Die Poetik des Musikalischen in der Prosaliteratur um 1800

Barbara Eschlberger Die Poetik des Musikalischen in der Prosaliteratur um 1800 Eine Darstellung anhand des Musikermotivs mentis MÜNSTER Gedruckt m...
Author: Karl Krause
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Barbara Eschlberger

Die Poetik des Musikalischen in der Prosaliteratur um 1800 Eine Darstellung anhand des Musikermotivs

mentis MÜNSTER

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort Die Entstehung dieser Arbeit wurde gefördert durch ein Promotionsstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung Einbandabbildung: Otto Franz Scholderer (1834–1902): Der Geiger am Fenster (1861)

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I. Exposition

Zur musikalisch-literarischen Verwandtschaft und Vergleichbarkeit Obwohl bereits in den ältesten Erzählformen die Tonkunst als Phänomen begegnet, das meist metaphysischen Ursprungs ist und durch seine Wirkungsmacht stark in den Handlungsverlauf eingreifen kann, zieht das Motiv des Musikers bis zum 18. Jahrhundert eine nur sehr dünne Spur durch die Literaturgeschichte. 1 Weder die antike Mythologie noch das Märchen präsentieren die Musikerexistenz als vita sui generis et iuris: Märchen- und sagenhafte Urheber wunderbarer Klänge gehen, sofern sie überhaupt in Erscheinung treten, eigentlich einem nichtmusikalischen Beruf nach, und selbst im ältesten Musiker Orpheus, dessen Mutter Kalliope die Muse des Saitenspiels und der Epik ist, wird nicht zuletzt der Dichter verehrt. 2 Den Hintergrund für diese lange währende Uneigenständigkeit und geringe Häufigkeit des Musikermotivs bildet nicht allein die vormals niedrige Wertigkeit des Berufsstandes an sich, sondern vielmehr eine Ästhetik, die die Musik nicht als vollgültige Kunst beurteilt. Solange sie nicht als etwas ästhetisch Autonomes begriffen wird, kann sich analog das literarische Motiv des Musikers nicht durchsetzen. In ihren frühen Entwicklungsstufen wird Musik jedoch stets im Zusammenhang mit oder gar in Abhängigkeit von anderen Ausdrucksformen, Kunstgattungen oder Geistesdisziplinen betrachtet. Der antike Begriff der 1

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Zur Häufigkeit des Musikermotivs in der Literatur vgl. v. a. den in der vorliegenden Arbeit noch folgenden Abschnitt »Zur Attraktivität musikalischer Themen in der neueren deutschen Literatur«. Der Musikant in der Wolfsgrube ist beispielsweise Schneider und übt damit wie die meisten im Märchen Musizierenden einen handwerklichen Beruf aus. Auch Hirten und Jäger betätigen sich im Märchen musikalisch. Reine Musikerfiguren sind erst Mitte des 19. Jahrhunderts in den Märchen Ludwig Bechsteins üblich. Zur Musik in der Mythologie und im Märchen vgl. Werner Danckert: Wesen und Ursprung der Tonwelt im Mythos. In: Archiv für Musikwissenschaften 12 (1955). S. 97–115. Wolfgang Laade: Musik und Musiker in Märchen, Sagen und Anekdoten der Völker Europas. Eine Quellensammlung zum Problemkreis »Musik als Kultur«. Band I: Mitteleuropa. Baden-Baden 1988 (= Sammlung musikwissenschaftlicher Abhandlungen. Band 78). Max Lüthi: Die Gabe im Märchen und in der Sage. Bern 1943. Gertrud HoferWerner: Die Bedeutung der Musik in Mythen und Märchen. Auf den Spuren von Apoll, Dionysos und Orpheus. Bern 1998 (= Schriften über Harmonik. Band 23).

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musiké (mousik†), die etymologische Vorstufe des Wortes »Musik«, bezeichnet »weit über die Tonkunst und die ihr verwandten Gebiete hinaus jede Art einer sich in Bildung und Geisteskultur offenbarenden ›Musenkunst‹«. 3 Innerhalb dieses Konzeptes wurde die Musik aufgrund des Elements des Rhythmus’ vor allem als untrennbar mit der Dicht- und Tanzkunst verwoben betrachtet. 4 Nicht nur unter die allgemeine musische Betätigung wird die Musik in ihrer Ausübung und theoretischen Betrachtung subsumiert; die Theorie des Klanges gilt auch als mathematische Frage und rückt deshalb in den Kontext von Arithmetik, Geometrie und Astronomie. In diesem Zusammenhang wird sie als »Philosophie und Theologie der Akustik« 5 für die wissenschaftliche und spekulative Weltdeutung herangezogen. Obwohl sich bei Platon und Aristoteles bereits die Wahrnehmung einer gewissen Eigenständigkeit der Tonkunst beobachten läßt 6, besitzt diese pythagoreische Musikauffassung, 3

