Die Deutsche Wiedervereinigung Vom Fall der Mauer zum Zwei-plus-Vier-Vertrag

Die Deutsche Wiedervereinigung Vom Fall der Mauer zum „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ Protokoll des Vortrags von Lothar de Maizière am 21.09.2010 im Käfigtur...
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Die Deutsche Wiedervereinigung Vom Fall der Mauer zum „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ Protokoll des Vortrags von Lothar de Maizière am 21.09.2010 im Käfigturm – Polit-Forum des Bundes Meine sehr geehrten Damen und Herren, zunächst herzlichen Dank für die freundliche Einladung und Begrüssung! Ich bin gerne gekommen. Ich gebe zu, dass mein Wissen über die Schweiz begrenzt ist. Wir durften ja nicht reisen, und die Schweiz war in unserer Vorstellung wahrscheinlich noch schöner als die Bundesrepublik. Eines wurde über die Schweiz immer erzählt: Es gab die berühmten Witze "Anfrage an den Sender Jerewan", und der eine lautete: "Ist es möglich, in der Schweiz auch den Sozialismus zu errichten?" Die Antwort lautete: "Im Prinzip ja, aber es wäre schade um dieses schöne kleine Land." Das ist aber nicht mein Thema. Meine Damen und Herren, jedes Jahr, pünktlich zum 3. Oktober, beginnt in Deutschland die Diskussion, ob der 3. Oktober nun ein rechter Feiertag wäre, ob das nicht ein griffiges Datum wäre und ob es nicht richtiger gewesen wäre, den 9. November zum Feiertag der Deutschen zu machen, und jedes Jahr wieder widerspreche ich diesem. Dieses Datum 9. November ist in der Geschichte problematisch besetzt. Am 9. November 1918 wurde ja die Republik ausgerufen, und dies in deutscher Gründlichkeit gleich zweimal, nämlich durch den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann vom Reichstag aus und fast zeitgleich vom Berliner Stadtschloss aus durch Karl Liebknecht, der die sozialistische Republik ausrief. Das waren die beiden Spannungspole, die die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mitbestimmt haben, der Kampf zwischen parlamentarischer Demokratie und Räterepublik nach sowjetischem Muster. Am 9. November 1923 versuchten die Nazis erstmalig, mit dem Marsch auf die Feldherrnhalle in München die Macht zu ergreifen, und am 9. November 1938 war der schlimmste und beschämendste Pogrom gegen unsere jüdischen Mitbürger, die sogenannte Reichskristallnacht, und dann der 9. November 1989 der Fall der Berliner Mauer. Also es wäre ganz schwierig, diesen Tag als Nationalfeiertag zu feiern. Mein Freund Richard Schröder, damals Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten in der Volkskammer sagte: "Feiertag und Busstag in einem geht nicht. Wie sollen wir es denn halten? Vormittags büssen und nachmittags feiern, oder umgekehrt? Nein, wir trennen dies fein säuberlich. Einen Tag haben wir daran zu denken, was 1938 geschah, und am andern Tag feiern wir, nämlich die deutsche Einheit." Dennoch bleibt der 9. November für uns Deutsche, und besonders für uns Ostdeutsche, ein weltumstürzendes Ereignis. Günter de Bruyn, einer der Schriftsteller aus dem Osten Deutschlands, er wohnt im Brandenburgischen und seine Werke gehören zu den Schätzen, die aus der DDR ins geeinte Deutschland gekommen sind, legte vor ein paar Jahren ein Erinnerungsbuch vor "40 Jahre". In diesem Buch schreibt er über den 9. November: "Ein knappes Jahr lebte die DDR noch weiter, aber in meinem privaten Festtagskalender ist dieser Tag als der ihres Ende verzeichnet; denn ein Gefängnis, in dem Tore und Türen geöffnet werden, hört auf, eins zu sein." Ein tolles Bild: Ein Gefängnis, in dem Tore und Türen geöffnet werden, hört auf, eins zu sein! Das sagt sich gut in einem Haus, das ja offensichtlich auch einmal ein Gefängnis gewesen ist. So beschreibt es Günter de Bruyn in seinem autobiographischen Lebensbericht. Diesen Tag als Tag des Endes der DDR betrachtet, haben damals durchaus nicht alle. Wir wussten zwar alle, dass er der Beginn von etwas Neuem und

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Aussergewöhnlichem ist, aber wo es mit uns hingehen würde, war noch unklar. Die einen meinten, es ginge nur um einen erneuerten Sozialismus. Endlich wäre die Mauer weg und nun könne man die Idee eines Sozialismus von stalinistischen Dingen befreien und richtig durchführen. Zu ihnen gehörten Leute, die von Wichtigkeit für uns waren, wie Stefan Heym und Christa Wolf, also Leute, deren Bücher für uns in DDR-Zeiten ganz wichtig waren, der "König David Bericht" oder "Der geteilte Himmel" von Christa Wolf. Sie verfassten einen Aufruf für unser Land, suchten Unterschriften in der DDR, und eine ganze Menge Leute haben unterschrieben. Ich glaube, die konnten nicht erahnen oder ermessen, mit welcher Endgültigkeit dieses Thema Sozialismus diskreditiert war, nicht nur ökonomisch und gesellschaftlich, sondern vor allem moralisch, durch das, was im Namen dieses Wortes in der DDR und im gesamten Ostblock passiert war. Die anderen meinten, nachdem die alten Fesseln abgeworfen wären, ginge es nun darum, am Runden Tisch, der zunächst im Bonhoeffer-Haus, dem Haus der Evangelischen Kirche, tagte, die neue DDR zu entwerfen. Später tagte der Runde Tisch im Schloss Schönhausen. Nach deren Vorstellung sollte die DDR klein, bescheiden, pazifistisch, ökologisch, in nie gekannter Weise demokratisch, nämlich basisdemokratisch, und himmlischgerecht, ein echter kleiner Gottesstaat mitten im Herzen Europas werden. Nur wie man so was finanziert, war ihnen nicht klar. Joachim Gauck, der später eine Rolle im Zusammenhang mit der Aufhebung der Staatlichkeit spielte, hat vor 10 Jahren in einer Rede vor dem deutschen Bundestag gesagt, "Wir" – er gehörte nämlich zu diesen Leuten – "dachten, wir träumten das Paradies, und wach geworden sind wir in Nordrhein-Westfalen." Er hat sich dann sofort korrigiert. Er wollte ja gar nichts gegen NordrheinWestfalen sagen. Er wollte nur etwas über diesen enormen Glückshorizont sagen. Wir haben damals tatsächlich alle im siebten Himmel gelebt. Dieser Fall der Mauer war für unser Leben fast nicht vorgesehen, und plötzlich passiert es, das Aussergewöhnliche! Danach musste eigentlich Ende der Geschichte sein, und jetzt beginnt die Zeit der Glückseligkeit. Während wir noch glaubten, man müsse diesen eudämonistischen Zustand nur genau beschreiben, besser noch in einer eigenen Verfassung verankern, bestimmte die Strasse in Leipzig und andernorts längst eine neue Phasenordnung, denn aus dem Ruf "Wir sind das Volk" wurde der Ruf "Wir sind ein Volk". Mancher im Westen Deutschlands glaubte, da würden plötzlich nationalistische Töne laut werden. Ich sage immer, das sei die Neukonstituierung der Nation gewesen. Man wurde sich bewusst, dass man ein Volk sein wollte. Davor war aber noch der Runde Tisch, der wie gesagt, im Bonhoeffer-Haus tagte. Der Runde Tisch hat eine entscheidende Rolle gespielt, dass die Situation in der DDR geordnet und nicht chaotisch wurde. Wir sind den Polen zu grossem Dank verpflichtet. Sie hatten schon im Februar 1989 einen Runden Tisch, der wirklich rund war, unserer im Bonhoeffer-Haus war viereckig. Die Polen hatten ja auch schon bereits am 24. Juni 89 die ersten teilfreien Wahlen, bei denen zwei Drittel der Abgeordneten frei gewählt werden konnten – die alle von der Solidarnosc gewonnen wurden – und bei denen nur ein Drittel noch von der alten polnischen kommunistischen Partei besetzt wurde. Merkwürdig ist nur, wie manchmal die Geschichte spielt, nämlich dass dieser Tag der ersten teilfreien Wahlen in Polen zugleich der Tag war, an dem in China, in Peking, auf den Platz des Himmlischen Friedens die Studenten in ihrem Freiheitsdrang durch Panzer ermordet und niedergemäht wurden. Es war ein Jahr voller Spannung und voller Widersprüche. Der Runde Tisch konstituierte sich, wie gesagt, und an dem waren sowohl Vertreter der alten Parteien als auch Vertreter der neuen Gruppierungen, Neues Forum, Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch, Initiative Frieden, Menschenrechte usw. Die Vertreter waren eigentlich alle nicht gewählt, sondern bezogen ihre Legitimation aus der Delegitimierung der alten Macht. Alle Parteien hatten gleich viele Stimmen, nämlich drei, unabhängig davon, dass sie nachweisen konnten, wie viele Mitglieder sie hatten. Das

