Die musikkritischen Schriften von Paul Dukas

Bonner Schriften zur Musikwissenschaft 9 Die musikkritischen Schriften von Paul Dukas Bearbeitet von Dominik Rahmer 1. Auflage 2010. Buch. 236 S. H...
Author: Frieda Simen
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Bonner Schriften zur Musikwissenschaft 9

Die musikkritischen Schriften von Paul Dukas

Bearbeitet von Dominik Rahmer

1. Auflage 2010. Buch. 236 S. Hardcover ISBN 978 3 631 59927 3 Format (B x L): 14,8 x 21 cm Gewicht: 470 g

Weitere Fachgebiete > Musik, Darstellende Künste, Film > Musikwissenschaft Allgemein > Sachbuch, Musikführer, Musikkritik

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i. einleitung

Das Musikleben in Paris in den Jahren 1871 bis 1914 zählt zweifellos zu den vielschichtigsten und ereignisreichsten Phasen der französischen Musikgeschichte. Zeitlich relativ genau eingrenzbar durch die politisch, gesellschaftlich und kulturell zäsursetzenden Ereignisse des deutsch-französischen Krieges 1870/ 71 und des Ausbruchs des 1. Weltkriegs, stellen die knapp 50 Jahre eine produktive und künstlerisch vielfältige Blütezeit dar, unter deren Protagonisten sich Namen wie Camille Saint-Saëns, César Franck, Gabriel Fauré, Jules Massenet, Claude Debussy oder Maurice Ravel in den Kanon jener Komponisten eingeschrieben haben, die auch heute einem breiten Publikum jenseits der Fachwelt bekannt sind. Doch auch für eine Musikhistoriographie, die über Einzelpersönlichkeiten hinaus das musikalische Leben, Denken und Schaffen in möglichst breitem Umfang erkunden will, bietet dieser Zeitraum eine nahezu unüberblickbare Vielfalt von ästhetischen Debatten und Polemiken, skandalauslösenden Aufführungen und Ereignissen, von kompositorischen Neuerkundungen und kulturellen Wechselbeziehungen. So standen über Jahrzehnte hinweg die Feuilletons, die Programmpolitik der Opernhäuser als auch das kompositorische Schaffen unter dem tiefen Eindruck der Musik und der Kunsttheorien Richard Wagners, dessen überaus komplexe und vielgestaltige Rezeption in Frankreich unter dem Schlagwort des wagnérisme ein eigenes Kapitel Musikgeschichte (und Literaturgeschichte) geschrieben hat. Die politisch-kulturelle Rivalität zu Deutschland hatte Einfluß auch auf die musikalischen Diskurse, wobei sich politische Gegnerschaft und Anerkennung der künstlerischen Leistungen nicht ausschlossen: es war die gerade Vorbildfunktion der symphonischen und kammermusikalischen Werke der deutschen Klassik und Romantik, die in Frankreich in Absetzung von der traditionellen Prädominanz der Oper eine Art Renaissance der Instrumentalmusik initiierte. Dies zeigte sich auf kompositorischer ebenso wie auf organisatorischer Ebene: durch ein wachsendes Interesse der Komponisten an Gattungen wie Symphonie, symphonischer Dichtung und Kammermusik, andererseits durch Institutionen, die sich der Aufführung und Verbreitung klassischer Werke widmeten und – wie die 1871 gegründete Société nationale de musique – auch dem zeitgenössischen

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französischen Schaffen ein Forum boten. Neben diesem Bemühen um eine nationale Selbstfindung und Erneuerung in der aktuellen kompositorischen Produktion stand die Rückbesinnung auf die nahezu vergessene Musik jenseits der Wiener Klassik und des 19. Jahrhunderts. Bach, Couperin und Rameau, Werke der französischen Renaissance und selbst des Mittelalters wurden für Konzerte und Druckausgaben erschlossen. Nicht zufällig fällt auch in diese Zeit der Beginn einer eigenständigen französischen Musikforschung: 1904 erhielt Romain Rolland an der Sorbonne den ersten Lehrstuhl für Musikgeschichte in Frankreich.1 Neben der wissenschaftlichen Forschung und ihren Publikationen stehen die tagesaktuellen Debatten der Musikkritik in den vermehrt gegründeten musikalischen Fachperiodika und den zahllosen Tageszeitungen und Zeitschriften, deren Quantität und Vielfalt zur Zeit der Belle Époque einen bis dahin nicht gekannten Höhepunkt erreichte.2 War die Mehrzahl der Kritiken auch von nicht übermäßig hohem fachlichen Niveau und spiegelte die polemische Parteinahme oder die ungenügende musikalische Ausbildung ihrer Autoren wider, so bildete sich doch zum Ausgang des 19. Jahrhunderts eine ernstzunehmende Fachkritik heraus, die das musikalische Geschehen reflektiert und inhaltlich fundiert zu kommentieren vermochte.3 Zu den in jener Zeit angesehensten Vertretern der französischen Musikkritik zählt auch der Komponist Paul Dukas (1865–1935), der 13 Jahre lang, von 1892 bis 1905, regelmäßig in Konzertbesprechungen und Essays das musikalische Leben seiner Zeit analysierte und sich damit Achtung bei den unterschiedlichsten Vertretern aus dem breiten Spektrum des französischen Musiklebens verschaffte. Romain Rolland, dessen auf Neutralität und Ausgewogenheit bedachten Urteilen besonderes Gewicht zukommt, hob in seiner Darstellung der Musikstadt Paris um 1900 Dukas bezeichnenderweise nicht nur als Komponisten, sondern auch als Musikdenker heraus: »Er besitzt einen reichen, scharfsinnigen Geist, ist gleichzeitig einer der ersten Musik-

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Vgl. Stenzl, Verspätete Musikwissenschaft in Frankreich und Italien, S. 288. Vgl. dazu La Belle Époque des revues, insbesondere die Einleitung von Michel Leymarie; er konstatiert « l’expansion, le foisonnement, la prolifération des revues» und zieht das Resümee: « […] cette Belle Époque apparaît donc en France comme celle de la belle époque des revues, alors que triomphe la République » (S. 9 f.). Zur Pressevielfalt vgl. auch Arbour, Revues littéraires éphémères. Vgl. das Kapitel »Presse und Musikkritik« bei Trillig, Rezeption Claude Debussys, S. 85–188; ähnlich Goubault, Critique musicale, S. 25–84.

kritiker unserer Zeit […]« 4. Dukas’ musikalischer Sachverstand, sein historisches Wissen und kritisches Urteilsvermögen sicherten ihm dabei schon sehr früh die Anerkennung etablierter und namhafter Komponisten aus seiner Lehrergeneration, wie etwa Camille Saint-Saëns, Vincent d’Indy, Gabriel Fauré oder Ernest Chausson.5 So berief d’Indy 1894 den erst 29jährigen in die prominent besetzte Jury eines Kompositionswettbewerbs6 – zu einem Zeitpunkt, zu dem Dukas selbst noch kaum als Komponist öffentlich in Erscheinung getreten war. 7 Als Saint-Saëns 1895 nach dem Tod von Ernest Guiraud die Aufgabe zufiel, dessen Fragment gebliebene Oper Frédégonde zu vervollständigen, vertraute er dem jungen Paul Dukas, der Schüler Guirauds am Conservatoire gewesen war, die Orchestrierung der ersten drei Akte aus den hinterlassenen Skizzen an.8 Gabriel Fauré schätzte an Dukas dessen « esprit philosophique » und fühlte sich ihm in persönlicher und künstlerischer Hinsicht eng verbunden.9 Aus der jüngeren Generation französischer Komponisten ist vor allem Claude Debussy herauszuheben, den mit Dukas eine lebenslange Freund-