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Ulrich Klein: Musik. In: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Auf der Grundlage von Pauly’s Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter bearbeitet und hrsg. von Konrat Ziegler und Walther Sontheimer. Dritter Band: Iuppiter bis Nasidienus. Stuttgart 1969. Sp. 1485–1496. Hier Sp. 1485. Zur Abstammung des Wortes »Musik« von »Muse« und »musiké« vgl. beispielsweise Albrecht Riethmüller: Musiké – musica – Musik. Vorbemerkung. Wortgeschichte. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Ausgabe hrsg. von Ludwig Finscher. 21 Bände in zwei Teilen (im folgenden zitiert als: MGG). Sachteil. Band 6: Meis–Mus. Kassel, Basel, London u. a.; Stuttgart, Weimar 1997. Sp. 1195–1212. Hier Sp. 1195. Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik. Hamburg 1958 (= Rowohlts deutsche Enzyklopädie. Sachgebiet Musikwissenschaft. Band 61. Im folgenden zitiert als: Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen). S. 7. Lukas Richter: Zur Wissenschaftslehre von der Musik bei Platon und Aristoteles. Berlin 1961. S. 2. Vgl. auch Hermann Koller: Musik und Dichtung im alten Griechenland. Bern, München 1963. S. 186–188. Auf der zugrundeliegenden pythagoreischen Zahlen- und Proportionslehre, als deren Vertreter neben Pythagoras, dem die Entdeckung der Intervallproportionen zugeschrieben wird, auch Philolaos und Platon zu nennen sind, beruht auch die Zugehörigkeit der Musik zum Quadrivium innerhalb der Artes liberales. Vor allem die aristotelische Poetik wird Vorbild für eine die einzelnen Gattungen in einen mehr oder weniger strengen kategorialen Rahmen einfügende Theorie der Künste, die die Bildung von Hierarchien begünstigt, während in Platons Dialogen die Gattungen noch unsystematisch voneinander abgegrenzt werden. Vgl. hierzu Manfred Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles, Horaz, »Longin«. Eine Einführung. 2., überarbeitete und veränderte Auflage. Darmstadt 1992 (= Die Literaturwissenschaft). Lukas Richter: Zur Wissenschaftslehre von der Musik bei Platon und Aristoteles. Berlin 1961. Diese Neuerungen bedeuten jedoch noch keineswegs, daß die Musik in ihrer Eigenständigkeit auch Wertschätzung erfährt: Platon beispielsweise opponiert im Gefolge Damons mit dem Argument gegen die Instrumentalmusik, daß nur die Dominanz der Sprache der Musik eine ethische und erzieherische Funktion sichern könne. In der wortlosen Musik sieht er eine potentielle Gefährdung der Jugend und des Staatswesens. Platon: Politeia 395d–403c, Nomoi 669c–670a, 700d–701a, 812d–e.

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die die Musik als ein Verhältnisspiel von Zahlen begreift, das nach den selben universalharmonischen Gesetzmäßigkeiten auch den Kosmos durchwaltet, teilweise bis weit in das 18. Jahrhundert hinein Gültigkeit. 7 Die Verbindung zwischen Musik und Sprache jedoch scheint durch die Zeiten hindurch im Vergleich stets als die stärkste. In allen Kulturen und zu allen Zeiten gelten sie als verwandt. Die Vorstellung einer ursprünglichen Einheit beider Ausdrucksformen wird gestützt durch ihre Verquickung in der altgriechischen Sprachmelodie, deren Klangdimension für den Sinntransport ebenso ausschlaggebend war wie die Wortbedeutung. 8 Durch den Verzicht auf eine nach festen rhythmischen Gesetzen erfolgende Wortwahl und -stellung kann sich die Dichtung aus diesem System relativ früh emanzipieren: Ist die Ilias noch für den singenden Vortrag bestimmt, wird die Äneis bereits deklamiert. 9 Schrittweise löst ein latenter dynamischer Akzent den streng geregelten Wechsel von langen und kurzen Silben ab; neue Vers- und schließlich auch prosaische Dichtungsformen entstehen. 10 Vergleichsweise spät wird die Musik ohne den Beiklang des Wortes als eigenständige Kunstform angesehen. 7