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war auch richtig so, denn die SED sass auch mit am Runden Tisch. Sie hatte damals noch zwei Millionen Mitglieder, und wenn man einen Stimmenproporz gewählt hätte, wäre sie wieder in der Oberhand gewesen, also mussten wir einen anderen Weg gehen. Am Runden Tisch haben wir Demokratie geübt. Wir haben erstmalig in der DDR ergebnisoffen diskutiert. Bis dahin war es so, dass das Ergebnis feststand, das bei einer Diskussion rauszukommen hatte, und jetzt konnten wir offen diskutieren und miteinander üben, wie man Diskussionen führt, ohne sich so zu beleidigen oder zu ärgern, dass man nicht mehr miteinander sprechen kann. Er diente also der Einübung der Demokratie. Er diente der Kontrolle der Übergangsregierung unter Hans Modrow, der ich auch angehörte, und er schuf ein Wahlgesetz für die ersten freien Wahlen, und zwar nicht dem bundesdeutschen Wahlgesetz nachempfunden, denn das bundesdeutsche Wahlgesetz ist eine Mischung aus Verhältniswahl- und Direktwahlsystem. Wir haben damals gesagt: "Wir machen ein reines Verhältniswahlsystem, denn keiner der neuen Politiker ist jetzt in der Lage, sich in so kurzer Frist persönlich in der Bevölkerung bekannt zu machen, dass er einen Wahlkampf direkt gewinnen könnte." Wir haben gesagt: "Wir wählen in die Parteien hinein und diese bestimmen ihre Kandidaten selbst." Wir sind ganz bewusst vom bundesdeutschen Wahlgesetz abgewichen. Für mich bleibt der Runde Tisch obendrein noch mit dem Gespött meiner Töchter verbunden. In der ersten Sitzung ging es drunter und drüber. Es war ein heilloses Durcheinander. Wir hatten drei Vertreter der Kirchen, vom Bund der evangelischen Kirche Oberkirchenrat Ziegler, von der römisch-katholischen Kirche Monsignore Ducke und von der Arbeitergemeinschaft Christlicher Kirchen Pastor Lange, aber auch denen gelang es nur schwer, die Situation zu meisten. Da überlegte ich, wie man so etwas strukturiert. Ich ging in die Ecke und entwarf eine Geschäftsordnung für den Runden Tisch. Diese wurde dann auch nach kurzer Diskussion angenommen, und meine Töchter sagen noch heute: "Die ganze Republik machte Revolution, und unser Vater schreibt dafür die Geschäftsordnung." Das erinnert an das Bonmot von Lenin, der einmal gesagt hat: "Wenn die Deutschen in einer Revolution den Bahnsteig stürmen, dauert es ein bisschen, weil sie sich zuerst eine Bahnsteigkarte kaufen." Tatsächlich hat sich diese Geschäftsordnung bewährt und ist auch von den dezentralen Runden Tischen übernommen worden. Wir hatten nicht nur diesen zentralen Runden Tisch, sondern überall in den Kommunen, in den Bezirken, Runde Tische, weil wir ja zuvor am 7. Mai 1989 die letzten Kommunalwahlen kommunistischer Prägung gehabt hatten und dort der Wahlbetrug erstmals öffentlich als solchen genannt wurde. Bei den Kommunalwahlen vom 7. Mai gingen abends die jungen Leuten aus den kirchlichen Kreisen, Friedenskreisen, in die Wahllokale und zählten mit, addierten dies in einem Stadtbezirk in Berlin und stellten dann am nächsten Tag fest, dass ihr Ergebnis mit dem im neuen Deutschland nicht übereinstimmte. Es kam dann zu Strafanzeigen wegen Wahlbetrug. Ich entsinne mich, dass ich zwei Tage nach diesen Wahlen vor dem Stadtbezirksgericht Berlin-Friedrichshain rein zufällig auf Pastor Rainer Eppelmann traf und fragte: "Was machen Sie hier?" Er sagte: "Ich war eben beim Staatsanwalt und habe Strafanzeige wegen Wahlbetrug gemacht. Mir ist jetzt gleich mitgeteilt worden, gegen mich werde ein Strafverfahren wegen Staatsverleumdung eingeleitet, denn, wer behaupte, dass in der DDR Wahlen gefälscht werden, der könne nur ein Staatsverleumder sein." Ich habe ihm noch auf der Strasse ein Vollmachtexemplar unter die Nase gehalten und ihm zugesagt, ihn notfalls zu vertreten. Dieses Verfahren ist dann später eingestellt worden, weil die Geschichte über diese Situation hinweggegangen ist. Aber immerhin wurden in den Kommunen und in den Bezirken die Vertreter entweder aus dem Amt gejagt, oder sie gingen freiwillig, weil sie sich ihre mangelnde Legitimation nicht vorhalten lassen wollten, und deswegen haben in all diesen Gegenden, Kommunen die Runden Tische die kommunale Verantwortung übernommen. Meine Schwester, Pastorin und Pröpstin zu

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Halberstadt-Winneburg, hat in Aschersleben den Runden bunten Tisch geleitet. Mein Schwager hat im Nachbarort den Runden Tisch geleitet. Die Kirchen waren damals die stabilisierende Kraft, die diese Dinge zusammengehalten hat, und es war ganz wesentlich, dass wir eine Bevölkerung hatten, in der die Kirchen ein Ansehen errungen hatten, das weit über ihre Mitglieder hinausging. Die Mitgliedschaft in der evangelischen und auch in der katholischen Kirche war zwar relativ hoch, aber es wurde wenig praktiziert. Die Bevölkerung war aber der Meinung: "Die können das festhalten, die können es richten." Wir haben dann das erste Mal in unserem Leben Wahlkampf geführt. Das war eine ganz merkwürdige Situation. Zunächst waren wir uns alle einig: "Wir machen Wahlkampf gegen die SED." Aber Ende Januar zerlegte die sich fast usw., und plötzlich mussten wir gegeneinander Wahlkampf führen. Das war merkwürdig. In der SPD waren viele von meinen Gefährten, die ich von der Synode kannte, und viele waren nur in meiner Partei. Wir wussten gar nicht, warum wir gegeneinander Wahlkampf machen sollten. Wir haben ja auch später eine grosse Koalition gebildet, weil wir dachten: "Wir wollen alle mitnehmen, die diese Änderung mit herbeigeführt haben." Diese ersten freien Wahlen am 18. März waren die ersten freien Wahlen seit den Reichstagswahlen im November 1932. Jemand musste also fast 80 Jahre alt sein, um schon einmal an freien Wahlen teilgenommen zu haben. Wir hatten eine Wahlbeteiligung von 93,4 Prozent, eine Wahlbeteiligung, die wahrscheinlich einsam in jedem Buch der Rekorde stehen bleiben wird und nie wieder in Deutschland erreicht werden wird, und es war nicht etwa so, weil, wie früher, die Leute zur Wahl getrieben worden sind, sondern weil die Menschen so politisiert waren, dass sie sagten: "Jetzt wollen wir unser Schicksal endlich wirklich in die Hand nehmen." Wie gesagt, 93,4 Prozent, und am 18. März abends kam die erste Hochrechnung, und ich gestehe Ihnen, dass ich den wahrscheinlich grössten Schrecken in meinem Leben bekommen habe, als ich das Ergebnis sah. Vorher waren wir der Meinung: "Möglicherweise wird es so einen Patt geben, und dann müssen wir halt sehen, ob wir einen neutralen Dritten finden." Aber wenn man als Vorsitzender einer Partei, und ich war ja Vorsitzender in der ostdeutschen CDU am 10. November geworden, also einen Tag nach dem Mauerfall, wenn man da 40,8 Prozent hat, kann man nicht mehr ausweichen. Dann rollt das Amt auf einen zu. Wolfgang Schäuble hat vor ein paar Jahren einmal gesagt: "Du sahst am Abend deines Wahlsieges unglücklicher aus als Volker Rühe nach verlorener Wahl in Schleswig-Holstein." Diese Wahl vom 18. März 1990 war auch eine Wahl, aber sie war meiner Meinung nach vor allem ein Plebiszit, eine Volksabstimmung, und zwar für drei wichtige Themen: Erstens: Einheit Deutschlands. Alle Parteien und Gruppierungen, die sich dieses Ziel auf die Fahne geschrieben hatten, wurden gewählt, und alle, die dies nicht wollten, wurden nicht gewählt. Die Bürgerrechtler, die den Herbst mitbestimmt hatten, die diesen neuen kleinen bescheidenen, den Gottesstaat haben wollten, bekamen 2,9 Prozent der Stimmen. Es war eine grosse Ernüchterung. Sie hatten am Runden Tisch noch darum gekämpft, dass das Wahlgesetz der DDR eine Sperrklausel von 4 Prozent haben sollte, weil sie hofften, auf diese Weise die SED raushalten zu können. Hätten sie sich am Runden Tisch durchgesetzt, hätten sie sich selber aus der Volkskammer rauskatapultiert, denn die SED erhielt immerhin noch 16 Prozent Stimmen. Zweitens war es ein Plebiszit für einen föderalen grundgesetzkompatiblen Staatsaufbau, dem des Grundgesetzes der Bundesrepublik entsprechend. Wir hatten ja auch den Wahlkampf geführt, mit dem Slogan, dass wir die DDR, die Einheit, auf dem Weg des Beitritts gemäss Artikel 23 zustande bringen würden, und drittens war es ein Plebiszit für einen Rechtsstaat mit einer klaren Gewaltenteilung. Diese Frage Rechtstaatlichkeit war ganz tief im Bewusstsein der Menschen. Ich entsinne mich, dass am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, also fünf Tage vor dem Mauerfall, eine Riesendemonstration von fast einer Million Menschen war. Es gab herrliche Transparente. Damals kam der Witz in die ganze Revolution

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hinein. Ein Transparent lautete: "Die können sollen, müssen wollen dürfen." Da muss man drauf kommen. "Die können sollen, müssen wollen dürfen." Eines lautete: "Die beste Staatssicherheit ist die Rechtssicherheit." Diese schönen Plakate sind, Gott sei Dank, aufgehoben worden und jetzt im deutschen historischen Museum in Berlin archiviert und werden bei entsprechenden Anlässen auch der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht. Wir sind damals – ich bin auch mit meiner Familie da gewesen – zu solchen Demonstrationen grundsätzlich als Familie gegangen, damit wir auch wussten, was passiert. Da gab es eine Regelung: Wenn einer weggefasst wird, ruft er laut seinen Name, damit Umstand den Namen weiss. Auf diese Weise zum Beispiel haben wir auch am 7. Oktober 89 gewusst, welche Menschen inhaftiert worden waren. Ich habe zum Beispiel wenige Tage nach dem 7. Oktober, als im Palast der Republik die Genossen noch den 40. Jahrestag der DDR feierten und draussen das Volk schon demonstrierte, am Montag danach 170 Haftbeschwerden diktiert. 170 Haftbeschwerden aufgrund solcher Namen, die durch lautes Rufen von Leuten aufgeschrieben worden waren und dann über die kirchlichen Kreise an die Anwaltschaft geliefert wurden! Also der 18. März, diese Wahlen, ein Riesenergebnis. Am Nachmittag noch hatte ich mich mit meinem Vetter Thomas, der jetzt Bundesinnenminister ist, damals war er Pressesprecher der CDU in Westberlin, gefragt, wie man sich da vorbereitet. Da sagt er: "Normalerweise macht man drei Sprechübungen: Erstens: Katastrophales Ergebnis, dennoch Dank an die wenigen Wähler. Das können wir bleiben lassen. Zweitens: Achtbares Ergebnis, Freude und auch Gratulation usw., wollen sehen, wie wir mit dem Ergebnis umgehen, und drittens: Strahlender Sieg." Also wir haben "Achtbares Ergebnis" geübt. "Strahlender Sieg" hatten wir nicht geübt. Insofern war ich da auf meine Improvisationsgabe angewiesen, die man als Musiker halt hat. Die Volkskammer konstituierte sich dann bereits am 5. April, und in dieser ersten Sitzung, oder besser noch vorausgegangen, war ein ökumenischer Gottesdienst – einer geht ja immer in die Kirche –, und dort predigte eben einer der Moderatoren des Runden Tisches, Oberkirchenrat Ziegler, über einen Text aus dem Psalm "Herr, lehre uns Recht." Dies für Menschen, die sich nun daran machen sollten, nach 40 Jahren minderem Recht Recht zu setzen und dabei sehr bald an die Grenzen des Rechts stossen würden! Er sagte damals einen Satz, den ich nie vergessen werde und den ich Ihnen jetzt nochmals zitieren will: "Die Güte steht über dem Recht. Recht kann ordnen, Güte kann heilen. Die allein erlöst uns oft von Schrecken und Schuld. Recht und Güte sind bei Gott gepaart." Er wollte uns sagen: "Schraubt den Erwartungshorizont ans Recht nicht zu hoch. Die Güte eines Rechts kann nur ordnen, aber heilen kann nur die Güte." Dann konstituierte sich die Volkskammer, und wir haben in einer grossen würdigen Erklärung vier Punkte angesprochen: 1. Die DDR tat ja immer so, als ob die DDR der Sieger der Geschichte wäre: Die bösen Faschisten waren alle in der Bundesrepublik und alle Antifaschisten, die Sieger der Geschichte, waren in der DDR. Wir haben gesagt: "Wir bekennen uns zu unserer ganzen deutschen Geschichte. Auch wir sind Bestandteil des Volkes, das den Holocaust zu vertreten hat." 2. "Wir bekennen uns auch zur Schuld an den Völkern der Sowjetunion und den vielen Opfern, die sie haben." 3. "Wir versichern unseren polnischen Nachbarn, dass sie in sicheren Grenzen leben." Wir wollten verhindern, dass die Grenzfrage nochmals diskutiert wird. 4. Wir haben uns bei unseren tschechischen und slowakischen Nachbarn dafür entschuldigt, dass die Volksarmee zumindest am Rande beteiligt war, 1968 die grösste Demokratie, die Hoffnung, die wir im Ostblock hatten, mit zerstört zu haben. 1968 war für mich, ich war damals 28, der endgültige Bruch, der innerliche Bruch mit dem System. Natürlich war man in der DDR mit einer gewissen Kapitalismuskritik gross gezogen und dachte, es müsse doch noch einen dritten Weg geben, und Ottar Schick schien in diesem Auftrittsreigen. Als dieses dann zerschlagen wurde, war mir klar, dass dieses System nicht würde