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Rolland, Paris als Musikstadt, S. 65. Chausson notierte nach seiner ersten Begegnung mit Dukas im Januar 1892 in sein Tagebuch: «Depuis huit jours seulement je connais Dukas, et je sens en lui quelqu’un de vraiment intéressant.» Gallois, Ernest Chausson, S. 356. Die Wahl Dukas’ in die Jury, neben Chausson, Messager, Guilmant und Bourgault-Ducoudray, begründete d’Indy: « Paul Dukas, très bon juge, apte à tempérer les trop dramatiques indulgences de Bourgault… » Vallas, Vincent d’Indy, S.32. Nur seine Ouvertüre zu Polyeucte war in Paris zur öffentlichen Aufführung gekommen, zum ersten Mal am 24.1.1892 in der Reihe der Concerts Lamoureux (vgl. Palaux-Simonnet, Paul Dukas, S. 32–34). “He arrived back in France in May [1895] and handed over the task of orchestrating Acts One to Three to Paul Dukas, a pupil of Guiraud, for whom he had a high esteem.” Rees, Saint-Saëns, S. 316. Vgl. auch Dukas’ eigene Erinnerungen in seinem Artikel zu Guirauds Frédégonde, Écrits, S. 529f. (RHeb, 21. 12. 1895). Die Freundschaft ging v. a. auf einen gemeinsamen Aufenthalt in Lausanne 1907 zurück, von dem Fauré seiner Frau mehrfach brieflich berichtete: « Paul Dukas, – un artiste que j’estime énormément, à tous les points de vue […]» (Fauré, Lettres intimes, S. 146). « Ce Dukas gagne encore à être connu. C’est un sérieux, doué d’un véritable esprit philosophique, et de cerveau bien garni.» (Ebd., S. 150). Auch Faurés Sohn Philippe betont dessen enge Freundschaft mit Dukas: «Son dernier article fut pour saluer celui de ses cadets qu’il aimait et admirait le plus, Paul Dukas […] » (Fauré-Fremiet, Gabriel Fauré, S. 90.) « Parmi les plus jeunes compositeurs, c’est Paul Dukas qu’il aimait le mieux. Il trouvait en lui ce qu’il estimait par-dessus tout dans un homme : le savoir, la raison jointe à l’enthousiasme intérieur, l’horreur de la facilité. […] A lui seul Gabriel Fauré pouvait confier toute sa pensée, car il l’admirait sans réserve et tous deux concevaient la musique avec la même pureté et dans le même isolement de l’âme.» (Ebd., S. 115 f.)

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schaft verband10 und der bereits in der Kompositionsklasse von Guiraud die Urteilsfähigkeit seines Kameraden bewunderte. Wiederholt betonte Debussy in Briefen die Bedeutung, die er Dukas’ Kritik für sein eigenes Schaffen beimaß.11 Ein ähnliches Bild von der intellektuellen und zugleich distanzierten Persönlichkeit Dukas’ zeichnete der Komponist Alfred Bachelet, ebenfalls dessen Mitschüler am Konservatorium: « À la classe de Guiraud […] Dukas nous étonnait déjà par ses critiques sûres, mordantes, profondes, succinctes, et nous déroutait par son érudition et son esprit un peu distant […] À part sa classe de composition […] il est resté seul, dans le silence de sa tour d’ivoire, inaccessible à la curiosité des importuns, aux concessions, aux rivalités d’école […]» 12

Und auch ein Komponist wie Darius Milhaud, dem als Vertreter der jungen Generation nach dem 1. Weltkrieg die musikästhetischen Vorstellungen und Themen Dukas’ fremd geworden waren (etwa in Hinblick auf die Bedeutung Wagners für das zeitgenössische Komponieren), schätzte dessen Artikel sehr13 und legte nach eigenem Bekenntnis großen Wert auf dessen Urteil zu seinen Kompositionen.14 Eine derart breite Anerkennung mag in dem ›absichtslosen‹ Verständnis Dukas’ von Musikkritik begründet liegen, jedes Werk möglichst unvoreingenommen in seiner Eigenart ernstzunehmen und auch bei einer seiner Auffassung nach mißlungenen oder minderrangigen Komposition seine Kritikpunkte eingehend zu begründen. Dies führt dazu, daß auch scheinbar nebensächliche Artikel zu heute unbekannten Werken signifikante musikästhe-

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Der gemeinsame nahe Bekannte und Musikkritiker Robert Brussel hat dieser Freundschaft einen Aufsatz mit vielen privaten Erinnerungen gewidmet (Brussel, Debussy et Dukas). Als Beleg seien vier Stellen aus Briefen von Debussy an Dukas angeführt: « […] je suis fier de l’article sur les Nocturnes. Puis-je vous dire que du silence latent de votre plume, plus habituellement sonore, monte une force persuasive due à une espèce de collaboration virtuelle à peu près unique. Mais, d’être une intelligence au service d’une infinie compréhension, est un luxe qui vous est familier […] » Debussy, Correspondance, S. 585. « […] vous, dont le cerveau me paraît avoir d’un mécanisme d’acier le froid, le bleu et l’imperturbable volonté, ce qui vous assure, maintenant et plus tard, un ascendant impérieux sur ce siècle […] » Ebd., S. 586. « […] il est presque inutile de dire tout le prix que j’attache à vos critiques aussi bien qu’à votre encouragement. » Ebd., S. 186. « On a dit quelque part ‹ Comprendre c’est égaler ›… Jamais cela ne se trouvera plus complètement justifié que dans votre ‹ essai › sur Pélléas ! » Ebd., S. 657. Courrier musical et théâtral 1./15.6.1935 (Nr. 10/11), S.169. Rostand, Gespräche mit Darius Milhaud, S. 88. « Je lui ai toujours envoyé toute ma musique imprimée depuis [1911, als er Dukas’ Orchesterklasse am Conservatoire besuchte] et il prenait la peine de me formuler par lettre de très judicieuses critiques. » Milhaud, Notes sans musique, S. 39.

tische Überlegungen und allgemeinere Erörterungen von übergeordnetem Interesse enthalten.15 Häufig eröffnet Dukas seine Kritiken mit ausführlichen Hintergrundinformationen zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Werks – in einem Maße, daß seine Konzertbesprechungen bisweilen zu kleinen Musikgeschichtsdarstellungen mutieren, denen zwei knappe Sätze zum eigentlichen Anlaß nachgestellt sind. Nur selten finden sich in Dukas’ Kritiken längere Betrachtungen zur Inszenierung oder künstlerischen Interpretation,16 meist beschränkt er sich auf die Nennung der Ausführenden im letzten Absatz des Artikels. Daneben widmet sich Dukas auch häufig allgemeineren Fragestellungen oder diachronen musikgeschichtlichen Überblicken – viele Essays tragen Titel wie « La musique et la littérature », « La musique russe », « Musique et Comédie », « Les théâtres et l’acoustique », « La musique et l’originalité », « Les notes et la musique » oder « Le Faust de Gœthe et la musique ».17 Die Offenheit für Neues, die Dukas in seinen Kritiken an den Tag legt, spiegelt sich auch in seinem großen Interesse an Uraufführungen oder Darbietungen ihm unbekannter Werke wider. Als etwa (der von ihm hoch geachtete) Richard Strauss 1903 in Paris ein Konzert mit eigenen Werken dirigierte, die Dukas aber schon gehört hatte, bevorzugte er eine gleichzeitig stattfindende Aufführung mit unbekannter zeitgenössischer polnischer Symphonik.18 Dukas genügte es dabei nicht, nur die Werke kennenzulernen, die öffentlich aufgeführt wurden, und somit von der Repertoiregestaltung der Pariser Orchester und Theaterhäuser – die er in seinen Artikeln oft als einseitig und konservativ kritisierte19 – abhängig zu sein. So verschaffte er sich 15

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Dieses Charakteristikum hob auch der Komponist und Musikhistoriker Maurice Emmanuel hervor: « On est ébloui lorsque, à propos d’un ouvrage parfois insignifiant, il fuse tout à coup en généralisations transcendantes […] ». Zit. nach Favre, Paul Dukas [1948], S. 26. Am ehesten noch bei Werken Wagners, insofern Dukas deren dramatisch-musikalische Einheit durch eine unverständige Interpretation besonders gefährdet sah, wie sich z. B. in dieser Konzertbesprechung zeigt: « Mlle Marcy est sans doute une chanteuse agréable et déjà expérimentée, mais, comme Valkyrie, c’est un peu une Valkyrie de salon. Il faut d’ailleurs beaucoup moins chanter que déclamer en cette péroraison du Crépuscule des Dieux et l’art du chant y est moins nécessaire qu’une entière possession du rôle, et qu’une accentuation dramatique intelligente appuyée sur une étude approfondie du drame que cette scène [finale] résume et conclut. » RHeb, 14. 4. 1894, S. 304 f. Vgl. dazu das Verzeichnis der Schriften Dukas’ im Anhang. ChronArt, 4. 4. 1903, S. 113 f. So beklagt er im Januar 1895 « la monotonie des théâtres, figés dans leur répertoire, et des concerts dont les programmes se suivent et se ressemblent.» Écrits, S.242 (RHeb, 26.1.1895). Ebenso greift er die konservative Programmgestaltung der Opéra an: « N’est il pas désolant

