Die Sache mit den Buchstaben

Die Sache mit den Buchstaben Mittwochs war Musikprobe. Geprobt wurde Philip Sousas “Unter dem Sternenbanner“. Die letzten Takte klangen durch die Flur...
Author: Sara Klein
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Die Sache mit den Buchstaben Mittwochs war Musikprobe. Geprobt wurde Philip Sousas “Unter dem Sternenbanner“. Die letzten Takte klangen durch die Flure. „Schluß für heute“, rief Joe Miller, der die Band leitete. Die Jungen und Mädchen packten ihre Instrumente weg und machten sich auf den Heimweg. Brian bat Jean Icks die Notenblätter und Schulsachen mitzunehmen, da er noch in die Stadt wolle, um eine CD zu kaufen. Er komme später vorbei, um sie abzuholen. Zu Hause legte Jean die Sachen auf ihren Schreibtisch. Ein Blatt glitt zu Boden, und als sie es aufhob, sah sie darauf einige Linien, an denen Buchstaben standen. Brian hatte sich eine Kopie der Folie gemacht, die Mr. Mesick den Schülern gezeigt hatte. Interessiert betrachtet Jean die Strecken und Buchstaben.

Als sie das Blatt zu den übrigen Sachen legte, fiel ihr Blick auf ein Notenblatt. Irgend jemand hatte an die Noten Buchstaben geschrieben: a, c, e. „Merkwürdig“, dachte sie, „wofür man Buchstaben nicht alles gebrauchen kann.“ Jean hörte, wie ihr Vater seine Pfeife ausklopfte, und trat in sein Arbeitszimmer. Karl Icks saß in seinem Sessel und las in einem Buch. Jean begrüßte ihn und setzte sich an seinen Schreibtisch. Sie hatte Brians Blätter in der Hand und begann zu lesen. Es wurde ihr klar, daß A, B, C, G, ED, EF und DF Namen für die Strecken, und damit für die Zahlen sein sollten, die in dem Beweis vorkamen. Sie dachte an das Notenblatt mit den eingetragenen Buchstaben. Aber sie spürte auch, daß da ein Unterschied war. Während man bei den Noten die Buchstaben nicht ändern konnte denn jede Note stand ja für einen ganz bestimmten Ton -, wußte man bei Euklid eigentlich nicht, für welche Zahlen die Buchstaben standen. Karl Icks schaute über die Brillengläser lange hinüber zu seiner Tochter. Er sah gleich, daß ihr etwas durch den Kopf ging. „Na, gibt’s ein Problem?“ erkundigte er sich vorsichtig. „Ach, ich schau’ mir nur die Blätter von Brian an. Mr. Mesick hat ihm einen Text von Euklid gegeben. Euklid benutzt für Zahlen Buchstaben wie hier auf dem Blatt bei den Noten. Aber für welche Zahlen stehen denn diese Buchstaben?“ „Tja, das ist nicht so einfach zu erklären.“ In diesem Augenblick klingelte es an der Haustür. „Ich geh’ schon“, rief Karls Frau Isabel und öffnete die Tür. John Wye war vorbeigekommen, um eine Partie Schach mit seinem Freund Karl zu spielen. Er begrüßte Isabel und ging in Karls Zimmer. „Stör’ ich?“ fragte er, als er Karl mit seiner Tochter sah. „Nein, nein, das hat Zeit. Setz’ dich.“ Während Karl hinausging, um eine Flasche Burgunder aus dem Keller zu holen, fiel Johns Blick auf das Buch, das Karl auf den Tisch gelegt hatte. Als er in dem Buch blätterte, stieß er auf einen Abschnitt, der ihn sehr interessierte, und er begann zu lesen.

