenzen und zeigt keine unbegrenzte Bereitschaft zur Mehrarbeit: IP5: (717 - 727) Natürlich, ma, ma macht sichs au nit einfach, und jetzt äh au was reinzuprügle und zu sagen, mach weiter. (Pause) war nicht mein Einsatz. Von dem her, war für mich nach 3 Tage eigentlich schnell klar, (Pause) Nei (leise gehaucht) so irgendwo nit. Wenn man solang irgendwo war, und wirklich sich (Pause) in seine Möglichkeite und Fähigkeite wirklich eingebracht het, aber dann immer, immer (Pause) nochs gfühl ket het, ich muss, ich soll von dem noch irgendwas und von jenem noch und ääh, und irgendwann isch einfach fertig. Und irgendwann isch Schluss! (fest, ernst ausgedrückt!). Wirklich! (Pause)

Anhand verschiedener Beispiele illustriert IP5 seine Situation um damit seine Argumenation zu unterstreichen. Dabei spielen Bekannte und Kollegen eine Rolle, die nicht zu einer Grenzziehung fähig waren. In Abgrenzung dazu wird im Konsequenztopos verallgemeinernd die persönliche Bedeutung des Einsatzes für die Arbeit markiert: »Und dann war er also wirklich kurz davor irgendwo gegend Wand zu fahre. (Pause) und des, des ischs nit wert. (IP5, 798 – 800)« Der Horizont, in den er die Argumentation damit hebt, ist der des möglichen Selbstmordes als Reaktion auf eine Überlastungssituation am Arbeitsplatz und damit dem Scheitern der gesamten Person. Mit einem Verweis auf Expertendiskurse der Ratgeberliteratur wird diese Problematik statt als persönliches Problem, in die Kategorie »Trend der Zeit (IP5, 772)« eingeordnet:

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IP5: (769 - 779) Isch ja, isch ja heut gang und gäbe. Also ich, du hörsch Dich ja au um und äääh, ich hab jetzt 2 Bücher glesen über versch, vom Psychologe eines (Pause) un jetzt au (Pause) des isch au bissli Trend der Zeit. Ich glaub vor 20 Jahr hets des Wort Mobbing und Burn-out äh, garnit gegebe, ja. (Pause) aber heut isch des gang, musch nur mal ind Bücherei gehen, äh, ich glaub Bücher xxx (Name des Buchhändlers) oder in G (Ort) in der Bücherei, ich glaub ä ganzes Regal (Pause) mit, mit Themen, mit, mit Fragen sogar, wo de ankreuze kansch, mit Punkten und so. All, wahnsinnig. Eh, absolut Wahnsinnig. (Pause) Nur ich denk, soweit solls nit komme.

Auch hier wiederholt sich der normative Anspruch, dass derartige Auswirkungen von Arbeitsbelastung auf die Privatsphäre vermieden werden sollten. In weiteren Anekdoten findet eine Abgrenzung gegenüber einer hohen emotionalen Involviertheit mit Vorgängen am Arbeitsplatz statt: IP5: (786 - 792) Ich weiß, dass er au impulsiv isch, und wenn was schlecht isch, isch er halt au mol, was ich jetzt garnit mach, also ich bin, mich wirsch jetzt nie höre, dass ich mol hinschteh und mol ä Schreier loslas, oder mol einen, des äh, gibt’s bei mir nit. (Pause) aber des, und des war bei ihm halt so, dann isch er halt usgraschtet in der (Firmenname) und des hen sie ihm dann zum Vorwurf gmacht.

Der emotionale Einsatz der Figur der Geschichte war als nicht-kreative Emotionalität unerwünscht und wurde ihr zum Verhängnis (Vgl. dazu auch Kapitel 3.3). Diese Negativfolie nutzt IP5, um sich davon abgzugrenzen und als kontrollierte, gefasste und ›coole‹ Persönlichkeit zu positionieren. An anderer Stelle wird dies auch explizit: IP5: (616 - 622) ich will nit irgendwo an ä Wand fahre. Sondern, son, sondern, dass des sagsch, du bisch jetzt zwar da, aber du paksch es nimmi und irgendwann kriegsch dann de, kriegsch dann de äh, de Ausraschter, weisch. Und machsch dich dann irgendwo au lächerlich und fangsch an rumzuschreie, also, des isch weit, weit weg von mir. (Pause) ganz klar.

In erneuter Verwendung der Metapher des »an die Wand fahrens«, welches es zu vermeiden gilt, 236

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werden die beschriebenen persönlichen Dispositionen von sich gewiesen und

Man vergleiche im Gegensatz zu dieser Grenzmetaphorik der Wand die Metaphorik des Zuges aus Interview IP4.

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statt dessen die Wichtigkeit betont, seinen Ruf und damit den sozialen Status zu wahren. Es gilt in diesem Sinne eher die Exit-Option des Ausstieges zu wählen, als seine Fassung und damit das Gesicht zu verlieren. Auch darin zeigt sich eine Disposition der Subjektform der Angestelltenkultur, die im Kontext des Arbeitsplatzes eine kooperative, offene und diszipliniert-kontrollierte ›Fassadenpersönlichkeit‹ bewahrt, die als professionell gilt, aber der es innerhalb postmoderner Subjektcodes an Authentizität und persönlichem Engagement mangelt. Die Form des beruflichen Selbstverständnisses über das Konzept einer professionellen Rolle zeigt sich auch in der positiven Selbstzuschreibung von Qualifikationen wie »Erfahrung (IP5, 555)«, »Menschenkenntnis (IP5, 556)« und »Vertrauen (IP5, 557)« in die eigene Person – Eigenschaften die jedoch eine plötzliche Entwertung erfahren haben: »Ne. Wenn ma dann, wenn ma dann d Leut, wie jetzt ich äh, 15 Jahr und mehr, en Job gmacht hen, (Pause) dann denen vorwirft, äh ä gwisses Vertrauen wär aus irgendnem Grund nicht mehr da (betont gesprochen) (IP5, 558 – 561).«. Die Leistungsbereitschaft im Rahmen der beruflichen Tätigkeit steht nicht in direktem Bezug zu generellem persönlichem Erfolg: IP5: (683 - 686) im Endeffekt muss ich sage, s, nix, nix was (Pause) äh, äh, ä hohe Befriedigung in mir äääh, soll ich jetzt sage, äh, mir ne große Befriedigung gebra, du machsch den Job, o.k., so guts geht, (Pause) jeder macht des.

Das Konzept unternehmerischer Selbstführung stellt, wie in Kapitel 5 gezeigt, in großen Teilen eine Reaktion auf die Künstlerkritik dar, die Umsetzung von Emanzipations- und Autonomieidealen wird jedoch als weiterhin uneingelöstes Versprechen empfunden und kann die Kritik im Falle von IP5 somit nicht beschwichtigen. Die Rechtfertigung dieser Kritik taucht vielfach im Interview auf und stellt eines der zentralen Motive dar. Der Anspruch einer Verwirklichung des Selbst über berufliche Tätigkeiten wird als die Verwirklichung des Traumberufs der Kindheit oder über Beispiele von Fußballstars definiert und somit für die große Mehrheit als illusionär zurückgewiesen: »Wenn sich so, viele sage ja, ihr Hobby zum Beruf mache, des isch natürlich ä, 100%, klar. Aber wer kann des

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heute? (IP5, 43 – 45).« Anhand verschiedener beispielhafter Anekdoten wird ein Horizont aufgespannt zwischen einem idealistischen Anspruch von Authentizität und persönlichem Spielraum auf der einen, und Einschränkungen durch bürokratische Strukturen, ökonomischen Zwängen (vgl. IP5, 70) oder sonstigen »Störfaktoren (IP5, 329)« auf der anderen Seite. Der Zwang zu Tätigkeiten die »jetzt wahrscheinlich nicht großen Spaß (IP5, 48 – 49)« machen sind ein allgemeines Charakteristikum von Arbeit. Die Forderung unternehmerischen Handelns stellt eine Weise des Zwangs im speziellen dar, weil diese in Form eines allgemeinen Imperativs diejenigen übergeht, die dazu nicht über die notwendige persönliche Disposition verfügen oder schlichtweg nicht wollen: IP5: (260 - 266) Es gibt jetzt, nit jeder Mensch isch dazu bereit, erstens mal und zweitens (Pause) kann und will des garnit, dass er jetzt sagt, ich will jetzt Leute im Positive und Negative irgendwo führe und auch äh, maßregle und dann halt auch (Pause) Probleme mit dene wälze. Es isch jetzt nit jeder, A dazu geeignet, un B (Pause) möchte er des garnit.

Zu dieser impliziten Selbstbeschreibung in Abgrenzung von unternehmerischer Führung bzw. Selbstführung finden sich Differenzmarkierungen zu Charaktereigenschaften eines Unternehmers, die zusätzlich benennen, welche Anforderungen an die Subjektform des unternehmerischen Selbst bestehen: IP5: (276 - 287) Äh also ein gewisses Miteinander, des wär mir schon wichtig. Ich bin schon Mensch, der Mensch der jetzt nit äh, knallhart irgendwelche Leute äh da, ind Schranke weise könnt. Also ich glaub nit, dass ich des könnt. (Pause). Ich bin, ich bin irgendwo zusehr äh, (Pause), wie soll ich sage, (Pause) auch harmoniebedürftig und au irgendwo sozial, sag ich mal. Dass ich des in der ganzen Härte garnit (Pause) glaub ich nit könnte. Ne. (Pause) also nur mit mit großer Überwindung und ich weiß nit ob des dann gut isch. (Pause) Ich glaub man sollte immer seine (Pause) seinem Wese irgendwo au entspreche. Wenns äh (Pause) möglich isch. Klar. (Schweigen)

Die Figur des Unternehmers muss also über eine gewisse Härte und Egoismus verfügen, darf keine Konflikte scheuen und muss anderen gegenüber Macht ausüben, um den eigenen Willen durchsetzen. Das Soziale stellt für sie keinen handlungsanleitenden Wert dar,

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und auch die Wünsche und Bedürfnisse der zu führenden Personen sind nur »Störfaktoren (IP5, 329).«237 Um diese auszuschalten wird »skrupellos (IP5, 333)« ›geknebelt und geknechtet‹ (vgl. IP5, 330). Zugleich wird jedoch auch die Struktur gouvernementaler Führung der Selbstführung durch Internalisierung der Disziplin und der damit einhergehende Aspekt der Anonymisierung von Herrschaft beschrieben (vgl. dazu Kapitel 4.1; 5.2.): IP5: (428 - 435) wenn ma jeder irgendwo hinsetzt und sagt O.K. ich gib da gewisse Dinge ab, wenn ich, wenn ich des jetzt nit mach muss ich ja irgendwo die Leut au beaufsichtige. Muss sage mache sies richtig, muss sage halte sie des ein, was ich ihne vorgib? (Pause) und wenn ich jetzt, des isch jetz au schwierig zu sage, ich hab jetz 10 Leut und alle müssen dann unternehmerisch denke. Dann gib ich halt gewisse Dinge ab und als Chef (Pause) wird ich dann fast überflüssig. (Schweigen)

Ganz im Gegensatz zur Selbsthermeneutik des unternehmerischen Subjekts weist IP5 sich in der Abgrenzung von Eigenschaften der Figur des Unternehmers in seinem Wesen aus. Der Fixpunkt einer Selbstfindung wäre somit eher diametral entgegengesetzt. Authentizität zeigt sich für IP5 in Überseinstimmung mit charakterlichen Dispositionen, die gerade nicht denen eines Unternehmers entsprechen. Das zentrale Motiv der Authentizität bzw. Entfremdung findet sich wie bereits oben erwähnt im Sinne einer Künstlerkritik der counter culture. Der formulierte Gegenentwurf und die Idee einer erfüllenden und sinnstiftenden Arbeitssituation folgen einem Aussteigermotiv, dessen Gültigkeit in Form einer rhetorischen Frage verallgemeinert wird: IP5: (109 - 114) ich frag mich oft, warum so viele Leute äh, (Pause) ich lies es in der Zeitung oder aus dem Bekanntekreis, die halt irgendwann sagen, ich hab die Schnauze so (so: laut) voll (leise) Ich geh einfach ein, zwei Stufen zurück, und mach des was mir Spaß macht.