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durch Partiturstudium einen Überblick über (in Paris) unbekanntere Werke der älteren und aktuellen Musikliteratur20 und nutzte seine Artikel häufig dazu, um auf wenig beachtete Stücke – wie etwa die Lieder Franz Schuberts 21 – hinzuweisen, oder um sich dafür einzusetzen, daß jüngere Komponisten eine Gelegenheit zur Aufführung ihrer Werke an der Oper oder im Konzertsaal erhielten. Daß er sich dabei gleichermaßen für so unterschiedliche Künstler wie Claude Debussy und Gustave Charpentier verwandte,22 ist beredter Ausdruck seiner Neutralität hinsichtlich der divergierenden Stile und Musiksprachen der zeitgenössischen Komponisten. Dukas hielt stets Distanz zur erhitzten Polemik aktueller Parteienstreitigkeiten, ohne dabei in eine indifferente oder auf Harmlosigkeit bedachte Haltung zu verfallen. Negative Kritiken, argumentativ begründet und mit gelegentlicher ironischer Schärfung auf den Punkt gebracht, oder engagierte Appelle zur Beseitigung von künstlerischen Mißständen finden sich zahlreich in seinen Schriften – verletzender Sarkasmus, effektvoll formulierte Verrisse oder gar kalauernde Musikglossen im Stile Willys sind ihm hingegen fremd.

de constater que rien dans le répertoire de l’Opéra ne représente ce grand mouvement dont les œuvres de Gluck demeurent l’expression la plus géniale et la plus caractéristique ? N’est-il pas inconcevable qu’on laisse ainsi dans l’oubli des opéras qui devraient être joués aussi couramment que les œuvres de Molière le sont à la Comédie-Française. » RHeb, 27. 8. 1892, S. 624 f. 20 « S’il nous fallait demander exclusivement aux concerts et aux théâtres des motifs à réflexions et à considérations critiques, nous risquerions de négliger, comme malheureusement on l’a trop fait jusqu’ici, d’importantes branches de l’art musical.» Écrits, S. 241 (RHeb, 26.1.1895). 21 « Les lieder de Franz Schubert », Écrits, S. 241–245 (RHeb, 26. 1. 1895). Ebenso plädierte er für die in seinen Augen längst überfällige Uraufführung von Berlioz’ Oper La Prise de Troie: « […] je crois l’occasion propice de réclamer une fois encore, à propos de cette centième de la Damnation de Faust, la première de la Prise de Troie, qu’aucun théâtre, en France, n’a encore osé monter depuis Berlioz l’a écrite, et dont la partition d’orchestre n’est même pas gravée ! » ChronArt, 17. 12. 1898, S. 363. 22 « M. Carvalho [der gerade verstorbene Direktor der Opéra-Comique] nous avait promis Louise, de M. Gustave Charpentier, nous voulons Louise, dont on parle depuis près de cinq ans […] Certes, je ne connais pas toutes les partitions qui dorment dans des cartons, mais j’en sais une au moins, complètement terminée, aussi riche de pensée et de forme qu’intense par le sentiment poétique. Et voici déjà plusieurs années qu’elle existe. Assurément j’en pourrais citer d’autres. Pour aujourd’hui, ne voulant dresser aucune liste, je me borne à signaler à M. Carré [der Nachfolger Carvalhos] le Pelléas et Mélisande, de M. Claude Debussy. » RHeb, 12. 2. 1898, S. 273.

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Historischer Überblick Als im Mai 1892 seine erste Konzertkritik gedruckt wurde, war Paul Dukas ein junger und in der Öffentlichkeit noch so gut wie unbekannter Komponist. Zum Abschluß seines Studiums am Pariser Conservatoire, das Dukas von 1884/85 bis 1889 besuchte, gelang es ihm nicht, den renommierten Rompreis zu erringen, trotz zweimaliger Teilnahme am Wettbewerb mit den Kantaten Velléda bzw. Sémélé.23 Seine Ouvertüren zu Roi Lear und Gœtz de Berlichingen ließ er unveröffentlicht, die Ansätze zu Dramen blieben Fragment. Allerdings besaß er das Vertrauen einiger einflußreicher Komponisten wie Camille Saint-Saëns, der ihn 1889 nach dem erneuten Scheitern beim Rompreis-Wettbewerb ausdrücklich dazu ermutigte, eine Laufbahn als freier Komponist einzuschlagen.24 Einen ersten künstlerischen Erfolg verzeichnete Dukas mit der positiv aufgenommenen Premiere seiner Ouvertüre Polyeucte am 24. Januar 1892 unter Charles Lamoureux, der ersten öffentlichen Aufführung eines seiner Werke überhaupt.25 Im Januar bzw. Mai 1897 errang Dukas dann mit den Uraufführungen der C-Dur-Symphonie und vor allem des Apprenti Sorcier große Bekanntheit und Anerkennung beim Publikum. Die Tatsache, daß Dukas also von Beginn an beide Karrieren als Kritiker und Komponist parallel zueinander und mit gleicher Ernsthaftigkeit verfolgte, unterscheidet ihn von Musikerkollegen, die erst spät und als bereits renommierte Komponisten auch um schriftliche Beiträge gebeten wurden – so beispielsweise Gabriel Fauré, der auf äußeren Wunsch hin für die Tageszeitung Le Figaro ab 1903 (d. h. knapp 60jährig) Musikkritiken verfaßte,26 aber persönlich keine besonders ausgeprägte Neigung zum Schreiben verspürte. Seine erste Tätigkeit als Musikkritiker begann Dukas bei der im Mai / Juni 1892 vom namhaften Verlagshaus Plon neugegründeten Revue Hebdomadaire. Diese literarische Wochenzeitschrift mit dem programmatischen Untertitel Romans – Histoire – Voyages veröffentlichte im Taschenbuchformat auf 160

Den Rompreis (« Premier Grand Prix ») 1888 erhielt Camille Erlanger, Dukas wurde der « Second Grand Prix » zugesprochen. Bei seiner erneuten Teilnahme 1889 wurde kein erster Preis vergeben. Dukas führte rückblickend seine Zurücksetzung – trotz der starken Unterstützung durch Saint-Saëns – auf seine Affinität zu Wagners Musik zurück, die zu dieser Zeit am Conservatoire verpönt war (Correspondance, S. 30). Die folgenden Daten nach PalauxSimonnet, Paul Dukas. 24 So die Darstellung von Brussel, Paul Dukas [1911], S. 27. 25 Vgl. Palaux-Simonnet, Paul Dukas, S. 32–34. 26 Vgl. die Erinnerungen seines Sohnes Philippe in Fauré-Fremiet, Gabriel Fauré, S. 87–91. 23

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Seiten eine Auswahl aus Reiseberichten, biographischen Erinnerungen, Fortsetzungsromanen und Gedichten; zu den Autoren gehörten etwa Émile Zola, Gabriele d’Annunzio, Anatole France, Alphonse Daudet, Pierre Loti, Paul Bourget und Marcel Prévost. Rubriken wie « Beaux-Arts », « Chronique théâtrale », « Chronique musicale » oder « Chronique politique » berichteten von aktuellen kulturellen und politischen Ereignissen. Dukas betreute von der ersten Nummer an die feste Rubrik der « Chronique musicale » und besprach im ca. zweiwöchentlichen Turnus auf acht bis zehn Seiten, also in relativ großem Umfang, Konzerte und Opernaufführungen. Die Revue Hebdomadaire, die sich Stellungnahmen zu tagespolitischen Angelegenheiten weitestgehend enthielt, kann mit der Revue des Deux Mondes, La Nouvelle Revue oder der Revue Bleue zu den gemäßigten und republikanisch orientierten Kulturzeitschriften gerechnet werden und genoß schon bald nach der Gründung eine hohe Reputation.27 Ab 1894 weitete Dukas seine Tätigkeit aus und schrieb zusätzlich für die Gazette des Beaux-Arts, die wohl bedeutendste französische Kunstzeitschrift der Epoche,28 beziehungsweise für deren wöchentlich erscheinendes Supplement, die Chronique des Arts et de la Curiosité, die ergänzend zu den eher kunsthistorischen und ausführlicher angelegten wissenschaftlichen Aufsätzen der Gazette vom kulturellen Tagesgeschehen berichtete. In der Gazette des Beaux-Arts selbst wurden – wohl aufgrund der hauptsächlichen Ausrichtung auf bildende Kunst und Architektur – in der Zeit von 1894 bis 1902 nur acht Aufsätze Dukas’ zu besonderen Anlässen publiziert, davon allein fünf anläßlich Pariser szenischer Erstaufführungen von Werken Wagners sowie Besprechungen von Beethovens Fidelio, Verdis Otello und Bachs h-MollMesse.29 Die Artikel für die Chronique des Arts im Umfang von ca. zwei Spalten erschienen in der festen Rubrik « Chronique musicale », die zuvor von einem Kunstkritiker nebenher mitbetreut worden war.