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.... und vor der Mathematikstunde empfand ich positive Angst. Der Lehrer gab sich den Anschein, daß Algebra ganz selbstverständlich sei, während ich noch nicht einmal wußte, was Zahlen an und für sich sind. Sie waren keine Blumen, keine Tiere, keine Versteinerungen, nichts, was man sich vorstellen konnte, bloß Anzahlen, die sich durch Zählen ergaben. Die Anzahlen wurden zu meiner Verwirrung durch Buchstaben, die Laute bedeuteten, ersetzt, so daß man sie sozusagen hören konnte. Merkwürdigerweise konnten meine Kameraden damit umgehen und fanden das selbstverständlich. Niemand konnte mir sagen, was Zahlen sind, und ich konnte die Frage nicht formulieren. Zu meinem Schrecken fand ich, daß es auch niemanden gab, der meine Schwierigkeit verstand. Der Lehrer gab sich zwar, wie ich anerkennen muß, alle Mühe, um mir den Zweck dieser merkwürdigen Operation, verständliche Anzahlen in Laute umzusetzen, zu erklären. Ich verstand schließlich, daß damit eine Art Abkürzungssystem bezweckt war, mit dessen Hilfe viele Anzahlen in einer abgekürzten Form dargestellt werden konnten. „C. G. Jungs Erinnerungen“, bemerkte Karl Icks, als er das Zimmer wieder betrat und John Wye mit dem Buch in der Hand sah.1 „Ja, was sind Zahlen? Ich habe hier eine Stelle gefunden, wo er diese Frage stellt. Mit Zahlen kann man sicher nicht nur zählen, sondern auch rechnen, man kann sie anordnen. Eigentlich hängt die Antwort davon ab, wie man sie einführt. Aber das ist ja Gegenstand deines Kurses in diesem Semester. Jung scheint als Schüler auch keine rechte Vorstellung von Variablen gehabt zu haben“, schloß John Wye und begann die Figuren aufs Schachbrett zu stellen. „Variable, was ist das?“ Jean, die an der Tür gestanden und die Unterhaltung verfolgt hatte, schaute John Wye. mit ihren großen Augen fragend an. „Das sind die Buchstaben“, versuchte ihr Vater sie abzuwimmeln, „weißt du, wovon du eben gesprochen hast.“ Jetzt wollte John Wye Näheres wissen und ließ sich von Jean das Blatt zeigen. Er überflog es und meinte: „Die Buchstaben A, B usw. stehen hier für beliebige Zahlen, es sind sozusagen Namen für die Zahlen.“ „Ja, wie kann denn ein Name für beliebige Zahlen stehen? Wenn ich den Ton a auf meiner Klarinette spiele, dann ist das doch nicht beliebig!“ Karl Icks merkte, daß er doch noch genauer auf Jeans Frage eingehen mußte und stand auf, ging zu seinem Bücherregal und suchte ein Buch heraus. „Ebene Geometrie“ las Jean und schaute recht verwundert. Karl Icks schlug eine Seite auf und deutete auf eine Abbildung. (Abb. 14)

α’ + β’ + γ α β α+β+γ

= 180° = α’ = β’ = 180°

Abb. 14 „Dieses Dreieck gehört zu dem Beweis, daß die Summe der Innenwinkel in jedem Dreieck 180° beträgt. Der wichtige Schritt ist, durch Punkt C eine Parallele zur Seite AB zu ziehen; denn dann sind die Winkel α und α’ sowie die Winkel β und β’ gleich groß, also ist auch die Summe von α, β und γ 180°, ebenso wie die von α′, β′ und γ. Das siehst du doch ein?“ „Ja, schon “, nickte Jean, aber am Ton der Frage erkannte sie, das die Sache einen Haken hatte. Abwechselnd blickte sie zu ihrem Vater und zu John Wye. „Wenn dein Vater nun ein anderes Dreieck zeichnet, ist dann die Summe der Innenwinkel in diesem Dreieck auch 180°?“ Es lag etwas Lauerndes in seiner Frage, aber Jean entgegnete, ohne zu zögern: „Natürlich, das ist doch in jedem Dreieck so.“ „Hm, schon“, ließ sich Dr. Wye vernehmen, „aber der Beweis gilt doch zunächst nur für das Dreieck, das da im Buch steht, und zwar mit einem stumpfen Winkel γ. Wenn nun der Winkel γ kleiner als 90° ist, gilt dann der Satz auch noch?“ Jean zögerte einen Augenblick, doch dann sagte sie: „Wenn ich durch den Punkt C die Parallele zur Seite AB ziehe, dann entsteht doch auch jetzt ein gestreckter Winkel, also kann ich wieder so argumentieren wie eben.“ Karl Icks war richtig stolz auf seine Tochter. „Genau das ist der springende Punkt, die Sätze der Geometrie gewährleisten, daß man stets durch den Punkt C diese Parallele ziehen kann und die Winkel an den Parallelen gleich groß sind. Wie groß die Innenwinkel α, β und γ in einem bestimmten Dreieck jeweils sind, spielt für den Beweis keine Rolle. Man darf also sozusagen von diesem Dreieck 34