Anhand exemplifizierender Beispiele wird diese Position unterstrichen und weiter ausgeführt. Das Motiv der Authentizität in Kritik an Entfremdung und Repression findet sich in 237

Vgl. dazu: Moldaschl, Manfred, Von der Personalwirtschaftslehre zur Wirtschaftslehre der Person? Konsequenzen von Intrapreneuring, neuer Selbständigkeit und Ich-AG. S. 100.

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Beispielen von Arbeit in der Natur, Leben auf dem Bauernhof und der Suche nach Emanzipation in vermeintlich freieren, kreativen sozialen Milieus: »untert Künschtler gegange (IP5, 119 – 120).« Im Anschluss werden die Ideale auf einen gesamtgesellschaftlichen Rahmen ausgeweitet und verdichten sich zu Schilderungen der Suche nach »ganz neue Lebensforme (IP5, 126 – 127)«, innerhalb derer Strukturen aufzubrechen (vgl. IP5, 123) und der Status quo als »spießig (IP5, 124)« verworfen werden kann. Entscheidend für eine solche Vision sind Leitmotive des Sozialen und gemeinschaftlicher Solidarität – in dieser Forderung zeigt sich ein weiteres zentrales Motiv des Interviews. Zur Verwirklichung einer solchen community-ähnlichen Lebensform – »kauft sich zusamme ä Bauernhof und kauft sich zusammen ä Haus und lebt da gemeinsam zusammen. (Schweigen) (IP5, 130 – 132)« – sind jedoch »Gleichgesinnte (IP5, 130)« notwendig, »die auch auf der, auf der gleichen Wellenlänge liegen (IP5, 136 – 137).« Das Fehlen einer politischen Zielsetzung nach dem Prinzip sozialer Solidarität wird bemängelt und der Abbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme im Sinne einer Eigenverantwortlichkeit des Indiviuums als »keine gute Entwicklung (IP5, 144)« kritisiert. Es wird eine Ausweitung sozialer Ungleichheiten und Exklusion befürchtet: »man kann gut reden, und sagen, jeder muss sich selber um Krankenversicherung und der Staat muss sich aus viele Dinge zurückziehe. Aber, es gibt Millione von Leut, die des garnit schaffe (Schweigen) (IP5, 145 – 149).« Vergleichend dazu werden sozialistische Systeme, die vermeintliche intergenerative Solidargemeinschaftlichkeit der Schweiz oder vergangene Formen der Sozialstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland angeführt (vgl. IP5, 153 – 185). Die im Interview IP5 vorgefundenen Hinweise auf Subjektformen lassen sich im Horizont der Subjektkulturen der Moderne im Bereich der Angestelltenkultur verorten. Vor allem die klare Benennung der Sphären Arbeit und Privatheit zeigen eine rein professionelle Involviertheit vermittels der Anforderungen des Berufes, während ein umfassenderes persönlicheres Engagement weitgehend abgelehnt wird. Privatheit spielt sich in einem geschützten Raum ab, der sich auch im Wunsch nach Solidarität und Gemeinschaftlichkeit ausdrückt. Darin findet sich ein weiteres zentrales Charakteristikum der Angestelltenkul-

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tur wieder: Die Bedeutung und Orientierung an der peer group (bezeichnend dafür auch die Angst vor Gesichtsverlust, vgl. dazu Kapitel 3.2). Ein Codetransfer findet jedoch aus dem Bereich der counter culture statt, der sich in dem Wunsch nach einem alternativen, autonomen Lebensentwurf in Naturverbundenheit ausdrückt. Die Dominanz des Sozialen in Form eines normativen Leitwerts in individueller wie auch in politischer Hinsicht lässt sich ebenfalls in die Phase der organisierten Moderne (also in die zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts) einordnen. Dessen Delegitimierung lässt sich in einen größeren diskursiven Zusammenhang stellen. Nikolas Rose stellt bereits Mitte der 1990er Jahre die Frage nach dem »Tod des Sozialen«238 und weist darauf hin, dass es sich dabei nicht um ein ahistorisches Konzept menschlichen Zusammenlebens, sondern um eine historisch-spezifische ›Erfindung‹ handelt.239 Das Soziale wird dabei von einer Technik des Regierens abgelöst, die das Subjekt in anderer Weise definiert und ihm eine aktive Rolle in der Art seiner Regierung zuweist.240 Der Raum des Sozialen wird verstärkt über eine Vielzahl unterschiedlicher ›Gemeinschaften‹ oder ›Communities‹ definiert.241 Zugleich unterliegen damit auch moralische Werte einem Wandel hin zu einer erhöhten Verantwortlichkeit des Einzelnen gegenüber der eigenen Familie oder der lokalen Gemeinschaft an Stelle eines übergreifenden Kollektivs.242 Der Leitwert des Sozialen verliert somit seine Selbstver-

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239

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Rose, Nikolas: Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens. In: Gouvernmentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Hrsg. von Bröckling, Ulrich, Krasmann, Susanne und Lemke, Thomas. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2007. Zygmunt Bauman unterscheidet zwischen der Gesellschaft der Produzenten der Moderne, in der sich die soziale Stellung über die Position in der Produktionssphäre definierte und der Gesellschaft des Konsumismus der Postmoderne, in der soziale Integration über Konsum stattfindet. Die Definition und Identifikation über Konsumentscheidungen ist dabei bestimmt von solitären Handlungen des Einzelnen. Im Gegensatz zu einer arbeitsteiligen Gesellschaft von Produzenten ist Solidarität in diesem Kontext etwas verzichtbares und läuft der individualistischen Inszenierung einer einzigartigen, autonomen Persönlichkeit entgegen. Bauman betont im Zuge dessen auch die damit zusammenhängende Bedrohung für eine allgemeinverbindliche Vorstellung von Moral. Vgl. Bauman, Zygmunt: Gemeinschaften: Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2009. Vgl. Rose, Nikolas, Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens. S. 78. Ebd., S. 79ff. Ebd., S. 83.

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ständlichkeit.243 Dieser politische Diskurs spiegelt sich in den Erwartungen der Mehrheit der Interviewten bezüglich sozialstaatlicher Leistungen. Fast einstimmig zeigt sich Akzeptanz und Verständnis gegenüber einer neoliberalen Politik der Eigenverantwortlichkeit und Unverständnis gegenüber Ansprüchen und Wünschen sozialstaatlicher Absicherung – hier etwa im Beispiel des Interviews IP2: IP2: (209 - 218) wema, bissel ähm, (Pause) Verstand hat, denk ich mal ja, und und ja ääh, und die Presse verfolgt [...] Sich doch darüber im Klaren sein, äh dass es in der Form wie wirs bisher hatte, dass wir sozial abgesichert sind, durch den Staat, äh, (Pause), in Zukunft, wenn wir dann mal darauf zurückgreife wolle der mit 65 oder ja, weiß man ja heut noch nicht, ja. Ähm, (Pause, dann leise) diese Leistungen dann nit mehr bekomme.

Eine historisch-spezifische Art der Regierungstechnik in ihrer Verbindung mit entsprechenden Wissens- und Diskursordnungen, somit also eine Realitätskonstruktion wird bezüglich ihrer Akzeptanz zu einer ›Frage des gesunden Menschenverstandes‹ und erhält somit im Sinne einer rationalen ›Wahrheit‹ den Status objektiver Realität. Probant IP1 zweifelt bereits die Notwendigkeit einer weiteren Legitimation an: »Es ist nicht mehr realisierbar, dass alles der Staat auffangen kann. Also da muss man sicher Eigenverantwortung handeln [. . . ] Das sollte eigentlich jedem klar sein. Das sollte der Staat eigentlich gar nicht mehr sagen müssen (IP1, 320 – 326).« Hierzu einige Auszüge zur Thematik der Verdinglichung aus Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit:244 Das Grund-»Rezept« für die Verdinglichung von Institutionen ist, ihnen einen ontologischen Status zu verleihen, der unabhängig von menschlichem Sinnen und Trachten ist. [. . . ] die Welt der Institutionen wird Notwendigkeit und Schicksal, Glück oder Unglück.245 243

244 245

Man beachte hierzu auch das Welt- und Menschenbild Margaret Thatchers, die bereits 1987 ganz im Geiste neoliberaler Gouvernementalität fragt: »[. . . ] who is society? There is no such thing! There are individual men and women and there are families and no government can do anything except through people and people look to themselves first. It is our duty to look after ourselves and then also to help look after our neighbour and life [. . . ]« Thatcher, Margeret: Interview for Woman’s Own ("no such thing as society"). url: http://www.margaretthatcher.org/document/106689 (besucht am 22. 10. 2010). Berger, Peter Ludwig und Luckmann, Thomas, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Ebd., S. 97, [Hervorhebung im Original].

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Verdinglichung ist die Auffassung von menschlichen Produkten, als wären sie etwas anderes als menschliche Produkte [. . . ] Verdinglichung impliziert, daß der Mensch fähig ist, seine eigene Urheberschaft der humanen Welt zu vergessen, und weiter, daß die Dialektik zwischen dem menschlichen Produzenten und seinen Produkten für das Bewußtsein verloren ist.246 Verdinglichung ist [. . . ] eine Modalität der Objektivation der menschlichen Welt durch den Menschen. [. . . ] Das bedeutet: der Mensch ist paradoxerweise dazu fähig, eine Wirklichkeit hervorzubringen, die ihn verleugnet.247

Die hier subjektiv als sinnhaft angenommenen Legitimierungen primärer Objektivationen248 spielen sich im Kontext der Legitimationsordnung des kapitalistischen Geistes ab, die in Kapitel 5.2 vorgestellt wurde. Primär ist dabei der Hintergrund der Marktsituation als naturalisierte, übermächtige Struktur, die unhintergehbare Sachzwänge erzeugt und die Struktur eines anonymisierten, entsubjektivierten Herrschaftsraumes annimmt. Der moralische Code des Sozialen der Angestelltenkultur stellt in der postmodernen Subjektkultur einen delegitimierten Anspruch dar und läuft zudem als Abhängigkeit von übermächtigen Strukturen dem Streben nach Autonomie des Kreativsubjekts zuwider. Für IP5 bildet das Soziale jedoch einen zentralen, identitätsstiftenden Wert. Hierin zeigt sich eine hybride Subjektform, für die ein Arbeitsethos der Angestelltenkultur dominant ist, der jedoch aus dieser Perspektive heraus zugleich kritisiert wird: »Also Wertewandel, würd ich jetzt sagen, 60er Jahre [also in der Hochphase der organisierten Moderne, C.M.] wars eher alles noch spießig, ja (IP5, 35 – 36).« Die Form der Kritik folgt dem Muster der Sozial- und Künstlerkritik der counter culture, die sich damit ebenso gegen die Arbeitswelt der organisierten Moderne positionierte. Genau dieser Kritik wurde in der Aneignung durch den spätkapitalistischen Geist jedoch die Grundlage entzogen und somit der Subjektform der organisierten Moderne das verworfene und damit konstitutive Außen, auf der ihre Identität gründet. Die Ideale der counter culture sind zu den Imperativen ge246

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Berger, Peter Ludwig und Luckmann, Thomas, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. S. 95, [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 96; Berger und Luckmann weisen darauf hin, dass der Begriff der Verdinglichung bzw. das ›falsche Bewußtsein‹ zentrale Begriffe bei Marx sind und dort in engem Zusammenhang mit Entfremdung stehen, womit sich der Kreis zur hier erwähnten Künstler- und Sozialkritik schließt. Vgl. Ebd., S. 94ff. Vgl. ebd., S. 99.