Vgl. das Resümee von Jean-Yves Mollier in La Belle Époque des revues: « […] la Revue des Deux Mondes, La Revue de Paris, La Nouvelle Revue, la Revue Bleue, la Revue Politique et Parlementaire ou La Revue Hebdomadaire qui apparaissent, vers 1900, comme les plus prestigieux périodiques politiques et culturels. » (S. 47) sowie den Beitrag von Gilles Le Béguec, Revues de la mouvance modérée, La Belle Époque des revues, S. 179–193. 28 Trillig, Rezeption Claude Debussys, S. 95. 29 Vgl. auch das Schriftenverzeichnis im Anhang A. 27

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Bemerkenswert ist, daß Dukas in den Jahren 1892 bis 1905 weder für Musikzeitschriften noch für Tageszeitungen30 schrieb; die beiden bzw. drei Zeitschriften, für die er arbeitete, richteten sich an einen literarisch-künstlerisch interessierten Leserkreis und hatten eine weniger große Verbreitung.31 Möglicherweise war für Dukas ausschlaggebend (sofern es sich um eine bewußte Wahl des Publikationsforums handelte, die nicht nur durch äußere Umstände bestimmt wurde32), daß er unter geringerem Termindruck als in der Tagespresse schreiben konnte und ihm mehr Raum für längere Erörterungen zur Verfügung stand (insbesondere in der Revue Hebdomadaire), selbst wenn die Reichweite seiner Artikel dadurch begrenzter blieb. Weshalb Paul Dukas 1905 seine Tätigkeit als Musikkritiker gänzlich einstellte (bereits im November 1901 beendete er die Mitarbeit bei der Revue Hebdomadaire), ist aufgrund der schmalen biographischen Datengrundlage kaum eindeutig zu klären. Ein einfacher Grund mag der zunehmende Zeitmangel aufgrund der Beschäftigung mit seinem großen Opernprojekt Ariane et Barbe-Bleue sein, an dem er seit 1899 arbeitete und das ihn bis zur Vollendung und Uraufführung 1907 in Anspruch nahm.33 In der Folge bekleidete Dukas auch offizielle Posten, die ihm (neben dem Komponieren, das er trotz sehr spärlicher Veröffentlichungen bis zum Lebensende nicht aufgab)34 wenig Zeit für publizistische Tätigkeiten ließen: 1909 bis 1912 leitete er die Orchesterklasse am Pariser Conservatoire, ab 1910 visitierte er als staatlicher Schulinspektor die Musikschulen des Landes, 1928 übernahm er die Leitung einer Kompositionsklasse am Conservatoire.35 Daneben befaßte er sich mit editorischen Aufgaben wie der Herausgabe von Werken Rameaus, Beethovens und Scarlattis. Möglicherweise war Dukas im Laufe seiner musikkritischen Tätigkeit auch zur pessimistischen Sichtweise gelangt, daß das Erklären und Beschreiben von Musik prinzipiell von geringem Nutzen sei und 30 31 32 33

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Mit der einzigen Ausnahme eines Artikels im Figaro (Nov. 1903) zum Gedenken an Ernest Chausson (Écrits, S. 592–597). Trillig, Rezeption Claude Debussys, S. 205. Im Kapitel 5 werden auf Basis persönlicher Dokumente die biographischen Hintergründe ausführlicher dargelegt. Eine ähnliche Vermutung äußert Palaux-Simonnet, Paul Dukas, S. 62: « Après de longues années de silence, Paul Dukas ne reprendra ses activités de critique musical qu’en 1923. C’est qu’en ce début de siècle, outre les chroniques, le compositeur a plusieurs fers au feu. » Dukas verbrannte kurz vor seinem Tod alle unpublizierten Manuskripte und Skizzen, darunter laut Robert Brussel eine zweite Symphonie, eine Violinsonate, eine Oper und weitere symphonische Werke (Brussel, Sur le chemin du souvenir, S. 25). Daten nach Palaux-Simonnet, Paul Dukas, S. 85, 87, 111.

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nur wenig bildenden Einfluß auf das Publikum habe.36 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Erinnerung von Jacques Rouché, dem Direktor der Grande Revue, der von seinem vergeblichen Versuch berichtet, Dukas 1917 als Kritiker für seine Zeitschrift zu gewinnen: « Vous tombez mal, me répondit-il, je viens d’écrire des articles sur la musique dans une autre revue et j’abandonne, je n’ai plus rien à dire… notre action sur le public est trop médiocre ! Sur l’escalier […] il ajouta : ‹ D’ailleurs… une critique musicale est-elle bien nécessaire ? › » 37

Eine vergleichbare publikumskritische Haltung zeigt sich bereits in einem Interview aus dem Jahr 1912, in dem Dukas vom Ideal einer ›elitären‹ Musik spricht, die sich nicht um den Massengeschmack zu kümmern brauche. 38 (Hier besteht eine große gedankliche Nähe zu Claude Debussy, der Musik als exklusive Kunst, ja als « alchimie musicale » betrieben denn popularisiert wissen wollte.39) Allerdings zog sich Dukas nicht nur aus dem öffentlichen Forum des Feuilletons zurück, sondern versagte selbst befreundeten Komponisten ausführlichere Kommentare zu deren Werken.40 Die kurzzeitige Wiederaufnahme seiner musikkritischen Tätigkeit ab 1923 ist nicht als echtes ›Comeback‹ aus eigenem Antrieb zu verstehen, sondern entsprang vielmehr dem Gefühl einer Art ›moralischen Verpflichtung‹, wie Dukas explizit in einem Brief an den befreundeten Verleger Jacques Durand zum Ausdruck brachte.41 Seine Mitarbeit bei der im Februar 1923 neugegrün36

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Ansätze zu dieser Einstellung lassen sich bei Dukas schon früh nachweisen: « Ce que le public cherche au spectacle, c’est une distraction, simplement, et l’agrément que lui apportent les œuvres médiocres, de moyenne envoyée et de goût bourgeois.» ChronArt, 17. 6. 1899, S. 212. PDRM, S. 102. “But I do not think that our modern French music is of a popular kind […] Our music is written rather for the elect. I do not think it ever could become popular. I do not think we want it to. After all, popularity is not an evidence of merit.” An Interview with Dukas, S. 23. Vgl. Groth, Claude Debussy, S. 25. Vgl. seinen Brief an Guy Ropartz vom 12. 11. 1906: « Personnellement, j’ai beaucoup goûté la forte architecture et la sobre exécution de votre troisième symphonie. Mais je ne puis en deux mots vous faire une critique d’une œuvre aussi vaste, d’autant que j’ai perdu l’habitude d’en faire, n’écrivant plus depuis longtemps [!] de chroniques d’aucune sorte. Contentez-vous de mes éloges. » (Correspondance, S. 54.) Dukas’ letzte Kritik in der Chronique des Arts lag zu diesem Zeitpunkt nicht einmal ein Jahr zurück. « Cher ami je suis ravi que mon article sur Lalo [Revue Musicale, März 1923] vous ait plu, et votre amical suffrage me fait grand plaisir au double point de vue de la musique et de l’affection. Vous lirez sans doute encore de ma prose, Mr Prunières [Direktor der Revue Musicale] semblant tenir beaucoup, d’une part, à ma collaboration un peu assidue, et de l’autre, un journal qui va paraître (le Quotidien) m’ayant fait des propositions telles que la dureté des temps m’interdit en quelque sorte moralement le droit de les écarter. Mais il s’agira là de

deten republikanischen Tageszeitung Le Quotidien währte nur ein Jahr und beschränkte sich platzbedingt auf relativ kurze Artikel zu aktuellen Opernproduktionen, die hauptsächlich die Handlung referierten und weiterführenden musikalischen Reflexionen so gut wie keinen Raum ließen. Auch die wenigen Artikel für die Revue Musicale stellten überwiegend Erinnerungen und persönliche Nachrufe auf befreundete Komponisten (Vincent d’Indy, Gabriel Fauré, André Messager, Charles Bordes) dar. Die bedeutendste Schrift aus jener Zeit ist sicherlich der Essay « L’influence wagnérienne » 42, den Dukas 1923 als Beitrag zum Sonderheft « Wagner et la France » der Revue Musicale verfaßte, und der in seiner souverän resümierenden Gesamtschau und argumentativen Differenziertheit als gelassenes Schlußwort des französischen Wagnérisme angesehen werden kann.