auf alle Dreiecke verallgemeinern. Gegenstand des Beweises ist nicht die jeweils konkret gezeichnete geometrische Figur, sondern das hierdurch ‚Verdeutlichte‘, wie schon Aristoteles2 sagte.“ „Meistens wird“, fuhr John Wye fort, „eine solche Überlegung, daß man verallgemeinern darf, nicht ausdrücklich angestellt. Der Beweisführende muß sich aber bei jedem einzelnen Schritt sicher sein, daß die Generalisierung erlaubt ist, d.h. daß er keine Eigenschaften benutzt hat, die nur bestimmten Dreiecken zukommen. Ausdrücklich erwähnt wird das in der Regel nicht. Man darf aber nicht übersehen, daß die angeführte Überlegung wesentlicher Bestandteil des Beweises ist.“ „Bei dem Beweis des Euklid ist ebenfalls bei jedem Schritt klar, daß es auf die spezielle Wahl der Zahlen nicht ankommt, soweit sie nur die im Beweis geforderten Eigenschaften besitzen. Diese haben jedoch keine einschränkenden Auswirkungen auf die einzelnen Schritte. Beispielsweise gibt es stets zu drei Zahlen die kleinste Zahl, die durch A, B und C ‘gemessen’ wird, das sogenannte kleinste gemeinsame Vielfache (kgV). Man könnte sich also A, B und C für die Argumentation zunächst als ,feste’ Zahlen vorstellen – so wird es manchmal beschrieben -, die aber dann in einem zweiten Schritt als ‘beliebig’ erkannt werden. Auf diesen zwei Überlegungen, die nicht jedesmal ausdrücklich formuliert werden, beruht dann die Allgemeingültigkeit des Satzes: Er gilt für alle Zahlen.“ „Diese Aufteilung der Argumentation in die zwei Stufen (fest, aber beliebig) erleichtert das Verständnis der Beweisführung, wie du noch sehen wirst.“ „Wenn man also sagt, a, b und c seien beliebige Primzahlen, so kann man sich a, b und c als Namen für bestimmte Zahlen vorstellen, mit denen man den Beweis durchführt. Danach macht man sich klar, daß man verallgemeinern darf, d.h. daß a, b und c Namen für irgendwelche Primzahlen sein können, der Beweis also für alle Primzahlen richtig ist. Meinst du das? Und solche Buchstaben nennt man Variable?“ wollte Jean wissen. „Geben wir uns fürs erste mit dieser Erklärung zufrieden, du hast das richtig zusammengefaßt. Aber nicht jeder Buchstabe in der Mathematik ist eine Variable“, glaubte John Wye noch ergänzen zu müssen, „z. Bsp. π und e sind Namen von Konstanten, feste Zahlen, die in der Kreislehre und in der Analysis eine wichtige Rolle spielen.“ Karl Icks wandte sich John Wye zu und zeigte auf das Schachbrett: „Wer fängt an?“ Jean hatte verstanden und verließ das Zimmer, aber nicht ohne das Geometriebuch mitzunehmen. Als Brian vorbeikam, um seine Sachen abzuholen, zeigt ihm Jean das Geometriebuch. „Versteh’ ich nicht“, meinte Brian, „α = α’, β = β’? α und α' sind doch verschiedene Winkel, einmal ist der Scheitelpunkt A, einmal C. Auch bei β und β’ sind die Scheitelpunkte verschieden.