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worden, nach denen sich das postmoderne Kreativ- und Arbeitssubjekt zu trainieren hat. IP5 kritisiert somit einerseits eine Arbeitskultur, die so nicht mehr existiert. Jedoch weist er mit seiner Kritik eben auch darauf darauf hin, dass die Versprechen von Autonomie und Selbstbestimmtheit auch im neuen kapitalistischen Geist nicht (oder nur für wenige) eingelöst sind. Die Etablierung dieser Arbeitsstrukturen erforderte nämlich zwei wichtige Opfer, die für das Ich-Konzept von IP5 konstitutiv sind und die ›heiligen Kühe‹ der organisierten Moderne darstellen: Das genuin Private und das moralische und politische Ideal des Sozialen. Auch er favorisiert für seinen Lebensentwurf eher die Struktur der Community, die auf politischer Ebene bereits den Leitwert des Sozialen abgelöst hat, beklagt jedoch, dass darüber das integrative Element oberhalb derartiger Community-Strukturen verloren gegangen ist. Insofern stellt der Lebensentwurf der Community das Motiv des Ausstiegs aus einer Gesellschaft dar, dessen integraler Zusammenhalt nach Maßstäben des Sozialen gerade durch die Etablierung dieses Community-Prinzips bedroht zu sein scheint.

7.3 Einzelfallanalyse Interview IP3 Zwischen den beiden konträren Aneigungsformen der Imperative des unternehmerischen Selbst aus den Interviews IP4 und IP5 findet sich im Interview IP3 ein weiteres Beispiel für den Konflikt um Hegemonie auf dem Feld der Subjektkulturen. IP3 zeigt eine Hybridstruktur, die Elemente der Angestelltenkultur enthält, dabei jedoch ein Selbstkonzept aufweist, das sich eher in einer Arbeiterkultur einordnen ließe.249 Auffällig sind auf semantischer Ebene häufige Emotionalisierungen durch Metaphoriken der Körperlichkeit – mehr dazu siehe Kapitel 8.2. Noch direkter wird dies über Selbstcharakterisierung und -positionierung deutlich, die auch explizit über eine Einordnung – jedoch nicht ohne Kritik – in ein Milieu und damit verbunden in eine betriebliche Hierarchie 249

Die symbolische Überladung des Terminus des Arbeiters würde es eigentlich nötig machen hier etwa von einem ›konsolidierten Arbeitermilieu‹ zu sprechen, das eher eine Unterform der Angestelltenkultur darstellt. Bei Reckwitz spielt so etwas wie ein ›Arbeitersubjekt‹ auffälligerweise in keiner der beschriebenen Subjektkulturen eine Rolle.

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erfolgen: IP3: (185 - 195) als kleiner Mann hier in einer Firma wo mehr als 1000 Leut arbeite, äh, man einfach, man fühlt sich einfach, wenn man, wenn man normal isch, fühlt man sich als wär man einer von viele. [...] Weil sag jetzt mal, die, die Unternehmer lebe ja von dem Normalo. Ja. Und wir als Normalo, ja als Normalo Arbeiter, äh, wir kriege halt des Gfühl wir sind halt des Unterschte und die sind halt die Oberschte un äh, dass es halt scho rüberkommt, des isch halt schon falsch.

Die Verortung über das kollektivierende »wir (IP3, 193)« in ein Arbeitermilieu steht im Vordergrund. Dieses Arbeitermilieu als typische Form der Masse, repräsentiert die Normalität, der Einzelne inkorporiert diese in der Subjektform des »Normalo Arbeiter[s] (IP3, 193)«. Die Kritik daran zeigt sich in der Form klassischer Sozialkritik, die eine vom kapitalistischen System produzierte Ungleicheit und Unterdrückung der arbeitenden Masse impliziert, die an das untere Ende einer sozialen Schichtung (»wir sind halt des Unterschte (IP3, 194)«) gedrängt wird. Die damit eröffnete Dualität erinnert an das Herr/Knecht– Verhältnis bei Hegel, ebenso die resultierende Verteilung der Abhängigkeiten: »die Unternehmer lebe ja von dem Normalo (IP3, 192).« Daraus folgt der Anspruch des Arbeiters auf Anerkennung seiner Leistungen. Als grundlegend »falsch (IP3, 195)« kritisiert wird eine abwertende Behandlung, die diese etablierte Struktur immer wieder reproduziert. Im Zeichen einer christlichen Moral von Nächstenliebe wird das Beispiel einer Weihnachtsfeier angeführt, bei der der Unternehmer überhaupt Präsenz zeigen (»wenn äh, er mal wieder dabei isch (IP3, 212).«) und diese Kodependenz anerkennend zum Ausdruck bringen sollte: »einfach nur zu sage, komm, Dank euch äh, geht’s mir auch gut (IP3, 212 – 213).«250 250

Das Bild vom herzlosen Unternehmer, der nach Meinung der Angestellten wenigstens zur Weihnachtszeit ein wenig Dankbarkeit zeigen könnte, findet sich schon in Charles Dickens A Christmas Carol aus dem Jahre 1843. Es handelt sich um ein klassisches, kapitalismuskritisches Motiv aus der frühindustriellen Phase der bürgerlichen Moderne, für die ein paternalistisches Verhältnis zwischen dem Unternehmer und den Angestellten typisch war. Das Beispiel der Weihnachtsfeier könnte zudem auf eine in der organisierten Moderne selbstverständlich gewordene und inzwischen häufig wieder verschwundene Institution des Weihnachtsgeldes oder des 13. Monatsgehaltes verweisen.

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Das Konzept des Unternehmens weist in den Beschreibungen von IP3 starke Analogien zu familialen Strukturen auf, was sich entweder als durchgängiger Codetransfer des Arbeitersubjekts seit der frühen Industrialisierung oder als postmoderne Intertextualität im Bezug auf Elemente der bürgerlichen Moderne interpretieren lässt. Die Frage nach der Definition unternehmerischen Handelns als eigene Form wird dadurch relativiert. Die Arbeitnehmer sind bereits in ihrer genuinen Daseinsform integrativer Bestandteil eines Organismus, der von einem Geist der Gemeinschaftlichkeit stärker getragen wird als von einer Aggregation unterschiedlicher, spezialisierter Handlungen. IP3 (413 - 421) wenn man mit Leib und Seele dabei isch, isch man Unternehmer, au wenn man jetzt nur Angstellter isch oder Arbeiter isch, ja. Ich sag jetz mal, äh, bewirk ja mit meiner Arbeit irgendwas (Pause), egal ob ich jetz nur stelefon nimm, oder ob ich ne Akte von A nach B trag. (Pause) Ich mach ja ne Aktion. Also köhre ich ja zu einem Unternehmen, wie so ä Putzfrau, ob ich hier de Papiermüll äh, äh, leer oder irgendwas mach, ich bin ja ein Teil von diesem U., von diesem Fundament.

Auch hier zeigt sich die Notwendigkeit einer entsprechenden Haltung, die sich auf psychischer und physicher Ebene gleichermaßen und konsistent zeigt. Wurde diese Identifikation konsistent vollzogen, wird die ausgeführte Tätigkeit zweitrangig, der Geist alleine trägt das Unternehmen. Wie bereits oben wiederholt gezeigt wurde, wird das Abstraktum des Geistes auch hier zum Zweck an sich. Sind alle Beteiligten von diesem Geist durchdrungen, so bilden sie ein System organischer Solidarität,251 das sich grundlegend von einem Taylorismus der Spezialisierung unterscheidet. Es ist eine Haltung, die weniger auf einer Professionalisierung und Perfektionierung der eigenen Rolle fokussiert als auf einer Berufsethik, die ganz im Sinne der im Sozialverbund geschaffenen Entität der Firma agiert. Die Frage nach einem Sinn oder nach übergeordneten Prinzipien stellt sich zunächst nicht mehr: Ich bewirke »irgendwas«, also gehöre ich zum Unternehmen (vgl. IP3, 415 – 419). Dies deckt sich mit den Metaphoriken der »Sache« in Interview IP1 (vgl. Kapitel 8.1). 251

Analog etwa zum integrativen Prinzip organischer Solidarität auf gesamtgesellschaftlicher Ebene bei Durkheim.

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Damit einhergehende Muster einer Familie, die einen Haushalt führt, erscheinen im Interview IP3 noch klarer in der Thematisierung einer Verantwortlichkeit gegenüber der Außenwirkung auf möglichen »Besuch (IP3, 424)«: IP3 (423 - 429) die Putzfrau wenn die net putze würd, siehts hier aus wie Saustall und kommt Bsuch, der sieht des, äh, geht’s ja au nit. Und sag jetz mal äh, wir müsse schon an einem Strang ziehe und ich sag jetz mal, ich bin so erzoge wore und so aufgwachse, dass ich sag des kann nur gemeinsam funktioniere.

Die Figur des Unternehmers nimmt im Gesamtsystem die Rolle eines Vorbildes ein, die für den ersten Geist des Kapitalismus so typisch ist und an den ›Patriarchen‹ einer Familie erinnert (vgl. dazu Kapitel 5):

IP3 (444 - 457) Ähm, Vorbildfunktion sein. Weil ich sag jetz mal, ich vergleichs mal mit nem Star. Ja. Der nach Auße was verkörpern muss, ja, und ich sag mal, ä Unternehmer isch ja nichts anderes. Der verkörpert ja nach Auße, ich, ich bin hier in diesem Unternehmen, ich bin dort. Unternehme muss ma eigentlich au so sehe wie ne Familie, ja. Ich sag jetz mal, ich will meiner Familie nix böses tun und dann will ich meinem Unternehme au nix böses tun. Also. Ich will ja, dass es dem Unternehme ja au, ääh, in de nächste 20, 30 Jahr gut geht. Weil ich bin ja in dem Unternehme drin. Ich will ja in de nächste 20, 30 Jahr au noch hier sein. Wenns, wenns noch geht, die nächste 200 Jahre, ja. Gut, jetzt die Kries, da weiß ma eh nit. (Schweigen)

Hier wird die entscheidende Verknüpfung zur eigenen Existenz und Subsistenz angesprochen. Die eigene Existenz steht und fällt mit dem Schicksal des Unternehmens und das Unternehmen lebt zugleich vom Einzelnen (vgl. IP3, 191) – die organische Solidarität ließe sich also noch um das Bild der Symbiose ergänzen (Das sich auch mit der Thematisierungsregel der Metaphopriken der Körperlichkeit und des Biologischen deckt): »ich bin ja in dem Unternehme drin (IP3, 455).« Das Unternehmen weist zudem einen Gesundheitszustand auf und ist Gefahren ausgesetzt. Es soll ihm »gut gehen (vgl. IP3, 454)« und man »will [dem] Unternehme au nix böses tun (IP3, 452).« Genau wie der ›Familienvorstand‹ seine Familie beschützt, so tut man auch gut daran, die übergeordnete Familienstruktur der Firma nicht von Innen heraus zu gefährden, da man damit sich selbst gefährden

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würde. Das Unternehmen wird hier als lebendige, natürliche Entität anthropomorphisiert und der Grund der eigenen Zugehörigkeit in einem eröffneten semantischen Feld mit Bindungen gleichgesetzt, die auf Phänomenen wie biologischer Abstammung, Blutsverwandtschaft, embryonaler Bindung und Liebe gründen. Ähnliche Motive konnten bereits in den Transfers zwischen Familienleben und Arbeitssphäre in Interview IP4 gezeigt werden. Eine grundlegende Infragestellung des zu Grunde liegenden kapitalistischen Geistes im Sinne der Künstler-, oder – was in der organisierten Moderne für die Figur des Arbeiters viel charakteristischer gewesen wäre – Sozialkritik an einer solchen Unternehmensform symbiotischer, naturalisierter Abhängigkeit, wäre im Kontext einer derartigen Konzeption zutiefst absurd und selbstzerstörerisch. Darin beantwortet sich auch die Frage nach dem Sinn des Selbstzwecks des oben erwähnten Geistes: Die Partizipation des Einzelnen am Gesamtorganismus gewährleistet dessen Überleben und rechtfertigt damit die Teilnahme und jegliche Form von Engagement. Dieses Engagement zeigt sich im Falle von IP3 in oben angeführter Inkaufnahme körperlichen Leidens.252 Kritik wird insofern geäußert, als vom Unternehmen erwartet wird, den Angestellten die Möglichkeit eines Schutzraumes oder einer Auszeit zu gewähren, dass ein überarbeiteter Angestellter »mal, äh, rausgnomme wird. Vielleicht einfach au mal den zu schütze (IP3, 255 – 256)«, »um abzuschalten, einfach mal rauskomme kurz, ja, paar Minute mal rauskomme einfach nur dieses (IP3, 408 – 409).« Dies wird gerade als sinnvoll erachtet, weil jedem die Verantwortung für das eigene Schicksal selbst aufgebürdet wurde und somit eine Struktur notwendig wird, die dem Umstand Rechnung trägt, dass man »halt weniger Rücksicht auf sich selbst (IP3, 273)« nimmt und den einzelnen so vor Selbstausbeutung schützt. Derartige strukturelle Änderungen laufen etwa auf Einrichtungen hinaus, die als Reaktion auf Forderungen der Sozialkritik (etwa in Form gewerkschaftlicher Organisationen) typisch für Organisationen der Moderne waren. Diese boten den Angestellten innerbetriebliche Freizeit- und Sportmöglichkeiten oder schafften sozialverträgliche Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge oder

252

Im Kontext einer Metaphorik der Symbiose wird das Leid zur Selbstverständlichkeit – Wirt und Parasit leiden gleichermaßen unter erschwerten Bedingungen der Außenwelt.