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dauerhaft sein können, aber ob ich dies in meinem Leben erleben würde, war noch hochzweifelhaft. Am 12. April wurde dann eine Regierung gebildet, der ich vorstehen durfte. Wir bildeten eine grosse Koalition aus CDU, Demokratischem Aufbruch, DSU, den Liberalen und der Sozialdemokratie, und zwar eine grosse Koalition aus mehreren Gründen: Erstens wollte ich, dass alle, die den Herbst mitgetragen hatten, dabei waren. Zweitens war uns klar, dass wir auf dem Weg zur deutschen Einheit ständig verfassungsändernde Mehrheiten brauchen würden. Wir hätten zwar mit den Liberalen eine bequeme einfache Mehrheit gehabt, aber keine Zweidrittelmehrheit. Ich wollte nicht, dass wir uns jedes Mal die qualifizierte Mehrheit suchen müssen, sondern dass wir dies gemeinsam tun. Der Tag begann mit einer grossen Aufregung. Ich kam in die Volkskammer und sagte zur Präsidentin, Frau Doktor Bergmann-Pohl: "Liebe Frau Präsidentin, wenn ich denn wohl gewählt werden sollte, worauf wollen Sie mich dann vereidigen? Auf die alte DDR-Verfassung mit Sozialismus und Freundschaft zur Sowjetunion doch wohl nicht mehr!" Grosse Aufregung. Was nun? Das spricht für die Koalitionssituation damals: Da gab es einen Entwurf einer Verfassung, die von einigen Mitarbeitern des Runden Tisches ausgearbeitet worden war. Da war eine Eidesformel drin. Da haben wir den Tag begonnen mit zwei Lesungen, der neuen Eidesformel, die dann noch ausgefertigt wurde, und dann konnte die Regierung gewählt und vereidigt werden. Das ging manchmal so ein bisschen von der Hand in den Mund, also gerade auch an diesem Tag. Wir sind dann also gewählt worden. Diese Volkskammer, aber insbesondere die Regierung, kriegte einen Auftrag, den kaum eine Regierung und ein Parlament in Deutschland je hatten, der lautete nämlich: "Macht euch so schnell wie möglich überflüssig, verabschiedet den Staat, den ihr leiten und repräsentieren sollt, aus der Weltgeschichte." Wir haben uns dran gemacht. Fünf Schritte waren notwendig, die ich nochmals nachzeichnen will, aber dazu muss ich nochmals zurück in die Geschichte der DDR. 1952 fand in Berlin die zweite SEDParteikonferenz statt, und auf dieser SED-Parteikonferenz wurde beschlossen, in der DDR den Sozialismus zu errichten, und es wurde gesagt: "Dazu ist es notwendig, dass Leninsche Prinzip des demokratischen Zentralismus einzuführen." Das ist das Prinzip, das die sowjetische Staatsrechtstheorie beherrschte und sagte, alle Macht müsse in einem einzigen Machtzentrum, nämlich dem Politbüro der herrschende sozialistischen Partei, vereint werden, und alle nachgeordneten Organe seien reine Exekutivorgane, hätten keinerlei eigene Entscheidungsbefugnis mehr und keine Gesetzgebungsbefugnis. Das hatte zur Folge, dass in Ostdeutschland die kommunale Selbstverwaltung abgeschafft wurde. Die kommunale Selbstverwaltung, die auf die steinharten deutschen Reformen von 1807 und 1808 zurückging und die im Prinzip gestattete, dass Preussen und die Deutschen sich von napoleonischen Joch wieder befreiten, dass die Staaten von unten wuchsen, und es hatte wenig später auch zur Folge, dass die Länder in Ostdeutschland abgeschafft wurden. Die fünf Länder wurden in 15 Verwaltungsbezirke aufgeteilt, die also auch nur eine reine Exekutivfunktion hatten. Wollten wir also grundgesetzkompatible Strukturen haben, mussten wir die kommunale Selbstverwaltung wieder einführen und Länder bilden. Das haben wir getan. Wir haben bereits am 6. Mai die ersten freien Kommunalwahlen in der DDR durchgeführt und haben damals Tausende und Abertausende von Menschen in kommunalpolitische Verantwortung gebracht, die bis dahin noch nie politisch gearbeitet hatten, die sich mit einer unglaublichen Begeisterung an die Arbeit machten. Das war am 6. Mai. Die kommunale Verfassung dafür haben wir aber eigentlich erst am 17. Mai in der Volkskammer beschlossen. Wir haben also die Kommunen in einen rechtsfreien Raum hineingewählt. Am 17. Mai haben wir in der Volkskammer die Kommunalverfassung beschlossen, ein Kommunalvermögensgesetz, mit dem sich die Kommunen also auch finanziell ausstatten konnten und mit dem sie sich später auch recht erfolgreich gegen die Habgier des Bundes gewehrt haben. Aber

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zunächst, wie gesagt, hatten wir Landräte, ohne zu wissen, welche Machtbefugnisse die wohl tatsächlich hätten, und ich fand es damals schon ziemlich arrogant, als manche auf der anderen Seite von den Laienspielern im Osten sprachen. Wir haben also am 6. Mai gewählt, und nicht umsonst deswegen am 6. Mai, weil im Jahr zuvor, am 7. Mai, ja die letzten Kommunalwahlen waren, von denen ich Ihnen berichtet habe. Wir wollten also ganzzeitlich dann eher sagen, jetzt würden freie Kommunen gewählt. Ausserdem hatte mir Tadeusz Mazowiecki, der polnische Ministerpräsident gesagt: "Du musst sofort Kommunalwahlen durchführen. Wir haben dies nicht geschafft. Wir haben nur den Sejm, das Parlament, neu gewählt und mussten erfahren, dass das, was wir beschliessen, in den Kommunen unten durch die alten Kräfte verhindert wurde und nicht umgesetzt wurde. Demokratie muss von unten wachsen, und deswegen musst du versuchen, dem Subsidiaritätsprinzip" – NellBreuning in der katholischen Soziallehre lässt grüssen – "wieder zur Losung zu verhelfen." Dies war also auch ein Grund, und wir wollten auch, dass in den Kommunen die Phase des revolutionären Improvisierens vorbei ist, dass also wieder wirklich legitimierte Kräfte die Kommunen führen. Diese Kommunalverfassung hat viele Jahre gehalten. Erst in den endneunziger Jahren haben sich die ostdeutschen Länder neue Städte- und Gemeindeordnungen, neue Kommunalverfassungen gegeben. Bis dahin hat diese Kommunalverfassung getragen. Das Zweite war die Neuinstallation der traditionellen fünf Länder und die Abkopplung derselben von der Zentralregierung. Es gab damals die Frage, wie viele Länder wir denn wohl gründen sollten, und ich habe heute schon mal erzählt, dass wir den Rat kriegten, nur zwei Länder zu gründen, denn das rechnete sich besser, ein Nordland und ein Südland, und da dieser Rat aus dem Saarland kam, war er besonders beherzigenswert. Nein, wir wollten den Menschen ihre landsmannschaftliche Identität und kulturelle Identität zurückgeben. Die Sachsen wollten wieder August den Starken verehren, wir in Berlin-Brandenburg wollten natürlich auch Friedrich den Grossen wieder haben usw. Die DDR hatte versucht, die Geschichte der Länder, der Regionen auszublenden. Die Geschichtsbücher meiner Kinder endeten etwa bei den Bauernkriegen 1525 und fingen wieder bei den Bismarckschen Sozialistengesetzen an, und die Geschichte dazwischen gab es nicht. Als Helmut Kohl kurz vor Weihnachten 1989 in Dresden vor den Ruinen der Frauenkirche sprach, schwenkten die Sachsen bereits wieder ihre weissgrünen Sachsenfahnen. Die gab es nirgendwo zu kaufen. Die hatten sie sich selber aus Fahnentuch, das sie gekauft hatten, genäht, und aus der DDR-Fahne war in der Mitte das Emblem "Hammer Zirkel Ährenkranz", das für Bauern, Arbeiter und werktätige Intelligenz, verächtlich das Werkzeug genannt, stand, von den Fahnen entweder wieder abgetrennt oder rausgeschnitten worden. Es gab damals Fahnen mit Loch in der Mitte. Die schwenkten also bereits wieder ihre Sachsenfahnen. Die Leute wollten diese landsmannschaftliche Identität wieder haben, und es war uns auch wichtig, weil wir glaubten, dass sie so leichter im geeinten Deutschland ankommen, wenn sie sich erst wieder selbst definieren. Also fünf Länder aus einem anderen Grund: Nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat jedes Bundesland mindestens drei Stimmen im Bundesrat, und wenn es eine etwas grössere Bevölkerung hat, hat es vier Stimmen usw. Hätten wir zwei Länder gemacht, hätten wir wahrscheinlich zwei Länder mit je vier Stimmen gehabt. Mit Berlin hatten wir aber nun sechs Länder und damit mindestens 18 Stimmen, und Berlin und Sachsen haben je eine Stimme mehr, damit hatten wir 20 Stimmen im Bundesrat. Wir hätten damit fast eine Sperrminorität erreichen können, wenn nicht im Zuge des Einigungsvertrags Herr Clement aus Nordrhein-Westfalen darauf gedrungen hätte, dass NRW zusätzliche Stimmen im Bundesrat kriegt, mit der Begründung: "Wir in NRW sind 16 Millionen Bürger und haben nur fünf Stimmen, und ihr seid auch 16 Millionen und wollt 20 Stimmen haben, da müssen wir doch eine ausgleichende Gerechtigkeit haben." Damit kriegte NRW im Bundestag mehr