“ Jean, der solche Gleichungen aus dem Geometrieunterricht bekannt waren, erklärte ihm, daß α = α’ nur besage, daß die Winkel α und α’ gleich groß seien, α und α’ ständen für die Maßzahlen der Winkel, die sich durchaus unterscheiden könnten, etwa durch ihre Lage im Dreieck oder in der Ebene. Das leuchtete Brian ein: „Weil α und α’ gleich groß sind, deswegen darf ich auch α durch α’ in der Gleichung ersetzen, so wie man in einer Rechnung ½ durch 0,5 ersetzen kann.“ Brian verabschiedete sich, und Jean ging auf ihr Zimmer, um zu üben. Klarinette zu spielen machte ihr großen Spaß. John Wye und Karl Icks hatten ihr Schachspiel beendet. John hörte Jean auf der Klarinette spielen und dachte an das Gespräch von vorhin. „Weißt du, Karl, daß die Beweisfigur aus dem Geometriebuch, die du Jean gezeigt hast, schon von den Pythagoreern3 benutzt worden ist, um den Satz über die Summe der Innenwinkel im Dreieck zu beweisen. Eudemos4, der etwa hundert Jahre später lebte, hat dies in seiner ‘Geschichte der Geometrie’ überliefert. Man nimmt an, daß ihm ein Lehrbuch der Elementargeometrie aus der Schule der Pythagoreer vorlag. Euklid beweist den Satz übrigens ganz anders5.“ „War nicht Eudemos ein Schüler des Aristoteles?“ fragte Karl. „Ja, Philosophie und Mathematik, insbesondere Geometrie, waren im Studium zur Zeit der Antike stark verbunden. Kenntnisse aus der Geometrie waren bei den gebildeten Bürgern Griechenlands sicher weit verbreitet, denn Aristophanes6 läßt in seiner Komödie „Die Vögel“7, die im Jahre 414 v. Chr. erstmals aufgeführt wurde, Meton8 auftreten, der die Stadt Wolkenkuckucksheim9 vermessen will. Er sagt von sich selbst, daß ganz Griechenland ihn kenne, und eine der Hauptfiguren des Stücks, Peishetairos, nennt ihn sogar einen zweiten Thales10. Auf die Frage, was er mit den Meßgeräten vorhabe, entgegnet Meton u.a., er wolle aus dem Kreis ein Viereck machen11. Aristophanes erwähnt somit in einer Komödie ein tiefliegendes geometrisches Problem, das die griechischen Mathematiker bewegte: die Quadratur des Kreises, die Aufgabe, mit Zirkel und Lineal zu einem gegebenen Kreis ein flächengleiches Quadrat zu konstruieren. Erst mehr als 2000 Jahre später (1882) gelang dem Mathematiker Lindemann12 der strenge Beweis, daß dieses Problem nicht lösbar ist. Das Bildungsniveau in Mathematik muß also bei den zuschauenden Bürgern recht hoch gewesen sein; das zeigt auch der Vergleich Metons mit Thales. Bei den Römern stand die Mathematik als Wissenschaft nicht in so hohem Ansehen, sie sahen sie mehr als nützliches Wissen für die Landvermessung, wie Cicero in den Gesprächen in Tusculum selbst sagt. Nur in soweit hätten sie sich um diese Kunst, die Mathematik, bemüht, als sie beim Rechnen und Messen nützlich sei.13 Von den Griechen hätten sie nur übernommen, was sie der Mühe für wert erachteten, sich damit zu beschäftigen.14“ „Die Wertschätzung für die Mathematik scheint ja demnach bei den Römern recht gering gewesen zu sein“, folgerte Karl Icks. John Wye nickte zustimmend, bedankte sich für den schönen Abend und machte sich auf den Heimweg. 35