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einer Betriebsrente. Für die Analyse der Konflikthaftigkeit auf dem Feld der Subjektkulturen ist die Verhaftung im Berufsethos des Arbeiters vor allem in Verbindung mit einer zugehörigen Milieupositionierung interessant. Diese nimmt IP3 explizit vor. Neben der eigenen Interpretation des Verhältnisses von Unternehmertum und Familie findet im Kontext der Frage nach unternehmerischer Verantwortung auf anderen Ebenen eine starke Distanzierung von Eigenschaften und Habitus statt, die mit der Figur des Unternehmers assoziiert werden: SIM: (495 - 529) (unterbricht) Unternehmer und auch Führungskräfte müssen oft Dinge gegen den Willen von Mitarbeitern und auch Kollegen durchsetzen. Wie wäre dies für Dich? IP3: ja des Problem isch ja eher, dass du aus dieser Schicht kommsch. Ja. Also ich sag jetz mal, ja aus diesem Umfeld kommsch und hmmm, des das als, jaaa, des kann ma halt schlecht sage. Des was man vorher als Kollege sieht, ja vielleicht Untergebene, ja isch au ä blöds Wort. Du bisch halt der Chef von manche. der Chef von manche. [...] ich siehs dann wieder so ähm, bildungsmäßig, ja. Ich hab, ich hab, bin, ich hab n Realschulabschluss, ich kann dieses äh, (Pause) wie soll ichs sage, ich bin dann auf ner anderen Ebene schon drin. Vielleicht irgendwie. Also diese Vorkennt- nisse vielleicht. Fremdwörter, dieses jenes (Sätze seit 384 schnell gesprochen). Also diese Grundvoraussetzungen vielleicht, gebe sich in der Hinsicht vielleicht gar nicht. Und äh, dass ma vielleicht da bissle ähm, ä bissle ähm, vielleicht, vielleicht eingschüchtert isch. [...] Und durch des, dass man vielleicht wieder zu eng an an einem Mitarbeiter dran isch. Ähm, die Frage isch ja nur kann des Umfeld aus dem du dann kommsch, akzeptiere sie des, (Pause), dass du dann auf einmal derjenige bisch der über dene steht, oder nit. Und des isch dann au die Frage, kann des dann derjenige au persönlich, also mental au überstehen.

Das Prinzip des sozialen Herkunftsmilieus wird hier direkt problematisiert. Mit der Eigenpositionierung in einem Arbeitermilieu geht wiederholt die Betonung des Egalitätsprinzips und die Ablehnung von Hierarchien einher. Diese wurde bereits in der Kritik am

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Verhältnis zwischen dem Unternehmer und den Angestellten deutlich, sowie im Motiv der Gleichheit und familiärer Gemeinschaftlichkeit in der Beteiligung an der Idee des Unternehmens. Eine Positionierung ›über‹ den Mitgliedern des eigenen Milieus würde dieses Egalitätsprinzip unterlaufen und käme einem Verrat an spezifischen milieu- und somit auch subjektkonstitutiven Werten und Idealen gleich. Es folgt der Verweis auf fehlende Verfügbarkeit über kulturelles (»Also diese Vorkenntnisse vielleicht. Fremdwörter (IP3, 511 – 512)«) und entsprechendes symbolisches Kapital (»so ähm, bildungsmäßig, ja. Ich hab, ich hab, bin, ich hab n Realschulabschluss (IP3, 508 – 509)«), über das die eigene Verortung im sozialen Feld festgelegt (»ich bin dann auf ner anderen Ebene schon drin (IP3, 510 – 511).«) und soziale Mobilität erschwert ist. Schließlich wird ausgeführt, dass gegenüber einem Milieu von Führungskräften ein hoher Respekt besteht, der dazu führt »dass ma vielleicht da bissle ähm, ä bissle ähm, vielleicht, vielleicht eingschüchtert isch (IP3, 515 – 516).«253 Entscheidend jedoch ist die Befürchtung mangelnder Akzeptanz im eigenen Umfeld. Hier wird neben der Arbeiterethik noch der Hinweis auf die Rolle des sozialen Status innerhalb der peer group deutlich. Die tatsächliche Inkorporierung (»mit Leib und Seele (IP3, 321)«) unternehmerischen Handelns läuft den kulturell codierten und habitualisierten Strategien254 zuwider und wäre mit der Gefahr verbunden, die ›Zugangsberechtigung‹ zu, und die Akzeptanz und Verwurzelung im eigenen sozialen Feld zu riskieren. Der Habitus der Subjektform des Unternehmers mit seinen Intertextualitäten des bürgerlichen Milieus steht im Widerspruch zu dem des Arbeiters. Auch hier steht also die soziale und persönliche Identität auf dem Spiel, was wiederum die Frage aufwirft: »kann des dann derjenige au persönlich, also mental au überstehen (IP3, 528 – 529).« Bei der in Interview IP3 vorgefundenen Subjektform handelt es sich nicht direkt um eine delegitimierte Form. Die Delegitimierungsstrategien der Subjektform des unternehmerischen Selbst zielen viel spezifischer auf die Dispositionen der Angestelltenkultur, die im 253

254

Die angesprochene Schüchternheit zeigt sich hier und in Zeile 508 – 509 auch auf syntaktischer Ebene über das Stottern. Vgl. Reckwitz, Andreas, Subjekt. S. 44.

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Kontext der vorherigen Subjektkultur eine hegemoniale Position innehatte und die schon mit dem strikten Konzept einer Privatsphäre den geforderten Praktiken stärker entgegenlaufen. Die Dispositionen eines Arbeitermilieus sind besser vereinbar mit dem Modell des familiennahen Unternehmertums der bürgerlichen Moderne, auf die sich die postmoderne Subjektkultur sehr stark bezieht. Das egalitäre Prinzip des Mit-Unternehmertums findet leichter Anknüpfungspunkte im Wunsch nach Gleichberechtigung und Enthierarchisierung des Arbeitermilieus. Zudem findet sich ein stärkeres habituelles Identifikationspotential mit der Tätigkeit des Arbeitens als Lebensform, die sich als Ressource somit besser erschließen lässt und der Etablierung einer neuen Form des Arbeitssubjekts ebenso entgegenkommt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Art der Bereitschaft zur Beteiligung am Akkumulationsprozess ausreicht. Wie am Beispiel IP3 gezeigt wurde, liefe eine uneingeschränkte Aneigung der Imperative unternehmerischer Selbstführung einer Reihe von subjekt- und milieuspezifischen Codes entgegen, die zu grundlegenden Spannungen und Konflikten mit der Lebenswelt und den eigenen Ich-Konzepten führen. Die grundlegende Loyalität und Identifikation mit der Form des Unternehmens mag stärker ausgeprägt sein als in der prototypischen Subjektform der organisierten Moderne, diese Identifikation ist jedoch auf eine Hierarchie angewiesen, die Engagement ermöglicht und zugleich anerkennend würdigt (vgl. dazu: IP3, 100, 209ff, 577, 615, 735, 755). Zugleich stellt sie auch das konstitutive und zugleich verworfene Außen dieser Subjektform dar. Ist die Existenz dieser Struktur nicht mehr gewährleistet, verschwinden die Konstitutionsbedingungen dieser Subjektform ebenso wie die des Angestelltensubjekts.

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8 Auswertung Im Folgenden sollen die vorgenommenen Analysen und die Schilderungen der Konflikthaftigkeit auf dem Feld der Subjektkulturen abschließend zusammengefasst werden. Somit soll dem in Kapitel 4.3.1 formulierten Anspruch gerecht werden, Widerspruchskonstellationen und Mängelzustände der von den Imperativen unternehmerischer Selbstführung dominierten Arbeitsformen abzubilden.

8.1 Die Delegitimierung einer Subjektform Die Delegitimierung der Subjektform der Angestelltenkultur mitsamt der für sie typischen Formen der Kritik zeigt sich im Gesamtapparat der untersuchten Interviews in der Delegitimierung der Person IP5. Mehrere Interviewte erwähnen den ehemaligen Kollegen, beschreiben dessen Defizite und zeichnen damit en detail das Negativ der Subjektform des unternehmerischen Selbst. IP2 merkt an, dass es Menschen gibt, die sich in ihrem privaten Umfeld verwirklichen möchten. Im beruflichen Umfeld leisten sie gute Arbeit, tun dies aber in erster Linie, um damit Geld zu verdienen (vgl. IP2, 106 – 112). IP4 wird dafür als »Paradebeispiel (IP2, 119)« genannt. Im Interview IP3 findet sich gar eine gesamte Passage, die den Charakter von IP5 problematisiert:

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IP3: (309 - 332) Gut beim äh, SPH (hat Vornamen genannt) ähm, klar, äh isch es halt schwierig, es isch halt ä ganz anderer Typ. Ähm, ich find halt, ja. Es isch für ihn schad dass es so passiert ist. Ja. Aber ich denk eher für ihn war des des beschte was passiere könnte. Weil ich sag jetzt mal, des war für ihn vielleicht nit des was er sich selber vorgschtellt hat. Und ich befürchte au dass er mit der ganze Situation ä bissle ä Problem hat. Also überfordert ischs falsche Wort. Ah, ähm, es war halt nit sein Ding. Ich sag jetz mal von de ganze Einstellung her vielleicht au nit. Un ich befürcht halt au äääh, ja. dass es halt au von Vornherein diese Freude, was ich sag, er er kanns(lauter), ja. Aber es isch nit mit Herz un mit Leib und Seele halt dabei. Es isch halt des was ich, Ja(laut), eigentlich vermisst hab irgendwie. Also es geht ja nit umd Std., wie lang er da isch, oder was er macht. Ja, sondern wie ers macht, und ich sag mal wie, des isch die ganze Körpersprache und des isch halt irgendwie nit ganz so gwese, gut jeder reagiert anderscht, aber ich sag jetz mal des isch halt nit so rüba gekomme. Als würd er halt dieses unternehmerdenke nit in sich hen, sondern sage, also ich bin jetzt hier zum arbeite, des isch ä sicherer Job und gut isch. (Pause) Ja. Als Person hat er hier, halt doch gmerkt, dass es für ihn halt doch nix isch, ja. Klar er isch im gwisse Alter [48], isch halt immer schwierig (Pause)