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Stimmen. Diese Länder waren wichtig. Das Ländereinführungsgesetz vom Juli 1989 enthält eine merkwürdige Bestimmung, bei der mich Wolfgang Schäuble damals fragte, was dies denn solle. Im Paragraphen 2 steht: "Verfügung über das Staatsgebiet der DDR als Ganzes kann nur die Volkskammer treffen." Ich erklärte ihm: "Der Artikel 23 des Grundgesetzes lautet: Dieses Grundgesetz gilt in den Ländern Baden, Bayern… In weiteren Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen." Hätte also 1990 ein grenznaher Kreis seinen Beitritt erklärt, wäre er Teil der Bundesrepublik Deutschlands gewesen, bedurfte nicht eines Aktes der Volkskammer. Das hätte aber geheissen, dass sowjetische Eliteeinheiten plötzlich auf Nato-Territorium gestanden hätten, und das wäre das Chaos gewesen. Wir haben also einen Riegel vorgeschoben und gesagt: "Verfügung über Staatsgebiet der DDR als Ganzes kann nur die Volkskammer treffen." Das war eine Befürchtung auch der sowjetischen Botschafters, der zu mir kam und sagte: "Da müsst ihr einen Riegel vorschieben." Er kam dann noch ein weiteres Mal. Als wir die Länder gründeten, gab es Überlegungen, SachsenAnhalten nicht wieder zu beleben, sondern die Altmark wieder zu Brandenburg zu schlagen und den Halle-Merseburgerraum zu Sachsen, und die Vorpommern wollten auch zu uns, zu Brandenburg, kommen, und da kam der sowjetische Botschafter und sagte: "Wir haben 1947 Preussen als Staat aufgelöst. Wir werden nicht hinnehmen, dass ihr ein Land schneidert, das wieder in den äusseren Massen Preussen ähnelt und Preussen gleichkommt." Für die Sowjets war Preussen immer die Quelle alles Bösen des deutschen Militarismus und alles, was darin vorbehalten war. Der dritte entscheidende Schritt war die Aushandlung und Verabschiedung des Vertrages über die Wirtschaftswährung und Sozialunion. Eingegangen ist er in das Bewusstsein der Menschen eigentlich nur als der Vertrag, der die DM in die DDR brachte. Das ist auch richtig, zumal die Menschen demonstrierten: "Kommt die DM bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr." Nach dem Fall der Mauer gingen täglich 2000 bis 3000 Menschen, und es gingen nicht die alten, sondern die jungen, die dynamischen, die gut ausgebildeten, die die wir für die Zukunft brauchten. Es gab ja diese Ausreisewelle. Sie erinnern sich an die vollen Zeltplätze in Ungarn, an die Botschaft in Prag usw. Am Ende der DDR gab es rund 750 000 nicht bearbeitete Ausreiseanträge, und an denen hingen zum Teil ganze Familien, so dass man sagen kann, etwa 1,5 Millionen oder 2 Millionen Menschen sassen auf gepackten Koffern und wollten diesem Land den Rücken kehren, weil sie für sich und ihre Familie keine Zukunft mehr dort sahen. Nach dem Fall der Mauer gingen, wie gesagt, 2000 bis 3000 pro Tag. Ich habe damals mit Bundeskanzler Kohl gesprochen und gesagt: "Wir müssen Signale setzen, die Bleibehoffnung bringen, die den Menschen sagen, es gehe auch bei uns wieder voran usw." Eins dieser Signale war die DM. Strittig war der Kurs, ob 1 zu 1 oder 1 zu 2. Es war ein politischer Kurs, der Löhne, Stipendien, Renten 1 zu 1 umtauschte. Im Ganzen ist 1,81 herausgekommen, weil wir ja die Ersparnisse nur bis zu einem bestimmten Betrag 1 zu 1 umtauschten und übersteigende Beträge 2 zu 1. Dies war auch gar nicht anders möglich. Ein DDR-Rentner hatte ungefähr 350 Mark der DDR. Hätten wir diese nur 1 zu 1 umgestellt, hätte er von diesem Geld in DM nicht leben können, weil alle Subventionen in der Marktwirtschaft weggeschlagen wurden. Wir haben also komplizierte Warenkorbberechnungen angestellt: Wie viel braucht eine einzelne Person für Miete, für irgendwelchen Personennahverkehr, für Zeitungen, für Nahrungsmittel, für andere Anschaffungen, Kleidung? Wir kamen auf 495 DM. Wir haben also allen Rentnern zunächst 495 DM gegeben und später erst dynamisiert. Bei den Löhnen und Gehältern war es genau gleich. Der Lohnunterschied betrug 100 zu 40. Wenn wir nicht sehr schnell zu Lohnerhöhungen gekommen wären, wären uns die Leute davongelaufen. Kurt Biedenkopf brachte mir damals eine Studie, die man in der Bundesrepublik gemacht hatte: Wie gross dürfen die Lohnunterschiede sein, bevor Menschen anfangen, zu wandern,

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also wie viel mehr kann man in Frankfurt am Main verdienen, bevor derjenige, der im bayrischen Wald wohnt, anfängt, nach Frankfurt zu ziehen oder da bleibt? Da hatte man folgendes herausgefunden: Etwa 100 zu 70. Wir hatten aber 100 zu 40. Wir haben also gesagt: "Wir müssen sehr schnell versuchen, Löhne und Gehälter so anzugleichen, dass die Menschen sehen: "Es lohnt sich nicht zu gehen, ich bleibe hier, ich habe hier mein Häuschen, meine Familie, meine Freunde usw.", also Signale für Bleibehoffnung setzen." Wir haben mit diesem Vertrag zweitens die Planwirtschaft der DDR über Nacht in die Marktwirtschaft umgewandelt. Alle Betriebe wurden über Nacht aus der Gewinnabführungspflicht der volkseigenen Wirtschaft entlassen und zu Steuersubjekten. Alle Betriebe wurden über Nacht Kraft Gesetz zu Kapitalgesellschaften, entweder GmbH oder Aktiengesellschaften. Alle Betriebe wurden Eigentümer der Immobilien, auf denen sie waren. Deswegen haben wir noch wenige Tage vorher mit dem Treuhandgesetz Paragraph 11 Absatz 2 so eine Eigentumsregelung geschaffen, dass die Betriebe bleibbaren Grund und Boden hatten. Bis dahin waren die Betriebe nicht Eigentümer der Immobilien, auf denen sie waren. Das war also unteilbares Volkseigentum, war heilige Kuh. Für diesen ganzen Transformationsprozess gab es kein Vorbild. Es gab auch keine Theorie. Wir hatten in der DDR Hunderte von Lehrbüchern, in denen man nachlesen konnte, wie man von der Marktwirtschaft zur Planwirtschaft kommt, aber leider Gottes kein einziges Buch für den Rückweg. 10 Jahre nach der Einheit legte ein junger Wissenschafter in Dresden eine Habilitationsarbeit vor, in der er die Schritte des Übergangs vom Plan zum Markt darstellte. Wolfgang Schäuble und ich waren da und haben uns die Verteidigung der Habilitationsarbeit angehört und haben gesagt: "Junger Mann, das ist spannend und ist wahrscheinlich auch alles richtig, aber 10 Jahre zu spät." Das ist postmortale Klugscheisserei auf Deutsch gesagt. Wir waren die Ersten, die diesen schwierigen Prozess angegangen haben. Es ist viel über die Treuhandanstalt geschimpft und gemeckert worden, aber die Polen, die Tschechen, die Ungaren haben uns die Treuhandanstalt nachgebildet, und wer sich einmal ansieht, wie dies herrenlos gewordene Volkseigentum in Russland, in der Ukraine, in Weissrussland privatisiert worden ist, wie sich wenige hemmungslose Oligarchen dies unter den Nagel gerissen haben und zu einer Verarmung der gesamten breiten Schicht des Volkes beigetragen haben, haben wir es wahrscheinlich doch nicht ganz so falsch gemacht mit dieser Treuhandanstalt, die einen ganz komplizierten Auftrag hatte. In Paragraph 1 hiess es: "Die Treuhandanstalt dient der Umstrukturierung und der Privatisierung der volkseigenen Wirtschaft." Die Experten sagten: "Das geht nicht, das ist ein Zielkonflikt. Entweder Umstrukturierung oder Privatisierung." Wir haben gesagt: "Genau diesen Zielkonflikt müssen wir aushalten und bewältigen." Es war eine grosse Tragödie für die ostdeutsche Wirtschaft, dass Ostern 1991 Carsten Detlef Rohwedder erschossen wurde, der Präsident der Treuhandanstalt, der diese Aufgabe genau so angenommen hatte. Die spätere Präsidentin, Frau Breuel, hatte einen sehr viel stärkeren fiskalischen Ansatz und nicht so sehr einen volkswirtschaftlich orientierten Ansatz. Möglicherweise sah sie auch keine Alternative. Dennoch: Ein ganz schwieriger Prozess, der einmalig war und mit diesem Vertrag über die Wirtschaftswährung und Sozialunion in Gang gesetzt worden ist, der uns zugleich auch die Übernahme der bundesdeutschen Steuergesetze brachte, damit auch die Frage, welche Mittel wir zur Verfügung haben werden. Sie müssen davon ausgehen, dass ein Betrieb, der keinen Gewinn macht, keine Körperschaftssteuer zahlt. Leute, die wenig Einkommen haben, zahlen wenig Einkommenssteuer. Leute, die niedrige Löhne haben, zahlen gar keine Steuern, weil ihr Lohn unter der Steuerfreigrenze liegt usw. Es gab eigentlich nur eine einzige Steuer, von der wir annehmen konnten, dass sie regelmässig fliessen wird, nämlich die Verbrauchssteuer, die Mehrwertsteuer. Die Menschen hatten einen unglaublichen Nachholbedarf, und