Quellenlage Das vollständige Korpus der Schriften Paul Dukas’, mit dem sich diese Arbeit befaßt, ist mit insgesamt rund 400 Kritiken und Essays sehr umfangreich. Dukas selbst scheint eine Wiederveröffentlichung seiner Schriften, die er ironisierend als « proses fugitives »43 bezeichnete, nie in Erwägung gezogen zu haben, wenngleich ihn eng befreundete Personen wie Gabriel Fauré zu einer solchen Anthologie zu bewegen versuchten.44 Nach Dukas’ Tod 1935 simples compte-rendus et non d’études un peu poussées comme celle qui vient de paraître à la Revue musicale. Heureusement ! » Correspondance, S. 139. 42 Wiederabgedruckt in Écrits, S. 655–662, sowie in einer dt. Übersetzung bei Mack, Richard Wagner, S. 66–74. 43 In einem Brief an seine Schwägerin Marie-Louise Pereyra schreibt Dukas 1923: « Je vous remercie d’avoir pris la peine de me retourner mon article sur Padmâvati par un excès de scrupule dont je ne puis vous blâmer mais qui, en l’espèce, était… excessif. Je ne collectionne pas ces ‹ proses fugitives ›, et une fois lue, vous n’aviez qu’à le mettre au panier comme je l’ai fait. » Correspondance, S. 140. 44 “We are taking infinite pleasure, Mme. Hasselmans and I, in re-reading your old articles for La revue hebdomadaire. No, you simply don’t realize just how remarkable, instructive, and zesty they are. We wish you would take stock of their importance, their value, and the useful purpose that would be served if you took the trouble to bring them together in a book and publish them. I defy you to tell me who, during the past twenty-five years, has spoken more learnedly and pleasantly of music and has presented more novel insights in a more personal form.” Brief von Fauré an Dukas vom 30.7.1923, Yale University, Music Library, MS. 287 (engl. Übersetzung zit. nach Caballero, Fauré and French musical aesthetics, S. 79). Auch Gustave Samazeuilh berichtet von den « fréquentes sollicitations de ses amis » nach einer Neuausgabe seiner Schriften (Écrits, Vorwort S. 15).

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plädierten seine Schüler und Freunde wiederum für eine Neuausgabe der Kritiken. Gustave Samazeuilh, der auch das umfangreiche Gesamtverzeichnis der Schriften Dukas’ kompilierte,45 äußerte in seinem Nachruf auf Dukas 1935 die Hoffnung auf eine Gesamtausgabe in mehreren Bänden.46 Dieses Projekt wurde direkt nach dem Krieg in kleinerem Umfang als geplant in der einbändigen, nur eine Auswahl umfassenden, dennoch immerhin rund 700 Seiten starken Ausgabe Écrits sur la musique verwirklicht, die Samazeuilh in Zusammenarbeit mit Dukas’ Witwe47 1948 herausgab und die bis heute die Referenzausgabe und wichtigste Quellensammlung darstellt. 48 Die Écrits sur la musique zielten mit ihrer Textauswahl, die nur ein gutes Viertel aller Kritiken – oft auch gekürzt – umfaßt, offensichtlich auf eine breitere musikinteressierte Leserschaft; so sind Themen wie Wagner und Debussy wesentlich prominenter vertreten als Kritiken zu heute weniger bekannten Werken und Autoren, auch wurde die Häufung von Artikeln zu einzelnen Komponisten und Doppelungen vermieden.49 Um ein möglichst unverzerrtes Bild von Dukas’ Schrifttum zu erhalten, war es daher nötig, zu den originalen Quellen zurückzugehen und auch die nicht wiederveröffentlichten Artikel von Dukas in vollem Umfang zu sichten. Die beiden mit Abstand wichtigsten Publikationsorgane sind dabei die Revue Hebdomadaire und die Chronique des Arts et de la Curiosité, in denen etwa neunzig Prozent aller Kritiken Dukas’ erschienen. Die Darstellungen in der vorliegenden 45 46

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PDRM, S. 124–136. Diese detaillierte Aufstellung diente als Grundlage für das Schriftenverzeichnis (mit Korrekturen und Ergänzungen d. Verf.) im Anhang dieser Arbeit. « […] qu’une maison d’édition puisse être trouvée, qui permette, par la publication de plusieurs volumes, de donner toute sa portée à une divulgation qu’attendent tous les amis de la musique. » Samazeuilh, Musiciens, S.176; auch in PDRM, S. 54. Das gleiche Desiderat formulierte der Religionsphilosoph Gabriel Marcel in seinem Nekrolog auf Dukas: « Ce qui en tout cas s’imposera, c’est la publication en volume de tant d’articles qu’il publia naguère dans la Revue Hebdomadaire, dans la Chronique des Arts, et ailleurs encore. Car ce très grand musicien fut en même temps un critique d’une sagacité, d’une équité exceptionnelles […] » Marcel, Paul Dukas, S. 160. Suzanne Dukas besorgte 1946 die Auswahl der Texte, verstarb allerdings noch vor Erscheinen des Bandes im Februar 1947 (vgl. Écrits, Vorwort S. 9; Perret/Ragot, Dukas, S. 381 f.). Die neuere, 1980 erschienene Sammlung Paul Dukas: Chroniques musicales sur deux siècles 1892–1932 stellt nur einen auszugsweisen Wiederabdruck der Edition Samazeuilhs dar und bietet auch im Vorwort des Herausgebers Jean-Vincent Richard keine neuen Informationen, weshalb sie für diese Arbeit nicht herangezogen wurde. Einige weitere Artikel, die nicht in den Écrits enthalten sind, wurden von Georges Favre, einem Schüler und späteren Biographen Dukas’, in verschiedenen Zeitschriften mit einem kurzen Einführungstext wiederabgedruckt (vgl. Literaturverz.). Vgl. Samazeuilhs Vorwort zu den Écrits, S.15 f.

Arbeit stützen sich daher hauptsächlich auf die zwischen 1892 und 1905 für diese beiden Zeitschriften entstandenen Kritiken und Essays, die nicht nur quantitativ, sondern auch inhaltlich den wesentlichen Teil von Dukas’ Schriften konstituieren. Die Artikel nach 1923 sind ergänzend für Fragestellungen aufschlußreich, die sich mit Dukas’ Haltung zu den Weiterentwicklungen der Musik nach dem 1. Weltkrieg befassen. Auf dieser breiten Quellengrundlage lassen sich wesentlich differenziertere Aussagen über die Einstellung Dukas’ zu bestimmten Werken oder Komponisten treffen, als es auf Basis der Écrits allein möglich wäre. Darüber hinaus können sich, wie bereits angesprochen, auch in vordergründig unscheinbaren Rezensionen von heute vergessenen Kompositionen Erörterungen allgemeinerer Art von übergeordnetem Interesse finden. Ein weiterer Nutzen einer vollständigen Sichtung und Auswertung des Schriftenkorpus ist gewissermaßen statistischer Art, insofern sie Aufschluß geben kann über die Häufigkeit, mit der Dukas einzelne Themenkomplexe aufgreift, oder über das Verwenden (oder das Nicht-Verwenden) bestimmter Termini, etwa der zu jener Zeit virulenten Begriffe impressionnisme, néoclassicisme oder atonalité.

Forschungsbericht Ungeachtet des oben geschilderten hohen zeitgenössischen Ansehens, das Dukas gleichermaßen als Komponist und Kritiker genoß, ist die ihm gewidmete Literatur äußerst überschaubar. Unter den wenigen französischen Monographien zu Dukas sind als wichtigste die neueste umfangreiche Arbeit von Simon-Pierre Perret und Marie-Laure Ragot aus dem Jahr 2007 sowie die kürzere Studie von Bénédicte Palaux-Simonnet (2001) hervorzuheben, die hinsichtlich Detailliertheit und Umfang des herangezogenen biographischen Quellenmaterials die älteren kurzen Einführungen der Dukas-Schüler Gustave Samazeuilh und Georges Favre bei weitem übertreffen und in fast allen Belangen ersetzen.50 Keine dieser genannten Publikationen versäumt es 50

S.- P. Perret/M.-L. Ragot, Paul Dukas, Paris 2007; B. Palaux-Simonnet, Paul Dukas, Drize/Genève 2001; G. Samazeuilh, Paul Dukas, Paris 1913; G. Samazeuilh, Musiciens de mon temps, Paris 1947; G. Favre, Paul Dukas, Paris 1948. Daneben seien zwei weitere Publikationen von geringerem Interesse zum Leben und Werk Dukas’ erwähnt: die kurze Einführung von Jacques Helbé (Paul Dukas, Paris 1975), die zu großen Teilen direkt auf Favre beruht, sowie die auf Rumänisch erschienene Biographie eines ehemaligen Schülers Dukas’ am Pariser Conservatoire (Romeo Alexandrescu, Paul Dukas, Bukarest 1971).