Hier wird erneut deutlich, dass berufliche Qualifikation oder Überforderung nicht die entscheidenden Probleme darstellen. Es geht viel mehr um eine Seinsweise, eine spezifische Persönlichkeitsform des Menschen – eben eine Subjektform: IP5 »isch halt ä ganz anderer Typ (IP3, 310).« Gefordert ist Engagement auf einer Ebene, die für IP5 keine berufliche Relevanz besitzt, die sich auf den Kern des Menschen in seiner Emotionalität und seiner Körperlichkeit beziehen: »Freude [. . . ] Herz [. . . ] Leib und Seele (IP3, 319).« Eine Erfüllung dieser Erwartungen ist über die einfache Form einer professionellen Berufsrolle nicht mehr zu haben: »Also es geht ja nit um [. . . ] was er macht. Ja, sondern wie ers macht (IP3, 324 – 325).« Inkohärenzen der Persönlichkeitskonstellation brechen sich Bahn und lassen sich spätestens ablesen an einer Zeichenhaftigkeit des Körpers, in der sich die »Wahrheit« dessen, was sich innerhalb des Subjekts abspielt, manifestiert: »die ganze Körpersprache und des isch halt irgendwie nit ganz so gwese [. . . ] Als würd er halt dieses unternehmerdenke nit in sich hen [Hervorhebungen C.M.] (IP3, 328).« IP3 empfindet Mitleid darüber, Zeichen einer derart defizitären Persönlichkeit an seinem ehemaligen Kollegen entdeckt zu haben (vgl. IP3, 322) und damit feststellen zu müssen, dass er nicht mehr in das Team

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passt. An diesem Punkt anknüpfend sollte der Aspekt der Delegitimation des Sozialen um einen entscheidenden Punkt erweitert werden. Dispositionen des Sozialen sind in der Subjektform der Postmoderne in hybrider Form weiterhin vorhanden und auch das Element der peer group ist Bestandenteil der Subjektkultur. Wie jedoch bereits im Bezug auf den ›Netzwerkkapitalismus‹ in Kapitel 5 gezeigt wurde, ist das Soziale verstärkt zu einem integrativen Bestandteil einer Arbeitskultur geworden, die darauf angewiesen ist in ad hoc-Assoziationen Projekte zu verwirklichen und auch außerhalb dieses Zeitraumes das Netzwerk-Image und die sozialen Kontakte in Hinsicht auf zukünftige Zusammenarbeit zu pflegen. Das Soziale lebt also weiter, es bildet sogar die Basis für mediale Massenphänomene wie Online-communities im Stile von Facebook. Lediglich die Funktion des Sozialen hat sich verschoben und gewandelt. Die Grenzen zwischen der vormals eher dem privaten Bereich vorbehaltenen peer group und den Zusammenschlüssen mit potentiellen Projektpartnern in der Netzwerkpolis sind auch hier diffus bis verschwunden. Im Interview IP1 zeigen sich einige dieser sozialtechnologischen Strukturen, die auf der individuellen Subjektdisposition der peer group aufbauen und eine Teamstruktur etablieren sowie aufrecht erhalten, die Gemeinschaftlichkeit, Harmonie und Zusammenhalt erzeugt - und damit das Soziale als Ressource in den Dienst des Unternehmens stellt. Angefangen bei der Auswahl der Mitarbeiter, deren Prinzip im Zusammenhang mit dem Konzept der Pastoralmacht in Kapitel 4.2.1 erläutert wurde, werden die Ausgewählten schon bereits durch das Training in unternehmerischer Selbstführung in ihrer Verantwortlichkeit auf die Unternehmensziele hin geeicht. Die Ressource der Kreativität wird nicht nur in der Selbstführung der Individuen, sondern auch im Modus des Teams erschlossen, dessen Zusammenhalt durch soziale Aktivitäten wie »Grillen (IP1, 75)« erzeugt wird und das seine Ergebnisse in einem »Ideenpool (IP1, 74)« sammelt. Mit Hilfe der Metaphernanalyse zeigen sich weitere Muster des Unternehmens als Gemeinschaftsprojekt, an dem sich jeder einzelne im Eigeninteresse beteiligen soll. Zunächst fällt auf, dass es eine übergeordnete, abstrakte Struktur gibt: Die »Sache (IP1, 369)«, der jegliches Handeln »dient (IP1, 369).« Was diese »Sache« ist, wozu

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sie überhaupt dient und wieso eine hohe Notwendigkeit besteht, sich an ihr zu beteiligen, wird dabei nicht näher thematisiert oder als bekannt vorausgesetzt.255 Es gibt weiterhin eine »Aufgabe (IP1, 123)« und »das Ziel (IP1, 108, 109, 113, 117)«, das man »vor Augen hat (IP1, 198).« In sprachlicher Übertragung werden diese Abstrakta konkreter und greifbarer gemacht. Es geht darum »irgendwo die Firma voran[zu]bringen (IP1, 108 – 109)« – das »will jeder (IP1, 108).« Der Arbeitsprozess besteht in diesem Sinne daraus »Projekte durchzuziehen (IP1, 114 – 115)« oder »durchzudrücken (IP1, 124)«, also träge Objekte, die sich nicht selbst bewegen, in ihrer Position zu verändern. Dafür »zieht jeder am gleichen Strang (IP1, 113).« In der Form eines Gemeinschaftsprojekts und über die Bürde der Mitverantwortlichkeit integriert, wird die Mitwirkung an diesem Prozess zu einer allgemeinen sozialen Norm innerhalb der Firma und stellt für jeden der beteiligten Unternehmersubjekte eine ›Selbstverständlichkeit‹ dar: »man [lässt] eben nicht den Kuli fallen und geht nach Hause, sondern macht auch mal Überstunden (IP1, 115 – 117) [Hervorhebung C.M.].« Als Thematisierungsregel wird eine ähnliche Regelhaftigkeit auf der Ebene der Semantik mit dem kollektivierenden und objektivierenden Imperativen und Verstärkungen »man muss (IP1, 36, 105)« oder »auf jeden fall (IP1, 407, 29, 118, 157, 220)« auch über den Firmenkontext hinaus generalisiert. Sind die Mitarbeiter erst ins Boot geholt, kann sich eine zunehmende Anonymisierung der Führungsebene vollziehen, wie dies in Kapitel 5.2 ausgeführt oder etwa auch von IP5 beschrieben wurde: Die Entscheider werden unsichtbar, präsentieren sich als selbst unter objektiven Zwängen stehend und verlieren im Gegensatz zu den Arbeitnehmern an Verantwortlichkeit. IP1 beschreibt dies in der Form, dass »sie [die Firma, C.M.] vielleicht ein bisschen mit ihrem Latein am Ende sind (IP1, 81 – 83)« und »Schwierigkeiten hat (IP1, 83).« Das zu bewegende ›Objekt‹ gewinnt also an Gewicht. Dieses erzeugt als Last einen Druck, von dem sich die Führung »entlastet (IP1, 89)«, indem sie diesen »auf uns Mitarbeiter runterbring[t] (IP1, 88).« Eine solche Situation der Mehrbelastung wird als Ausnahme, als »kein Dauerzu255

Ein typisches Merkmal auch im Kontext der organisierten Moderne. Vgl. dazu Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. S. 341.

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stand (IP1, 120, 122, 147, 240)« definiert, was ein Engagement noch zustimmungsfähiger machen dürfte. Auch wenn dieser Zustand bereits über Jahre anhält (vgl. IP1, 125, 148) gilt es im Sinne der erzeugten Gemeinschaft und im eigenen Sinne »Durchhaltewillen (IP1, 219)« zu zeigen.

8.2 Körperlichkeit und Ich-Identität Metaphorische Konstrukte von Objekthaftigkeit und Körperlichkeit fallen in den Interviews immer wieder auf. Im Falle von IP1 in Verbindung mit Superlativen und Polarisierungen: Von jedem, bis zum kleinsten Mitarbeiter wird erwünscht keinerlei Abstriche zu machen, wirklich selbstverständlich bereit zu sein auch jahrelang Mehrarbeit zu leisten. Die Notwendigkeit dazu muss jedem klar sein; man muss das Beste daraus machen und immer in die Zukunft blicken. Dabei ist jedoch längst ein »Limit erreicht (IP1, 156)«, das zeigt, »dass man nicht so weitermachen kann (IP1, 159).« Auch im Fall IP3 sind Metaphoriken der Körperlichkeit sehr präsent, die auf den Bereich verweisen, in dem diese Arbeitsumstände ihre Auswirkungen zeigen: IP3: (246 - 274) Irgendwann isch halt des Fass halt übergloffe. Ja. Ich muss dem halt au mal zugesteh, dass es halt nit immer nur äh, nach obe gehen kann. Sondern muss halt au mal sage, komm, oder au mit dem zufriede gebe was man kann, leischtet und, ja. (Schweigen) SIM: (Schweigen) IP3: Einfach zu sage, äh, einen überlaschtet. Des schreit ja scho, wenn ma immer nur mehr mache soll. Immer. Die des mache solle muss, muss man halt au mal achte, dass dass es derjenige au mal, äh, rausgnomme wird. Vielleicht einfach au mal den zu schütze. [...] IP3: Ich hab au öfters Mageweh, ja. Brenne, ja. Wege de Arbeit. Man nimmt halt weniger Rücksicht auf sich selbst. Und, einfach diese, diesen Ausgleich, nit vielleicht nit hat.

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So wie sich das ›richtige‹ unternehmerische Denken in einer »Sprache des Körpers (Vgl. IP3, 325)« manifestiert und ausweist, bricht sich die Tatsache »dass man so nicht weitermachen kann (IP1, 159)« ebenso über den Körper seine Bahn in einer Zeichenhaftigkeit des ›Schreiens‹, ›Brennens‹ und des Schmerzes. Die Rücksichtnahme und der Schutz werden hier von zwei Seiten gefordert: Strukturell im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen, und individuell im Hinblick auf Strategien der Selbstsorge. Über allem schwebt jedoch die Angst vor einem Verlust des Arbeitsplatzes und ein Abrutschen in Armut und soziale Ausgrenzung. Diese als Burnout-Syndrom bekannte Kombination aus konstitutiver Überforderung, Angst und Gefährdung der seelischen und physischen Gesundheit ist nach Alain Ehrenberg die charakteristische Krankheitsform des Regimes des unternehmerischen Selbst.256 Anders als noch in der Disziplinargesellschaft ist nicht mehr die Neurose, sondern der Burnout der Normalfall der Abweichung.257 Ehrenberg: »Jeder muss selbständig sein, muss seine Affekte mobilisieren, statt äußeren Regeln zu entsprechen. Diese Normativität impliziert ein anderes Innenleben, einen anderen Körper, als die Norm der Disziplin ihn forderte.«258 Das Phänomen der mangelnden Rücksichtnahme auf sich selbst (vgl. IP3, 272) erwähnt auch Bröckling: »Indem die Individuen ihre Wut, nicht zu genügen, allerdings ausschließlich gegen sich selbst richten, bestätigen sie wider Willen noch einmal jene Tyrannei der Selbstverantwortung, gegen die ihre leidende Psyche rebelliert.«259 Johannes Gruber stellt im Zuge der veränderten lebensweltlichen Anforderungen die Entwicklung eines »flexiblen Sozialcharakters«260 fest und spricht von einem »Leiden an sich selbst.«261 Die Zwänge der Flexibilisierung gehen neben Symptomen der Depression und dem Scheitern im Bur-

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Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2004. Vgl. Bröckling, Ulrich, Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. S. 290. Ehrenberg, Alain, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. S. 222. Vgl. Bröckling, Ulrich, Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. S. 290. Der Begriff des Sozialcharakters geht dabei auf Erich Fromm zurück. Gruber, Johannes: Der flexible Sozialcharakter. In: Das Subjekt - zwischen Krise und Emanzipation. Hrsg. von Demirovic, Alex, Kaindl, Christina und Krovoza, Alfred. Westfälisches Dampfboot, Münster., 2010, S. 105.

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nout mit einer Destabilisierung der Ich-Identität, autodestruktiven Verhaltensweisen und Phänomenen fragmentierter Identität einher. Die »postmoderne Ich-Orientierung« ist geprägt von »projektiven Identifikationen« und Realitätsverleugnung.262 Eine BorderlineStörung kann dabei in gewissen Formen sogar funktional für die Anforderungen flexibilisierter Arbeitswelten sein und zu beruflichem Erfolg verhelfen.263 Zudem zeigen sich neue Krankheitsformen, die mit der Absenz eines eigenen Selbst einhergehen. Die Individuen leiden daran, ein Selbst erhalten zu müssen, dass eine funktional fragmentierte Identität aufweist und damit über gar kein identisches Selbst verfügt.264 Die Verheißungen einer Selbstverwirklichung über Praktiken kreativen und selbstbestimmten Arbeitens hätten damit nicht weniger als die Entwirklichung dieses Selbst zur Folge, also dessen vollständige Auflösung. Es wäre also (aus der Position des Subjekts der Moderne) ein Regime der ›entsubjektivierenden Subjektivierung‹.