Als Jean am nächsten Morgen das Arbeitszimmer ihres Vaters betrat, sah sie das Buch von C. G. Jung, in dem ihr Vater am Vortag gelesen hatte, aufgeschlagen auf dem Tisch liegen. Ihr Blick fiel auf eine Stelle, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Am meisten empörte mich der Grundsatz: wenn a = b und b = c, dann ist a = c, wo es doch per definitionem15 feststand, daß a etwas anderes bezeichnete als b und daher als etwas anderes nicht b gleichzusetzen war, geschweige denn mit c. Wenn es sich um eine Gleichsetzung handelt, dann heißt sie a = a, b = b usw. , während a = b mir direkt als Lüge oder Betrug vorkam. Sie dachte an Brians Frage vom Vortag, aber a, b und c waren doch keine Winkel, wenn a, b und c Zahlen bezeichneten, was war dann deren Größe? „Du mußt gehen, sonst verpaßt du noch den Schulbus“, unterbrach eine Stimme Jeans Gedanken. Isabel Icks stand in der Tür und wünschte ihrer Tochter zum Abschied einen angenehmen Tag in der Schule. Am Nachmittag nach der Schule fuhr Jean nicht mit dem Bus zurück, sondern beschloß den Shuttlebus zum neuen Campus der Universität zu nehmen, um mit ihrem Vater nach Hause zu fahren. Die Campus High School, die Jean besuchte, lag auf dem Hügel des alten Campus. Ein Bus pendelte zu Vorlesungszeiten zwischen den beiden Teilen der Hochschule, und Eddie, der Fahrer, war eine bekannte Persönlichkeit, stets freundlich und zu Scherzen aufgelegt. Jean wartete im Büro ihres Vaters auf das Ende der Vorlesung, als Dr. Wye sie im Vorübergehen durch die offen stehende Tür sah. Er trat ein und begrüßte Jean. „Dein Vater wird gleich kommen; übrigens, er hat mich gestern beim Schach zweimal geschlagen. Spielst du auch schon mal mit ihm?“ fragte er Jean. „Ja, schon, aber ich verliere immer. Übrigens, Onkel John, ich habe heute morgen in dem Buch geblättert, in dem Vater gelesen hat, als du kamst.“ „Ja, und?“ John Wye schaute sie fragend an. „ Da ist so eine Stelle, an welcher der Autor schreibt, daß er nicht verstanden habe, daß aus a = b und b = c die Aussage a = c folge. Bei dem Beweis mit den Winkeln da bedeutet doch α = α’, daß die beiden Winkel gleich groß sind. Aber verschieden sind sie, was die Lage betrifft. Wenn aber a, b und c für Zahlen stehen, was ist dann die Größe einer Zahl?“ John Wye lächelte und meinte dann: „Also die Größe einer Zahl, das weiß ich nicht. Das ist ein völlig entbehrlicher Begriff. Die Größe einer Zahl, das ist die Zahl selbst. Was die Verwendung von α und β angeht, so liegt hier eine Ungenauigkeit vor. Einmal sind α und β Namen für die Winkel, in den Gleichungen, aber sie stehen auch für die Maßzahlen der Winkel. Für den Geübten stellt dieser Doppelgebrauch in der Regel keine Schwierigkeit dar. Die Mathematiker verwenden das Gleichheitszeichen in diesem Zusammenhang so, daß in einer Gleichung wie a = b oder ½ = 0,5 die Buchstaben a und b bzw. ½ und 0,5 unterschiedliche Namen oder Bezeichnungen für dasselbe Objekt sind. Daraus leitet sich dann auch die Berechtigung ab, einen Namen durch einen anderen zu ersetzen, solange nur dasselbe Objekt gemeint ist.“ „Onkel John und Dr. Wye sind ja für dich auch Namen für dieselbe Person“, meinte Jeans Vater, der den Rest des Gesprächs mit angehört hatte und unbemerkt hinzugekommen war. Mr. Icks ging mit seiner Tochter zusammen den langen Flur entlang in Richtung Ausgang vorbei am Büro seines Chefs. Die Tür stand offen und Karls Blick fiel auf einen Spruch, der dort gerahmt an der Wand hing und der ihm schon immer gut gefallen hatte. Ein wahrer Mensch zu werden, das ist schwer. an Händen, Fuß und Geist rechtwinklig, ohn’ Fehl gebaut. Ein Vers des griechischen Dichters Simonides16. Er erinnerte sich an das Gespräch vom Vorabend, an die Wertschätzung der Mathematik durch die Griechen, von der John Wye gesprochen hatte. Jean empfand es als recht bemerkenswert, daß ein antiker Dichter selbst erstrebenwerte Charaktereigenschaften geometrisch umschrieb. Jean las den Spruch und lachte: „Heute gibt man damit an, daß man in der Schule von Mathematik nichts verstanden hat!“ Karl Icks nickte, und sein Gesichtsausdruck ließ unschwer erkennen, was er davon hielt.