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aus den 160 Millionen Mark der DDR-Ersparnisse wurden 120 Milliarden DM, ein gewaltiger Kaufkraftschub, und zwar nicht für die ostdeutsche Wirtschaft, sondern für die westdeutsche Wirtschaft, denn die Leute wollten nun keinen Trabi mehr kaufen, sondern VW kaufen und wollten dummerweise nicht einmal mehr ihre Thüringersche Rotwurst essen, sondern Pfälzer Leberwurst. Die Ostdeutschen haben damals den Gebrauchtwagenmarkt von Mitteleuropa bis zum Atlantik leer gekauft. In der DDR wurden pro Jahr 80 000 Fahrzeuge zugelassen. Das waren Trecker, Lastwagen, Busse und Pkw. Wir haben in der Zeit von der Währungsunion, vom 1. Juli bis zum 3. Oktober, 450 000 Fahrzeuge zugelassen. Also einen unglaublichen Run auf die Fahrzeuge. Vor den Polizeizulassungsstellen standen Campingwagen, wo kleine Firmen Nummernschilder produzierten, denn in der Masse konnte keiner Nummernschilder herstellen. Es war eine merkwürdige goldgräberähnliche Stimmung, aber dieser Vertrag hat sich, glaube ich, im Wesentlichen bewährt. Der vierte Schritt war die Aushandlung und Verabschiedung des Vertrags, den man Einigungsvertrag nennt. Er wurde zunächst "Zweiter Staatsvertrag" genannt. In der ersten Verhandlungsrunde habe ich dem bundesdeutschen Verhandlungsführer Dr. Schäuble gesagt: "Wir müssen diesem Vertrag einen Namen geben. Er muss für die Menschen erkennbar sein, und was er bewirkt." Ich habe vorgeschlagen, ihn Einigungsvertrag zu nennen. Ich bin heute noch stolz, dass ich die Urheberschaft für dieses Wort habe. In fast 3000 Einzelfallregelungen haben wir die Rechtseinheit in Deutschland wieder hergestellt. Sie müssen wissen, dass in diesen 45 Jahren Teilung, seit dem 2. Weltkrieg bis 1990, die Rechtsordnungen sich völlig auseinander entwickelt hatten. Wir hatten ein eigenes Zivilgesetzbuch, ein eigenes Familienrechtbuch, ein eigenes Strafgesetzbuch. Die Wirtschaft wurde nach speziellen Wirtschaftsrechtsnormen reguliert. Wir haben damals gesagt: "Wir müssen einen Adapter zwischen den beiden nicht kompatiblen Rechtsgebieten herstellen, so ähnlich wie man, wenn man zwei Elektrogeräte hat, die nicht kompatibel sind, ein Stück dazwischen haben muss" – das war die Idee – , "und wir müssen vor allen Dingen wissen, dass es in diesem Vertrag nicht darum geht, dass der eine sich über den anderen durchsetzt, weil wir am Ende alle zusammen mit dem Ergebnis dieses Vertrages leben müssen." Ich weiss, dass wir eine Nacht diskutiert haben und gesagt haben: "Das ist eigentlich kein Vertrag, sondern es ist ein "contrat social", ein Gesellschaftsvertrag, ein Vertrag, mit dem wir bestimmen, wie wir in diesem geeinten Deutschland zukünftig miteinander umgehen wollen." Es gab ganz schwierige Fragen. Wie gehen wir mit der Eigentumsfrage um? Wie gehen wir mit den Enteignungen um, der NS-Zeit, insbesondere dem jüdischen Eigentum? Wie gehen wir mit den Enteignungen der Zeit von 1945 bis 1949, die auf die sowjetische Besatzungsmacht zurückgingen um, wo die Sowjets darauf beharrten, dass dies keinesfalls rückgängig gemacht werden dürfe? Wie gehen wir mit den Enteignungen von 1949 bis 1990 um? Welcher Unrechtsgehalt ist so schlimm, dass man unbedingt restituieren muss? Wo müssen wir aber gutgläubigen Erwerb schützen? Immerhin hatten ja viele Leute Häuschen gebaut oder gekauft und waren gutgläubig dabei auf dem Boden der Rechtsordnung der DDR. Wir haben uns letztendlich entschieden, das Rückgabeprinzip anzuwenden, aber die Ausnahmen zu beschreiben, die notwendig sind, um Härten zu vermeiden. Dennoch waren wir auf der ostdeutschen Seite zunächst dafür, lieber ein Entschädigungssprinzip zu machen. Theo Waigel, Finanzminister, fragte mich damals: "Was kostet denn so ein Entschädigungssprinzip, und wie viele Fälle werden das werden?" Da diese Enteignungen immer ziemlich "top secret" in der DDR gehandhabt wurden, habe ich gesagt: "Vielleicht 500 000 Fälle". Geworden sind es 1,2 Millionen Fälle. 1,2 Millionen Enteignungsfälle mussten durch die Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen behandelt werden. Helmut Schmidt hat mal gesagt, ich hätte damit die grösste ABM-Massnahme für die deutsche Anwaltschaft geschaffen. Tatsächlich haben wir

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jahrelang mit der Abwicklung dieser Vermögensfragen zu tun gehabt, und sie war natürlich auch ein schwieriges Investitionshemmnis, denn ein Drittel des Grund und Bodens in der DDR war rezessionsbehaftet, so dass er für Investitionen nicht zur Verfügung stand. Wir haben dann Reparaturen gehabt: Investitionsvorranggesetz, Registerverfahrensbeschleunigungsgesetz, Schuldrechtsänderungsgesetz und Sachenrechtsanpassungsgesetz. Der deutsche Bundestag hat also jahrelang Reparaturen an diesem Prinzip gemacht. Andere schwierige Fragen waren: Was wird aus den Ausbildungsabschlüssen und akademischen Graden usw. in der DDR? Die bundesdeutsche Seite sagte: "Das können wir mit euch nicht verhandeln. Das macht bei uns der Kultusministerkonferenz". Ich habe damals gesagt: "Ja, aber wir haben noch keine Länder und auch keine Mitglieder in der Kultusministerkonferenz." Wir haben uns nachher geeinigt. In Artikel 37 heisst es: "In der DDR erworbene und anerkannte Berufs- und Ausbildungsabschlüsse und akademische Grade bleiben in den ostdeutschen Ländern weiterhin wirksam. In den anderen Ländern werden sie anerkannt, wenn ihre Gleichwertigkeit festgestellt wird." Es wurde also später ein Verfahren zur Herstellung der Gleichwertigkeit von Berufsabschlüssen hergestellt. Das war bei Medizinern relativ einfacher. Der Mediziner findet den Blinddarm in Frankfurt am Main an der gleichen Stelle wie in Frankfurt an der Oder, aber das ist schon bei Juristen sehr kompliziert. Auch bei den Naturwissenschaften war es relativ einfach, aber es gibt eben auch Berufe, bei denen dies kaum darstellbar ist. Es gab vor allen Dingen im Osten Deutschlands Berufsbilder, für die es kein Pendant in Westdeutschland gab. Da musste erst gesagt werden: "Wem könnte dies entsprechen?": Ein Prozess, der ausserordentlich kompliziert war. Wir haben regeln müssen, wie die beitrittsbedingten Verfassungsänderungen aussehen. In der Präambel musste das Wiedervereinigungsgebot gestrichen werden. Die Sowjets beharrten darauf, dass der Artikel 23 gestrichen wird, weil sie sagten: "Wenn die DDR beigetreten ist, dann soll mit der Beitreterei einmal Schluss sein, sonst kommt noch jemand anderer auf die Idee, nach Artikel 23 beitreten zu wollen und damit die Grenzfrage neu zu stellen." Es gab also eine ganze Reihe von sehr komplizierten Verfassungsfragen, die wir damals versucht haben, zu lösen, und wir haben auch einen Artikel 5 "Zukünftige Verfassungsänderung" gehabt, und wir haben in den Anlagen zum Einigungsvertrag einen Artikel 233 BGB "Moratorium". Das hört sich furchtbar juristisch an. Das war so eine Art Lumpensammler. Da haben wir die Probleme hineingetan, die wir nicht gleich lösen konnten, weil wir gesagt haben, das möge der zukünftige deutsche Gesetzgeber lösen. Es gab zum Beispiel einen grossen Streit über die Frage der Legalität der Schwangerschaftsabbrechung 218 StGB. Es gab unserer Meinung nach eine Notwendigkeit, Teile des DDR-Rechts zu übernehmen, beispielsweise, dass das ausserhalb der Ehe geborene Kind in der DDR volles Erbrecht hatte, in der Bundesrepublik aber nur einen Erbersatzanspruch, ein minderes Erbrecht. Es gab also eine ganze Reihe von Dingen, die wir an den zukünftigen deutschen Gesetzgeber delegiert haben, insbesondere auch die endgültige Regelung von Renten- und Altersversorgungsansprüchen, die dann zu schwerwiegenden Verfahren und Prozessen geführt haben. Dennoch glaube ich, dass dieser Einigungsvertrag seine Aufgabe erfüllt hat. Damit komme ich zum fünften Punkt, der schon in der Überschrift meines heutigen Vortrags benannt ist, "Zwei plus Vier". Am 13. Februar 1990 trafen sich in Ottawa die Aussenminister der vier Siegermächte und der beiden deutschen Staaten bei der Konferenz "Offener Himmel", "Open Sky". Am Rande dieser Tagung vereinbarte man, dass man sich nun wohl doch Gedanken machen müsse, was denn mit der deutschen Einheit würde und dass man da einen Prozess in Gang setzen müsste. Der Prozess nannte sich zunächst "Vier plus Zwei". Es hat grosse Anstrengungen der Bundesrepublik, aber auch

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unserer Seite bedurft, zu sagen: "Nein! Der Prozess heisst Zwei plus Vier. Die beiden deutschen Teilstaaten beschliessen in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker deren Wiedervereinigung und beteiligen Euch vier Grossen in dem Masse, wie sich dies aus der Vertragslage von Jalta, Potsdam, Viermächte-Abkommen und Ähnlichem ergibt. Die Frage, ob wir uns vereinigen, haben wir in Leipzig und Berlin auf der Strasse entschieden. Die ist entschieden. Ihr dürft nur noch bei dem Wie mitreden." Das war für diese vier Grossen eine ganz merkwürdige neue Erfahrung, waren sie doch bis dahin die Herren der Welt, die sagten, was in Deutschland zu sein hatte. Die Bundesrepublik war teilsouverän, viel souveräner als die DDR, aber in bestimmten Fragen eben auch nur teilsouverän, und die DDR war mindersouverän und das, was in der DDR geschah, wurde im Wesentlichen in Moskau entschieden. Ich habe dies noch erlebt, als ich am 29. April 1990 zum ersten Mal nach Moskau zu Michael Gorbatschow kam. Da sagte er zu mir: "Ich erwarte von Ihnen das, das, das und das." Da sagte ich zu ihm: "Herr Präsident Gorbatschow, die Zeit, wo der DDR-Ministerpräsident zum Befehlsempfang kommt, ist vorbei. Wir dürfen uns beide jetzt über das unterhalten, was wir gemeinsam zu lösen haben." Das war auch für ihn eine völlig neue Erfahrung. Er hat erstmals furchtbar getobt. Wir sind heute echte gute Freunde, und er hat mir vor einer Weile einmal gesagt: "Dass wir Freunde sind, hängt daran, dass du damals so frech warst." Dabei war es der Mut der Verzweiflung, kann ich Ihnen sagen. Der Kreml ist vielleicht 300 bis 400 Meter lang, und ganz links war das Arbeitszimmer vom Präsidenten Gorbatschow. Man wird ganz rechts eingespeist und muss durch 18 Säle gehen. Wie eine Ameise soll man aufsteigen zum Sonnengott, und ich wurde von Saal zu Saal wütender, um es einmal so zu sagen, und dachte: "Das wirst du mir schon büssen." Ich hatte mir überlegt, wie man das beginnt und mir ein Stück Berlinermauer in die Tasche gesteckt. Das habe ich ihm auf den Tisch gelegt und gesagt, das wäre unser Dank für sein Wort: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." Ich wollte ihm aber zugleich auch sagen, diese Mauer stehe ja nicht ganz ohne sowjetisches Zutun. Das hat er sehr genau begriffen. Diese erste Begegnung war eine sehr schwierige. Aber, wie gesagt, damit kann man sich auch später auseinandersetzen. Zurück zum "Zwei-plus-Vier"-Prozess: Die vier Siegermächte waren höchst unterschiedlich dazu eingestellt. François Mitterand war zunächst sehr abwartend, wenn nicht dagegen. Er hatte ja die DDR ja noch im Dezember 1989 besucht und mit der DDR ein Vierjahres-Handelsabkommen abgeschlossen. Er wollte damit signalisieren: "Ich gehe von der Stabilität dieses Staates zumindest für die nächsten vier Jahre aus." Ich habe damals sein Präsidialkanzleichef, Herrn Bianco, gewarnt und gesagt: "Ihr macht Euch lächerlich". Helmut Kohl hat ihn wohl davon überzeugt. Mitterands Befürchtung war, dass das geeinte Deutschland sich nur mit sich selbst beschäftigen und den europäischen Einigungsprozess nicht mehr vorantreiben würde. Dies ist durchaus nicht geschehen. Sie wissen, dass Deutschland der Motor der weiteren Entwicklung in europäischer Union, insbesondere auch was die Osterweiterung der Europäischen Union anbelangt, geworden ist. Die weitere Befürchtung war, das vereinte Deutschland könne so gross werden, dass es wieder Hegemonialbestrebungen an den Tag legt und in der Mitte Europas wieder eine Vormachtstellung anstrebt, wobei uns allen klar war, dass wir deutlich machen müssen, dass wir Deutsche die Lehren aus unserer Geschichte gelernt haben. Wir sind ja das Volk mit den meisten Nachbarn, wenn Sie mal zählen, wie viele Nachbarn wir haben, mit denen wir gut auskommen müssen. Bis zum Schluss strikte dagegen war Frau Thatcher, möglicherweise auch vom Alter her. Sie war Kriegsgeneration, hat die Bombardierung von London, von Coventry erlebt und war sehr skeptisch. Ich habe sie besucht, und sie wollte mir einreden, dass wir Ostdeutschen die Einheit nicht wollten und dass wir gefressen würden von den Grossen. Ich habe versucht, ihr klar zu machen. "Nein! Auch wir Ostdeutschen wollen die deutsche Einheit." Das hat sie zumindest nachher wohl