8.3 Das fragmentierte Selbst und Erfahrungen des Scheiterns Richard Sennett benennt diese Erscheinungen dezentralisierter Arbeits-, Lebens- und Subjektstrukturen in seinem Essay Der flexible Mensch (Originaltitel: The Corrosion Of Charakter )265 mit dem Terminus des Drift. Die Doktrin der Flexibilisierung des auf Kurzfristigkeit ausgelegten Kapitalismus bedroht eine stabile Ich-Identität und Charaktereigenschaften, die eine soziale und individuelle Kohärenz gewährleisten.266 Eine fragmentierte Erfahrung von Zeitlichkeit, Örtlichkeit und Arbeit machen es immer schwerer eine ein-

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Vgl. Funk 2005, zitiert bei: Gruber, Johannes, Der flexible Sozialcharakter. S. 105. Entsprechend dazu sei auch auf die von Ökonomen der Pariser Sorbonne gegründete Gruppe PostAutistic Economics (PAE) hingewiesen, die auf den theorie- und strukturimmanenten Realitätsverlust im Bezug auf soziale, ökonomische, ökologische und historische Evidenzen im Konzept der Wirtschaftslehre des Neoliberalismus und des internationalen Finanzsystems aufmerksam machen möchte. Vgl. Le Monde. Open letter from economic students. url: http://www.autisme-economie.org/article142.html (besucht am 10. 10. 2010). Vgl. Gruber, Johannes, Der flexible Sozialcharakter. S. 106f. Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Goldmann Verlag, Berlin, 2008. Vgl. ebd., S. 31.

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heitliche Lebenserzählung der eigenen Subjektivität aufrecht zu erhalten.267 Mangelnde Arbeitsplatz– und Zukunftssicherheit führen in einen Zustand des Drifts, der das Gefühl von Autonomie und aktiver Handlungsmächtigkeit unterläuft. Aus der Position poststrukturalistischer Theoriebildung erscheint diese Fragmentierung keineswegs überraschend. Es stellt sich nur die Frage, inwiefern das Individuum in der Lage ist, mit dieser Erfahrung umzugehen und sie in die eigene Identität zu integrieren. Bereits das Konzept von Integration und Identität führen auf die Spur des Problems: Das grundlegende Ich-Konzept des Subjekts der Moderne beruht auf dem descartschen Modell rationaler Selbstbezüglichkeit und Autonomie. Der Individualisierungs- und Emanzipationsdiskurs der Postmoderne knüpft hier an – ebenso die gouvernementalen Technologien der Selbstführung. Sie erheben einerseits das Streben nach individueller Autonomie zur Norm und aktivieren damit Strategien der Identitätsfindung, die nach dem Subjektivationsmuster der Moderne in einer Orientierung an Kontinuität und nach dem Muster der Selbstfindung verläuft. Zugleich untergraben sie die Effektivität dieser Selbsttechnologien und -hermeneutiken indem sie – analytisch betrachtet ganz im Zeichen postmoderner Dezentralisierung von Subjektivität – den Fluchtpunkt der Integrationsbemühungen immer wieder in das Außen des Individuums verlegen und (gekoppelt an die Effekte des Marktes) unentwegt verschieben – was das Individuum nach Sennett als ein zielloses Treiben empfindet. Der Konstitutionsmechanismus des modernen Subjekts korrigiert diese Irritationen, indem es Symptome und Strategien ausbildet, die wieder eine Reintegration ermöglichen – es existiert schlichtweg kein genuin ›postmoderner Subjektivationsmodus‹, der eine desintegrierte und trotzdem sozial anschlussfähige Persönlichkeit generieren würde. Eine solche Persönlichkeit hat keine intelligible Position innerhalb des Diskurses und somit keine legitime, sinnhafte Position des Sprechens. Sie existiert nur in den Kategorien von Irrationalität, Wahnsinn oder Krankheit. Kommunikation im sozialen System prozessiert im Medium des rationalen Sinns, was auch nur einer im rationalen operierenden Persönlichkeit soziale Anschlussfä-

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Bauman verweist mit den Begriffen der ›flüchtigen‹ oder ›liquiden‹ Moderne auf diese Phänomene. Vgl. Bauman, Zygmunt: Leben in der flüchtigen Moderne. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2007.

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higkeit gewährt. Die genannten Strategien der Reintegration fallen entweder wie erwähnt unter die Gruppe der Pathologien oder ihnen bleibt nur die Simulation einer Ich-Identität. Fraglich bliebe natürlich inwiefern dies überhaupt ein grundlegender Integrationsmodus jeglicher Identitätsbildung ist. Die Notwendigkeit derartige Simulationsmodi auszubilden, scheint jedoch ein weiterer zentraler Imperativ unternehmerischer Selbstführung zu sein. Erwähnt wurde das Phänomen der Simulation bereits bei Bröckling (siehe Kapitel 4.3.1). Noch deutlicher lässt sich dies im Hinblick auf Phänomene des ›Scheiterns‹ veranschaulichen. Auch der Begriff des Scheiterns verlangt nach ausreichender Definition und erlangt seine Bedeutung immer erst in Relation zu einem kontextabhängigen und historisch/kulturell-spezifischen Maß.268 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung soll es dabei vor allem um folgende Aspekte und Formen des Scheiterns gehen: Scheitern an beruflichen Zielen und übertragenen Aufgaben, vor allem evident in Arbeitslosigkeit nach Kündigung; Scheitern an persönlich gesetzten Zielen, etwa Zielen der Selbstverwicklichung oder privaten Plänen. Scheitern an der Belastungsfähigkeit des eigenen Körpers oder der Psyche. Anhand dieser groben Skizzierung stellt sich die Frage welche Arten des Umgangs das Subjekt mit derartigen Phänomenen ausbildet, welche Bedeutung solche Ereignisse haben, ob diese überhaupt als ein Scheitern konzeptionalisiert werden. Besonders deutlich werden dabei die bereits erwähnten Strategien der Reinterpretation. Sennett beschreibt die Stufen des Umgangs mit Kündigung anhand einer Gruppe von ehemaligen IBM-Mitarbeitern, mit denen er in verschiedenen Interviewsitzungen über ihre Erfahrungen, Gedanken und Bewältigungsformen sprach.269 Die Interpretationen und Deutungen durchlaufen in den Erzählung eine ›Evolution‹. Zunächst versuchten sie zu zeigen, dass sie mit ihrer Kündigung zu Opfern einer unsozialen und rücksichtlosen Firmenpolitik wurden, dass sie trotz ihrer Loyalität bewusst ausgenutzt und betrogen wurden. Anschließend änderte sich ihre Argumentati268

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Zur neuerlichen Konjunktur des Begriffes des Scheiterns vgl. etwa: Junge, Matthias und Lechner, Götz, Hrsg.: Scheitern. Aspekte eines sozialen Phänomens. VS Verlag, Wiesbaden, 2004; Zahlmann, Stefan und Scholz, Sylka, Hrsg.: Scheitern und Biographie. Die andere Seite moderner Lebensgeschichten. Psychosozial-Verlag, Gießen, 2005 Vgl. Sennett, Richard, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. S. 166ff.

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on, indem sie bemerkten, dass es sich bei den Geschehnissen nicht um das Ergebnis von Planung und Berechnung handeln konnte, dass die Firma selbst auf globale Tendenzen in wirtschaftlichen Zusammenhängen nur reagieren konnte und somit also von externen Kräften zu Entlassungen gezwungen wurde. Schließlich begann die Gruppe damit, über ihren eigenen beruflichen Werdegang zu sprechen, über Entwicklungen auf dem Technologiesektor, ihren eigenen Wissensstand und die Position der Firma IBM im Kontext dieser rasanten Entwicklungen. Sie fragten sich, ob sie nicht die Zeichen der Zeit hätten erkennen müssen und sich rechtzeitig nach anderen Arbeitgebern hätten umsehen müssen. Somit näherten sie sich allmählich einem Punkt, an dem sie ihre Entlassungen der eigenen Verantwortlichkeit zuschreiben konnten. Sie hätten selbst früher bestimmte Tendenzen erkennen, sich weiterbilden müssen, um den Absprung rechtzeitig zu schaffen. Sie beginnen somit, das »große Moderne Tabu des Scheiterns«270 zu thematisieren und damit einen klärenden Punkt zu schaffen, der dabei hilft die Situation zu definieren, und zwar als etwas, das Sinn ergibt. Die Narration erhält ein Zentrum, ein erlebendes Ich und lässt sich damit in eine Lebensgeschichte einfügen, die über einen festen Zusammenhang verfügt. Sennett spricht von einem Moment des Widerstandes in dieser Art der Reinterpretation. Das Subjekt stemmt sich gegen das Gefühl der Fragmentierung und des Drifts. Das Scheitern wird erträglicher, indem es in eine von einem aktiven, autonomen Ich erlebte Geschichte umgedeutet wird,271 selbst wenn dieses Ich dabei Fehler begangen hat. Diese ›Überlebensstrategie‹ lässt sich auch in den hier untersuchten Interviews finden. Probant IP4 erlebt in sämtlichen Bereichen seines Lebens Erfahrungen der Entgrenzung und der Belastung: Die Pflege des kranken Vaters, die Notwendigkeit eine Tochter alleine erziehen zu müssen, dazu Überlastung im Beruf (»Freizeit (Pause) hab ich 15 Jahre nit kappt (IP4, 236 – 237)«): »Und dann ähm, funktioniert man irgendwann (IP4, 222 – 223).« Schließlich landet IP4 für längere Zeit in Behandlung. Diese Erfahrung der Krise oder des Scheiterns, das sich in der Notwendigkeit professioneller Hilfe deutlich als solches ausweist, wird in

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Sennett, Richard, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. S. 159. Vgl. ebd., S. 183.

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der Retrospektive jedoch zu einem selbstgewählten Schicksal, es war »gerechtfertigt und normal (IP4, 201)« und man würde es »jederzeit genauso wieder tun (IP4, 209 – 210).« Im Interview IP3 finden sich auf semantischer Ebene starke emotionalisierende Beschreibungen, die auf eine hohe psychische und physische Involviertheit schließen lassen. Der Erzähler berichtet von »Mageweh, ja. Brenne. Wege de Arbeit (IP3, 272)« und von einem ›Schreien‹ vor Überlastung. Gewünscht wird ein Schutzraum und mehr Rücksichtnahme auf die einzelnen Mitarbeiter. Zugleich weist IP3 das Motto »Wenn man wirklich will, kann man alles erreichen (IP3, 678ff.)« für sich als eine »Lebensphilsopie (IP3, 680; 682)« objektiver Tatsächlichkeit aus und lehnt eine Definition von »Problemen« als solche ab (vgl. IP3, 597 – 598). Statt dessen gibt es »ja nur andere Vorgehensweise wie ma was löse kann (IP3, 598 – 599).« Für diese Lösung ist jeder einzelne selbst verantwortlich und falls es »garnit funktioniert muss ma halt au die Konsequenze dann trage (IP3, 604 – 606).« In einer Passsage, die sich mit dem entlassenenen Kollegen IP5 befasst, wird dessen Arbeitslosigkeit entsprechend als »für ihn [das] beschte was passiere könnte (IP3, 313 – 314)« bezeichnet. Wie bereits ausgeführt, pflegt IP5 bezeichnenderweise eine konträre Weise des Umgangs mit seiner Situation. Das eigene Schicksal wird nicht als persönliches Scheitern gefasst, sondern durch die Einbettung in eine spezifische ökonomische Situation und durch beispielhafte Anekdoten argumentativ legitimiert und als »heute gang und gäbe (IP5, 769)« und als »Trend der Zeit (IP5, 772)« normalisiert. Es findet ein Bezug auf Ratgeberliteratur statt, jedoch nicht etwa im Sinne eines ›Scheitern als Chance‹ o.ä., sondern als weiteren Beleg für die Problematik der Situation und die strukturellen Ursachen seines Scheiterns: »All, wahnsinnig. Eh, absolut Wahnsinnig (IP5, 779).« Auch im Umgang mit dem eigenen Schicksal zeigt sich im Bezug auf Interview IP5 also ein delegitimiertes Deutungsmuster von Wirklichkeit: »Die Deutung, sich selbst als Opfer der Verhältnisse zu beschreiben, ist aus dem Kanon anerkannter biographischer Erzählschemata gestrichen.«272 Die individuelle Verantwortungszuschreibung ist also nicht nur politischer Imperativ, sondern ergänzt 272

Vgl. Wagner, Gabriele, Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien der Selbstverantwortung. S. 13.