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Als Beispiele seien Zitate von Baumgarten und Leibniz angeführt, die die Musik in die Nähe von Naturwissenschaft und Philosophie stellen. Gottfried Wilhelm Leibniz: Epistola CLIV an Chr. Goldbach am 17. 04.1712. In: Viri illustris Godefridi Guil. Leibnitii: Epistolae ad diversos, theologiici, iuridici, medici, philosophici, mathematici, historici et philologici arguemtni e msc. Auctoris. Cum annotationibus suis primum divulgavit Chritian Kortholtus. Band I. Bern 1734. S. 239–242. Hier S. 241: »Musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare anim[ae].« Alexander Gottlieb Baumgarten: Philosophia generalis. Edidit cum dissertatione prooemiali de dubitatione et certitudine J[ohann] Chr[istian] Foerster. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Halle und Magdeburg 1770. Hildesheim 1968. § 148. S. 64–67: »Philosophia theoretica est [. . .] physica [. . .] phonologia de sono [. . .].« Platon und noch deutlicher Aristoteles sind ihrer Zeit weit voraus, wenn sie Harmonie und Rhythmus aus dem Gesamtkonzept der musiké extrahiert betrachten, auch wenn diese »dem Wort folgen« müssen. Platon: Politeia 398 c-d. Dieselben Beispiele verwendet Calvin S. Brown: Theoretische Grundlagen zum Studium der Wechselverhältnisse zwischen Literatur und Musik. In: Steven Paul Scher: Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Berlin 1984. S. 29–39 (im folgenden zitiert als: Calvin S. Brown: Theoretische Grundlagen). Hier S. 28. Georgiades thematisiert ausführlich, daß es erst innerhalb der abendländischen Geschichte möglich geworden ist, Dichtung und Musik zu trennen. Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Insbesondere S. 45 f. John Hollander nennt als Grund für die Aufspaltung der musiké in Musik und Dichtung die Adaption des griechischen Metrums, das ursprünglich untrennbar von der Musik war, auf das Lateinische. John Hollander: Music and Poetry. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 15 (1956). S. 232–244. Hier S. 235. Petri dagegen meint, die harmonische Einheit sei spätestens in der mittelalterlichen Psalmodie zerbrochen, in der autonomen Tonformeln ungleich lange Texte unterlegt werden, weshalb melismatische Ornamentik und Auszierung auf einer Sprachsilbe erstmals gleichberechtigt neben syllabischen Tonfolgen standen. Horst Petri: Formund Strukturparallelen in Literatur und Musik. In: Studium Generale 19 (1966). S. 72–84. Hier

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Auch wenn sie bereits im antiken Griechenland praktiziert wird, erfährt die reine Instrumentalmusik bis zum Spätmittelalter nicht genug Wertschätzung, um auch notiert zu werden. 11 Erst in dem Zeitraum, auf den sich die vorliegende Untersuchung konzentriert – an der Wende zum 19. Jahrhundert also – steht ihre Gleichrangigkeit anderen Kunstgattungen gegenüber nicht mehr in Frage. 12 Die Lösung der ursprünglichen Einheit von Literatur und Musik in ein schwesterliches Verhältnis und das Heraustreten der Musikästhetik aus der allgemeinen Kunstbetrachtung sind jedoch Voraussetzung dafür, daß die eine Kunst ein Bild der anderen entwerfen und eine neuartige wechselseitige Befruchtung der Gattungen vonstatten gehen kann. Und erst zu dem Zeitpunkt, zu dem eine solche vergleichende Betrachtung der Disziplinen als Phänomene »in Berührung und Wechselbeziehung« 13 möglich wird, betritt die Figur des Musikers die literarische Bühne. In der Behandlung dieses Motivs findet, so die Grundannahme der vorliegenden Arbeit 14, innerhalb der Literatur eine