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geglaubt, aber sie war der Meinung, sie müsse dagegen halten, und dafür benutzte sie ihren Aussenminister Herrn Douglas Hurd, der aus allem immer wieder Schwierigkeiten machte im "Zweiplus-Vier-Prozess". Den weitesten Weg musste die Sowjetunion gehen. Sie musste sich von dem Faustpfand der DDR trennen, von einem ihrer wichtigsten Wirtschaftsverbündeten. Die DDRWirtschaft war zu 60 Prozent Exportwirtschaft, und 90 Prozent unserer Exporte gingen in die Sowjetunion. Nur um so noch eine Zahl, die mir gerade einfällt, zu nennen: Wir haben in die Sowjetunion im Lauf der Jahre 42 000 Dieselnotstromaggregate geliefert. Alle Krankenhäuser in der Sowjetunion hatten Dieselnotstromaggregate aus der DDR. Fast alle Chemieanlagen, also Raffinerien, waren von der DDR gebaut worden, immer zu ungünstigen Preisen. Im Rahmen des RGB waren die Handelsbeziehungen immer stärker zum Vorteil der Sowjetunion ausgerichtet und zum Nachteil der kleineren Staaten, zu denen wir gehörten. Sie wissen, dass die Hauptfrage war: Soll das geeinigte Deutschland frei sein, sich seine Bündnispartner zu wählen, also Nato-Mitgliedschaft ja/nein? Wir haben damals gesagt, die Nato-Mitgliedschaft ist den Sowjets nur zumutbar, wenn die Nato sich gewissen Prinzipien. Eines davon lautete: "Ein gegenwärtiger oder bevorstehender Angriff des Gegners wird auf dem Territorium des Gegners gestoppt." Ich habe in DDR-Zeiten immer ganz merkwürdig gefunden, dass man der Meinung war, man müsste den gegenwärtigen Angriff des Gegners auf dem Boden der DDR stoppen. Immerhin ging ja die Teilung Deutschlands durch unsere Familie hindurch, und einer der leitenden Generale war mein Onkel. Es ist schon eine merkwürdige Situation, wenn man sich so was familiär vergegenwärtigt. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag enthält seinem Wesen nach alle Bestimmungen eines Friedensvertrags. Dennoch haben wir ihn nicht so genannt. Das deutsche Reich befand sich am Ende des zweiten Weltkriegs mit 108 Staaten im Kriegszustand. Wenn wir mit den vier Grossen einen Friedensvertrag abgeschlossen hätten, hätten möglicherweise 104 weitere Staaten gemeint, sie bräuchten auch noch so einen Vertrag, und ich fürchte, wir hätten dabei jedes Mal das Wort Reparation nochmals neu buchstabiert. Das konnte in unserem Interesse so nicht liegen. Deshalb heisst der Vertrag "Vertrag über die endgültige Regelung in Bezug auf Deutschland", aber er beschreibt die Grenzen Deutschlands. Es heisst: "Das geeinte Deutschland besteht aus der Bundesrepublik, aus der DDR und Berlin." Weiter steht: "Deutschland verzichtet endgültig und dauerhaft auf Herstellung, Verbreitung und Besitz von A-, B- und C-Waffen. Deutschland wird sich niemals an Aggressionskriegen beteiligen. Das geeinte Deutschland wird eine Wehrmacht haben, die nicht grösser als 370 000 Mann ist", – Sie wissen, dass jetzt der Bundesverteidigungsminister auf 140 000 Mann hinunter will – "und das geeinte Deutschland wird selbstverständlich den Artikel 23 abschaffen und einiges mehr." Bei der letzten Beamtenrunde am 1. Dezember 1990 in Berlin kam Alexander Bondarenko, der russische Unterhändler, ein beinharter Sowjetdiplomat an und legte noch einen neuen Artikel 9 vor, in dem er vier Punkte hatte: 1. Die Unabänderlichkeit der sowjetischen Besatzungsmassnahmen in Eignungsfragen, aber auch in anderen Fragen, Tribunale, Deportationen, Kunstraub usw. 2. Deutschland verpflichtet sich, die sowjetischen Grab- und Kriegsdenkmale zu pflegen und zu halten. 3. Deutschland wird keine neonazistische Parteien zulassen, und 4. Deutschland wird den Vertragsbestand der DDR mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern unter Beachtung der Grundsätze des Vertrauensschutzes auflösen oder fortführen usw. Wir haben gesagt: "Das ist alles Unsinn. Die Eigentumsfrage haben wir im Einigungsvertrag gelöst, der gestern, am 31. August, unterschrieben wurde. Die Grab- und Kriegsdenkmale zu pflegen ist moralische Anstandspflicht. Naziparteien wollen wir nicht, und Artikel 12 des Einigungsvertrages regelt die Fragen der Staatensukzession." Das reichte nicht. Die Sowjets bestanden darauf, und dann haben wir uns

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geeinigt, wie es in der deutschen Nachkriegsgeschichte schon mal war: Es wurde ein Brief entworfen, und wir haben vor dem Zwei-plus-Vier-Vertrag in Moskau einen Brief unterschrieben, Hans-Dietrich Genscher und ich, in dem wir diese vier Punkte versicherten. Damit war es eine einseitige Willenserklärung von uns und kein uns aufgezwungener Vertragsinhalt. Es gab noch eine Panne. Ich unterschrieb und Hans-Dietrich Genscher unterschrieb, und Hans-Dietrich Genscher siegelte diesen Brief, und ich nicht, weil die Volkskammer das Staatswappen der DDR bereits abgeschafft hatte. Ich hatte kein Siegel mehr. Die Russen sagten daraufhin, das gelte nicht. Für die Russen ist ein Dokument erst dann rechtsgültig, wenn ein grosser runder Stempel drauf ist. Was tun? Sie bestanden darauf. Wir schickten also einen Kraftfahrer in die DDR-Botschaft. Dort fand sich noch ein Stempel mit "Hammer Zirkel Ährenkranz". Den habe ich aufgedrückt, und damit waren die Russen zufrieden. Jetzt ist also dieser hochwichtige Brief, der ja Bestandteil des Vertrages ist, denn die Briefe, die zeitlich und örtlich im Zusammenhang mit einem Vertrag unterschrieben werden, werden Bestandteil des Vertrages – so war es auch bei dem Brief zur deutschen Einheit bei den Ostverträgen schon gewesen – mit zwei geltenden Unterschriften, mit einem geltenden und einem ungültigen Siegel versehen. So geht das manchmal. Dann endlich gingen wir in den grossen Raum im Hotel Oktyabrskaya, das war das Gästehaus der KPdSU, heute heisst es Hotel Präsident, und da waren sechs Plätze und sechs Füllfederhalter. Ich ging hinein und sagte mir: "Wenn du hier hinaus gehst, nimmst du den Füllfederhalter mit. Das ist die wichtigste Unterschrift in deinem Leben, wenn du einmal von der Unterschrift absiehst, die du immer so leichtfertig beim Steueramt Mitte abgegeben hast. Das ist letztendlich so eine Art Friedensvertrag. Den Füllfederhalten wirst du haben, den kriegen mal deine Enkel." Ich hatte beim Rausgehen ein schlechtes Gewissen. Ich habe ihn in die Tasche gemogelt, drehte mich um und stellte fest, dass die anderen fünf auch weg waren. Ich habe mich mit Genscher unterhalten und zwischendurch auch mal mit Roland Dumas, und die sagten: "Es war uns allen klar: Den Füllfederhalter müssen wir mitnehmen." Ich las dann später in einem Geschichtsbuch, die Aussenminister hätten die sechs goldenen Füllfederhalter mitgenommen. So entstehen Legenden. Meine Damen und Herren, es war ein Billigprodukt, made in Taiwan, mit einer vergoldeten Feder. Wer meinen Füllfederhalter sehen will, kann dies in Berlin im alliierten Museum. In der Kleeallee gibt es ein Museum, in dem die Geschichte des Kalten Krieges dargestellt wird, von Fulton, das war der Ort, wo 1946 Churchill das erste Mal das Wort des Eisernen Vorhangs gebraucht hatte, bis Malta so ungefähr, und dort ist er als Dauerleihgabe, und alle zwei Jahre, wenn der Vertrag ausläuft, fragen mich die Kuratoren dieses Hauses, ob ich ihn ihnen nicht endlich dauerhaft überlassen wolle, und ich sage jedes Mal: "Neuer Vertrag, aber Dauerleihgabe, kriegen die Enkel." Wie ich dies mit meinen elf Enkeln mal herstellen soll, weiss ich auch nicht so genau, aber es gibt also auch in dieser grossen Politik ab und an so ganz komisch menschliche Situationen, so einen Füllfederhalter oder sonst irgendwas. Nachdem es vorbei war, gab Gorbatschow ein kleines Essen, und ich hatte eine Menükarte und sagte: "Meine Damen und Herren, das ist ein wichtiger Tag und ich hätte gerne, dass ich hinten auf meine Menükarte meinen Namen schreibe und dass Sie alle nochmals unterschreiben." Dann sagten die anderen: "Das wollen wir auch." Plötzlich sassen wir alle da und haben unsere Menükarte unterschrieben. In dem Buch, das Sie da vorhin in der Hand hatten, ist sie abgebildet, diese Menükarte mit den sechs Unterschriften der Aussenminister, und Michael Gorbatschow hat quer unterzeichnet, weil er meinte, er gehörte nicht dazu. Damit waren die fünf Voraussetzungen, nämlich Herstellung der kommunalen Selbstverwaltung, Herstellung der Länder, gemeinsamer Wirtschaftsraum, gemeinsamer Rechtsraum und die aussenpolitischen Bedingungen erfüllt, und damit konnte der 3. Oktober kommen, den wir in der Nacht zum 23. August beschlossen hatten. Ich habe