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sich noch im psychischen und sozialen Bedürfnis nach einer kohärenten Persönlichkeit mit einer klaren Ich-Identität. Diese wird konstruiert über eine Narration von Autonomie und Handlungsfähigkeit, die Erfahrungen von Drift oder Scheitern zu einer sinnvollen Geschichte umzudeuten sucht. Die Problematik der Vereinzelung der Lebenssituationen durch individuelle Zuschreibung von Verantwortung wurde bereits bei Wagner beschrieben. Renata Salecl kommt aus der Perspektive der kapitalistischen Ideologie der freien Wahl bei der Optimierung des Selbst zu einem ähnlichen Schluss. Wenn jede kleine Alltagsentscheidung zum persönlichen Erfolg oder Scheitern beitragen und jeder aus einer scheinbar unendlichen Fülle von Möglichkeiten wählen kann, um sein Leben zu gestalten, seine Identität zu ›erfinden‹ oder an ihr wie an einem Kunstwerk zu arbeiten, so ist Erfolg lediglich eine Frage der richtigen Zusammensetzung dieser Entscheidungen.273 Davon zeugt ein Boom von Experten- und Coachingdiskursen und Selbsthilferatgebern, die das Patentrezept für ein perfektes Leben versprechen.274 Wenn jede Entscheidung eine Weichenstellung bedeuten kann, so vermag ein zuviel an Optionen jedoch auch lähmend zu wirken und jedes Zeichen von Misserfolg Gefühle von Angst, Unvermögen, Schuld und Minderwertigkeit auslösen, die es wiederum mit weiteren Selbsthilfekonzepten zu überwinden gilt. Mit Verweis auf Lacan betont auch Salecl die Fundierung des postindustriellen kapitalistischen System im Funktionieren und der Dominanz dieser self-made-man-Ideologie. Der Rückbezug jeglicher Ereignisse des Lebens auf Entscheidungen der eigenen Wahl und somit das Ausblenden vor- und überindividueller Möglichkeitsbedingungen führt zu gesteigerter Passivität im Bezug auf gesellschaftlichen Wandel und – wie dies bereits auch schon mit Hilfe der Thesen von Boltanski und Chiapello sowie Wagner gezeigt wurde – blockiert die Dynamik der Kritik

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Vgl. Salecl, Renata, Choice. S. 21ff. Vgl. ebd. S. 29ff.

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am kapitalistischen System.275 Han weist ähnlich wie Ehrenberg und Sennett auf »Leitkrankheiten« der Gegenwart als Symptome von Überfluss und Entgrenzung hin. Das 20. Jahrhundert bezeichnet Han als ein immunologisches Zeitalter, eine Epoche die von klaren Trennungen von Innen und Außen, Freund und Feind, Eigenem und Fremdem, Angriff und Abwehr gekennzeichnet war.276 An die Stelle von Andersheit und Grenzziehung tritt heute die Differenz, die keine Reaktion des Abwehrsystems hervorruft. Diese Veränderung ist ein wichtiger Aspekt für das Funktionieren des Globalisierungsprozesses. Entgrenzungstendenzen erleichtern den universalen Tauschprozess und finden ihre Entsprechung als Hybridisierung auch auf der Ebene der Subjektformen.277 Kennzeichnend sind nicht mehr Muster der Grenzziehung und der Negativität, sondern eines Mehr des Gleichen, des Überflusses und der unbegrenzten Positivität. Diese unbegrenzte Positivität wird zu einer neuen Form von Gewalt, die systemimmanent ist und – in Analogie zum Immunsystem – dadurch der Wahrnehmung nicht unmittelbar zugänglich ist. Manifest wird sie erst in der Form neuronaler Gewalt in Erkrankungen wie ADHS, Borderline oder Burnout.278 Auch hier führt das Muster der Entgrenzung in Verbindung mit einem freiheitlichen, da selbstauferlegten Willen zur Leistung zu einer Marginalisierung oder dem kompletten Verstummen von Kritik an den zugrunde liegenden Strukturen. Auch wenn die Besetzung der Körper einem längst vergangenen Zeitalter der Disziplinen angehört und körperliche Arbeit im Netzwerkkapitalismus des Westens nur noch eine Randerscheinung darstellt, scheint das Körperliche im Kontext des spätkapitalistischen Geistes umso stärker in den Vordergrund zu treten. Der fitte Körper als Ausweis einer gesunden und leistungsfähigen Persönlichkeit, als Rohmaterial, das der Selbstoptimierer 275

276 277 278

Salecl nennt als Beispiel hierfür den überraschend starken Widerstand gegen die Reform des Gesundheitssystems der USA. Selbst die Ärmsten befürworten dabei das Prinzip der freien Wahl, obwohl diese gegen ihr eigenes Wohlergehen ist. Auch die Kongresswahlen 2010 zeigten dieses irrationale, ideologische Moment. Gerade die sozial schwächsten Wähler befürworteten in diesem Zusammenhang Steuersenkungen für Wohlhabende und Kürzungen der Sozialleistungen. Vgl. Han, Byung-Chul, Müdigkeitsgesellschaft. S. 6. Vgl. ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 14f.

8 Auswertung

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bearbeitet, um nach der Regel des Sprichwortes dem gesunden Körper einen gesunden Geist abzuringen. Er ist auch weiterhin das Medium, durch das die Disziplinen wirken, wenn auch nun unter der Anleitung des Subjekts selbst und in ›freiwilliger‹ Durchführung. Gouvernementale Strategien und Praktiken schreiben sich nun über den Umweg der Selbsttechnologie in den Körper ein und hinterlassen ihre Spuren. Auch die Inkorporierung in der Form des Habitus erlangt eine neue Zentralität, da er in spezifischen Varianten dem Subjekt im Bezug auf die Anforderungen der postmodernen Kreativ- und Netzwerkkultur strategische Vorteile bieten kann. In dem Maße in dem die Selbsttechnologien disziplinierend und produktiv wirken, entfalten sie jedoch auch ihre Gewalt. In einem Zeitalter der Entgrenzung, in der das Bewußtsein nicht mehr zwischen Fremdem und Eigenem zu unterscheiden vermag, in der es nicht mehr unter einer ihm äußeren Ausbeutung oder einem Zwang zu leiden meint, gegen den es sich aufzulehnen lohnt, ist der Körper der ›rock bottom‹, die reine Materialität des Subjekts, deren Widerstand und Fragilität die vielleicht letzte objektive Warninstanz darstellt und über deren Zeichenhaftigkeit sich Inkompatibilitäten zwischen erwünschter oder geforderter Leistungs- und realer Belastungsfähigkeit ablesen lassen. Auf ihn beziehen sich Techniken, die vom Wunsch geleitet sind, leistungsfähig und gesund zu bleiben. Von ihm gehen aber auch Signale des »genug! « aus, die auf diesem Wege schließlich doch eine Grenzziehung vornehmen, und zwar zwischen Letalität und Vitalität. Vielleicht ist dies die letzte objektiv vorhandene und verbleibende Grenze, vermag sie auch durch Aufputschmittel wie Doping und/oder Retalin noch ein Stück erweiterbar sein. Der Körper bleibt auch oder gerade im Zuge zunehmender Digitalisierung, Virtualisierung und Abstraktion Objekt von konkreten Machtbeziehungen. Er bleibt Objekt der Selbstbemächtigung, Objekt des Begehrens, Objekt von Anthropotechniken jeglicher Art und auch Objekt und Ort menschlicher Selbsterhaltung, von dessen vitalem Zustand Gesundheit, Krankheit, Leid, Tod und Fortbestand des Menschen in jeglicher Hinsicht und in letzter Instanz abhängen.

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9 Zusammenfassung und Schluss Das sensitizing concept der Grenze erweist sich als sehr ergiebige Perspektive auf die untersuchten Interviews. Dies gilt trotz oder vor allem deswegen, da das Motiv der Entgrenzung immer wieder deutlich hervortritt. Eine eindeutige Separierung unterschiedlicher Subjektivationsorte lässt sich für das Subjekt der Postmoderne nur noch schwer konstatieren. Eher kann der Aspekt der Entgrenzung für dieses als konstitutives Moment bezeichnet werden. Anhand des Interviews IP4 konnte gezeigt werden, wie in diesem Sinne ein Transfer und eine Gleichsetzung von Dispositionen vorgenommen wird, die gemeinhin der Kategorie der Privat- oder Intimsphäre zugerechnet werden und die in der Sphäre der Arbeit zu leistungssteigernden Ressourcen werden. In mehreren Interviews und explizit bei IP3 wird die Gleichsetzung von Privatheit der Familie mit dem Engagement für das eigene Unternehmen explizit zur logischen und vernünftigen Operation, da beide Bereiche als Ort der Subsistenz des Individuums empfunden werden. Semantisch weist diese Gleichsetzung den Charakter einer Symbiose auf. IP4 sowie IP3 sind in dieser symbiotischen Situation den Belastungen ungefiltert ausgesetzt und schildern entsprechende gesundheitliche Beeinträchtigungen. An diesen Punkten findet schließlich auch die erneute Ausbildung einer Abgrenzungsstruktur statt. Im Interview IP4 geschieht dies über verschiedene Selektionsmechanismen und Vorkehrungen der Selbstsorge im Sinne einer ›geregelten Entgrenzung‹. Bei IP3 finden sich keine vergleichbaren Muster, jedoch ebenso das deutliche Bedürfnis und die Forderung nach einer Grenzziehung im Sinne der Integration eines Schonraumes in Unternehmensstrukturen und Arbeitsabläufe nach dem Muster der organisierten Moderne. Semantiken des Familiären und der Gemeinschaft als Vehikel soziotechnologischer Maßnahmen sind Intertextualitäten einer Codierung der organisierten Moderne. Ausgerechnet

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im Zuge der Delegitimierung des Sozialen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene wird dieses als oberstes Prinzip im Kontext des Unternehmens umso vehementer gepredigt. Es wird – ganz analog zur gesamten Persönlichkeitsstruktur des Subjekts – als Ressource und Produktionsmittel instrumentalisiert. Angeblich existiert so etwas wie eine den einzelnen bevormundende Gesellschaft in einer neoliberal ›befreiten‹ Welt nicht. Dort existieren nur vereinzelte, sich selbst verantwortliche Individuen und Familien. Im Kontext des sozialen Konstrukts eines Unternehmens (im englischen deutlicher: company oder corporation) wird das Soziale jedoch umso eifriger als lebendige Entität konzeptionalisiert, mit dem sich das Subjekt identifizieren soll (veranschaulichend hierzu die Auszüge aus Interview IP1). Gilles Deleuze schreibt: »Man bringt uns bei, daß die Unternehmen eine Seele haben, was wirklich die größte Schreckens-Meldung der Welt ist.«279 Auch im Zuge emotionaler Aufladung der von ihnen erzeugten Massenprodukten, soll uns auch das Unternehmen, im Sinne einer Unternehmung, eines Abenteuers, an dem alle als ›Gefährten‹ gemeinsam beteiligt sind, ans Herz wachsen wie unsere eigene Familie. Sie wird somit zum Boot, in dem alle sitzen und auf dem offenen Meer des Marktes treiben – und damit zum schützenswerten Lebensraum und nach der systematischen Demontage des Sozialstaates auch zur einzigen verbleibenden Quelle von Sicherheit. Die Analogie und Identifikation wird dadurch komplettiert, dass nun nicht nur Unternehmen eine Seele haben, sondern dass das Subjekt sein Selbst und damit auch seine Seele wie ein Unternehmen zu führen hat – sich also auch im gleichen Gefahren- und Risikoraum bewegt. Womit gilt: ›Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.‹ Die Disposition des Sozialen im unternehmerischen Subjekt zählt weiterhin, jedoch – ganz im Sinne der community – nur im Bezug auf den unmittelbar nächsten, der im selben Boot sitzt und die eigenen Partikularinteressen teilt. Fallen diese weg, löst sich der soziale Verbund – ganz im Sinne der projektbasierten Zusammenschlüsse der Netzwerkpolis – wieder auf. Das Kollektiv des Unternehmens der Postmoderne steht damit im Kontrast zur Struktur des Großunternehmens der organisierten Moderne. Dieses bietet eine strukturelle Sicher279

Deleuze, Gilles, Unterhandlungen. S. 260.