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1

C. G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken. S. 34 f., Olten 1971. Carl Gustav Jung, Schweizer Arzt und Psychotherapeut, 1875 - 1961. 2

Aristoteles, griechischer Philosoph, 384 bis 322 v. Chr. Aristoteles, Anal. post. I, Kap.10:

Ð d gewmštrhj oÙd n sumpera…netai tù t¾nde e nai gramm»n, ¿n aÙtÕj œfqegktai, ¢ll¦ t¦ di¦ toÚtwn dhloÚmena. Der Geometer jedoch zieht seine Folgerung nicht auf Grund der Linie, die er benannt hat, sondern auf Grund des Sachverhaltes, der dadurch verdeutlicht wird. 3

Die Pythagoreer lebten etwa zwischen 520 v. Chr. und 450 v. Chr. in Süditalien in Gemeinschaften, nicht unähnlich den christlichen Orden des Mittelalters. Unter ihnen war eine Gruppe, die sich Mathematikoi nannte. Ihnen verdanken wir wichtige Erkenntnisse in der Arithmetik, Geometrie, Harmonik und Astronomie. 4

Eudemos von Rhodos, griechischer Philosoph um 335 v. Chr., schrieb eine Geschichte der Mathematik und der Astronomie. 5

Euklid, Elemente, I, Satz 32.

6

Aristophanes, griechischer Komödiendichter, um 400 v. Chr.

7

Aristophanes, Die Vögel, Vers 992 – 1010

Mštwn.

¼kw par' Ømaj.

Peisštairoj. Kerl!

Meton

›teron aâ toutˆ kakÒn

Seht her, hier bin ich!

Peishetairos

t… d'aâ sÝ dr£swn; t…j „dša boul»matoj; müh'n? t…j; ¹p…noia t…j Ð kÒqornoj tÁj Ðdoà;

Noch ein solcher Was willst du tun? Wohin zielt dein BeWas führt dich her des Wegs, kothurn-

beschuht? Mštwn.

gewmetrÁsai boÚlomai tÕn ¢šra Øm‹n diele‹n te kat' ¢gui£j.

Peisštairoj. sÝ d' e Mštwn.

prÕj tîn qeîn, t…j ¢ndrîn;

Óstij e‡m' ™gè; Mštwn, Ön o den `Ell¦j cç KolwnÒj.

Peisštairoj.

e„pš moi,

Meton

Den Luftraum will ich euch vermessen jetzt, einteilen ihn nach Straßen euch,

Peishetairos

Bei Gott! Wer bist du?

Meton

Wer ich bin? Ich? Meton, den man kennt in Hellas, Kolonos dazu.

Peishetairos

Sag' an, was hast du da?

tautˆ dš soi t… ™sti; Mštwn.

kanÒnej ¢šroj. Meton aÙt…ka g¦r ¢»r ™sti t¾n „dšan Óloj kat¦ pnigša m£lista. prosqeˆj oân ™gw tÕn kanÒn' ¥nwqen toutonˆ tÕn kampÚlon, ™nqeˆj diabÁthn - manq£neij;

Die Maßstäb' für die Luft. Sie ist sehr ähnlich an Gestalt dem Backrohr. Jetzt von oben schieb' ich gekrümmt den Stab hinein . Setz' den Zirkel an sodann. Verstehst du

mich? Peisštairoj. Mštwn.

oÙ manq£nw.

Peishetairos

- Ñrqù metr»sw kanÒni prostiqe…j, †na Meton Ð kÚkloj genhta… soi tetr£gwnoj, k¢n mšsJ ¢gor£, fšrousai d' ðsin e„j aÙt¾n Ðdoˆ Ñrqaˆ prÕj aÙtÕ tÕ mšson, ésper d' ¢stšroj

Kein einz'ges Wort. Den graden Stab wend' ich jetzt an und meß, damit der Kreis zum Viereck wird, und dann zum Markt hin in der Mitte führ'n Straßen schnurgrad' zum Zentrum hin, so daß wie

von aÙtoà kukloteroàj Ôntoj Ñrqaˆ pantacÍ

'nem Stern, kreisrund, in jeder Richtung zieh’n 37

¢kt‹nej ¢pol£mpwsin. Peisštairoj.

die Strahlen.