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am 2. Oktober eine merkwürdige Aufgabe gehabt. Ich habe im Schinkelschen Schauspielhaus, bevor Kurt Masur, den ich darum gebeten hatte, Beethovens 9. Symphonie intonierte, die DDR als Staat aus der Geschichte verabschiedet. Das ist ein Moment, bei welchem einem einfach ein bisschen flimmerig wird. Ich dachte: "Du verabschiedest den Staat, der im Grunde genommen fast deine ganze Biographie gewesen ist." Es war ein wenig beliebter Staat, aber immerhin war er unser Gemeinwesen. Ich habe damals einen Satz gesagt, mit dem ich dann auch ganz gerne schliessen möchte: "Die deutsche Einheit ist mit dem Beitritt nicht abgeschlossen. Sie ist und bleibt eine Gemeinschaftsaufgabe aller Deutschen. Sie ist nicht nur eine materielle Frage, sondern eine Frage des praktizierten Gemeinsinns. Die Einheit will nicht nur bezahlt, sondern vor allem auch mit dem Herzen gewollt sein." Das war der schwierige Prozess, der dann begann, und wenn ich jetzt, 20 Jahre später, darüber nachdenke, hilft mir manchmal ein Wort des berühmten französischen Philosophen Ernest Renan, der einmal über die Nationen nachdachte. Normalerweise wird ja Nation immer als gemeinsamer Staatsraum, gemeinsamer Wirtschaftsraum, gemeinsame Kultur usw. definiert. Renan sagte: "Nein! Es sind zwei andere Dinge: Erstens das Wissen, eine gemeinsame Geschichte zu haben, und zweitens der Wille, eine gemeinsame Zukunft haben zu wollen." Ich glaube, der Wille eine gemeinsame Zukunft haben zu wollen, ist in den letzten 20 Jahren in den beiden Teilen Deutschlands, die jetzt unser vereintes Vaterland sind, nicht weniger geworden, sondern gewachsen. Damit sind wir auf einem guten Weg, und deswegen gehe ich ganz munter und frohen Mutes auf den 3. Oktober dieses Jahres zu. Herzlichen Dank. Wer es noch etwas genauer will, kann sich das Buch kaufen. Ich habe eine laienhafte Frage bezüglich der nationalen Volksarmee, die ja ganz oder zu Teilen in die Bundeswehr übernommen wurde: Diese Leute wurden ja während Jahrzehnten gedrillt oder getrimmt, ausgebildet, einen Angriff nach Westen auszutragen. Waren dies denn von heute auf morgen loyale Bundesbürger in Uniform, oder wie war es? Zunächst muss ich folgendes dazu sagen: Wir haben ja im Zuge des Herbstes und des Jahres 1989 die Staatssicherheit aufgelöst, die Bereitschaftspolizei, das war so eine Art Prügeltruppe, die Kampfgruppen der Betriebe, und wir haben all diese Waffen bei der Volksarmee eingelagert, und die Volksarmee hat uns bis zum 3. Oktober die absolute Bewachungssicherheit über diese Riesenwaffenmengen geliefert. Wir haben beim Einigungsvertrag verhandelt, wie wir die Armeen behandeln, und es ist damals vereinbart worden, dass 20 000 Soldaten der Volksarmee übernommen werden, und zwar bis zum Majorsgrad, nicht darüber, also die wirklich leitenden Offiziere, und auch kein Politoffizier, sondern nur Offiziere aus den Verbänden, also aus der Infanterie, der Mottschützen und Panzerdivisionen usw., und die Übernommenen bis zum Major wurden in aller Regel noch um ein bis zwei Dienstgrade herabgestuft, weil die DDR, um überhaupt Offiziere zu haben, die Dienstgrade hochgehoben hatte, damit sie besser verdienten, weil normalerweise die Armee nicht sehr beliebt war. Das Merkwürdige ist: Man hätte gedacht, das gehe am Allerschwierigsten, und gerade die Vereinigung der beiden Armeen in der Weise, wie ich sie eben beschrieben habe, ist am Unkompliziertesten von manch anderem gelaufen. Offensichtlich liegt dies daran, dass da Menschen daran sind, die gewohnt sind, zu parieren und zu gehorchen und Befehle zu respektieren oder sonst irgendwas. Mir haben einige Offiziere, die von der Bundeswehr übernommen worden sind und aus der DDR-Zeit stammen, gesagt: "Wenn wir gewusst hätten, wie die Bundeswehr funktioniert! Wenn wir da freitags losmarschiert wären, wären wir am Sonntagabend am Atlantik gewesen, und keiner hätte es gemerkt." Sie sahen: "Der Dienst ist sehr viel lockerer in der Bundeswehr und sehr viel ziviler usw." Es

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war für sie eine völlig neue Erfahrung, dieses Bild Staatsbürger in Uniform, innere Führung, Dinge, die ich relativ gut weiss, weil sie Erfindung meines Onkels gewesen sind. Wir haben in dieser Zeit vom Fall der Mauer bis zur Einheit in dieser Volksarmee keinen einzigen Fall der Illoyalität erlebt, und dies liess mich darauf vertrauen, dass dies auch gehen könnte. Ich weiss, dass zum Beispiel im Kollegium, das war das Führungsgremium der Volksarmee, im Herbst darauf geachtet wurde, dass an den Montagen nicht die Hardliner, sondern die Bedächtigeren Dienst hatten, damit da nicht plötzlich einer bei Montagsdemonstrationen losschiesst oder sonst so etwas. Der letzte Chef der NVA, Admiral Hoffmann, hat mir einmal gesagt: "Das Volk der DDR hat uns, so wie wir waren, abgewählt. Insofern bin ich berechtigt nicht mehr Offizier." Das fordert auch ganz schön Überwindung, sich so der Geschichte zu stellen. Ich habe 1990 immer gesagt: "Wir müssen uns an eine Brechtsche Elegie erinnern." Brecht zog sich in seinen letzten Jahren, jedes Jahr nach Buckow zurück, einem sehr schönen Ort in der Märkischen Schweiz, und schrieb dort ein paar Elegien und dort schrieb er eine Elegie über den 17. Juni, die sinngemäss lautete: Nach dem grossen Volksaufstand liess der erste Sekretär des Schriftstellerverbandes auf der Stalinallee Zettel verteilen, auf denen zu lesen war, dass das Volk die Regierung arg enttäuscht hätte und dass das Volk nun alle Anstrengung unternehmen müsste, um das Vertrauen der Regierung wieder zu gewinnen. Dann kommt der schöne Brechtische dialektische Sprung, bei dem Brecht sagt: "Wäre es da nicht besser, die Regierung löste das Volk auf und wählte sich ein neues?" Ich habe 1990 immer gesagt: "Wir können uns kein neues Volk wählen. Wir müssen auch mit denen, die in der NVA waren, die in der Polizei waren, die in der SED waren – immerhin waren dies 2,4 Millionen Menschen – weiterleben. Wir müssen sehen, wie wir einen Weg finden, wie wir dieses Land befrieden." Einer der Sprüche in meiner Umgebung war: "Wir müssen aufpassen, dass unsere Revolution in der girondistischen Phase bleibt und nicht in die jakobinische abrutscht." Das ist uns gelungen. Ich bin Amateurbratschist und habe sehr geschmunzelt, dass im März 90 ein Bratschist Ministerpräsident der DDR wurde. Das, was im Herbst 1989 ja fasziniert hat, war, dass diese Wende, abgesehen von Rumänien, überall gewaltlos über die Bühne ging, was man eigentlich nicht erwartet hätte. In dem Zusammenhang ist ja auch wichtig, dass viele Träger des alten Systems eigentlich auch eine sehr redliche Rolle beim Übergang gespielt haben. Mich würde noch wundernehmen, wie Sie die Rolle von Hans Modrow, mit dem Sie ja viel gearbeitet haben, wahrnehmen. Etwa 1987 begann in der SED ein Prozess, den ich den Prozess der Entsolidarisierung der Genossen von ihrer eigenen Partei nannte. In der Sowjetunion begann die Reform, Perestroika, Glasnost, und die DDR sagte: "Das brauchen wir nicht." Kurt Hager, der Ideologie-Verantwortliche sagte: "Wenn andere Leute tapezieren, müssen wir nicht tapezieren." Er kriegte den schönen Berliner Spitznamen "Tapeten-Kutte", und die Genossen wurden zunehmend unzufriedener. Ich glaube, das System ist auch zerbrochen, weil die Systemträger das System nicht mehr tragen wollten. Sie haben gemerkt, dass das nicht mehr funktioniert, nicht mehr geht. Es waren also mehrere Komponenten. Es war die Wirtschaft, es war die mangelnde Bereitschaft der Systemträger, es waren die Bürgerrechte, es waren die Kirchen. Es sind also viele Dinge zusammengekommen. Wir hatten 15 erste Sekretäre Bezirksleitung, und als die Luft bleihaltig wurde, haben sich 14 abgeduckt und nur einer ist übrig geblieben, der Hans Modrow. Der ist damals ziemlich mutig in die Pflicht gegangen und hat sich der schwierigen Aufgabe gestellt, wissend, dass es eine endliche Aufgabe ist. Ich bin ja mit in seinem Kabinett gewesen, und bevor wir eintraten, habe ich gesagt: "Zwei Dinge: 1. Aus der Verfassung der