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dabei, in einem eigenen kurzen Kapitel oder Abschnitt auf den Rang Dukas’ als Kritiker einzugehen, ohne dabei mehr als eine kleine Auswahl von Textproben zu bieten oder mehr oder weniger kommentarlos einige von Dukas positiv bzw. negativ besprochenen Werke oder Komponisten zu nennen.51 Selbst die gut 550 Seiten starke Monographie von Perret/Ragot geht nicht (auch nicht im Kapitel « Critique ou compositeur ? »52) über die Aufzählung rein biographischer Daten oder punktuelle Zitate hinaus. Neben diesen biographisch-werkanalytischen Arbeiten ist nach wie vor das 1936 erschienene Sonderheft der Revue Musicale zum Gedenken an Paul Dukas eine wertvolle Sammlung biographischer und werkbezogener Aufsätze von befreundeten Musikern, Künstlern und Kritikern, darunter inbesondere der Beitrag von Robert Brussel, der ausführlich auf Dukas’ Musikdenken eingeht.53 In deutscher Sprache hingegen ist bislang keine einzige Monographie zu Paul Dukas erschienen, und nur einige wenige Aufsätze befassen sich mit seinem (musikalischen) Werk. Dabei hat vor allem Giselher Schubert mehrfach auf Dukas’ herausragende Bedeutung als Kritiker hingewiesen und es als »unentschuldbares Versäumnis« bezeichnet, daß die Schriften des »zweifellos bedeutendsten französischen Musikdenkers der Jahrhundertwende« in Deutschland immer noch nicht angemessen rezipiert worden seien.54 Ähnlich urteilt der Musikforscher Theo Hirsbrunner: »Paul Dukas, dessen Kritiken aus jenen [1890er] Jahren zum Besten gehören, was über das französische Musikleben geschrieben wurde […]« 55 Ebenso hebt Manuela Schwartz in ihrem Personenartikel im MGG 2 die Bedeutung seiner Kritiken hervor, »deren inhaltliche Breite, kritische Ausgewogenheit, balanciertes Urteilsvermögen sowie historische Detailkenntnisse Dukas als hervorragenden und selbstsicheren Schriftsteller […] zeigen«. 56 Im Gegensatz zu diesem hohen Ansehen unter Fachkennern wird Paul Dukas unter dem Stichwort »Musikkritik« in keiner der aktuellen Auflagen 51

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Perret/Ragot, Paul Dukas, S.70–73, 77 f., 81 ff.; Palaux-Simonnet, Paul Dukas, S. 119– 130; Favre, Paul Dukas [1948], S. 92–105; Samazeuilh, Musiciens de mon temps, S. 174– 178. Perret/Ragot, Paul Dukas, Kap. 5: «Critique ou compositeur ?», S. 62–83. Brussel, Sur le chemin du souvenir, in: PDRM, S. 18–51. Schubert, Musikalische Poetik und Musiktheorie [1988], S. 227. Hirsbrunner, Mozart in Frankreich [1997], S. 82. In einem erinnernden Aufsatz anläßlich Dukas’ 100. Geburtstags 1965 hob Mario Rinaldi ebenfalls dessen Rang als Kritiker hervor: « Ha un valore Dukas critico? Certo che ne ha, specialmente se si tiene presente la data dei suoi scritti e la sua grande sincerità. » (Rinaldi, Paul Dukas oltre Debussy, S. 105.) M. Schwartz, Paul Dukas [2001], Sp. 1562.

der beiden Standard-Musikenzyklopädien angeführt. New Grove erwähnt unter dem Eintrag “Criticism” als französische Komponisten allein Berlioz und Poulenc57, der Artikel »Musikkritik« in MGG 2 nennt im Abschnitt zu Frankreich als »bedeutende frz. Kritikerpersönlichkeiten des 20. Jh.« die Namen Bellaigue, Calvocoressi, Combarieu, Goléa, Gavoty, Prunières, Rolland, Rostand sowie unter den Komponisten nur Debussy und Berlioz.58 (Es kann bei den Nennungen Debussys und Poulencs vermutet werden, daß eher die Bekanntheit als Komponist denn der Rang als Musikkritiker im Vordergrund stand.) In der französischen Musikliteratur ist die Bedeutung der Kritiken Dukas’ wesentlich präsenter, er wird als maßstabsetzender Kritiker angeführt59 und in dieser Eigenschaft auf die gleiche Stufe mit Berlioz und Schumann gestellt.60 Doch selbst in einschlägigen französischen Handbüchern wie der von Roland-Manuel herausgegebenen Histoire de la musique (Paris 1963) finden sich im sehr ausführlichen, fast 40 Seiten langen Kapitel zur Musikkritik nur zwei knappe Sätze zu Dukas’ »interessanten Kritiken«. 61 Zwar sind Dukas’ Musikkritiken in Fachkreisen durchaus bekannt und werden häufig, insbesondere in Arbeiten über Debussy oder Fauré, für einzelne Aspekte herangezogen. Doch während Arbeiten zu den Schriften seiner Zeitgenossen Louis Laloy, Paul Le Flem, Ernest Reyer oder Charles Kœchlin existieren,62 ist Dukas in seiner Rolle als Kritiker nie Gegenstand einer eigenständigen musikwissenschaftlichen Untersuchung gewesen, die sein Musikdenken in einer umfassenden Gesamtschau dargestellt hätte.63 Die einzige Studie, in der Dukas auch als Autor ein wenig ausführlicher behandelt wird, ist die Dissertation von William Moore zur Wagner-Rezeption in Dukas’ 57 58 59

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Ellis, Criticism, S. 678. Tadday, Musikkritik, Sp. 1376 f. Vgl. etwa Coronat-Faure, Critique musicale aux temps des Encyclopédistes, bzgl. des niedrigen Niveaus der Musikkritik im 18. Jh.: « Il manque donc à cette étude de la critique au dixhuitième siècle, l’équivalent du jugement d’un Paul Dukas ou d’un Hector Berlioz au dixneuvième siècle. » (S. 80.) Jean-Vincent Richard im Vorwort zu Dukas, Chroniques musicales sur deux siècles, S. 14. « Sur n’importe quel sujet, la critique de Dukas est intéressante. Fervent wagnérien, il reste fermé au génie de Verdi, il ne comprend pas Othello, le sommet du drame verdien.» Haraszti, La critique musicale, S. 1619. (Vgl. zu diesem Vorwurf Kap. 3, S. 136 f.) D. Priest, Louis Laloy [1999]; G. Bernard-Krauß, Paul Le Flem [1993]; E. Lamberton, Critical writings of Ernest Reyer [1988]; J. Woodward, Theoretical writings of Charles Koechlin [1974]. Bei der im Literaturverzeichnis von Perret/Ragot, Paul Dukas erwähnten Publikation « Les écrits de Paul Dukas sur la musique » von Marie-Laure Ragot handelt es sich um eine unpublizierte und nicht konsultierbare kürzere Hausarbeit («mémoire »).

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Oper Ariane et Barbe-Bleue und bei dem Schriftsteller Édouard Dujardin, einem engen Bekannten von Dukas.64 Moore analysiert neben ihren auf Wagner bezogenen Artikeln und der Oper selbst auch ihre langjährige Korrespondenz, in denen sich Dukas und Dujardin zur Bedeutung von Wagners dramentheoretischen Auffassungen für die zeitgenössische Oper austauschen. Eine umfangreiche kommentierte Bibliographie, in der auch entlegene Bücher und Zeitschriftenartikel mit Informationen zu Dukas aufgeführt sind, hat Frederick Minger in seiner analytischen Studie zur Klaviermusik Dukas’ zusammengestellt. 65 In einer erweiterten Perspektive sind für die französische Musikkritik um 1900 die Arbeiten von Ursula Eckart-Bäcker, Christian Goubault und Johannes Trillig zu nennen, die sich ausführlich mit den Positionen und Foren der Musikkritik in der hier betrachteten Zeit befassen und in diesem Zusammenhang auch in mehr oder weniger großem Umfang auf Dukas eingehen.66 Die früheste Arbeit aus dem Jahr 1965 von Eckart-Bäcker bietet in chronologischer Folge eine große Quellen- und Zitatsammlung aus der musikalischen Presse zu den wichtigsten Ereignissen, Entwicklungen und Streitfragen in der französischen Musik zwischen 1848 und 1914. Allerdings macht die Autorin in ihrer Darstellung meist nicht klar, wie die Relevanz und Unabhängigkeit dieser Quellen einzustufen ist, und ob sie gerade die Standpunkte der verschiedenen Kritiker referiert oder eine eigene historische Einordnung der Daten vornimmt.67 Da sie ihre Arbeit stark auf die Beiträge ›hauptberuflicher‹ Kritiker wie Arthur Pougin oder Camille Bellaigue stützt,