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heit, die sich auf politischer Ebene im System der Wohlfahrtsstaatlichkeit ergänzt. Diese Kombination war möglicherweise fundamental für das integrative Prinzip gesellschaftlicher Differenzierung der Moderne, das tendenziell wieder von einer (wiederum nach Durkheim) eher mechanischen Differenzierung überlagert wird, in der das Individuum zwar noch unter der Verwaltung ihm übergeordneter Strukturen steht, jedoch nicht mehr unter deren Absicherung. Es wird im Zuge dessen wieder von Möglichkeiten eigener Statusssicherung abhängig, die aus familienähnlichen Strukturen bestehen können, und sich eben auch z.B. im Kontext von Industrieunternehmen herausbilden. Die grundlegende Verfügbarkeit über Ressourcen, die in diesen individualisierten Sicherungsprinzipien entscheidendes Kapital darstellen können, steht ebenfalls in hoher Abhängigkeit von bereits vorhandenen und sozial vererbten Strukturen der Herkunftsfamilie. Das Prinzip des Sozialen stellt nicht nur eine Absicherung gegenüber Risiken des Lebens über das Solidaritätsprinzip dar, sondern auch den Versuch der Herstellung von Chancengleichheit unter den Mitgliedern einer Gesellschaft.280 Individuelle Verantwortungszuschreibung verweist den Einzelnen verstärkt auf sein individuelles ›Set‹ von Ressourcen, die ihm entweder bereits gegeben sind oder über die er niemals verfügen konnte. Entscheidender denn je für die eigene Subsistenz und soziale Mobilität sind also erneut die Bourdieuschen Kapitalsorten sozialen, kulturellen und ökonomischen Kapitals, was in dieser Dominanz einem Rückfall in vormoderne Verhältnisse entspricht.281 Die Wohlfahrt des Einzelnen fällt also tendenziell wieder stärker unter die Abhängigkeit lokaler, mikrosoziologischer Einheiten.282 Und das zynischerweise im Zuge einer Ideologie, die für ihre reibungslose Funktion Individuen benötigt, die an die Allmacht ihrer subjektiven Handlungsmächtigkeit glauben. Honneth spricht dabei von

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Man vergleiche hierzu auch das Aufkommen des Terminus der sozialen Hängematte im Vergleich zum Begriff des sozialen Netzes. Sennett spricht in diesem Zusammenhang von einer »Ideologie des sozialen Parasitentums« als Disziplinierungsmittel am Arbeitsplatz. Vgl. Sennett, Richard, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. S. 192. Es stellt sich die Frage inwiefern dies eine erneute Homogenisierung des kulturellen Arbeitsmilieus nach sich zieht, ähnlich wie dies bereits für die bürgerliche Arbeitskultur charakteristisch war. Vgl. Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt: eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. S. 348. Ein anschauliches Beispiel wäre hier etwa auch das Phänomen der sogenannten Tafeln.

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einer »paradoxe[n] Verkehrung historisch erkämpfter Emanzipation in neue Abhängigkeiten, von Befreiung in Entmündigung [. . . ].«283 In Betrachtung der Vorgänge auf dem Feld der Subjektkulturen und in Kombination mit der Dialektik des kapitalistischen Geistes ergibt sich ein schlüssiges Bild: Es sind vor allem Dispositionen und Codes der counter culture und deren Künstlerkritik, die in der Aneigung des kapitalistischen Geistes der Spätmoderne zurückkehren und zu unhintergehbaren Imperativen werden. Die idealtypische Form der hegemonialen Subjektform des unternehmerischen Selbst284 ist die des Kreativsubjekts. Dessen hybride Konstruktion basiert unter anderem stark auf den selektiven Transfers von Elementen der bürgerlichen Subjektkultur und damit auch auf einer sozial vererbten spezifischen Habitusform. Die hegemoniale Subjektkultur profitiert also vor allem von einer Prämierung bürgerlicher Subjektdispositionen wie unternehmerischer Souveränität oder Selbstregulierung und ist am wenigsten auf eine Entschärfung sozialer Ungerechtigkeiten angewiesen.285 Die neue Zentralität der Bourdieuschen Kapitalsorten kommt ihr unmittelbar entgegen: Vorhandenes und intergenerativ weitergegebenes ökonomisches Kapital erlauben eine private und berufliche Subsistenz in relativer Unabhängigkeit vom Werdegang wohlfahrtsstaatlicher Organisationen oder Entwicklungen auf dem Lohnsektor. Kulturelles Kapital gewährt den Zugang zu hohen Bildungsabschlüssen und damit zu Führungspositionen286 und trainiert in Dispositionen der Hochkultur wie etwa musischer oder künstlerischer Kreativität, Eloquenz, und Etikette, die im Kontext des Netzwerkkapitalismus prämierte Eigenschaften darstellen. Soziales Kapital gewährt schließlich Eintritt zu und regelmäßigen Umgang mit sozialen Milieus, die bei der Vergabe beruflicher Positionen Vorteile bieten und in denen

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Honneth, Axel: Vorwort. In: Alain Ehrenberg. Das erschöpfte Selbst. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2008, S. 7. Vgl. Bührmann Andrea, D., Das Auftauchen des unternehmerischen Selbst und seine gegenwärtige Hegemonialität. Einige grundlegende Anmerkungen zur Analyse des (Trans-) Formierungsgeschehens moderner Subjektivierungsweisen. Vgl. dazu auch Sennett, Richard: Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin Verlag, 2005, S. 64f. Vgl. dazu etwa: Lengner, Alexander: Die Promotion. Ein Reproduktionsmechanismus sozialer Ungleichheit. UKV, Konstanz, 2008.

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Dispositionen erworben werden, die in der projektbasierten Netzwerkpolis unersetzbare Privilegien darstellen. Das Konzept unternehmerischer Selbstführung verweist dabei selbst auf diese basale Voraussetzung der Verfügbarkeit über gewisse Kapitalsorten als Produktionsmittel, die für jegliche ›Unternehmensführung‹ unerlässlich sind: Ökonomische Ressourcen, Wissen, soziale Netzwerke etc. Es sind dies Mittel, die ganz offensichtlich unter den Individuen ungleich verteilt sind. Die Forderung nach unternehmerischem Handeln setzt die Verfügbarkeit über derartige Ressourcen voraus. Aus dieser Sicht wäre gerade ein unterstützender, ermöglichender Staat die logische Ergänzung zu einem unternehmerischen Bürger.287 Die Zusammenhänge zwischen sozial vererbten Kapitalsorten, inkorporiertem Habitus und der Subjektivierungsform unternehmerischer Selbstführung konnten vor allem an der Kontrastierung der beiden Interviews IP4 und IP5 gezeigt werden. IP4 führt die Bedeutung des inkorporierten Habitus deutlich und wiederholt aus und weist auf die Konversion der sozial ererbten Kapitalsorten in beruflich verwertbare Ressourcen hin. IP4 mag der Subjektform des unternehmerischen Selbst am nächsten kommen und zeigt zumindest in seinem Selbstkonzept nur geringe Zeichen von Konflikten mit den an ihn gestellten Anforderungen. IP5 stellt im Gegensatz dazu die Reinform einer delegitimierten Subjektivität dar. Die vorgefundenen Hinweise auf Selbstpraktiken, Begehrensstruktur und Deutungsmuster operieren in einer Dichotomie von Privatheit/Beruf. Das im Interview IP5 vorgefundene Ich-Konzept ließe sich noch am ehesten mit der Idee der sozialen Rollen fassen, während die Subjektivierungsform des unternehmerischen Selbst dazu tendiert im Modus der Fragmentarisierung poststrukturalistischer Subjektivitätsmodelle zu prozessieren.288 IP5 beschränkt seine berufliche Tätigkeit auf die einer professionellen Rolle und unabhängig vom inkorporierten Habitus. IP3 verweist genau darauf, indem er die Inkompatibilität der Körpersprache von IP5 mit unternehmerischen Formen der Subjektivierung anmerkt. Die Delegitimierung 287

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In diesem Zusammenhang stellt etwa der Ansatz eines bedingungslosen Grundeinkommens eine sinnvolle Kombination aus unternehmerischer Freiheit und sozialer Absicherung dar. Mehr zum Aspekt der Rollentheorie im Vergleich zu Ansätzen des Poststrukturalismus: Stäheli, Urs, Poststrukturalistische Soziologien. S. 49.

9 Zusammenfassung und Schluss

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der Subjektform IP4 repräsentiert auch die Entwertung des Leitwerts des Sozialen gegenüber einer Gouvernementalität der Vereinzelung. Die Interview-Analysen konnten in exemplarischer Form die Etablierung einer hegemonialen Subjektform des unternehmerischen Selbst und eine parallel verlaufende Delegitimierung der Subjektform der Angestelltenkultur mitsamt dem für ihre Epoche der organisierten Moderne charakteristischen Wertekanon zeigen. Diese ist gleichbedeutend mit dem Verschwinden eines spezifischen Persönlichkeitstypus und der Gültigkeit eines Weltbildes. Eine Subjektform ist zu ihrer Konstitution auf verschiedene, bereits vorhandene Diskurse und Existenzbedingungen angewiesen – vor allem auch um keine ökonomische oder soziale Exklusion zu erleiden. Sie benötigt sozusagen einen ›Nährboden.‹ Dazu gehören anschlussfähige Diskurse genauso wie ein konstitutives Außen, gegen das sich sich eine Subjektform in Abgrenzung ausbildet. Verschwinden diese Konstitutionsbedingungen, verschwindet auch das ›Medium‹, in dem sich diese Form abzubilden vermag. Die beobachteten Vorgänge demonstrieren auf diese Weise auch die Wirkung gouvernementaler Techniken und Macht-Wissen-Komplexe bis hinein in die Persönlichkeitsstrukturen und Alltagswirklichkeit der Subjekte. Sie zeigen die Wirkung von Subjektivierungsstrategien in ihrer Wechselseitigkeit von Selbst- und Fremdsubjektivierung, die für gouvernementale Strategien des Neoliberalismus charakteristisch sind. Somit konnten sie einen Einblick in die Konstitutionsbedingungen historisch und kulturell-spezifischer Formen des Seins gewähren. Diese Bedingungen werden umso folgenreicher sein, als dass in der gegenwärtigen Form des kapitalistischen Geistes mit der Forderung nach einem Einsatz mit »Leib und Seele (IP3, 321)« genau dieser Einsatz auch auf dem Spiel steht: Die physische und psychische Existenz des Subjekts. Scheitern beschränkt sich nicht mehr nur auf eine Karriere oder eine professionelle Rolle, sondern auf die gesamte Person und ihre körperliche Unversehrtheit und kann den Absturz ins soziale Nichts und in eine Identitätslosigkeit bedeuten. Die beschriebenen Auswirkungen auf Persönlichkeitsstrukturen und das Konzept der Identität des Subjekts werfen indes die Frage auf, inwiefern diese Form des Seins noch eine selbstidentische Subjektform generiert oder ob das tatsächliche Ende des Descartschen Konzepts von autonomer Subjektivität

9 Zusammenfassung und Schluss

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exakt mit dem Moment der Hegemonialität einer Subjektkultur zusammenfällt, die genau diese Autonomie zum obersten Prinzip erhebt.

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