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DDR muss die führende Rolle der SED gestrichen werden, sonst kommen wir nicht in die Koalition." Da stand nämlich drin, dass die DDR ein sozialistischer Staat ist, der unter Führung der SED den Sozialismus errichtet. "2. Wir müssen uns darüber verständigen, welche Aufgabe wir haben." Wir haben damals gesagt: "Wir wollen, dass wir mit diesem Volk ohne Hunger, ohne Frieren, ohne Blut über den Winter kommen und freie Wahlen erreichen." Diesem Ziel ist er verpflichtet geblieben, wenn gleich er manches angestellt hat, bei dem ich mich nicht verständigen konnte. Er hatte damals auch ein Ansehen in der Bevölkerung, das weit über dem Ansehen der Partei war. Er wurde ein bisschen als "der Redliche Hans" angesehen. Er hätte bloss mit dem Ende der DDR aufhören sollen. Er ist dann ja noch in den Bundestag und ins Europaparlament gegangen und hat alte sozialistische Parolen vertreten, sich beschimpfen lassen, und das hätte er sich alles ersparen können, aber wir haben ja in all diesen Übergangsländern Leute gehabt, die aus dem Apparat kamen. Gyula Horn war ja auch nicht ein strahlender Sozialdemokrat, sondern durchaus Kommunist, und seine Rolle 1956 ist bis heute nicht so ganz geklärt, und Kwaśniewski, einer der ersten Präsidenten Polens auch, also wir mussten gebrauchte Menschen nehmen. Wir hatten keine neuen. Ich möchte Ihre persönliche Empfindlichkeit an zwei Zitaten testen: Das eine bezieht sich auf die relativ berühmte Inaugurationsrede des dritten deutschen Bundespräsidenten, Gustav W. Heinemann, vom 1. Juli 1969, in welcher er gesagt hat, nicht der Krieg, sondern der Friede sei der Ernstfall, in dem wir uns alle zu bewähren hätten. Hinter dem Frieden gebe es keine Existenz mehr. Haben Sie damals die Bundesrepublik immer noch so als faschistisches, aggressives Land angesehen, oder hat dieses Zitat jetzt in Ihnen doch nicht eine ganz andere Reaktion ausgelöst? Das zweite Zitat stammt in etwa aus dem Jahre 1991. Doktor Hans Modrow wurde damals einige Male in die Schweiz eingeladen. Er hat an der Zürcher Bahnhofstrasse einmal darüber nachsinniert, dass die Ideale seiner Jugendzeit endgültig zerbrochen seien und nie mehr zurückkehren. Was hat er da gemeint? Was für Ideale waren denn in der damaligen DDR überhaupt möglich? Dieses Heinemann-Zitat kenne ich. Ich gehöre auch nicht zu denen, die in der Bundesrepublik den faschistischen Nachfolgestaat gesehen haben. Ich habe dies immer für dumme Propaganda gehalten, schon aus meiner familiären Situation heraus. Die Teilung Deutschlands ging mitten durch unsere Familie hindurch. Ein Teil wohnte in Ostdeutschland, und ein anderer Teil wohnte in Westdeutschland. Es war nicht sehr komfortabel, einen Viersternegeneral der Nato zum Onkel zu haben, wenn man in der DDR lebte. Es gab viele Reden von Bundespräsidenten, diese Heinemann-Rede, aber auch die 8. Mai-Rede von 1985 von Herrn von Weizsäcker, in der er den 8. Mai erstmals auch als Tag der Befreiung bezeichnete, also auch da eine neue Sicht brachte. Hans Modrow ist in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen, ist dort sozialistisch umerzogen worden, hat in Russland zum Teil studiert, und diese Generation hat wirklich geglaubt, der Sozialismus oder Kommunismus könne die Zukunft der Menschheit sein, Weltrevolution oder sonst irgend so etwas. Wenn man diesen Begriff nur auf den Versuch reduziert hätte, die Güter dieser Erde etwas gerechter zu verteilen, dann wäre ich ja noch bereit gewesen, da mitzugehen, aber es verband sich ja damit ein Gesellschaftssystem, das Unterdrückung und Vereinzelung heisst und eben nicht kommun ist, sondern das Gegenteil bedeutet. Vaclav Havel hat 1989 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekommen. Er konnte ihn aber nicht entgegennehmen, weil er gerade mal wieder sass in Prag, und Maximilian Schell nahm ihn für ihn entgegen und hielt auch die Dankesrede, und in dieser Dankesrede war ein Wort von Havel, das mich damals geradezu angesprungen hat, als ich die Sendung sah. Es lautete: "Sie haben es

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geschafft, dass das schöne Wort Sozialismus zum Knüppel verkommen ist." Es gab also wirklich viele Menschen, die mit dem Begriff Sozialismus eine idealistische Utopie oder auf jeden Fall eine Utopie verbanden, und diese ist zum Knüppel verkommen. Ich habe auf dem Parteitag der CDU, als wir uns Mitte Dezember 89 zur deutschen Wiedervereinigung bekannten, gesagt: "Das Wort ist zur Worthülse geworden." Es stand für eine Art des Wirtschaftlichen, die versagt hat. Es stand für eine Art von Gemeinwesen, die in Zwang und Unterdrückung geführt hat, und es sollte für eine Art von Solidarität stehen, die der Christenmensch auch mit Nächstenliebe umschreiben kann. Das Wort Sozialismus war auch das Ende der DDR und für viele Leute das Ende eines Ideals. Es gibt eine Gruppe von Menschen, die so um die 60 waren, die gesagt haben: "Wir sind im richtigen deutschen Staat. Dann ging das nicht gut. Dann haben wir mit Gorbatschow nochmals Hoffnung geschöpft, dass es vielleicht doch geht." Dann brach dies zusammen, und sie stehen eigentlich vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens. Das ist an sich auch eine tragische Generation. So ein Bruch hinterlässt auch Verlierer. Jedenfalls habe ich damals, als dann 94 beim Wahlkampf die Rote-Socken-Kampagne aufkam und draufgeschlagen wurde, dem Bundeskanzler gesagt: "Herr Bundeskanzler, die Menschen, die so gedacht haben, brauchen nicht Dresche, sondern Erbarmen. Ausserdem werden wir mit der RoteSocken-Kampagne die Leute der PDS in die Arme treiben." Genau das haben wir erreicht. Der Herr Sarrazin wird von der SPD ja vermutlich zurückgebunden. Die Chefin der Vertriebenen wird relativ sanft behandelt. Ich frage dies als gebürtiger Schlesier. Warum gelingt es nicht, die Frau Steinbach in der CDU/CSU zurückzubinden? Jeder kann über seine eigene Partei leiden. Ich leide zurzeit an der CDU, dass sie es nicht schafft. Ich möchte aber auch nicht in der Haut eines SPD-Mitgliedes stecken, die einen Sarrazin am Leibe hat. Diese Bemerkung "Ich kann ja nichts dafür, dass die Polen schon im März 39 mobil gemacht haben." ist natürlich so etwas von bodenlos dumm und frech, und ich hoffe, dass es nur dumm war. Wenn es nämlich Absicht war, dann ist es Brandstifterei. Da würde ich mir schon wünschen, dass mal die Kanzlerin "Nein" sagt. Sie hat es ja dann beim Gipfeltreffen der EU-Staatschefs getan. Da hat sie den polnischen Ministerpräsidenten angesprochen und sich zumindest wegen dieser blödsinnigen Behauptung für Herrn Bartoszewski entschuldigt, und gesagt, das wäre also nicht die Meinung der Deutschen. Die Frau Steinbacher hatte nämlich, nachdem sie schon das Feuer an die Lunte gelegt hatte, noch nachgelegt, indem sie gesagt hat, Herr Bartoszewski hätte einen miserablen Charakter. Ich kenne Herrn Bartoszewski. Es ist ein streitbarer Mann, und es ist schwierig, gegen ihn anderer Meinung zu sein. Da muss man schon ziemlich lange diskutieren, aber ein Mann, der Auschwitz überstanden und den Kommunismus mitbekämpft hat, verdient einen Respekt für seine persönliche Lebensleistung. Mit dem geht man nicht so um. Ich glaube aber andererseits, dass das Potential der Vertriebenen nach wie vor ein relativ grosses Wählerpotential ist, so dass man aus parteitechnischen Gründen manchmal parteihygienische Gründe vernachlässigt. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen, aber ich möchte, wie gesagt, weder in der einen Partei noch in der anderen Partei etwas zu entscheiden haben. Wobei ich mir noch nicht sicher bin, wie die SPD mit Sarrazin umgeht. Ich glaube nicht, dass sie ihn rausschmeissen wird. Sie haben gesagt, 1989 hätten die Leute den Koffer gepackt, um in den Westen zu gehen. Heute hört man, dass das Gegenteil wieder Mode wird, dass Leute sagen, sie seien vom dem, was im Westen

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passiert ist, enttäuscht, und wieder zurückgehen. Was sagt man diesen Leuten, die jetzt enttäuscht sind? Zunächst kann man ihnen sagen, es sei ein Fehler gewesen, zu gehen. "Bleibe im Land und nähre dich redlich." In der DDR hinter der Mauer und mit dem Westfernsehen herrschte ein Bild der Bundesrepublik, als ob es so etwas Schlaraffenlandähnliches wäre. Dass man dort für seinen Lebensunterhalt, für sein Einkommen und für seinen Wohlstand genau so hart arbeiten muss wie im Osten, war vielen nicht so bewusst. Ausserdem denke ich schon, dass es gut ist, wenn Leute zurückkommen. Wir haben ja nach wie vor noch einen erheblichen Aderlass. Die Summe derer, die weggehen, ist noch immer grösser als die Summe derer, die in den Osten kommen oder zurückkommen. Wir haben ja einen grossen Teil Elite vom Westen bekommen, wobei das Wort Elite manchmal ein bisschen in Anführungsstriche zu setzen ist, aber ich glaube, dass die Zahl derjenigen, die aus solchen Gründen zurückkehren wollen, so verschwindend gering ist, dass die Gemeinschaft damit fertig wird. Viel schwieriger ist, dass wir ein grosses demographisches Problem auf dem Land haben, dass wir Dörfer haben, in denen, insbesondere in Mecklenburg-Vorpommern, die jungen dynamischen Frauen weggehen und wir lauter Männer sitzen haben, die sich die Birne voll saufen, weil sie mit der Situation nicht fertig werden. Wir haben auf dem Lande nach wie vor die landwirtschaftlichen Grossbetriebe, die ehemaligen LPG, die sich in Agrargenossenschaften gewandelt haben. Die Mitglieder werden alt. Wir haben keine Erben. Die Kinder sind längst in die Städte gegangen. Wir haben also insofern keine Erben für diese Betriebe. Es wird nochmals einen nächsten Transformationsschub geben, aber ich bin da ganz zuversichtlich, weil ich sage: "Wir Ostdeutschen haben Transformationserfahrung. Die grossen Veränderungen, die uns im Ganzen im Zuge der Globalisierung vielleicht noch bevorstehen, werden uns dann gewappneter zeigen." Als vor ein paar Jahren in Rheinhausen 3000 Arbeitsplätze gestrichen werden sollten, rauschte der bundesdeutsche Blätterwald vom Bodensee bis nach Lenzburg, dass man dachte, die Welt gehe unter. Wir haben innerhalb von acht Wochen in Eisenhüttenstadt die Beschäftigtenzahl von 12 500 auf 2900 reduziert, und das ist kaum wahrgenommen worden. Wir haben also nach wie vor noch eine Asymmetrie der Wahrnehmung, was die Transformationsprozesse anbelangt, und insofern sage ich immer: "Die Ostdeutschen haben in einem ganz kurzen Zeitraum ein neues politisches System, ein neues ökonomisches System, eine neue Rechtsordnung, ein neues Bildungssystem, eine neue Werteordnung gelernt und verinnerlichen müssen. Wir haben also eine unglaubliche Transformationsleistung vollbracht, die sehr anstrengend war und den allergrössten Respekt verdient."

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