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S. 73. Koller sieht in der Einführung des Reims in die griechische Sprache sowohl einen beschleunigenden Faktor als auch eine Kompensation für die Ablösung des sprachmusikalischen Konzeptes der musiké. Hermann Koller: Musik und Dichtung im alten Griechenland. Bern, München 1963. S. 174. Als Zeitraum für diese Aufspaltung in Musik einerseits, Dichtung andererseits gibt Ansermet das 5. oder 6. Jahrhundert nach Christi an. Ernest Ansermet: Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein. München 1965. S. 372–374. Zur Geschichte der Abspaltung der Instrumentalmusik aus der frühen Vokalmusik vgl. John Neubauer: The Emancipation of Music from Language. Departure from Mimesis in EighteenthCentury Aesthetics. New Haven, London 1986. Außerdem: John Hollander: Music and Poetry. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 15 (1956). S. 232–244, insbesondere S. 235 f. In einer literaturwissenschaftlichen Studie kann der Verlauf der Musikgeschichte natürlich nur eine Nebenrolle spielen. Die hier nur kurz angesprochenen Entwicklungen werden jedoch in der vorliegenden Arbeit noch ausführlicher erläutert. Vgl. hierzu insbesondere Kapitel II.1. Ausnahmen gibt es jedoch. Friedrich Theodor Vischer beispielsweise konstatiert einschränkend, daß die Musik nur in Verbindung mit der Poesie, die mittels der Phantasie das Sichtbare der bildenden Kunst im Geiste mittransportiert, ihre volle Wirkung entfalten kann: »Jede Kunst zeigt durch ihre Mängel hinüber auf die andern, keine so fühlbar, so schwebend, wie die Musik.« Die dichtende Phantasie vereinigt die charakteristischen Wirkungsprinzipien von Musik und bildender Kunst in sich und steht so an der Spitze der Künstehierarchie. Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Theil: Die Kunstlehre. Stuttgart 1857. S. 777. Georg Reichert: Literatur und Musik. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler. Zweite Auflage. Neu bearbeitet und unter redaktioneller Mitarbeit von Klaus Kanzog sowie Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Zweiter Band: L–O. Berlin 1965. S. 143–163. Hier S. 143. In ausführlicher Form wird die Fragestellung dieser Arbeit in einem späteren Abschnitt der »Exposition« entwickelt.

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Rückbesinnung statt auf das Proprium der Musik – darauf, was die Wortkunst durch die Trennung entbehrt. 15 Doch was ist dieses Trennende, das zu einer Wiederannäherung Anlaß geben könnte, und welche ausdruckstechnischen Gemeinsamkeiten könnten eine Diffusion zwischen Musik und Literatur überhaupt noch ermöglichen? Auch bei Anwendung eines von der Sphäre des Sprachlichen unabhängigen Musikbegriffs 16 ist eine große »Familienähnlichkeit« zwischen den »Töchter[n] Apolls« 17 augenscheinlich. Zu ihrer Erforschung wurde 1901 der Grundstein gelegt, als der britische Literaturwissenschaftler G. Gregory Smith forderte, das vergleichende Studium der Künste als berechtigte komparatistische Beschäftigung anzusehen. 18 Erste Ansätze zu einem systematischen Studium der Beziehungen zwischen Literatur und Musik wurden 1917 von Oskar Walzel entwickelt, der in der Abhandlung über Die wechselseitige Erhellung der Künste Melodie, Harmonie und Rhythmus als deren gemeinsame Komponenten untersuchte. 19 Kurt Wais rief mit der Arbeit Symbiose der Künste. Forschungsgrundlagen zur Wechselberührung zwischen Dichtung, 15

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Eggebrecht zufolge bleibt jedoch auch die Musik der ursprünglichen Einheit eingedenk: »Die europäische Musik ist nicht zuletzt dadurch zu charakterisieren und in ihrem sie kennzeichnenden Innovationsgefälle zu erklären, daß in ihr die Verschiedenheit von Wort und Ton als Elementen bzw. von Sprache und Musik als Ganzheiten beständig aufs neue reflektiert wird, sei es in theoretischen Erörterungen oder in der praktischen Realisation.« Hans Heinrich Eggebrecht: Versuch über Grundsätze der geschichtlichen Entwicklung des Wort-Ton-Verhältnisses. In: Ders.: Musikalisches Denken. Aufsätze zur Theorie und Ästhetik der Musik. Wilhelmshaven 1977 (= Taschenbücher zur Musikwissenschaft. Band 46). S. 55–67. Hier S. 56. Die Vorstellung davon, was Musik ist, unterliegt einem starken geschichtlichen Wandel. Einzig Hannes Fricke weist auf das Problem hin, daß dort, wo vergleichend von Literatur und Musik gesprochen wird, eine vollkommen ahistorische Perspektive eingenommen wird, obwohl, wie in diesem Kapitel bereits erläutert wurde, die vollkommen »sprachlose« Vorstellung vom Phänomen Musik noch keineswegs alt ist. Hannes Fricke: Intermedialität Musik und Sprache. Über Formentlehnungen aus der Musik. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 141 (2006). S. 8–29. Hier S. 13. Auch der vorliegenden Arbeit liegt die seit der Romantik nie mehr vollständig verdrängte Auffassung von einer sogenannten absoluten Musik zugrunde. Herbert Rosendorfer: Literatur, die blasse Tochter der Musik. Neidvolle Gedanken eines Literaten. In: Ders.: Don Ottavio erinnert sich. Unterhaltungen über die richtige Musik. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Hanspeter Krellmann. 2. Auflage. München 1999. S. 218– 232 (im folgenden zitiert als: Herbert Rosendorfer: Literatur, die blasse Tochter der Musik). Hier S. 220: »Alle Musen sind Töchter Apolls, und eine Familienähnlichkeit ist nicht erstaunlich.« [G. Gregory Smith:] The Foible of Comparative Literature. In: Blackwood’s Edinburgh Magazine 169 (1901). S. 38–48. Hier S. 45. Ausgehend von Schillers vagen Überlegungen zur Eigenart des Musikalischen in der Dichtung suchte Walzel nicht nur mögliche musikalisch-literarische Strukturparallelen, sondern auch literarische Anwendungsmöglichkeiten des Leitmotivs. Oskar Walzel: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe. Berlin 1917 (= Philo-