W. A. Moore, The significance of late nineteenth-century French Wagnérisme in the relationship of Paul Dukas and Edouard Dujardin, Ann Arbor 1986. 65 F. Minger, The Piano Music of Paul Dukas, Baltimore 1982, S. 122–156. 66 U. Eckart-Bäcker, Frankreichs Musik zwischen Romantik und Moderne. Die Zeit im Spiegel der Kritik, Regensburg 1965; C. Goubault, La critique musicale dans la presse française de 1870 à 1914, Genève 1984; J. Trillig, Untersuchungen zur Rezeption Claude Debussys in der zeitgenössischen Musikkritik, Tutzing 1983. Ergänzend dazu sei auf die Studie von Katharine Ellis (Music criticism in nineteenth-century France, Cambridge 1995) verwiesen, die sich mit einer etwas früheren Epoche der französischen Musikkritik anhand der Revue et Gazette musicale befaßt und die Entstehung einer professionellen Musikkritik in Frankreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschreibt, deren Implikationen auch für den in dieser Arbeit behandelten Zeitraum Relevanz besitzen. 67 So etwa, wenn sie von einer ›Gesundung‹ der französischen Musik spricht: »Seit den 1860er Jahren war die ›jeune école française‹ ebenso wie die 1871 gegründete Société nationale de Musique bestrebt, die nationalen Kräfte zusammenzuraffen, um die Musik gesunden zu lassen.« (Eckart-Bäcker, Frankreichs Musik, S. 234) Vgl. auch die kritische Besprechung bei Trillig, Rezeption Claude Debussys, S. 13–16. 64

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kommen als Kritiker tätige Komponisten nicht oder kaum zu Wort, wie etwa Bruneau, d’Indy, Debussy oder auch Dukas, den sie nur in einem einzigen Zitat heranzieht.68 Eine wesentlich kritischere Quellenbewertung und eine systematische Untersuchung der musikalischen Presselandschaft zur Zeit der Belle Époque leisten die Arbeiten von Trillig und Goubault, die nahezu gleichzeitig entstanden und auch in einigen Teilen Parallelen aufweisen, so etwa in den Darstellungen zur Presselandschaft um 1900 oder den Typologisierungen der verschiedenen Kritiker und Zeitschriften. Trillig, der die Rezeption der Werke Claude Debussys in den Fokus seiner Arbeit stellt, unterscheidet dabei zwischen boulevardistischer, dogmatischer, literarischer, impressionistischer und wissenschaftlicher Kritik sowie Musikkritik von Komponisten. Für letztere nennt er als Beispiele Debussy, Bruneau, Fauré sowie Dukas, den er in dieser Gruppe als »scharfsinnig und kompetent analysierende[n] Beobachter und Kommentator« besonders heraushebt. Im Gegensatz zu Bruneaus und Faurés opportunistisch gefärbten »Stellungnahmen«, so Trillig, seien Dukas’ Artikel »profunde und durchdachte Interpretationshilfen, die größtenteils auch heute noch lesenswert sind.«69 Goubaults Einteilung geht weniger strikt kategorisierend vor, sondern er stellt sieben Kritiker vor, die entweder als Prototypen für gewisse Tendenzen der Musikkritik stehen – wie Debussy als « critique dilettante » oder Romain Rolland als « critiqueartiste » – oder die als außergewöhnliche Einzelpersönlichkeiten vorgestellt werden, wie Willy (Henri Gauthier-Villars) als « le Prince des critiques » oder Louis Laloy als « le critique de Debussy ». Paul Dukas vertritt in dieser Klassifizierung « une critique érudite », eine Gelehrtenkritik, die von der »wissenschaftlichen Kritik« Trilligs insofern zu unterscheiden ist, als letztere auf einer nach heutigem Sprachgebrauch musikwissenschaftlichen (Aus-)Bildung beruhen soll. (Interessanterweise steht gerade Romain Rolland, der seinen Doktorgrad für eine Dissertation zur Geschichte der Oper vor Lully erhielt und einen Lehrstuhl für Musikgeschichte an der Sorbonne bekleidete, bei Goubault aufgrund seiner literarischen Werke für die Künstlerkritik ein.) Leider bestimmt Goubault seine Kategorie der « critique érudite » in seinem Abschnitt zu Dukas70 nicht näher, zählt aber die positiven Eigenschaften auf, die aus seiner Sicht dessen Kritiken auszeichnen: « Les qualités de la critique 68 69 70

Vgl. dazu auch die Darstellungen zur Komponistenkritik in Kapitel 5 dieser Arbeit. Trillig, Rezeption Claude Debussys, S. 157 f. Goubault, Critique musicale, S. 97–105.

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de Paul Dukas sont nombreuses : rigueur de la pensée et logique des déductions, style alerte et vivant, richesse de la substance, érudition, clairvoyance et pénétration rares. »71 Ausgehend von diesen positiven Verortungen soll der Frage nach der Stellung Dukas’ in der Musikkritik seiner Zeit im letzten Kapitel dieser Arbeit nachgegangen werden. Weitere Anregungen für diese Arbeit gaben kulturhistorisch orientierte Studien, die Aspekte wie Nationalismus, nationale Identität oder Regionalismus in der französischen Musik um 1900 beleuchten.72 Dabei richtet etwa Jane Fulcher das Augenmerk auf den Einfluß der politischen Lager und ihrer gesellschaftlichen und ästhetischen Ideologien auf das französische Musikleben. In der Folge der innenpolitischen Erschütterungen durch die DreyfusAffäre sieht sie ein Bestreben nationalistischer Gruppierungen zu einer Übernahme, ja regelrechten »Invasion« der musikalischen Lehrinstitutionen und Musikpresse. Da sie die ästhetischen Überzeugungen und politischen Äußerungen der Komponisten stark zu den jeweiligen Extremen hin interpretiert und einen regelrechten “battle” und “cultural war” zwischen zwei getrennten musikalischen Lagern – dreyfusards gegen anti-dreyfusards bzw. Nationalisten gegen Republikaner – postuliert, fallen moderate und liberaler denkende Komponisten wie Dukas oder auch Fauré allerdings stark aus ihrem Blickfeld, so daß insbesondere die ausgewogenen und ›unpolitischen‹ Beiträge Dukas’ zu bestimmten musikästhetischen Debatten bei ihr nahezu komplett ausgeblendet werden.73 Zu nennen ist im Zusammenhang mit französischer Musikästhetik um 1900 die jüngere Untersuchung Fauré and French musical aesthetics von Carlo Caballero,74 die sich mit ihrem Titel einer ähnlich klingenden Fragestellung wie die vorliegende Arbeit annimmt, aber einen prinzipiell anderen Ansatz Goubault, Critique musicale, S. 101. Insbesondere J. Fulcher, French Cultural Politics & Music, New York/Oxford 1999 (sowie dazu ergänzend Fulcher, The Composer as Intellectual. Music and Ideology in France 1914– 1940, New York/Oxford 2005); erwähnt sei weiterhin die (bislang unpublizierte) Arbeit von J. Kremer, Musik und nationale Identität: Zur Rolle der Klangfarbe in der französischen Instrumentalmusik zwischen 1871 und 1920, Habil.schr. Hannover 2000; außerdem die aus Sicht der marxistischen Kunsttheorie konzipierte Arbeit von Michel Faure, der ausgewählte Musikwerke in ihrer Funktion innerhalb der bürgerlich-aristokratischen Gesellschaft interpretiert (Faure, Musique et société, du Second Empire aux années vingt. Autour de Saint-Saëns, Fauré, Debussy et Ravel, Paris 1985). 73 Besonders in ihrer jüngeren Studie The Composer as Intellectual (s. vorige Fußnote), wo etwa die Position Dukas’ in der Wagner-Debatte nach dem 1. Weltkrieg mit keinem Wort erwähnt wird. 74 C. Caballero, Fauré and French musical aesthetics, Cambridge 2001. 71 72

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verfolgt. Der Autor betrachtet darin weniger Faurés Musikkritiken oder schriftliche Zeugnisse, da dieser sich im Gegensatz zu Dukas selten in allgemein-reflektierender Weise zur Musik äußerte,75 sondern untersucht hauptsächlich dessen kompositorisches Schaffen und beschreibt über einen werkanalytischen Zugang verschiedene Aspekte seiner musikalischer Stilistik. Im Gegensatz dazu begreift die vorliegende Arbeit, wie im folgenden erläutert wird, die Untersuchung der musikästhetischen Positionen von Paul Dukas als eine philosophisch-kunsttheoretisch orientierte Fragestellung, im Zugriff allein auf seine musikbezogenen Schriften und Äußerungen und unter bewußter Zurückstellung seines kompositorisch-künstlerischen Schaffens.