¥nqrwpoj QalÁj.

Peishetairos

Mštwn -

Ein zweiter Thales ist der Mensch, der Meton.

8

Meton, griechischer Astronom und Geometer. Veröffentlichte im Jahre 432 v. Chr. seine Entdeckung, daß 235 synodischen Mondmonaten ( 125 zu 30 und 110 zu 29 Tagen) 19 Sonnenjahre entsprechen. Nach diesem Zeitraum fallen die Mondphasen auf den gleichen Monatstag. Dieser sog. Metonische Zyklus dient noch heute zur Bestimmung des Osterfestdatums. 9

Diese Bezeichnung für unrealistische, aus der Phantasie entstandene „Luftschlösser“ stammt von Aristophanes. „Die Vögel“, Vers 819: nefelokokkug…a; (nefšlh, Wolke ; kÚkkux, Kuckuck). 10

Thales von Milet, griechischer Philosoph und Mathematiker, um 585 v. Chr. Er zählte in der Antike zu den sogenannten sieben Weisen. 11

Aristophanes, Die Vögel , 1004 ff

Die Bedeutung des in Vers 1001 angesprochenen Pnigeus wird im Wörterbuch von Menge - Güthling (Menge – Güthling, Enzyklopädisches Wörterbuch der griechischen und deutschen Sprache, Erster Teil, 18. Auflage, Berlin 1964) mit Backofen (Deckel in Form einer hohlen Halbkugel, der über Kohlen gestürzt wird) angegeben, abgeleitet von pn…gw, (er)würgen, ersticken. A. Szabó ( A. Szabó, Entfaltung der griechischen Mathematik, Mannheim 1994) weist darauf hin (a. a. O. S. 56 ff.), daß ein astronomisches Beobachtungsgerät, auch Horologion genannt, aus zwei Teilen bestand. „Der eine Teil ist die konkave Halbkugel - polos oder skaphē genannt; dieser diente zum Auffangen der Schatten, darum hieß er auch skiothēras, oder skiothērikon; diesen Teil bezeichneten die Komiker spöttisch als Pnigeus (= Kohlensticker).Der andere Teil war der Stab, dessen Schatten beobachtet wurde, gnōmōn oder im obigen Text des Komikers einfach kanōn (= Stock).“ (a. a. O. S. 59) 12

Ferdinand Lindemann, deutscher Mathematiker, 1852-1939

13

Marcus Tullius Cicero,Tusculanae disputationes, liber primus, 1 ...sed meum semper iudicium fuit omnia nostros aut invenisse per se sapientius quam Graecos aut accepta ab illis fecisse meliora, quae quidem digna statuissent in quibus elaborarent. ...aber ich bin immer der Meinung gewesen, daß wir, die Römer, einerseits selbständig geistig Höherstehendes geschaffen haben als die Griechen, andererseits von ihnen Übernommenes verbessert haben, jedenfalls soweit wir die Dinge einer intensiven Beschäftigung für würdig erachteten. 14

Marcus Tullius Cicero,Tusculanae disputationes, liber primus, 5 In summo apus illos honore geometria fuit, itaque nihil mathematicis inlustrius; at nos metiendi ratiocinandique utilitate huius artis terminavimus modum. In höchstem Ansehen stand bei ihnen die Geometrie, und folglich war niemand angesehener als die Mathematiker. Wir hingegen haben uns beschränkt und mit dieser Kunst nur insoweit beschäftigt, als sie für das Messen und Rechnen von Nutzen ist. 15

per definitionem (lat.), auf Grund der Festlegung des Begriffs.

16

Simonides von Keos, 556 – 468 v. Chr.:

¥ndr’ ¢gaqÕn m n ¢laqšwj genšsqai calepÕn cers…n te kaˆ posˆ kaˆ nÒJ tetr£gwnon ¥neu yÒgou tetugmšnon.

Die Übertragung ins Deutsche stammt von Werner Jaeger (1888 – 1961), der diesen Spruch als Widmung unter ein Bild gesetzt hat, das er dem Werner-Jaeger-Gymnasium in Nettetal anläßlich seines Besuchs im Jahr 1959 geschenkt hat.

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