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Bild- und Tonkunst noch einmal zu dem Versuch auf, »[. . .] vom Betrachten und vom Betrachter anderer Künste die Griffe zu lernen, durch die das Wesentliche im Kunstwerk des Dichters besser erfaßt wird.« 20 Schon 1942 aber warnte René Wellek mit seiner historischen Übersicht The Parallelism between Literature and the Arts vor allem am Beispiel von Oswald Spenglers Begriff der Geistesgeschichte vor der potentiellen Verwirrungsgefahr vager Analogien in den Künsten und behauptete, daß die meist von Walzel inspirierten Vergleichungsversuche und Analysen nur selten dem krassen Dilettantismus auswichen und fast nie zu wertvollen methodologischen oder interpretatorischen Einsichten gelangten. 21 Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Schwesterkünsten, die als Schnittmenge sowohl aus der literaturwissenschaftlichen wie aus der musikwissenschaftlichen Perspektive genannt werden. Musik und Literatur korrespondieren zunächst durch ihre Bezogenheit auf eine klangliche Erscheinungsform. Noch stärker als die Alltagssprache gleicht die »Dichtersprache« 22 hierin der Musik. Hörbar gemachte Ton- und Wortkunstwerke besitzen so eine nie definitive Gestalt: Die Performanz kann in beiden Bereichen immer nur eine Annäherung an die intendierte Fassung sein. 23 Selbst das Drama bzw. dramatisierte Literatur kann sich jedoch auch in der reinen Schriftform verbreiten, während bei der Musik nahezu eine

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sophische Vorträge der Kantgesellschaft. Band 15). Walzel hat diese Studie einige Jahre später weiter ausgebaut: Oskar Walzel: Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. WildparkPotsdam 1929 (= Handbuch der Literaturwissenschaft [ Band 1]. Im folgenden zitiert als: Oskar Walzel: Gehalt und Gestalt im Kunstwerk). Kurt Wais: Symbiose der Künste. Forschungsgrundlagen zur Wechselberührung zwischen Dichtung, Bild- und Tonkunst, Stuttgart 1937, wieder abgedruckt in: Ulrich Weisstein (Hrsg.): Literatur und bildende Kunst. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Berlin 1992. S. 34–53. Wais zitiert hier Oskar Walzel: Gehalt und Gestalt im Kunstwerk. S. 273. René Wellek: The Parallelism between Literature and Arts. In: English Institute Annual 1941. S. 29–63. Übereinstimmend Steven Paul Scher: Einleitung: Literatur und Musik – Entwicklung und Stand der Forschung. In: Ders. (Hrsg.): Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Berlin 1984. S. 9–26, der S. 18 beispielhaft einige Analogiestudien zum Thema Kleist und die Musik bis 1940 nennt. Die Unterscheidung zwischen einer Dichtersprache und einer Darstellungssprache entstammt der Terminologie Roman Jakobsons. Roman Jakobson: Die Arbeit der sogenannten »Prager Schule«. In: Selected Writings. Volume II: Word and Language. The Hague, Paris 1971. S. 547– 550. Hier S. 550. Es sei darauf hingewiesen, daß die Musik hier nicht als Zeichensystem mit der Sprache, sondern als ästhetisches System mit der Literatur verglichen wird. Semiotische Aspekte werden, wo es sich anbietet, in Fußnoten angemerkt. Will man die Unterscheidung der literaturwissenschaftlichen Sprechakttheorie zwischen Performativität und écriture anwenden, ist der Schriftsteller mehr der écriture verhaftetet, die Musik ist dagegen stärker Performativkunst. Entsprechend gibt es im Bereich der Literatur mehr Raum für die Spekulation über eine beabsichtigte klangliche Gestalt. Es sei jedoch darauf hingewiesen,