Zur Anlage der Arbeit Zahlreiche Komponisten haben lesenswerte Kritiken verfaßt, die eine eingehende Betrachtung lohnend erscheinen lassen. Dabei erweist sich allerdings häufig (ganz unabhängig von der musikalischen Kompetenz des jeweiligen Autors), daß der argumentative Gehalt der Schriften über eine persönlich gefärbte Meinungsäußerung zu einzelnen Werken kaum hinausgeht. So lassen sie natürlich eine bestimmte (und durchaus interessante) Musikauffassung des Autors erkennen, erreichen aber seltener eine intellektuelle Schärfe, bei dem sich von einem reflektierten oder gar systematischen Musikdenken sprechen ließe, das auch Anlaß zu einer breiter angelegten Studie geben würde. Die Lektüre der Schriften von Paul Dukas fordert hingegen eine solche Untersuchung geradezu heraus – in seinen Kritiken stößt man fortwährend auf allgemeine geschichts- und gattungstheoretische Betrachtungen, überraschende Querbezüge und ausführlich begründete musikalische Gedankengänge, an die anknüpfend sich eine Vielzahl ästhetischer Streitfragen und geschichtlicher Entwicklungen jener Zeit herausarbeiten und genauer verstehen lassen. Die im vorigen Abschnitt angeführten rezeptionsgeschichtlichen Studien zur Musikpresse gehen über eine bloße Erwähnung Dukas’ und eine kurze Beschreibung des großen Themengebiets, das er in seinen Kritiken behan75

“Unlike Saint-Saëns and Dukas, he left no philosophical essays on the nature of art or the principles of composition. […] Fauré did not leave the kind of detailed documents whose contents would allow for a systematic philosophical evaluation.” Caballero, Fauré and French musical aesthetics, S. 2.

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delt hat, nicht hinaus. Selbst der diesbezügliche längere Abschnitt in der Arbeit von Christian Goubault muß sich auf eine schlagwortartige Aufzählung einzelner musikalischer Sym- und Antipathien Dukas’ beschränken, ohne auf die jeweiligen Ursachen einzugehen. So kann Goubaults Beschreibung der Rezeption russischer Musik bei Dukas in einem einzigen Satz und anhand von vier Einzelwerken (« S’il admire Boris Godounov, Schéhérazade et Antar, Dukas éprouve de la répulsion en face de la Symphonie pathétique, qu’il juge mesquine et boursouflée »)76 natürlich nicht die ästhetisch motivierten Hintergründe dieser Haltung vermitteln: einerseits Dukas’ prinzipielle Kritik an Tschaikowskys ›epigonaler‹ Symphonik in der deutschen Tradition, die in gleicher Weise auch Komponisten wie Anton Rubinstein, Edvard Grieg und (teilweise) Brahms trifft; andererseits seine begeisterte Aufnahme der als besonders progressiv empfundenen symphonischen Dichtungen und Opern des ›Mächtigen Häufleins‹, die sich nahtlos in die französische Rezeption der russischen Musik in den 1890er Jahren einfügt. Zielsetzung dieser Arbeit ist es, die Bedeutung des Musikdenkers und -kritikers Paul Dukas zu untersuchen und dazu die impliziten ästhetischen Prämissen, die seinen Urteilen über historische und zeitgenössische Werke zugrunde liegen, aus der Gesamtheit seiner Aufsätze zu ermitteln und in den Kontext ihrer Zeit zu stellen. Da Dukas über seine Musikkritiken hinaus keine eigenständigen Abhandlungen oder Bücher verfaßt hat, in denen er seine ästhetischen Positionen dargelegt hätte, ist es um so notwendiger, diese aus seinen Kritiken systematisch herauszuarbeiten. Ergänzend werden relevante Briefstellen, Interviews und Zeugnisse von Freunden und Schülern hinzugezogen. Die Literatur zu Dukas ist bis heute sehr spärlich, und trotz der angeführten neueren Arbeiten mangelt es an vielen biographischen Hintergrundinformationen und verläßlichen Quellenausgaben (und -angaben77), um seine Position im Musikleben seiner Zeit adäquat einzuordnen. Daher wurde für diese Arbeit Dukas’ gesamter unveröffentlichter Nachlaß in der Bibliothèque nationale in Paris gesichtet, der über 1000 Briefe und Dokumente umfaßt. Außerdem konnten aus der Sekundärliteratur zu Personen aus Dukas’ Umfeld (Debussy, Fauré, d’Indy, Dujardin u. a.) verstreute Infor-

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Goubault, Critique musicale, S. 104. Leider krankt auch die inzwischen (2007) erschienene oben erwähnte Monographie von Perret/Ragot, die u. a. aus vielen unpublizierten Briefen zitiert, an einem völligen Fehlen exakter Quellenangaben, so daß es nach wie vor unerläßlich ist, diese Dokumente selbst zu konsultieren.

mationen zu seiner Person zusammengetragen werden. Daraus ergeben sich teilweise relevante biographische Erkenntnisse, die als indirekter Ausdruck seiner musikalischen Überzeugungen ebenfalls Erwähnung finden sollen. Bewußt nicht in diese Arbeit aufgenommen wurde hingegen eine analytische Untersuchung der Kompositionen von Dukas, da zwischen seinen eigenen Aussagen zu musiktheoretischen und -ästhetischen Fragen in den Kritiken und ihrer tatsächlichen Umsetzung in seinem kompositorischen Schaffen unterschieden werden muß. Unbestreitbar spiegelt sich die Persönlichkeit des Autors in beidem wider, doch wäre es Gegenstand einer weiteren wissenschaftlichen Studie, in welchem Maße die schriftlich formulierten ästhetischen Ansprüche und die kompositorische Realität tatsächlich korrelieren.78 Da im Fokus dieser Untersuchung die Schriften Dukas’ stehen und nicht die musikgeschichtlichen Ereignisse seiner Zeit, werden einzelne bedeutenden Daten der Epoche wie die Uraufführung von Strawinskys Sacre du printemps 1913 oder die Erfolge der Ballets russes unter Diaghilew in dieser Arbeit nicht behandelt, da von Dukas weder Kritiken dazu existieren noch anderweitige Äußerungen dazu nachweisbar sind. Diese Arbeit soll keine ›Musikgeschichte im Spiegel von Dukas’ Kritiken‹ sein, sondern es werden diejenigen Themengebiete herausgegriffen und untersucht, die in Dukas’ musikästhetischem Denken eine zentrale Rolle spielen. Das Bestreben, seine Positionen in den Kontext des künstlerischen Umfelds einzubetten, um Übereinstimmungen oder konträre Auffassungen transparent zu machen, führt gelegentlich zu kurzen Exkursen, die Dukas etwas aus dem Fokus nehmen, aber immer auch in Bezug auf seine Standpunkte zu verstehen sind und inhaltlich zu ihm zurückführen. Die Vielfalt der von Dukas behandelten Themen stellte eine gewisse Herausforderung hinsichtlich einer angemessenen und strukturierten Präsentation im Rahmen dieser Arbeit dar. Da entsprechend der Fragestellung weder Werke noch Komponistennamen im Mittelpunkt stehen sollten, wurde mit den drei Kapiteln Das Alte und das Neue – Das Absolute und das Programmatische – Das Eigene und das Fremde versucht, zentrale musikästhetische Fragen unter jenen Aspekten zu betrachten, die in der Zeit und in Dukas’ Schriften besonders virulent sind, wobei der große Begriffsumfang der ge78

Dies zeigt etwa das Beispiel Richard Wagners, dessen programmatische Schriften nicht einfach als ›authentische‹ Erklärung seiner Werke beim Wort zu nehmen sind. Vgl. Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 58 f., 105, 125, 129.

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wählten Überschriften der Vielfalt und Mehrdeutigkeit der verschiedenen Diskurse Rechnung tragen soll. Diese drei Kapitel folgen (dem Medium Buch gemäß) textlich linear aufeinander, stehen aber argumentativ gewissermaßen im Kreis und in enger wechselseitiger Verknüpfung: der Einfluß Wagners betrifft ebenso die Frage nach dem ›eigenen‹ französischen Musikschaffen wie die Stellung der ›absoluten‹ Musik nach Wagners Dramentheorie; die Musik Rameaus rückt als ›alte‹ Musik ins Zentrum des Interesses, weil sie zugleich einen Beleg für die Größe der ›eigenen‹ Vergangenheit bildet. Im anschließenden Kapitel wird vor dem Hintergrund der dargestellten Positionen der Rang Dukas’ als Kritiker und Musikdenker im Kontext der französischen Musikkritik und auch Literaturkritik betrachtet und die Relevanz seiner Schriften für die heutige Musikforschung diskutiert.

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